Die Wahlverwandtschaften
Johann Wolfgang von Goethe
Die Wahlverwandtschaften
Hamburger Ausgabe, Band 6
Eduard–so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter–Eduard hatte in seiner Baumschule die schËnste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stâ°mme zu bringen.
Sein Geschâ°ft war eben vollendet; er legte die Gerâ°tschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergn¸gen, als der Gâ°rtner hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleiï¬e des Herrn ergetzte.
“Hast du meine Frau nicht gesehen?” fragte Eduard, indem er sich weiterzugehen anschickte.
“Dr¸ben in den neuen Anlagen”,versetzte der Gâ°rtner.
“Die Moosh¸tte wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlosse gegen¸ber, gebaut hat.
Alles ist recht schËn geworden und muï¬ Euer Gnaden gefallen.
Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche, ¸ber deren Turmspitze man fast hinwegsieht, gegen¸ber das Schloï¬ und die Gâ°rten”.
“Ganz recht”, versetzte Eduard; “einige Schritte von hier konnte ich die Leute arbeiten sehen”.
“Dann”, fuhr der Gâ°rtner fort,”Ëffnet sich rechts das Tal, und man sieht ¸ber die reichen Baumwiesen in eine heitere Ferne.
Der Stieg die Felsen hinauf ist gar h¸bsch angelegt.
Die gnâ°dige Frau versteht es; man arbeitet unter ihr mit Vergn¸gen”.
“Geh zu ihr”, sagte Eduard, “und ersuche sie, auf mich zu warten.
Sage ihr, ich w¸nsche die neue SchËpfung zu sehen und mich daran zu erfreuen”.
Der Gâ°rtner entfernte sich eilig, und Eduard folgte bald.
Dieser stieg nun die Terrassen hinunter, musterte im Vorbeigehen Gewâ°chshâ°user und Treibebeete, bis er ans Wasser, dann ¸ber einen Steg an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neuen Anlagen in zwei Arme teilte.
Den einen, der ¸ber den Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand hinging, lieï¬ er liegen, um den andern einzuschlagen, der sich links etwas weiter durch anmutiges Geb¸sch sachte hinaufwand; da, wo beide zusammentrafen, setzte er sich f¸r einen Augenblick auf einer wohlangebrachten Bank nieder, betrat sodann den eigentlichen Stieg und sah sich durch allerlei Treppen und Absâ°tze auf dem schmalen, bald mehr bald weniger steilen Wege endlich zur Moosh¸tte geleitet.
An der T¸re empfing Charlotte ihren Gemahl und lieï¬ ihn dergestalt niedersitzen, daï¬ er durch T¸r und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick ¸bersehen konnte.
Er freute sich daran in Hoffnung, daï¬ der Fr¸hling bald alles noch reichlicher beleben w¸rde.
“Nur eines habe ich zu erinnern”, setzte er hinzu, “die H¸tte scheint mir etwas zu eng”.
“F¸r uns beide doch gerâ°umig genug”, versetzte Charlotte.
“Nun freilich”, sagte Eduard, “f¸r einen Dritten ist auch wohl noch Platz”.
“Warum nicht?” versetzte Charlotte, “und auch f¸r ein Viertes.
F¸r grËï¬ere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten”.
“Da wir denn ungestËrt hier allein sind”, sagte Eduard, “und ganz ruhigen, heiteren Sinnes, so muï¬ ich dir gestehen, daï¬ ich schon einige Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen muï¬ und mËchte, und nicht dazu kommen kann”.
“Ich habe dir so etwas angemerkt”, versetzte Charlotte.
“Und ich will nur gestehen”, fuhr Eduard fort, “wenn mich der Postbote morgen fr¸h nicht drâ°ngte, wenn wir uns nicht heut entschlieï¬en m¸ï¬ten, ich hâ°tte vielleicht noch lâ°nger geschwiegen”.
“Was ist es denn?” fragte Charlotte freundlich entgegenkommend.
“Es betrifft unsern Freund, den Hauptmann”, antwortete Eduard.
“Du kennst die traurige Lage, in die er, wie so mancher andere, ohne sein Verschulden gesetzt ist.
Wie schmerzlich muï¬ es einem Manne von seinen Kenntnissen, seinen Talenten und Fertigkeiten sein, sich auï¬er Tâ°tigkeit zu sehen und–ich will nicht lange zur¸ckhalten mit dem, was ich f¸r ihn w¸nsche: ich mËchte, daï¬ wir ihn auf einige Zeit zu uns nâ°hmen”.
“Das ist wohl zu ¸berlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten”, versetzte Charlotte.
“Meine Ansichten bin ich bereit dir mitzuteilen”, entgegnete ihr Eduard.
“In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des tiefsten Miï¬mutes; nicht daï¬ es ihm an irgendeinem Bed¸rfnis fehle, denn er weiï¬ sich durchaus zu beschrâ°nken, und f¸r das Notwendige habe ich gesorgt; auch dr¸ckt es ihm nicht, etwas von mir anzunehmen, denn wir sind unsre Lebzeit ¸ber einander wechselseitig uns so viel schuldig geworden, daï¬ wir nicht berechnen kËnnen, wie unser Kredit und Debet sich gegeneinander verhalte–daï¬ er geschâ°ftlos ist, das ist eigentlich seine Qual.
Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu andrer Nutzen tâ°glich und st¸ndlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergn¸gen, ja seine Leidenschaft.
Und nun die Hâ°nde in den Schoï¬ zu legen oder noch weiter zu studieren, sich weitere Geschicklichkeit zu verschaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Maï¬e besitzt–genug, liebes Kind, es ist eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreifach in seiner Einsamkeit empfindet”.
“Ich dachte doch”, sagte Charlotte, “ihm wâ°ren von verschiedenen Orten Anerbietungen geschehen.
Ich hatte selbst um seinetwillen an manche tâ°tige Freunde und Freundinnen geschrieben, und soviel ich weiï¬, blieb dies auch nicht ohne Wirkung”.
“Ganz recht”,versetzte Eduard; “aber selbst diese verschiedenen Gelegenheiten, diese Anerbietungen machen ihm neue Qual, neue Unruhe.
Keines von den Verhâ°ltnissen ist ihm gemâ°ï¬.
Er soll nicht wirken; er soll sich aufopfern, seine Zeit seine Gesinnungen, seine Art zu sein, und das ist ihm unmËglich.
Je mehr ich das alles betrachte, je mehr ich es f¸hle, desto lebhafter wird der Wunsch, ihn bei uns zu sehen”.
“Es ist recht schËn und liebensw¸rdig von dir” versetzte Charlotte, “daï¬ du des Freundes Zustand mit soviel Teilnahme bedenkst; allein erlaube mir, dich aufzufordern, auch deiner, auch unser zu gedenken”.
“Das habe ich getan”, entgegnete ihr Eduard.
“Wir kËnnen von seiner Nâ°he uns nur Vorteil und Annehmlichkeit versprechen.
Von dem Aufwande will ich nicht reden, der auf alle Fâ°lle gering f¸r mich wird, wenn er zu uns zieht, besonders wenn ich zugleich bedenke, daï¬ uns seine Gegenwart nicht die mindeste Unbequemlichkeit verursacht.
Auf dem rechten Fl¸gel des Schlosses kann er wohnen, und alles andere findet sich.
Wieviel wird ihm dadurch geleistet, und wie manches Angenehme wird uns durch seinen Umgang, ja wie mancher Vorteil!
Ich hâ°tte lâ°ngst eine Ausmessung des Gutes und der Gegend gew¸nscht; er wird sie besorgen und leiten.
Deine Absicht ist, selbst die G¸ter k¸nftig zu verwalten, sobald die Jahre der gegenwâ°rtigen Pâ°chter verflossen sind.
Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen!
Zu wie manchen Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen!
Ich f¸hle nur zu sehr, daï¬ mir ein Mann dieser Art abgeht.
Die Landleute haben die rechten Kenntnisse; ihre Mitteilungen aber sind konfus und nicht ehrlich.
Die Studierten aus der Stadt und von den Akademien sind wohl klar und ordentlich, aber es fehlt an der unmittelbaren Einsicht in die Sache.
Vom Freunde kann ich mir beides versprechen; und dann entspringen noch hundert andere Verhâ°ltnisse daraus, die ich mir alle gern vorstellen mag, die auch auf dich Bezug haben und wovon ich viel Gutes voraussehe.
Nun danke ich dir, daï¬ du mich freundlich angehËrt hast; jetzt sprich aber auch recht frei und umstâ°ndlich und sage mir alles, was du zu sagen hast; ich will dich nicht unterbrechen”.
“Recht gut”, versetzte Charlotte; “so will ich gleich mit einer allgemeinen Bemerkung anfangen.
Die Mâ°nner denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwâ°rtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind, die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhâ°ngt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien an diesen Zusammenhang gekn¸pft ist und auch gerade dieses Zusammenhâ°ngende von ihnen gefordert wird.
Laï¬ uns deswegen einen Blick auf unser gegenwâ°rtiges, auf unser vergangenes Leben werfen, und du wirst mir eingestehen, daï¬ die Berufung des Hauptmannes nicht so ganz mit unsern Vorsâ°tzen, unsern Planen, unsern Einrichtungen zusammentrifft.
Mag ich doch so gern unserer fr¸hsten Verhâ°ltnisse gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt; du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sâ°ttigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich â°lteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen muï¬te.
Wir wurden wieder frei; du fr¸her, indem dich dein M¸tterchen im Besitz eines groï¬en VermËgens lieï¬; ich spâ°ter, eben zu der Zeit, da du von Reisen zur¸ckkamst.
So fanden wir uns wieder.
Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir konnten ungestËrt zusammenleben.
Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich ein, denn da wir ungefâ°hr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl â°lter geworden, du nicht als Mann.
Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du f¸r dein einziges Gl¸ck zu halten schienst.
Du wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militâ°r, auf Reisen erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen, des Lebens genieï¬en; aber auch nur mit mir allein.
Meine einzige Tochter tat ich in Pension, wo sie sich freilich mannigfaltiger ausbildet, als bei einem lâ°ndlichen Aufenthalte geschehen kËnnte; und nicht sie allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, tat ich dorthin, die vielleicht zur hâ°uslichen Geh¸lfin unter meiner Anleitung am besten herangewachsen wâ°re.
Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloï¬ damit wir uns selbst leben, bloï¬ damit wir das fr¸h so sehnlich gew¸nschte, endlich spâ°t erlangte Gl¸ck ungestËrt genieï¬en mËchten.
So haben wir unsern lâ°ndlichen Aufenthalt angetreten.
Ich ¸bernahm das Innere, du das â°uï¬ere und was ins Ganze geht.
Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur f¸r dich allein zu leben; laï¬ uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen”.
“Da das Zusammenhâ°ngende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist”, versetzte Eduard, “so muï¬ man euch freilich nicht in einer Folge reden hËren oder sich entschlieï¬en, euch recht zu geben; und du sollst auch recht haben bis auf den heutigen Tag.
Die Anlage, die wir bis jetzt zu unserm Dasein gemacht haben, ist von guter Art; sollen wir aber nichts weiter darauf bauen, und soll sich nichts weiter daraus entwickeln?
Was sich im Garten leiste, du im Park, soll das nur f¸r Einsiedler getan sein?”
“Recht gut!” versetzte Charlotte, “recht wohl!
Nur daï¬ wir nichts Hinderndes, Fremdes hereinbringen!
Bedenke, daï¬ unsre Vorsâ°tze, auch was die Unterhaltung betrifft, sich gewissermaï¬en nur auf unser beiderseitiges Zusammensein bezogen.
Du wolltest zuerst die Tageb¸cher deiner Reise mir in ordentlicher Folge mitteilen, bei dieser Gelegenheit so manches dahin GehËrige von Papieren in Ordnung bringen und unter meiner Teilnahme, mit meiner Beih¸lfe aus diesen unschâ°tzbaren, aber verworrenen Heften und Blâ°ttern ein f¸r uns und andere erfreuliches Ganze zusammenstellen.
Ich versprach, dir an der Abschrift zu helfen, und wir dachten es uns so bequem, so artig, so gem¸tlich und heimlich, die Welt, die wir zusammen nicht sehen sollten, in der Erinnerung zu durchreisen. Ja, der Anfang ist schon gemacht.
Dann hast du die Abende deine FlËte wieder vorgenommen, begleitest mich am Klavier; und an Besuchen aus der Nachbarschaft und in die Nachbarschaft fehlt es uns nicht.
Ich wenigstens habe mir aus allem diesem den ersten wahrhaft frËhlichen Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu genieï¬en dachte”.
“Wenn mir nur nicht”, versetzte Eduard, indem er sich die Stirne rieb, “bei alle dem, was du mir so liebevoll und verstâ°ndig wiederholst, immer der Gedanke beiginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns w¸rde nichts gestËrt, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt.
Auch er hat einen Teil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat manches, und in verschiedenem Sinne, sich angemerkt: wir benutzten das zusammen, und alsdann w¸rde es erst ein h¸bsches Ganze werden”.
“So laï¬ mich denn dir aufrichtig gestehen”, entgegnete Charlotte mit einiger Ungeduld, “daï¬ diesem Vorhaben mein Gef¸hl widerspricht, daï¬ eine Ahnung mir nichts Gutes weissagt”.
“Auf diese Weise wâ°ret ihr Frauen wohl un¸berwindlich”, versetzte Eduard, “erst verstâ°ndig, daï¬ man nicht widersprechen kann, liebevoll, daï¬ man sich gern hingibt, gef¸hlvoll, daï¬ man euch nicht weh tun mag, ahnungsvoll, daï¬ man erschrickt”.
“Ich bin nicht aberglâ°ubisch”, versetzte Charlotte, “und gebe nichts auf diese dunklen Anregungen, insofern sie nur solche wâ°ren; aber es sind meistenteils unbewuï¬te Erinnerungen gl¸cklicher und ungl¸cklicher Folgen, die wir an eigenen oder fremden Handlungen erlebt haben.
Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten.
Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren Verhâ°ltnis durch den zufâ°lligen oder gewâ°hlten Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar verâ°ndert, deren Lage vËllig umgekehrt wurde”.
“Das kann wohl geschehen”, versetzte Eduard, “bei Menschen, die nur dunkel vor sich hinleben, nicht bei solchen, die, schon durch Erfahrung aufgeklâ°rt, sich mehr bewuï¬t sind”.
“Das Bewuï¬tsein, mein Liebster”, entgegnete Charlotte, “ist keine hinlâ°ngliche Waffe, ja manchmal eine gefâ°hrliche f¸r den, der sie f¸hrt; und aus diesem allen tritt wenigstens soviel hervor, daï¬ wir uns ja nicht ¸bereilen sollen.
GËnne mir noch einige Tage, entscheide nicht!”
“Wie die Sache steht”, erwiderte Eduard, “werden wir uns auch nach mehreren Tagen immer ¸bereilen.
Die Gr¸nde f¸r und dagegen haben wir wechselsweise vorgebracht; es kommt auf den Entschluï¬ an, und da wâ°r es wirklich das Beste, wir gâ°ben ihn dem Los anheim”.
“Ich weiﬔ, versetzte Charlotte, “daï¬ du in zweifelhaften Fâ°llen gerne wettest oder w¸rfelst; bei einer so ernsthaften Sache hingegen w¸rde ich dies f¸r einen Frevel halten”.
“Was soll ich aber dem Hauptmann schreiben?” rief Eduard aus; “denn ich muï¬ mich gleich hinsetzen”.
“Einen ruhigen, vern¸nftigen, trËstlichen Brief”, sagte Charlotte.
“Das heiï¬t soviel wie keinen”, versetzte Eduard.
“Und doch ist es in manchen Fâ°llen”, versetzte Charlotte, “notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben”.
Eduard fand sich allein auf seinem Zimmer, und wirklich hatte die Wiederholung seiner Lebensschicksale aus dem Munde Charlottens, die Vergegenwâ°rtigung ihres beiderseitigen Zustandes, ihrer Vorsâ°tze sein lebhaftes Gem¸t angenehm aufgeregt.
Er hatte sich in ihrer Nâ°he, in ihrer Gesellschaft so gl¸cklich gef¸hlt, daï¬ er sich einen freundlichen, teilnehmenden, aber ruhigen und auf nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann ausdachte.
Als er aber zum Schreibtisch ging und den Brief des Freundes aufnahm, um ihn nochmals durchzulesen, trat ihm sogleich wieder der traurige Zustand des trefflichen Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn diese Tage gepeinigt hatten, wachten wieder auf, und es schien ihm unmËglich, seinen Freund einer so â°ngstlichen Lage zu ¸berlassen.
Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt.
Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu einer seltsamen, aber hËchst vorteilhaften Heirat mit einer viel â°lteren Frau zu bereden wuï¬ten, von dieser auch auf alle Weise verzâ°rtelt, indem sie sein gutes Betragen gegen sie durch die grËï¬te Freigebigkeit zu erwidern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr, auf Reisen unabhâ°ngig, jeder Abwechslung, jeder Verâ°nderung mâ°chtig, nichts ¸bertriebenes wollend, aber viel und vielerlei wollend, freim¸tig, wohltâ°tig, brav, ja tapfer im Fall–was konnte in der Welt seinen W¸nschen entgegenstehen!
Bisher war alles nach seinem Sinne gegangen, auch zum Besitz Charlottens war er gelangt, den er sich durch eine hartnâ°ckige, ja romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun f¸hlte er sich zum erstenmal widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben da er seinen Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Dasein gleichsam abschlieï¬en wollte.
Er war verdrieï¬lich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte sie nieder, weil er nicht einig mit sich werden konnte, was er schreiben sollte.
Gegen die W¸nsche seiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Verlangen konnte er nicht; unruhig wie er war, sollte er einen ruhigen Brief schreiben; es wâ°re ihm ganz unmËglich gewesen.
Das Nat¸rlichste war, daï¬ er Aufschub suchte.
Mit wenig Worten bat er seinen Freund um Verzeihung, daï¬ er diese Tage nicht geschrieben, daï¬ er heut nicht umstâ°ndlich schreibe, und versprach f¸r nâ°chstens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt.
Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derselben Stelle die Gelegenheit, das Gesprâ°ch wieder anzukn¸pfen, vielleicht in der ¸berzeugung, daï¬ man einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen kann, als wenn man ihn Ëfters durchspricht.
Eduarden war diese Wiederholung erw¸nscht.
Er â°uï¬erte sich nach seiner Weise freundlich und angenehm; denn wenn er, empfâ°nglich wie er war, leicht aufloderte, wenn sein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn seine Hartnâ°ckigkeit ungeduldig machen konnte, so waren doch alle seine â°uï¬erungen durch eine vollkommene Schonung des andern dergestalt gemildert, daï¬ man ihn immer noch liebensw¸rdig finden muï¬te, wenn man ihn auch beschwerlich fand.
Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Morgen erst in die heiterste Laune, dann durch anmutige Gesprâ°chswendungen ganz aus der Fassung, sodaï¬ sie zuletzt ausrief: “du willst gewiï¬, daï¬ ich das, was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll.
Wenigstens, mein Lieber”, fuhr sie fort, “sollst du gewahr werden, daï¬ deine W¸nsche, die freundliche Lebhaftigkeit, womit du sie ausdr¸ckst, mich nicht unger¸hrt, mich nicht unbewegt lassen.
Sie nËtigen mich zu einem Gestâ°ndnis.
Ich habe dir bisher auch etwas verborgen.
Ich befinde mich in einer â°hnlichen Lage wie du und habe mir schon eben die Gewalt angetan, die ich dir nun ¸ber dich selbst zumute”.
“Das hËr ich gern”, sagte Eduard; “ich merke wohl, im Ehestand muï¬ man sich manchmal streiten, denn dadurch erfâ°hrt man was voneinander”.
“Nun sollst du also erfahren”, sagte Charlotte, “daï¬ es mir mit Ottilien geht, wie dir mit dem Hauptmann.
HËchst ungern weiï¬ ich das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in sehr dr¸ckenden Verhâ°ltnissen befindet.
Wenn Luciane, meine Tochter, die f¸r die Welt geboren ist, sich dort f¸r die Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst von Kennntnissen ihr mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und Variationen vom Blatte wegspielt; wenn bei einer lebhaften Natur und bei einem gl¸cklichen Gedâ°chtnis sie, man mËchte wohl sagen, alles vergiï¬t und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gesprâ°chs sich vor allen auszeichnet und durch ein angebornes herrschendes Wesen Wesen sich zur KËnigin des kleinen Kreises macht, wenn die Vorsteherin dieser Anstalt sie als kleine Gottheit ansieht, die nun erst unter ihren Hâ°nden recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zufluï¬ von andern jungen Personen verschaffen wird, wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte immer nur Hymnen sind ¸ber die Vortrefflichkeit eines solchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Prose zu ¸bersetzen weiï¬: so ist dagegen, was sie schlieï¬lich von Ottilien erwâ°hnt, nur immer Entschuldigung auf Entschuldigung, daï¬ ein ¸brigens so schËn heranwachsendes Mâ°dchen sich nicht entwickeln, keine Fâ°higkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle.
Das wenige, was sie sonst noch hinzuf¸gt, ist gleichfalls f¸r mich kein Râ°tsel, weil ich in diesem lieben Kinde den ganzen Charakter ihrer Mutter, meiner wertesten Freundin, gewahr werde, die sich neben mir entwickelt hat und deren Tochter ich gewiï¬, wenn ich Erzieherin oder Aufseherin sein kËnnte, zu einem herrlichen GeschËpf heraufbilden wollte.
Da es aber einmal nicht in unsern Plan geht und man an seinen Lebensverhâ°ltnissen nicht soviel zupfen und zerren, nicht immer was Neues an sie heranziehen soll, so trag ich das lieber, ja ich ¸berwinde die unangenehme Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut weiï¬, daï¬ die arme Ottilie ganz von uns abhâ°ngt, sich ihrer Vorteile ¸berm¸tig gegen sie bedient und unsre Wohltat dadurch gewissermaï¬en vernichtet.
Doch wer ist so gebildet, daï¬ er nicht seine Vorz¸ge gegen andre manchmal auf eine grausame Weise geltend machte!
Wer steht so hoch, daï¬ er unter einem solchen Druck nicht manchmal leiden m¸ï¬te!
Durch diese Pr¸fungen wâ°chst Ottiliens Wert; aber seitdem ich den peinlichen Zustand recht deutlich einsehe, habe ich mir M¸he gegeben, sie anderwâ°rts unterzubringen.
St¸ndlich soll mir eine Antwort kommen, und alsdann will ich nicht zaudern.
So steht es mit mir, mein Bester.
Du siehst, wir tragen beiderseits dieselben Sorgen in einem treuen, freundschaftlichen Herzen.
Laï¬ sie uns gemeinsam tragen, da sie sich nicht gegeneinander aufheben!” “Wir sind wunderliche Menschen”, sagte Eduard lâ°chelnd.
“Wenn wir nur etwas, das uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart verbannen kËnnen, da glauben wir schon, nun sei es abgetan.
Im ganzen kËnnen wir vieles aufopfern, aber uns im einzelnen herzugeben, ist eine Forderung, der wir selten gewachsen sind.
So war meine Mutter.
Solange ich als Knabe oder J¸ngling bei ihr lebte, konnte sie der augenblicklichen Besorgnisse nicht los werden.
Verspâ°tete ich mich bei einem Ausritt, so muï¬te mir ein Ungl¸ck begegnet sein; durchnetzte mich ein Regenschauer, so war das Fieber mir gewiï¬.
Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr, und nun schien ich ihr kaum anzugehËren.
Betrachten wir es genauer”, fuhr er fort, “so handeln wir beide tËricht und unverantwortlich, zwei der edelsten Naturen, die unser Herz so nahe angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner Gefahr auszusetzen.
Wenn dies nicht selbsts¸chtig genannt werden soll, was will man so nennen!
Nimm Ottilien, laï¬ mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch gemacht!” “Es mËchte noch zu wagen sein”, sagte Charlotte bedenklich, “wenn die Gefahr f¸r uns allein wâ°re.
Glaubst du denn aber, daï¬ es râ°tlich sei, den Hauptmann mit Ottilien als Hausgenossen zu sehen, einen Mann ohngefâ°hr in deinen Jahren, in den Jahren–daï¬ ich dir dieses Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen sage -, wo der Mann erst liebefâ°hig und erst der Liebe wert wird, und ein Mâ°dchen von Ottiliens Vorz¸gen?” “Ich weiï¬ doch auch nicht”, versetzte Eduard, “wie du Ottilien so hoch stellen kannst!
Nur dadurch erklâ°re ich mir’s, daï¬ sie deine Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat.
H¸bsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnere mich, daï¬ der Hauptmann mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor einem Jahre zur¸ckkamen und sie mit dir bei einer Tante trafen.
H¸bsch ist sie, besonders hat sie schËne Augen; aber ich w¸ï¬te doch nicht, daï¬ sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht hâ°tte”. “Das ist lËblich an dir”, sagte Charlotte, “denn ich war ja gegenwâ°rtig; und ob sie gleich viel j¸nger ist als ich, so hatte doch die Gegenwart der â°ltern Freundin so viele Reize f¸r dich, daï¬ du ¸ber die aufbl¸hende, versprechende SchËnheit hinaussahest.
Es gehËrt auch dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das Leben mit dir teile”.
Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas.
Sie hatte nâ°mlich damals dem von Reisen zur¸ckkehrenden Eduard Ottilien absichtlich vorgef¸hrt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so groï¬e Partie zuzuwenden; denn an sich selbst in bezug auf Eduard dachte sie nicht mehr.
Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu machen; aber dieser, der seine fr¸he Liebe zu Charlotten hartnâ°ckig im Sinne behielt, sah weder rechts noch links und war nur gl¸cklich in dem Gef¸hl, daï¬ es mËglich sei, eines so lebhaft gew¸nschten und durch eine Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes endlich doch teilhaft zu werden.
Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach dem Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg und mit lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen lieï¬:” kommen Euer Gnaden doch ja schnell her¸ber!
Herr Mittler ist in den Schloï¬hof gesprengt.
Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen sie aufsuchen, wir sollen Sie fragen, ob es not tue.
‘Ob es not tut’, rief er uns nach, ‘hËrt ihr?
Aber geschwind, geschwind!’.
“Der drollige Mann!” rief Eduard aus; “kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Charlotte?”–“Geschwind zur¸ck!” befahl er dem Bedienten; “sage ihm, es tue not, sehr not!
Er soll nur absteigen.
Versorgt sein Pferd; f¸hrt ihn in den Saal, setzt ihm ein Fr¸hst¸ck vor!
Wir kommen gleich”.
“Laï¬ uns den nâ°chsten Weg nehmen!” sagte er zu seiner Frau und schlug den Pfad ¸ber den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte.
Aber wie verwundert war er, als er fand, daï¬ Charlotte auch hier f¸r das Gef¸hl gesorgt habe.
Mit mËglichster Schonung der alten Denkmâ°ler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewuï¬t, daï¬ es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten.
Auch dem â°ltesten Stein hatte sie seine Ehre gegËnnt.
Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingef¸gt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert.
Eduard f¸hlte sich sonderbar ¸berrascht, wie er durch die kleine Pforte hereintrat: er dr¸ckte Charlotten die Hand, und im Auge stand ihm eine Trâ°ne.
Aber der nâ°rrische Gast verscheuchte sie gleich.
Denn dieser hatte keine Ruh im Schloï¬ gehabt, war spornstreichs durchs Dorf bis an das Kirchhoftor geritten, wo er still hielt und seinen Freunden entgegenrief: “Ihr habt mich doch nicht zum besten?
Tuts wirklich not, so bleibe ich zu Mittage hier.
Haltet mich nicht auf!
Ich habe heute noch viel zu tun”.
“Da Ihr Euch so weit bem¸ht habt”, rief ihm Eduard entgegen, “so reitet noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte zusammen; und seht, wie schËn Charlotte diese Trauer ausgeschm¸ckt hat!” “Hier herein”, rief der Reiter, “komm ich weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu Fuï¬e.
Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen.
Gefallen muï¬ ich mirs lassen, wenn man mich einmal, die F¸ï¬e voran, hereinschleppt.
Also ists Ernst?” “Ja”, rief Charlotte, “recht Ernst! Es ist das erstemal, daï¬ wir neuen Gatten in Not und Verwirrung sind, woraus wir uns nicht zu helfen wissen”.
“Ihr seht nicht darnach aus”, versetzte er, “doch will ichs glauben.
F¸hrt ihr mich an, so laï¬ ich euch k¸nftig stecken.
Folgt geschwinde nach!
Meinem Pferde mag die Erholung zugut kommen”.
Bald fanden sich die dreie im Saale zusammen; das Essen ward aufgetragen, und Mittler erzâ°hlte von seinen heutigen Taten und Vorhaben. Dieser seltsame Mann war fr¸herhin Geistlicher gewesen und hatte sich bei einer rastlosen Tâ°tigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, daï¬ er alle Streitigkeiten, sowohl die hâ°uslichen als die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer zu stillen und zu schlichten wuï¬te.
Solange er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen, und die Landeskollegien wurden mit keinen Hâ°ndeln und Prozessen von dorther behelliget.
Wie nËtig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr.
Er warf sein ganzes Studium darauf und f¸hlte sich bald den geschicktesten Advokaten gewachsen.
Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus; und man war im Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein mâ°ï¬iges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte, mit dem festen Vorsatz oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu helfen wâ°re.
Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen aberglâ°ubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genËtigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen.
Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirte ernstlich vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zur¸ckzuhalten, weil er gleich nach dem Kaffee fort m¸sse.
Die beiden Eheleute machten umstâ°ndlich ihre Bekenntnisse; aber kaum hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdrieï¬lich vom Tische auffuhr, ans Fenster sprang und sein Pferd zu satteln befahl.
“Entweder ihr kennt mich nicht”, rief er aus, “ihr steht mich nicht, oder ihr seid sehr boshaft.
Ist denn hier ein Streit?
Ist denn hier eine H¸lfe nËtig?
Glaubt ihr, daï¬ ich in der Welt bin, um Rat zu geben?
Das ist das d¸mmste Handwerk, das einer treiben kann.
Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann.
Gerâ°t es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Gl¸cks; lâ°ufts ¸bel ab, dann bin ich bei der Hand.
Wer ein ¸bel los sein will, der weiï¬ immer, was er will; wer was Bessers will, als er hat, der ist ganz starblind–ja ja!
Lacht nur–er spielt Blindekuh, er ertappts vielleicht; aber was?
Tut, was ihr wollt: es ist ganz einerlei!
Nehmt die Freunde zu euch, laï¬t sie weg: alles einerlei!
Das Vern¸nftigste habe ich miï¬lingen sehen, das Abgeschmackteste gelingen.
Zerbrecht euch die KËpfe nicht, und wenns auf eine oder die andre Weise ¸bel ablâ°uft, zerbrecht sie euch auch nicht!
Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen werden.
Bis dahin euer Diener!” und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den Kaffee abzuwarten.
“Hier siehst du”, sagte Charlotte, “wie wenig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht.
Gegenwâ°rtig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser, wenns mËglich ist, als vorher”.
Beide Gatten w¸rden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben, wâ°re nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards letzten angekommen.
Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen Stellen anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs gemâ°ï¬ war.
Er sollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile teilen, indem man auf ihn das Zutrauen setzte, daï¬ er sie vertreiben w¸rde.
Eduard ¸bersah das ganze Verhâ°ltnis recht deutlich und malte es noch recht scharf aus”.
“Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande wissen?” rief er.
“Du kannst nicht so grausam sein, Charlotte!” “der wunderliche Mann, unser Mittler”, versetzte Charlotte, “hat am Ende doch recht.
Alle solche Unternehmungen sind Wagest¸cke.
Was daraus werden kann, sieht kein Mensch voraus.
Solche neue Verhâ°ltnisse kËnnen fruchtbar sein an Gl¸ck und an Ungl¸ck, ohne daï¬ wir uns dabei Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen d¸rfen.
Ich f¸hle mich nicht stark genug, dir lâ°nger zu widerstehen. Laï¬ uns den Versuch machen!
Das einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen.
Erlaube mir, daï¬ ich mich tâ°tiger als bisher f¸r ihn verwende und meinen Einfluï¬, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige Zufriedenheit gewâ°hren kann”.
Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der lebhaftesten Dankbarkeit.
Er eilte mit freiem, frohem Gem¸t, seinem Freunde Vorschlâ°ge schriftlich zu tun.
Charlotte muï¬te in einer Nachschrift ihren Beifall eigenhâ°ndig hinzuf¸gen, ihre freundschaftlichen Bitten mit den seinen vereinigen.
Sie schrieb mit gewandter Feder gefâ°llig und verbindlich, aber doch mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewËhnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der sie â°rgerlich machte und nur grËï¬er wurde, indem sie ihn wegwischen wollte.
Eduard scherzte dar¸ber, und weil noch Platz war, f¸gte er eine zweite Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld sehen, womit er erwartet werde, und nach der Eile, womit der Brief geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten.
Der Bote war fort, und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht ¸berzeugender ausdr¸cken zu kËnnen, als indem er aber–und abermals darauf bestand, Charlotte solle zugleich Ottilien aus der Pension holen lassen.
Sie bat um Aufschub und wuï¬te diesen Abend bei Eduard die Lust zu einer musikalischen Unterhaltung aufzuregen.
Charlotte spielte sehr gut Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die FlËte; denn ob er sich gleich zuzeiten viel M¸he gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines solchen Talentes gehËrt.
Er f¸hrte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie ihm nicht gelâ°ufig waren, und so wâ°r es f¸r jeden andern schwer gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen.
Aber Charlotte wuï¬te sich darein zu finden; sie hielt an und lieï¬ sich wieder von ihm fortreiï¬en und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer das Maï¬ zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten.
Der Hauptmann kam.
Er hatte einen sehr verstâ°ndigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten vËllig beruhigte.
Soviel Deutlichkeit ¸ber sich selbst, soviel Klarheit ¸ber seinen eigenen Zustand, ¸ber den Zustand seiner Freunde gab eine heitere und frËhliche Aussicht.
Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu geschehen pflegt, die sich eine Zeitlang nicht gesehen haben, lebhaft, ja fast erschËpfend.
Gegen Abend veranlaï¬te Charlotte einen Spaziergang auf die neuen Anlagen.
Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und bemerkte jede SchËnheit, welche durch die neuen Wege erst sichtbar und genieï¬bar geworden.
Er hatte ein ge¸btes Auge und dabei ein gen¸gsames; und ob er gleich das W¸nschenswerte sehr wohl kannte, machte er doch nicht, wie es Ëfters zu geschehen pflegt, Personen, die ihn in dem Ihrigen herumf¸hrten, dadurch einen ¸blen Humor, daï¬ er mehr verlangte, als die Umstâ°nde zulieï¬en, oder auch wohl gar an etwas Vollkommneres erinnerte, das er anderswo gesehen.
Als sie die Moosh¸tte erreichten, fanden sie solche auf das lustige ausgeschm¸ckt, zwar nur mit k¸nstlichen Blumen und Wintergr¸n, doch darunter so schËne B¸schel nat¸rlichen Weizens und anderer Feld–und Baumfr¸chte angebracht, daï¬ sie dem Kunstsinn der Anordnenden zur Ehre gereichten.
“Obschon mein Mann nicht liebt, daï¬ man seinen Geburts–oder Namenstag feire, so wird er mir doch heute nicht verargen, einem dreifachen Feste diese wenigen Krâ°nze zu widmen”.
“Ein dreifaches?” rief Eduard.
-“Ganz gewiï¬!” versetzte Charlotte; “unseres Freundes Ankunft behandeln wir billig als ein Fest; und dann habt ihr beide wohl nicht daran gedacht, daï¬ heute euer Namenstag ist.
Heiï¬t nicht einer Otto so gut als der andere?” Beide Freunde reichten sich die Hâ°nde ¸ber den kleinen Tisch.
“Du erinnerst mich”, sagte Eduard, “an dieses jugendliche Freundschaftsst¸ck.–Als Kinder hieï¬en wir beide so; doch als wir in der Pension zusammenlebten und manche Irrung daraus entstand, so trat ich ihm freiwillig diesen h¸bschen, lakonischen Namen ab”.
“Wobei du denn doch nicht gar zu groï¬m¸tig warst”, sagte der Hauptmann.
“Denn ich erinnere mich recht wohl, daï¬ dir der Name Eduard besser gefiel, wie er denn auch, von angenehmen Lippen ausgesprochen, einen besonders guten Klang hat”.
Nun saï¬en sie also zu dreien um dasselbe Tischchen, wo Charlotte so eifrig gegen die Ankunft des Gastes gesprochen hatte.
Eduard in seiner Zufriedenheit wollte die Gattin nicht an jene Stunden erinnern, doch enthielt er sich nicht zu sagen: “f¸r ein Viertes wâ°re auch noch recht gut Platz”.
WaldhËrner lieï¬en sich in diesem Augenblick vom Schloï¬ her¸ber vernehmen, bejahten gleichsam und bekrâ°ftigten die guten Gesinnungen und W¸nsche der beisammen verweilenden Freunde.
Stillschweigend hËrten sie zu, indem jedes in sich selbst zur¸ckkehrte und sein eigenes Gl¸ck in so schËner Verbindung doppelt empfand.
Eduard unterbrach die Pause zuerst, indem er aufstand und vor die Moosh¸tte hinaustrat.
“Laï¬ uns”, sagte er zu Charlotten, “den Freund gleich vËllig auf die HËhe f¸hren, damit er nicht glaube, dieses beschrâ°nkte Tal nur sei unser Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird oben freier und die Brust erweitert sich”.
“So m¸ssen wir diesmal noch”, versetzte Charlotte, “den alten, etwas beschwerlichen Fuï¬pfad erklimmen; doch, hoffe ich, sollen meine Stufen und Steige nâ°chstens bequemer bis ganz hinauf leiten”.
Und so gelangte man denn ¸ber Felsen, durch Busch und Gestrâ°uch zur letzten HËhe, die zwar keine Flâ°che, doch fortlaufende, fruchtbare R¸cken bildete.
Dorf und Schloï¬ hinterwâ°rts waren nicht mehr zu sehen.
In der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche, dr¸ben bewachsene H¸gel, an denen sie sich hinzogen, endlich steile Felsen, welche senkrecht den letzten Wasserspiegel entschieden begrenzten und ihre bedeutenden Formen auf der Oberflâ°che desselben abbildeten.
Dort in der Schlucht, wo ein starker Bach den Teichen zufiel, lag eine M¸hle halb versteckt, die mit ihren Umgebungen als ein freundliches Ruheplâ°tzchen erschien.
Mannigfaltig wechselten im ganzen Halbkreise, den man ¸bersah, Tiefen und HËhen, B¸sche und Wâ°lder, deren erstes Gr¸n f¸r die Folge den f¸llereichsten Anblick versprach.
Auch einzelne Baumgruppen hielten an mancher Stelle das Auge fest.
Besonders zeichnete zu den F¸ï¬en der schauenden Freunde sich eine Masse Pappeln und Platanen zunâ°chst an dem Rande des mittleren Teiches vorteilhaft aus.
Sie stand in ihrem besten Wachstum, frisch, gesund, empor und in die Breite strebend.
Eduard lenkte besonders auf diese die Aufmerksamkeit seines Freundes.
“Diese habe ich”, rief er aus, “in meiner Jugend selbst gepflanzt.
Es waren junge Stâ°mmchen, die ich rettete, als mein Vater, bei der Anlage zu einem neuen Teil des groï¬en Schloï¬gartnens, sie mitten im Sommer ausroden lieï¬.
Ohne Zweifel werden sie auch dieses Jahr sich durch neue Triebe wieder dankbar hervortun”.
Man kehrte zufrieden und heiter zur¸ck.
Dem Gaste ward auf dem rechten Fl¸gel des Schlosses ein freundliches, gerâ°umiges Quartier angewiesen, wo er sehr bald B¸cher, Papiere und Instrumente aufgestellt und geordnet hatte, um in seiner gewohnten Tâ°tigkeit fortzufahren.
Aber Eduard lieï¬ ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er f¸hrte ihn ¸berall herum, bald zu Pferde, bald zu Fuï¬e, und machte ihn mit der Gegend, mit dem Gute bekannt; wobei er ihm zugleich die W¸nsche mitteilte, die er zu besserer Kenntnis und vorteilhafterer Benutzung desselben seit langer Zeit bei sich hegte.
“Das erste, was wir tun sollten”, sagte der Hauptmann, “wâ°re, daï¬ ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnâ°hme.
Es ist das ein leichtes, heiteres Geschâ°ft, und wenn es auch nicht die grËï¬te Genauigkeit gewâ°hrt, so bleibt es doch immer n¸tzlich und f¸r den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne groï¬e Beih¸lfe leisten und weiï¬ gewiï¬, daï¬ man fertig wird.
Denkst du einmal an eine genauere Ausmessung, so lâ°ï¬t sich dazu wohl auch noch Rat finden”.
Der Hauptmann war in dieser Art des Aufnehmens sehr ge¸bt.
Er hatte die nËtige Gerâ°tschaft mitgebracht und fing sogleich an.
Er unterrichtete Eduarden, einige Jâ°ger und Bauern, die ihm bei dem Geschâ°ft beh¸lflich sein sollten.
Die Tage waren g¸nstig; die Abende und die fr¸hsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu.
Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste aus dem Papier wie eine neue SchËpfung hervorwachsen.
Er glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehËren.
Es gab Gelegenheit, ¸ber die Gegend, ¸ber Anlagen zu sprechen, die man nach einer solchen ¸bersicht viel besser zustande bringe, als wenn man nur einzeln, nach zufâ°lligen Eindr¸cken, an der Natur herumversuche.
“Das m¸ssen wir meiner Frau deutlich machen”, sagte Eduard. “Tue das nicht!” versetzte der Hauptmann, der die ¸berzeugungen anderer nicht gern mit den seinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt hatte, daï¬ die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als daï¬ sie, selbst durch die vern¸nftigsten Vorstellungen, auf Einen Punkt versammelt werden kËnnten.
“Tue es nicht!” rief er, “sie d¸rfte leicht irre werden.
Es ist ihr wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberei mit solchen Dingen beschâ°ftigen, mehr daran gelegen, daï¬ sie etwas tue, als daï¬ etwas getan werde.
Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe f¸r dieses oder jenes Plâ°tzchen; man wagt nicht, dieses oder jenes Hindernis wegzurâ°umen, man ist nicht k¸hn genug, etwas aufzuopfern; man kann sich voraus nicht vorstellen, was entstehen soll, man probiert, es gerâ°t, es miï¬râ°t, man verâ°ndert, verâ°ndert vielleicht, was man lassen sollte, lâ°ï¬t, was man verâ°ndern sollte, und so bleibt es zuletzt immer ein St¸ckwerk, das gefâ°llt und anregt, aber nicht befriedigt”.
“Gesteh mir aufrichtig”, sagte Eduard, “du bist mit ihren Anlagen nicht zufrieden”.
“Wenn die Ausf¸hrung den Gedanken erschËpfte, der sehr gut ist, so wâ°re nichts zu erinnern.
Sie hat sich m¸hsam durch das Gestein hinaufgequâ°lt und quâ°lt nun jeden, wenn du willst, den sie hinauff¸hrt.
Weder nebeneinander noch hintereinander schreitet man mit einer gewissen Freiheit.
Der Takt des Schrittes wird jeden Augenblick unterbrochen; und was lieï¬e sich nicht noch alles einwenden!” “Wâ°re es denn leicht anders zu machen gewesen?” fragte Eduard.
“Gar leicht”, versetzte der Hauptmann; “sie durfte nur die eine Felsenecke, die noch dazu unscheinbar ist, weil sie aus kleinen Teilen besteht, wegbrechen, so erlangte sie eine schËn geschwungene Wendung zum Aufstieg und zugleich ¸berfl¸ssige Steine, um die Stellen heraufzumauern, wo der Weg schmal und verkr¸ppelt geworden wâ°re.
Doch sei dies im engsten Vertrauen unter uns gesagt; sie wird sonst irre und verdrieï¬lich.
Auch muï¬ man, was gemacht ist, bestehen lassen.
Will man weiter Geld und M¸he aufwenden, so wâ°re von der Moosh¸tte hinaufwâ°rts und ¸ber die AnhËhe noch mancherlei zu tun und viel Angenehmes zu leisten”.
Hatten auf diese Weise die beiden Freunde am Gegenwâ°rtigen manche Beschâ°ftigung, so fehlte es nicht an lebhafter und vergn¸glicher Erinnerung vergangener Tage, woran Charlotte wohl teilzunehmen pflegte.
Auch setzte man sich vor, wenn nur die nâ°chsten Arbeiten erst getan wâ°ren, an die Reisejournale zu gehen und auch auf diese Weise die Vergangenheit hervorzurufen.
¸brigens hatte Eduard mit Charlotten allein weniger Stoff zur Unterhaltung, besonders seitdem er den Tadel ihrer Parkanlagen, der ihm so gerecht schien, auf dem Herzen f¸hlte.
Lange verschwieg er, was ihm der Hauptmann vertraut hatte; aber als er seine Gattin zuletzt beschâ°ftigt sah, von der Moosh¸tte hinauf zur AnhËhe wieder mit St¸fchen und Pfâ°dchen sich emporzuarbeiten, so hielt er nicht lâ°nger zur¸ck, sondern machte sie nach einigen Umschweifen mit seinen neuen Einsichten bekannt.
Charlotte stand betroffen.
Sie war geistreich genug, um schnell einzusehen, daï¬ jene recht hatten; aber das Getane widersprach, es war nun einmal so gemacht; sie hatte es recht, sie hatte es w¸nschenswert gefunden, selbst das Getadelte war ihr in jedem einzelnen Teile lieb; sie widerstrebte der ¸berzeugung, sie verteidigte ihre kleine SchËpfung, sie schalt auf die Mâ°nner, die gleich ins Weite und Groï¬e gingen, aus einem Scherz, aus einer Unterhaltung gleich ein Werk machen wollten, nicht an die Kosten denken, die ein erweiterter Plan durchaus nach sich zieht.
Sie war bewegt, verletzt, verdrieï¬lich; sie konnte das Alte nicht fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber entschlossen wie sie war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm sich Zeit, die Sache zu bedenken und bei sich reif werden zu lassen.
Indem sie nun auch diese tâ°tige Unterhaltung vermiï¬te, da indes die Mâ°nner ihr Geschâ°ft immer geselliger betrieben und besonders die Kunstgâ°rten und Glashâ°user mit Eifer besorgten, auch dazwischen die gewËhnlichen ritterlichen ¸bungen fortsetzten, als Jagen, Pferdekaufen, -tauschen, -bereiten und -einfahren, so f¸hlte sich Charlotte tâ°glich einsamer.
Sie f¸hrte ihren Briefwechsel auch um des Hauptmanns willen lebhafter, und doch gab es manche einsame Stunde.
Desto angenehmer und unterhaltender waren ihr die Berichte, die sie aus der Pensionsanstalt erhielt.
Einem weitlâ°ufigen Briefe der Vorsteherin, welcher sich wie gewËhnlich ¸ber der Tochter Fortschritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze Nachschrift hinzugef¸gt nebst einer Beilage von der Hand eines mâ°nnlichen Geh¸lfen am Institut, die wir beide mitteilen.
“Von Ottilien, meine Gnâ°dige, hâ°tte ich eigentlich nur zu wiederholen, was in meinen vorigen Berichten enthalten ist.
Ich w¸ï¬te sie nicht zu schelten, und doch kann ich nicht zufrieden mit ihr sein.
Sie ist nach wie vor bescheiden und gefâ°llig gegen andere; aber dieses Zur¸cktreten, diese Dienstbarkeit will mir nicht gefallen.
Euer Gnaden haben ihr neulich Geld und verschiedene Zeuge geschickt.
Das erste hat sie nicht angegriffen, die andern liegen auch noch da, unber¸hrt.
Sie hâ°lt freilich ihre Sachen sehr reinlich und gut und scheint nur in diesem Sinn die Kleider zu wechseln.
Auch kann ich ihre groï¬e Mâ°ï¬igkeit im Essen und Trinken nicht loben.
An unserm Tisch ist kein ¸berfluï¬; doch sehe ich nichts lieber, als wenn die Kinder sich an schmackhaften und gesunden Speisen satt essen.
Was mit Bedacht und ¸berzeugung aufgetragen und vorgelegt ist, soll auch aufgegessen werden.
Dazu kann ich Ottilien niemals bringen.
Ja, sie macht sich irgendein Geschâ°ft, um eine L¸cke auszuf¸llen, wo die Dienerinnen etwas versâ°umen, nur um eine Speise oder den Nachtisch zu ¸bergehen.
Bei diesem allen kommt jedoch in Betrachtung, daï¬ sie manchmal, wie ich erst spâ°t erfahren habe, Kopfweh auf der linken Seite hat, das zwar vor¸bergeht, aber schmerzlich und bedeutend sein mag.
Soviel von diesem ¸brigens so schËnen und lieben Kinde”.
“Unsere vortreffliche Vorsteherin lâ°ï¬t mich gewËhnlich die Briefe lesen, in welchen sie Beobachtungen ¸ber ihre ZËglinge den Eltern und Vorgesetzten mitteilt.
Diejenigen, die an Euer Gnaden gerichtet sind, lese ich immer mit doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Vergn¸gen; denn indem wir Ihnen zu einer Tochter Gl¸ck zu w¸nschen haben, die alle jene glâ°nzenden Eigenschaften vereinigt, wodurch man in der Welt emporsteigt, so muï¬ ich wenigstens Sie nicht minder gl¸cklich preisen, daï¬ Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl, zur Zufriedenheit anderer und gewiï¬ auch zu seinem eigenen Gl¸ck geboren ward. Ottilie ist fast unser einziger ZËgling, ¸ber den ich mit unserer so verehrten Vorsteherin nicht einig werden kann.
Ich verarge dieser tâ°tigen Frau keinesweges, daï¬ sie verlangt, man soll die Fr¸chte ihrer Sorgfalt â°uï¬erlich und deutlich sehen; aber es gibt auch verschlossene Fr¸chte, die erst die rechten, kernhaften sind und die sich fr¸her oder spâ°ter zu einem schËnen Leben entwickeln.
Dergleichen ist gewiï¬ Ihre Pflegetochter.
Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie immer gleichen Schrittes gehen, langsam, langsam vorwâ°rts, nie zur¸ck.
Wenn es bei einem Kinde nËtig ist, vom Anfange anzufangen, so ist es gewiï¬ bei ihr.
Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht.
Sie steht unfâ°hig, ja stËckisch vor einer leicht faï¬lichen Sache, die f¸r sie mit nichts zusammenhâ°ngt.
Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist ihr das Schwerste begreiflich.
Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitsch¸lerinnen zur¸ck, die mit ganz andern Fâ°higkeiten immer vorwâ°rtseilen, alles, auch das Unzusammenhâ°ngende, leicht fassen, leicht behalten und bequem wieder anwenden.
So lernt sie, so vermag sie bei einem beschleunigten Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche von trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden.
Man hat ¸ber ihre Handschrift geklagt, ¸ber ihre Unfâ°higkeit, die Regeln der Grammatik zu fassen.
Ich habe diese Beschwerde nâ°her untersucht: es ist wahr, sie schreibt langsam und steif, wenn man so will, doch nicht zaghaft und ungestalt.
Was ich ihr von der franzËsischen Sprache, die zwar mein Fach nicht ist, schrittweise mitteilte, begriff sie leicht.
Freilich ist es wunderbar: sie weiï¬ vieles und recht gut; nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wissen.
Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schlieï¬en, so mËchte ich sagen: sie lernt nicht als eine, die erzogen werden soll, sondern als eine, die erziehen will; nicht als Sch¸lerin, sondern als k¸nftige Lehrerin.
Vielleicht kommt es Euer Gnaden sonderbar vor, daï¬ ich selbst als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich ihn f¸r meinesgleichen erklâ°re.
Euer Gnaden bessere Einsicht, tiefere Menschen–und Weltkenntnis wird aus meinen beschrâ°nkten, wohlgemeinten Worten das Beste nehmen.
Sie werden sich ¸berzeugen, daï¬ auch an diesem Kinde viel Freude zu hoffen ist.
Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubnis, wieder zu schreiben, sobald ich glaube, daï¬ mein Brief etwas Bedeutendes und Angenehmes enthalten werde”.
Charlotte freute sich ¸ber dieses Blatt.
Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vorstellungen zusammen, welche sie von Ottilien hegte; dabei konnte sie sich eines Lâ°chelns nicht enthalten, indem der Anteil des Lehrers herzlicher zu sein schien, als ihn die Einsicht in die Tugenden eines ZËglings hervorzubringen pflegt.
Bei ihrer ruhigen, vorurteilsfreien Denkweise lieï¬ sie auch ein solches Verhâ°ltnis, wie so viele andre, vor sich liegen; die Teilnahme des verstâ°ndigen Mannes an Ottilien hielt sie wert; denn sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu schâ°tzen sei in einer Welt, wo Gleichg¸ltigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind.
Die topographische Karte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen nach einem ziemlich groï¬en Maï¬stabe charakteristisch und faï¬lich durch Federstriche und Farben dargestellt war und welche der Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu gr¸nden wuï¬te, war bald fertig; denn weniger Schlaf als dieser tâ°tige Mann bedurfte kaum jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas getan war.
“Laï¬ uns nun”, sagte er zu seinem Freunde, “an das ¸brige gehen, an die Gutsbeschreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da sein muï¬, aus der sich nachher Pachtanschlâ°ge und anderes schon entwickeln werden.
Nur Eines laï¬ uns festsetzen und einrichten: trenne alles, was eigentlich Geschâ°ft ist, vom Leben!
Das Geschâ°ft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willk¸r; das Geschâ°ft die reinste Folge, dem Leben tut eine Inkonsequenz oft not, ja sie ist liebensw¸rdig und erheiternd.
Bist du bei dem einen sicher, so kannst du in dem andern desto freier sein, anstatt daï¬ bei einer Vermischung das Sichre durch das Freie weggerissen und aufgehoben wird”.
Eduard f¸hlte in diesen Vorschlâ°gen einen leisen Vorwurf.
Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Fâ°chern abzuteilen.
Das, was er mit andern abzutun hatte, was bloï¬ von ihm selbst abhing, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschâ°fte und Beschâ°ftigung, Untrhaltung und Zerstreuung nicht genugsam voneinander absonderte.
Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bem¸hung ¸bernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag.
Sie errichteten auf dem Fl¸gel des Hauptmanns eine Repositur f¸r das Gegenwâ°rtige, ein Archiv f¸r das Vergangene, schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedene Behâ°ltnissen, Kammern, Schrâ°nken und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fâ°chern. Was man w¸nschte, ward vollstâ°ndiger gefunden, als man gehofft hatte.
Hierbei ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag ¸ber, ja einen Teil der nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewesen war.
“Ich kenne ihn nicht mehr”, sagte Eduard zu seinem Freund, “wie tâ°tig und brauchbar der Mensch ist”.
-“Das macht”, versetzte der Hauptmann, “wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat; und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stËrt, vermag er gar nichts”.
Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so versâ°umten sie abends nicht, Charlotten regelmâ°ï¬ig zu besuchen.
Fand sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und G¸tern, welches Ëfters geschah, so war das Gesprâ°ch wie das Lesen meist solchen Gegenstâ°nden gewidmet, welche den Wohlstand, die Vorteile und das Behagen der b¸rgerlichen Gesellschaft vermehren.
Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, f¸hlte sich, indem sie ihren Mann zufrieden sah, auch persËnlich gefËrdert.
Verschiedene hâ°usliche Anstalten, die sie lâ°ngst gew¸nscht, aber nicht recht einleiten kËnnen, wurden durch die Tâ°tigkeit des Hauptmanns bewirkt.
Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln bestanden, ward bereichert und Charlotte so wohl durch faï¬liche B¸cher als durch Unterredung in den Stand gesetzt, ihr tâ°tiges und h¸lfreiches Wesen Ëfter und wirksamer als bisher in ¸bung zu bringen.
Da man auch die gewËhnlichen und dessen ungeachtet nur zu oft ¸berraschenden Notfâ°lle durchdachte, so wurde alles, was zur Rettung der Ertrunkenen nËtig sein mËchte, um so mehr angeschafft, als bei der Nâ°he so mancher Teiche, Gewâ°sser und Wasserwerke Ëfters ein und der andere Unfall dieser Art vorkam.
Diese Rubrik besorgte der Hauptmann sehr ausf¸hrlich, und Eduarden entschl¸pfte die Bemerkung, daï¬ ein solcher Fall in dem Leben seines Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht.
Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch Charlotte, die nicht weniger im allgemeinen davon unterrichtet war, ¸ber jene â°uï¬erungen hinausging.
“Wie wollen alle diese vorsorglichen Anstalten loben”, sagte eines Abends der Hauptmann; “nun geht uns aber das Notwendigste noch ab, ein t¸chtiger Mann, der das alles zu handhaben weiï¬.
Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen, der jetzt um leidliche Bedingung zu haben ist, ein vorz¸glicher Mann in seinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer ¸bel Ëfters mehr Gen¸ge getan hat als ein ber¸hmter Arzt; und augenblickliche H¸lfe ist doch immer das, was auf dem Lande am meisten vermiï¬t wird”.
Auch dieser wurde sogleich verschrieben, und beide Gatten freuten sich, daï¬ sie so manche Summe, die ihnen zu willk¸rlichen Ausgaben ¸brigblieb, auf die nËtigsten zu verwenden Anlaï¬ gefunden.
So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Tâ°tigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem Sinne und fing an, mit seiner Gegenwart vËllig zufrieden und ¸ber alle Folgen beruhigt zu werden.
Sie bereitete sich gewËhnlich vor, manches zu fragen, und da sie gern leben mochte, so suchte sie alles Schâ°dliche, alles TËdliche zu entfernen.
Die Bleiglasur der TËpferwaren, der Gr¸nspan kupferner Gefâ°ï¬e hatte ihr schon manche Sorge gemacht.
Sie lieï¬ sich hier¸ber belehren, und nat¸rlicherweise muï¬te man auf die Grundbegriffe der Physik und Chemie zur¸ckgehen.
Zufâ°lligen, aber immer willkommenen Anlaï¬ zu solchen Unterhaltungen gab Eduards Neigung, der Gesellschaft vorzulesen.
Er hatte eine sehr wohlklingende, tiefe Stimme und war fr¸her wegen lebhafter, gef¸hlter Rezitation dichterischer und rednerischer Arbeiten angenehm und ber¸hmt gewesen.
Nun waren es andre Gegenstâ°nde, die ihn beschâ°ftigten, andre Schriften, woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorz¸glich Werke physischen, chemischen und technischen Inhalts.
Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menschen teilt, war die, daï¬ es ihm unertrâ°glich fiel, wenn jemand ihm beim Lesen in das Buch sah.
In fr¸herer Zeit, beim Vorlesen von Gedichten, Schauspielen, Erzâ°hlungen, war es die nat¸rliche Folge der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der Erzâ°hlende hat, zu ¸berraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt.
Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu setzen, daï¬ er niemand im R¸cken hatte.
Jetzt zu dreien war diese Vorsicht unnËtig; und da es diesmal nicht auf Erregung des Gef¸hls, auf ¸berraschung der Einbildungskraft angesehen war, so dachte er selbst nicht daran, sich sonderlich in acht zu nehmen.
Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er sich nachlâ°ssig gesetzt hatte, daï¬ Charlotte ihm in das Buch sah.
Seine alte Ungeduld erwachte, und er verwies es ihr, gewissermaï¬en unfreundlich: “wollte man sich doch solche Unarten, wie so manches andre, was der Gesellschaft lâ°stig ist, ein f¸r allemal abgewËhnen!
Wenn ich jemand vorlese, ist es denn nicht, als wenn ich ihm m¸ndlich etwas vortr¸ge?
Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens; und w¸rde ich mich wohl zu reden bem¸hen, wenn ein Fensterchen vor meiner Stirn, vor meiner Brust angebracht wâ°re, so daï¬ der, dem ich meine Gedanken einzeln zuzâ°hlen, meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer schon lange vorher wissen kËnnte, wo es mit mir hinaus wollte?
Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei St¸cke gerissen w¸rde”.
Charlotte, deren Gewandtheit sich in grËï¬eren und kleineren Zirkeln besonders dadurch bewies, daï¬ sie jede unangenehme, jede heftige, ja selbst nur lebhafte â°uï¬erung zu beseitigen, ein sich verlâ°ngerndes Gesprâ°ch zu unterbrechen, ein stockendes anzuregen wuï¬te, war auch diesmal von ihrer guten Gabe nicht verlassen:” du wirst mir meinen Fehler gewiï¬ verzeihen, wenn ich bekenne, was mir diesen Augenblick begegnet ist.
Ich hËrte von Verwandtschaften lesen, und da dacht ich eben gleich an meine Verwandten, an ein paar Vettern, die mir gerade in diesem Augenblick zu schaffen machen.
Meine Aufmerksamkeit kehrt zu deiner Vorlesung zur¸ck; ich hËre, daï¬ von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch, um mich wieder zurechtzufinden”.
“Es ist eine Gleichnisrede, die dich verf¸hrt und verwirrt hat”, sagte Eduard.
“Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narziï¬; er bespiegelt sich ¸berall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter”.
“Jawohl!” fuhr der Hauptmann fort; “so behandelt er alles, was er auï¬er sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine Willk¸r leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den GËttern”.
“MËchtet ihr mich”, versetzte Charlotte, “da ich euch nicht zu weit von dem augenblicklichen Interesse wegf¸hren will, nur k¸rzlich belehren, wie es eigentlich hier mit den Verwandtschaften gemeint sei?” “Das will ich wohl gerne tun”, erwiderte der Hauptmann, gegen den sich Charlotte gewendet hatte, “freilich nur so gut, als ich es vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen habe.
Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so dar¸ber denkt, ob es zu den neuern Lehren paï¬t, w¸ï¬te ich nicht zu sagen”.
“Es ist schlimm genug”, rief Eduard, “daï¬ man jetzt nichts mehr f¸r sein ganzes Leben lernen kann.
Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber m¸ssen jetzt alle f¸nf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen”.
“Wir Frauen”, sagte Charlotte, “nehmen es nicht so genau; und wenn ich aufrichtig sein soll, so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand zu tun; denn es macht in der Gesellschaft nichts lâ°cherlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet.
Deshalb mËchte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bei diesen Gegenstâ°nden gebraucht wird.
Wie es wissenschaftlich damit zusammenhâ°nge, wollen wir den Gelehrten ¸berlassen, die ¸brigens, wie ich habe bemerken kËnnen, sich wohl schwerlich jemals vereinigen werden”.
“Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen?” fragte Eduard nach einer Pause den Hauptmann, der, sich ein wenig bedenkend, bald darauf erwiderte: “wenn es mir erlaubt ist, dem Scheine nach weit auszuholen, so sind wir bald am Platze”.
“Sein Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert”, sagte Charlotte, indem sie ihre Arbeit beseitelegte.
Und so begann der Hauptmann: “an allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemerken wir zuerst, daï¬ sie einen Bezug auf sich selbst haben.
Es klingt freilich wunderlich, wenn man etwas ausspricht, was sich ohnehin versteht; doch nur indem man sich ¸ber das Bekannte vËllig verstâ°ndig hat, kann man miteinander zum Unbekannten fortschreiten “.
“Ich dâ°chte”, fiel ihm Eduard ein, “wir machten ihr und uns die Sache durch Beispiele bequem.
Stelle dir nur das Wasser, das Ël, das Quicksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer Teile finden.
Diese Einung verlassen sie nicht, auï¬er durch Gewalt oder sonstige Bestimmung.
Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder zusammen”. “Ohne Frage”, sagte Charlotte beistimmend.
“Regentropfen vereinigen sich gern zu StrËmen.
Und schon als Kinder spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber, indem wir es in K¸gelchen trennen und es wieder zusammenlaufen lassen”. “Und so darf ich wohl”, f¸gte der Hauptmann hinzu, “eines bedeutenden Punktes im fl¸chtigen Vorbeigehen erwâ°hnen, daï¬ nâ°mlich dieser vËllig reine, durch Fl¸ssigkeit mËgliche Bezug sich entschieden und immer durch die Kugelgestalt auszeichnet.
Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilberk¸gelchen haben Sie selbst gesprochen; ja ein fallendes geschmolzenes Blei, wenn es Zeit hat, vËllig zu erstarren, kommt unten in Gestalt einer Kugel an”.
“Lassen Sie mich voreilen”, sagte Charlotte, “ob ich treffe, wo Sie hinwollen.
Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muï¬ es auch gegen andere ein Verhâ°ltnis haben”.
“Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden sein”, fuhr Eduard eilig fort.
“Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die schnell zusammentreten, sich vereinigen, ohne aneinander etwas zu verâ°ndern, wie sich Wein mit Wasser vermischt.
Dagegen werden andre fremd nebeneinander verharren und selbst durch mechanisches Mischen und Reiben sich keinesweges verbinden; wie Ël und Wasser, zusammenger¸ttelt, sich den Augenblick wieder auseinander sondert”.
“Es fehlt nicht viel”, sagte Charlotte, “so sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber erinnert man sich dabei der Sozietâ°ten, in denen man lebte.
Die meiste â°hnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die in der Welt sich einander gegen¸berstellen, die Stâ°nde, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Zivilist”.
“Und doch!” versetzte Eduard; “wie diese durch Sitten und Gesetze vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist”.
“So verbinden wir”, fiel der Hauptmann ein, “das Ël durch Laugensalz mit dem Wasser”.
“Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vortrag!” sagte Charlotte, “damit ich zeigen kann, daï¬ ich Schritt halte.
Sind wir nicht hier schon zu den Verwandtschaften gelangt?” “ganz richtig”, erwiderte der Hauptmann; “und wir werden sie gleich in ihrer vollen Kraft und Bestimmtheit kennenlernen.
Die jenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt.
An den Alkalien und Sâ°uren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen KËrper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug.
Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Sâ°uren eine groï¬e Neigung, eine entschiedene Vereinigungslust â°uï¬ert!
Sobald unser chemisches Kabinett ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdr¸cke”.
“Lassen Sie mich gestehen”, sagte Charlotte, “wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes–und Seelenverwandte vor. Auf eben diese Weise kËnnen unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung mËglich.
Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von diesen geheimnisvollen Wirkungen vor die Augen bringen werden.
“Ich will dich”, sagte sie, zu Eduard gewendet, “jetzt im Vorlesen nicht weiter stËren und, um so viel besser unterrichtet, deinen Vortrag mit Aufmerksamkeit vernehmen”.
“Da du uns einmal aufgerufen hast”, versetzte Eduard, “so kommst du so leicht nicht los; denn eigentlich sind die verwickelten Fâ°lle die interessantesten.
Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nâ°hern, stâ°rkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken”. “Kommt das traurige Wort”, rief Charlotte, “das man leider in der Welt jetzt so oft hËrt, auch in der Naturlehre vor?” “Allerdings!” erwiderte Eduard.
“Es war sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker, daï¬ man sie Scheidek¸nstler nannte”.
“Das tut man also nicht mehr”, versetzte Charlotte, “und tut sehr wohl daran.
Das Vereinigen ist eine grËï¬ere Kunst, ein grËï¬eres Verdienst.
Ein Einungsk¸nstler wâ°re in jedem Fache der ganzen Welt willkommen.
“Nun so laï¬t mich denn, weil ihr doch einmal im Zug seid, ein paar solche Fâ°lle wissen!” “So schlieï¬en wir uns denn gleich”, sagte der Hauptmann, “an dasjenige wieder an, was wir oben schon benannt und besprochen haben.
Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Sâ°ure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist.
Bringt man ein St¸ck solchen Steines in verd¸nnte Schwefelsâ°ure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte, luftige Sâ°ure hingegen entflieht.
Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhâ°ltnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwâ°hlt w¸rde”.
“Verzeihen Sie mir”, sagte Charlotte, “wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich w¸rde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit.
Gelegenheit macht Verhâ°ltnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren NaturkËrpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloï¬ in den Hâ°nden des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt.
Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!
In dem gegenwâ°rtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsâ°ure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muﬔ.
“Es kommt nur auf sie an”, versetzte der Hauptmann, “sich mit dem Wasser zu verbinden und als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur Erquickung zu dienen”.
“Der Gips hat gut reden”, sagte Charlotte; “der ist nun fertig, ist ein KËrper, ist versorgt, anstatt daï¬ jenes ausgetriebene Wesen noch manche Not haben kann, bis es wieder unterkommt”.
“Ich m¸ï¬te sehr irren”, sagte Eduard lâ°chelnd, “oder es steckt eine kleine T¸cke hinter deinen Reden.
Gesteh nur deine Schalkheit!
Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer Schwefelsâ°ure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und in einen refraktâ°ren Gips verwandelt wird”.
“Wenn das Gewissen”, versetzte Charlotte, “dich solche Betrachtungen machen heiï¬t, so kann ich ohne Sorge sein.
Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit â°hnlichkeiten!
Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe ¸ber jene Elemente erhËht, und wenn er hier mit den schËnen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zur¸ckzukehren und den Wert solcher Ausdr¸cke bei diesem Anlaï¬ recht zu bedenken.
Mir sind leider Fâ°lle genug bekannt, wo eine innige, unauflËslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentlich Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schËn verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward”.
“Da sind die Chemiker viel galanter”, sagte Eduard; “sie gesellen ein viertes dazu, damit keines leer ausgehe”.
“Jawohl!” versetzte der Hauptmann; “diese Fâ°lle sind allerdings die bedeutendsten und merkw¸rdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam ¸bers Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Ber¸hrung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden.
In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine hËhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wâ°hlen zu und hâ°lt das Kunstwort ‘Wahlverwandtschaften’ f¸r vollkommen gerechtfertigt”.
“Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!” sagte Charlotte. “Man sollte dergleichen”, versetzte der Hauptmann, “nicht mit Worten abtun.
Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden.
Jetzt m¸ï¬te ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gâ°ben.
Man muï¬ diese tot scheinenden und doch zur Tâ°tigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstËren, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten : dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum gen¸gend f¸hlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlâ°nglich, sie zu fassen”.
“Ich leugne nicht”, sagte Eduard, “daï¬ die seltsamen KunstwËrter demjenigen, der nicht durch sinnliches Anschauen, durch Begriffe mit ihnen versËhnt ist, beschwerlich, ja lâ°cherlich werden m¸ssen.
Doch kËnnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhâ°ltnis ausdr¸cken, wovon hier die Rede war”.
“Wenn Sie glauben, daï¬ es nicht pedantisch aussieht”, versetzte der Hauptmann, “so kann ich wohl in der Zeichensprache mich k¸rzlich zusammenfassen.
Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhâ°lt; bringen Sie nun die beiden Paare in Ber¸hrung: A wird sich zu C, C zu B werfen, ohne daï¬ man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe”.
“Nun denn!” fiel Eduard ein; “bis wir alles dieses mit Augen sehen, wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten, woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen.
Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich hâ°nge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B.
Das C ist ganz deutlich der Kapitâ°n, der mich f¸r diesmal dir einigermaï¬en entzieht.
Nun ist es billig, daï¬, wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir f¸r ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebensw¸rdige Dâ°mchen Ottilie, gegen deren Annâ°herung du dich nicht lâ°nger verteidigen darfst”.
“Gut!” versetzte Charlotte.
“Wenn auch das Beispiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall paï¬t, so halte ich es doch f¸r ein Gl¸ck, daï¬ wir heute einmal vËllig zusammentreffen und daï¬ diese Natur–und Wahlverwandtschaften unter uns eine vertrauliche Mitteilung beschleunigen. Ich will es also nur gestehen, daï¬ ich seit diesem Nachmittage entschlossen bin, Ottilien zu berufen; denn meine bisherige treue Beschlieï¬erin und Haushâ°lterin wird abziehen, weil sie heiratet.
Dies wâ°re von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens willen bestimmt, das wirst du uns vorlesen.
Ich will dir nicht ins Blatt sehen, aber freilich ist mir der Inhalt schon bekannt.
Doch lieï¬ nur, lies!” Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden.
“Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fassen; denn ich habe nach vollendeter Ëffentlicher Pr¸fung dessen, was wir im vergangenen Jahr an unsern ZËglingen geleistet haben, an die sâ°mtlichen Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf ich wohl kurz sein, weil ich mit wenigem viel sagen kann.
Ihre Frâ°ulein Tochter hat sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen.
Die beiliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthâ°lt, die ihr geworden sind, und zugleich das Vergn¸gen ausdr¸ckt, das sie ¸ber ein so gl¸ckliches Gelingen empfindet, wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen.
Die meinige wird dadurch einigermaï¬en gemindert, daï¬ ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit vorgeschrittenes Frauenzimmer bei uns zur¸ckzuhalten.
Ich empfehle mich zu Gnaden und nehme mir die Freiheit, nâ°chstens meine Gedanken ¸ber das, was ich am vorteilhaftesten f¸r sie halte, zu erËffnen.
Von Ottilien schreibt mein freundlicher Geh¸lfe”.
“Von Ottilien lâ°ï¬t mich unsre ehrw¸rdige Vorsteherin schreiben, teils weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich wâ°re, dasjenige, was zu melden ist, zu melden, teils auch, weil sie selbst einer Entschuldigung bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag.
Da ich nur allzuwohl weiï¬, wie wenig die gute Ottilie das zu â°uï¬ern imstande ist, was in ihr liegt und was sie vermag, so war mir vor der Ëffentlichen Pr¸fung einigermaï¬en bange, um so mehr, als ¸berhaupt dabei keine Vorbereitung mËglich ist, und auch, wenn es nach der gewËhnlichen Weise sein kËnnte, Ottilie auf den Schein nicht vorzubereiten wâ°re.
Der Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat keinen Preis erhalten und ist auch unter denen, die kein Zeugnis empfangen haben.
Was soll ich viel sagen?
Im Schreiben hatten andere kaum so wohlgeformte Buchstaben, doch viel freiere Z¸ge; im Rechnen waren alle schneller, und an schwierige Aufgaben, welche sie besser lËst, kam es bei der Untersuchung nicht.
Im FranzËsischen ¸berparlierten und ¸berexponierten sie manche; in der Geschichte waren ihr Namen und Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand; bei der Geographie vermiï¬te man Aufmerksamkeit auf die politische Einleitung.
Zum musikalischen Vortrag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand sich weder Zeit noch Ruhe.
Im Zeichnen hâ°tte sie gewiï¬ den Preis davongetragen; ihre Umrisse waren rein und die Ausf¸hrung bei vieler Sorgfalt geistreich.
Leider hatte sie etwas zu Groï¬es unternommen und war nicht fertig geworden.
Als die Sch¸lerinnen abgetreten waren, die Pr¸fenden zusammen Rat hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabei gËnnten, merkte ich wohl bald, daï¬ von Ottilien gar nicht und, wenn es geschah, wo nicht mit Miï¬billigung, doch mit Gleichg¸ltigkeit gesprochen wurde.
Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich nach meiner ¸berzeugung sprechen konnte, und sodann, weil ich mich in j¸ngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte.
Man hËrte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Pr¸fende zwar freundlich, aber lakonisch: ‘Fâ°higkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden.
Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewuï¬te der Kinder selbst.
Dies ist auch der Gegenstand der Pr¸fung, wobei zugleich Lehrer und Sch¸ler beurteilt werden.
Aus dem, was wir von Ihnen vernehmen, schËpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings lobensw¸rdig, indem Sie auf die Fâ°higkeiten der Sch¸lerinnen genau achtgeben.
Verwandeln Sie solche ¸bers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer beg¸nstigten Sch¸lerin nicht an Beifall mangeln.
‘ In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch ¸bleres nicht bef¸rchtet, das sich bald darauf zutrug.
Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schâ°fchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschm¸ckt sehen mËchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern sich ¸ber ihre Preise freuten, am Fenster stand: ‘aber sagen Sie mir, um ‘s Himmels willen!
Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?’
Ottilie versetzte ganz gelassen: ‘verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark’.–‘Das kann niemand wissen!’ Versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich verdrieï¬lich um.
Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verâ°ndert das Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, daï¬ sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt hâ°tte.
Das war noch nicht alles.
Ihre Frâ°ulein Tochter, gnâ°dige Frau, sonst lebhaft und freim¸tig, war im Gef¸hl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und ¸berm¸tig.
Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und sch¸ttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
“Du bist heute schlecht gefahren!” rief sie aus.
Ganz gelassen antwortete Ottilie: “es ist noch nicht der letzte Pr¸fungstag”.–“Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!” rief das Frâ°ulein und sprang hinweg.
Ottilie schien gelassen f¸r jeden andern, nur nicht f¸r mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts.
Die linke Wange wird auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird.
Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung konnte sich nicht zur¸ckhalten.
Ich f¸hrte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr ¸ber die Sache.
Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler.
Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitlâ°ufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluï¬ und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen.
Die Gr¸nde werden Sie sich selbst am besten entfalten.
Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr ¸ber die Behandlung des guten Kindes.
Verlâ°ï¬t uns dann Ihre Frâ°ulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zur¸ckkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen kËnnte: ich habe nie gesehen, daï¬ Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hâ°tte.
Dagegen kommen Fâ°lle, wiewohl selten, daï¬ sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert.
Sie tut das mit einer Gebâ°rde, die f¸r den, der den Sinn davon gefaï¬t hat, unwiderstehlich ist.
Sie dr¸ckt die flachen Hâ°nde, die sie in die HËhe hebt, zusammen und f¸hrt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwâ°rts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daï¬ er gern von allem absteht, was er verlangen oder w¸nschen mËchte.
Sehen Sie jemals diese Gebâ°rde, gnâ°dige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien”.
Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lâ°cheln und Kopfsch¸tteln.
Auch konnte es an Bemerkungen ¸ber die Personen und ¸ber die Lage der Sache nicht fehlen.
“Genug!” rief Eduard endlich aus; “es ist entschieden, sie kommt!
F¸r dich wâ°re gesorgt, meine Liebe, und wir d¸rfen nun auch mit unserm Vorschlag hervorr¸cken.
Es wird hËchst nËtig, daï¬ ich zu dem Hauptmann auf den rechten Fl¸gel hin¸berziehe.
Sowohl abends als morgens ist erst die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten.
Du erhâ°ltst dagegen f¸r dich und Ottilien auf deiner Seite den schËnsten Raum”.
Charlotte lieï¬ sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre k¸nftige Lebensart.
Unter andern rief er aus: “es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten.
Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gest¸tzt und die KËpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muï¬ das ein Paar artige Gegenbilder geben”.
Der Hauptmann wollte das gefâ°hrlich finden.
Eduard hingegen rief aus: “nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in acht!
Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen w¸rde?” “Nun, ich dâ°chte doch”, versetzte Charlotte, “das verst¸nde sich von selbst”.
“Freilich”, rief Eduard; “es kehrte zu seinem A zur¸ck, zu seinem A und O!” rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust dr¸ckte.
Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren.
Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nâ°hern, warf sich ihr zu F¸ï¬en und umfaï¬te ihre Kniee.
“Wozu die Dem¸tigung!” sagte Charlotte, die einigermaï¬en verlegen war und sie aufheben wollte.
“Es ist so dem¸tig nicht gemeint”, versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb.
“Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht hËher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiï¬ war”.
Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich.
Sie ward den Mâ°nnern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt.
SchËnheit ist ¸berall ein gar willkommener Gast.