Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 2 by Johann Wolfgang von Goethe

Association / Carnegie-Mellon University”. *END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END* This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 2 oder die Entsagenden Zweites Buch Erstes Kapitel Die Wallfahrenden hatten nach Vorschrift den Weg genommen und fanden gl¸cklich die Grenze der Provinz, in der sie so manches Merkw¸rdige erfahren sollten; beim ersten
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Association / Carnegie-Mellon University”.

*END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END*

This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.

Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 2
oder die Entsagenden

Zweites Buch

Erstes Kapitel

Die Wallfahrenden hatten nach Vorschrift den Weg genommen und fanden gl¸cklich die Grenze der Provinz, in der sie so manches Merkw¸rdige erfahren sollten; beim ersten Eintritt gewahrten sie sogleich der fruchtbarsten Gegend, welche an sanften H¸geln den Feldbau, auf hˆhern Bergen die Schafzucht, in weiten Talfl‰chen die Viehzucht beg¸nstigte. Es war kurz vor der Ernte und alles in grˆflter F¸lle; das, was sie jedoch gleich in Verwunderung setzte, war, dafl sie weder Frauen noch M‰nner, wohl aber durchaus Knaben und J¸nglinge besch‰ftigt sahen, auf eine gl¸ckliche Ernte sich vorzubereiten, ja auch schon auf ein frˆhliches Erntefest freundliche Anstalt zu treffen. Sie begr¸flten einen und den andern und fragten nach dem Obern, von dessen Aufenthalt man keine Rechenschaft geben konnte. Die Adresse ihres Briefs lautete: “An den Obern, oder die Dreie.” Auch hierin konnten sich die Knaben nicht finden; man wies die Fragenden jedoch an einen Aufseher, der eben das Pferd zu besteigen sich bereitete; sie erˆffneten ihre Zwecke; des Felix Freim¸tigkeit schien ihm zu gefallen, und so ritten sie zusammen die Strafle hin.

Schon hatte Wilhelm bemerkt, dafl in Schnitt und Farbe der Kleider eine Mannigfaltigkeit obwaltete, die der ganzen kleinen Vˆlkerschaft ein sonderbares Ansehn gab; eben war er im Begriff, seinen Begleiter hiernach zu fragen, als noch eine wundersamere Bemerkung sich ihm auftat: alle Kinder, sie mochten besch‰ftigt sein, wie sie wollten, lieflen ihre Arbeit liegen und wendeten sich mit besondern, aber verschiedenen Geb‰rden gegen die Vorbeireitenden, und es war leicht zu folgern, dafl es dem Vorgesetzten galt. Die j¸ngsten legten die Arme kreuzweis ¸ber die Brust und blickten frˆhlich gen Himmel, die mittlern hielten die Arme auf den R¸cken und schauten l‰chelnd zur Erde, die dritten standen strack und mutig; die Arme niedergesenkt, wendeten sie den Kopf nach der rechten Seite und stellten sich in eine Reihe, anstatt dafl jene vereinzelt blieben, wo man sie traf.

Als man darauf haltmachte und abstieg, wo eben mehrere Kinder nach verschiedener Weise sich aufstellten und von dem Vorgesetzten gemustert wurden, fragte Wilhelm nach der Bedeutung dieser Geb‰rden; Felix fiel ein und sagte munter: “Was f¸r eine Stellung hab’ ich denn einzunehmen?”–“Auf alle F‰lle”, versetzte der Aufseher, “zuerst die Arme ¸ber die Brust und ernsthaft-froh nach oben gesehen, ohne den Blick zu verwenden.” Er gehorchte, doch rief er bald: “Dies gef‰llt mir nicht sonderlich, ich sehe ja nichts da droben; dauert es lange? Doch ja!” rief er freudig, “ein paar Habichte fliegen von Westen nach Osten; das ist wohl ein gutes Zeichen?”– “Wienach du’s aufnimmst, je nachdem du dich betr‰gst”, versetzte jener; “jetzt mische dich unter sie, wie sie sich mischen.” Er gab ein Zeichen, die Kinder verlieflen ihre Stellung, ergriffen ihre Besch‰ftigung oder spielten wie vorher.

“Mˆgen und kˆnnen Sie mir”, sagte Wilhelm darauf, “das, was mich hier in Verwunderung setzt, erkl‰ren? Ich sehe wohl, dafl diese Geb‰rden, diese Stellungen Gr¸fle sind, womit man Sie empf‰ngt. “–“Ganz richtig”, versetzte jener, “Gr¸fle, die mir sogleich andeuten, auf welcher Stufe der Bildung ein jeder dieser Knaben steht.”

“D¸rfen Sie mir aber”, versetzte Wilhelm, “die Bedeutung des Stufengangs wohl erkl‰ren? denn dafl es einer sei, l‰flt sich wohl einsehen.”– “Die geb¸hrt Hˆheren, als ich bin”, antwortete jener; “so viel aber kann ich versichern, dafl es nicht leere Grimassen sind, dafl vielmehr den Kindern zwar nicht die hˆchste, aber doch eine leitende, faflliche Bedeutung ¸berliefert wird; zugleich aber ist jedem geboten, f¸r sich zu behalten und zu hegen, was man ihm als Bescheid zu erteilen f¸r gut findet; sie d¸rfen weder mit Fremden noch unter einander selbst dar¸ber schwatzen, und so modifiziert sich die Lehre hundertf‰ltig. Auflerdem hat das Geheimnis sehr grofle Vorteile: denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter. Gewissen Geheimnissen, und wenn sie offenbar w‰ren, mufl man durch Verh¸llen und Schweigen Achtung erweisen, denn dieses wirkt auf Scham und gute Sitten.”–“Ich verstehe Sie”, versetzte Wilhelm, “warum sollten wir das, was in kˆrperlichen Dingen so nˆtig ist, nicht auch geistig anwenden? Vielleicht aber kˆnnen Sie in einem andern Bezug meine Neugierde befriedigen. Die grofle Mannigfaltigkeit in Schnitt und Farbe der Kleider f‰llt mir auf, und doch seh’ ich nicht alle Farben, aber einige in allen ihren Abstufungen, vom Hellsten bis zum Dunkelsten. Doch bemerke ich, dafl hier keine Bezeichnung der Stufen irgendeines Alters oder Verdienstes gemeint sein kann, indem die kleinsten und grˆflten Knaben untermischt so an Schnitt als Farbe gleich sein kˆnnen, aber die von gleichen Geb‰rden im Gewand nicht miteinander ¸bereinstimmen.”–“Auch was dies betrifft”, versetzte der Begleitende, “darf ich mich nicht weiter auslassen; doch m¸flte ich mich sehr irren, oder Sie werden ¸ber alles, wie Sie nur w¸nschen mˆgen, aufgekl‰rt von uns scheiden.”

Man verfolgte nunmehr die Spur des Obern, welche man gefunden zu haben glaubte; nun aber muflte dem Fremdling notwendig auffallen, dafl, je weiter sie ins Land kamen, ein wohllautender Gesang ihnen immer mehr entgegentˆnte. Was die Knaben auch begannen, bei welcher Arbeit man sie auch fand, immer sangen sie, und zwar schienen es Lieder jedem Gesch‰ft besonders angemessen und in gleichen F‰llen ¸berall dieselben. Traten mehrere Kinder zusammen, so begleiteten sie sich wechselweise; gegen Abend fanden sich auch Tanzende, deren Schritte durch Chˆre belebt und geregelt wurden. Felix stimmte vom Pferde herab mit ein, und zwar nicht ganz ungl¸cklich, Wilhelm vergn¸gte sich an dieser die Gegend belebenden Unterhaltung.

“Wahrscheinlich”, so sprach er zu seinem Gef‰hrten, “wendet man viele Sorgfalt auf solchen Unterricht, denn sonst kˆnnte diese Geschicklichkeit nicht so weit ausgebreitet und so vollkommen ausgebildet sein.”–“Allerdings”, versetzte jener, “bei uns ist der Gesang die erste Stufe der Bildung, alles andere schlieflt sich daran und wird dadurch vermittelt. Der einfachste Genufl sowie die einfachste Lehre werden bei uns durch Gesang belebt und eingepr‰gt, ja selbst was wir ¸berliefern von Glaubens–und Sittenbekenntnis, wird auf dem Wege des Gesanges mitgeteilt; andere Vorteile zu selbstt‰tigen Zwecken verschwistern sich sogleich: denn indem wir die Kinder ¸ben, Tˆne, welche sie hervorbringen, mit Zeichen auf die Tafel schreiben zu lernen und nach Anlafl dieser Zeichen sodann in ihrer Kehle wiederzufinden, ferner den Text darunterzuf¸gen, so ¸ben sie zugleich Hand, Ohr und Auge und gelangen schneller zum Recht–und Schˆnschreiben, als man denkt, und da dieses alles zuletzt nach reinen Maflen, nach genau bestimmten Zahlen ausge¸bt und nachgebildet werden mufl, so fassen sie den hohen Wert der Mefl–und Rechenkunst viel geschwinder als auf jede andere Weise. Deshalb haben wir denn unter allem Denkbaren die Musik zum Element unserer Erziehung gew‰hlt, denn von ihr laufen gleichgebahnte Wege nach allen Seiten.”

Wilhelm suchte sich noch weiter zu unterrichten und verbarg seine Verwunderung nicht, dafl er gar keine Instrumentalmusik vernehme. “Diese wird bei uns nicht vernachl‰ssigt”, versetzte jener, “aber in einen besondern Bezirk, in das anmutigste Bergtal, eingeschlossen ge¸bt; und da ist denn wieder daf¸r gesorgt, dafl die verschiedenen Instrumente in auseinanderliegenden Ortschaften gelehrt werden. Besonders die Mifltˆne der Anf‰nger sind in gewisse Einsiedeleien verwiesen, wo sie niemand zur Verzweiflung bringen: denn Ihr werdet selbst gestehen, dafl in der wohleingerichteten b¸rgerlichen Gesellschaft kaum ein trauriger Leiden zu dulden sei, als das uns die Nachbarschaft eines angehenden Flˆten–oder Violinenspielers aufdringt.

Unsere Anf‰nger gehen, aus eigener lˆblicher Gesinnung, niemand l‰stig sein zu wollen, freiwillig l‰nger oder k¸rzer in die W¸ste und beeifern sich, abgesondert, um das Verdienst, der bewohnten Welt n‰hertreten zu d¸rfen, weshalb jedem von Zeit zu Zeit ein Versuch, heranzutreten, erlaubt wird, der selten mifllingt, weil wir Scham und Scheu bei dieser wie bei unsern ¸brigen Einrichtungen gar wohl hegen und pflegen d¸rfen. Dafl Eurem Sohn eine gl¸ckliche Stimme geworden, freut mich innigst, f¸r das ¸brige sorgt sich um desto leichter.”

Nun waren sie zu einem Ort gelangt, wo Felix verweilen und sich an der Umgebung pr¸fen sollte, bis man zur fˆrmlichen Aufnahme geneigt w‰re; schon von weitem hˆrten sie einen freudigen Gesang; es war ein Spiel, woran sich die Knaben in der Feierstunde diesmal ergˆtzten. Ein allgemeiner Chorgesang erscholl, wozu jedes Glied eines weiten Kreises freudig, klar und t¸chtig an seinem Teile zustimmte, den Winken des Regelnden gehorchend. Dieser ¸berraschte jedoch ˆfters die Singenden, indem er durch ein Zeichen den Chorgesang aufhob und irgendeinen einzelnen Teilnehmenden, ihn mit dem St‰bchen ber¸hrend, aufforderte, sogleich allein ein schickliches Lied dem verhallenden Ton, dem vorschwebenden Sinne anzupassen. Schon zeigten die meisten viel Gewandtheit, einige, denen das Kunstst¸ck mifllang, gaben ihr Pfand willig hin, ohne gerade ausgelacht zu werden. Felix war Kind genug, sich gleich unter sie zu mischen, und zog sich noch so leidlich aus der Sache. Sodann ward ihm jener erste Grufl zugeeignet; er legte sogleich die H‰nde auf die Brust, blickte aufw‰rts, und zwar mit so schnackischer Miene, dafl man wohl bemerken konnte, ein geheimer Sinn dabei sei ihm noch nicht aufgegangen.

Der angenehme Ort, die gute Aufnahme, die muntern Gespielen, alles gefiel dem Knaben so wohl, dafl es ihm nicht sonderlich wehe tat, seinen Vater abreisen zu sehen; fast blickte er dem weggef¸hrten Pferde schmerzlicher nach; doch liefl er sich bedeuten, da er vernahm, dafl er es im gegenw‰rtigen Bezirk nicht behalten kˆnne; man versprach ihm dagegen, er solle, wo nicht dasselbe, doch ein gleiches, munter und wohlgezogen, unerwartet wiederfinden.

Da sich der Obere nicht erreichen liefl, sagte der Aufseher: “Ich mufl Euch nun verlassen, meine Gesch‰fte zu verfolgen; doch will ich Euch zu den Dreien bringen, die unsern Heiligt¸mern vorstehen, Euer Brief ist auch an sie gerichtet, und sie zusammen stellen den Obern vor.” Wilhelm h‰tte gew¸nscht, von den Heiligt¸mern im voraus zu vernehmen, jener aber versetzte: “Die Dreie werden Euch, zu Erwiderung des Vertrauens, dafl Ihr uns Euren Sohn ¸berlaflt, nach Weisheit und Billigkeit gewifl das Nˆtigste erˆffnen. Die sichtbaren Gegenst‰nde der Verehrung, die ich Heiligt¸mer nannte, sind in einen besondern Bezirk eingeschlossen, werden mit nichts gemischt, durch nichts gestˆrt; nur zu gewissen Zeiten des Jahres l‰flt man die Zˆglinge, den Stufen ihrer Bildung gem‰fl, dort eintreten, um sie historisch und sinnlich zu belehren, da sie denn genugsamen Eindruck mit wegnehmen, um, bei Aus¸bung ihrer Pflicht, eine Zeitlang daran zu zehren.”

Nun stand Wilhelm am Tor eines mit hohen Mauern umgebenen Talwaldes; auf ein gewisses Zeichen erˆffnete sich die kleine Pforte, und ein ernster, ansehnlicher Mann empfing unsern Freund. Dieser fand sich in einem groflen, herrlichen gr¸nenden Raum, von B‰umen und B¸schen vielerlei Art beschattet, kaum dafl er stattliche Mauern und ansehnliche Geb‰ude durch diese dichte und hohe Naturpflanzung hindurch bemerken konnte; ein freundlicher Empfang von den Dreien, die sich nach und nach herbeifanden, lˆste sich endlich in ein Gespr‰ch auf, wozu jeder das Seinige beitrug, dessen Inhalt wir jedoch in der K¸rze zusammenfassen.

“Da Ihr uns Euren Sohn vertraut”, sagten sie, “sind wir schuldig, Euch tiefer in unser Verfahren hineinblicken zu lassen. Ihr habt manches ‰uflerliche gesehen, welches nicht sogleich sein Verst‰ndnis mit sich f¸hrt; was davon w¸nscht Ihr vor allem aufgeschlossen?”

“Anst‰ndige, doch seltsame Geb‰rden und Gr¸fle hab’ ich bemerkt, deren Bedeutung ich zu erfahren w¸nschte; bei euch bezieht sich gewifl das ‰uflere auf das Innere, und umgekehrt; laflt mich diesen Bezug erfahren.”

“Wohlgeborne, gesunde Kinder”, versetzten jene, “bringen viel mit; die Natur hat jedem alles gegeben, was er f¸r Zeit und Dauer nˆtig h‰tte; dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, ˆfters entwickelt sich’s besser von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei. Kˆnnt Ihr es selbst finden, so sprecht es aus.” Wilhelm bedachte sich eine kurze Zeit und sch¸ttelte sodann den Kopf.

Jene, nach einem anst‰ndigen Zaudern, riefen: “Ehrfurcht!” Wilhelm stutzte. “Ehrfurcht!” hiefl es wiederholt. “Allen fehlt sie, vielleicht Euch selbst.

Dreierlei Geb‰rde habt Ihr gesehen, und wir ¸berliefern eine dreifache Ehrfurcht, die, wenn sie zusammenflieflt und ein Ganzes bildet, erst ihre hˆchste Kraft und Wirkung erreicht. Das erste ist Ehrfurcht vor dem, was ¸ber uns ist. Jene Geb‰rde, die Arme kreuzweis ¸ber die Brust, einen freudigen Blick gen Himmel, das ist, was wir unm¸ndigen Kindern auflegen und zugleich das Zeugnis von ihnen verlangen, dafl ein Gott da droben sei, der sich in Eltern, Lehrern, Vorgesetzten abbildet und offenbart. Das zweite: Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist. Die auf den R¸cken gefalteten, gleichsam gebundenen H‰nde, der gesenkte, l‰chelnde Blick sagen, dafl man die Erde wohl und heiter zu betrachten habe; sie gibt Gelegenheit zur Nahrung; sie gew‰hrt uns‰gliche Freuden; aber unverh‰ltnism‰flige Leiden bringt sie. Wenn einer sich kˆrperlich besch‰digte, verschuldend oder unschuldig, wenn ihn andere vors‰tzlich oder zuf‰llig verletzten, wenn das irdische Willenlose ihm ein Leid zuf¸gte, das bedenk’ er wohl: denn solche Gefahr begleitet ihn sein Leben lang. Aber aus dieser Stellung befreien wir unsern Zˆgling baldmˆglichst, sogleich wenn wir ¸berzeugt sind, dafl die Lehre dieses Grads genugsam auf ihn gewirkt habe; dann aber heiflen wir ihn sich ermannen, gegen Kameraden gewendet nach ihnen sich richten. Nun steht er strack und k¸hn, nicht etwa selbstisch vereinzelt; nur in Verbindung mit seinesgleichen macht er Fronte gegen die Welt. Weiter m¸flten wir nichts hinzuzuf¸gen.”

“Es leuchtet mir ein!” versetzte Wilhelm; “deswegen liegt die Menge wohl so im argen, weil sie sich nur im Element des Miflwollens und Miflredens behagt; wer sich diesem ¸berliefert, verh‰lt sich gar bald gegen Gott gleichg¸ltig, verachtend gegen die Welt, gegen seinesgleichen geh‰ssig; das wahre, echte, unentbehrliche Selbstgef¸hl aber zerstˆrt sich in D¸nkel und Anmaflung. Erlauben Sie mir dessenungeachtet”, fuhr Wilhelm fort, “ein einziges einzuwenden: Hat man nicht von jeher die Furcht roher Vˆlker vor m‰chtigen Naturerscheinungen und sonst unerkl‰rlichen, ahnungsvollen Ereignissen f¸r den Keim gehalten, woraus ein hˆheres Gef¸hl, eine reinere Gesinnung sich stufenweise entwickeln sollte?” Hierauf erwiderten jene: “Der Natur ist Furcht wohl gem‰fl, Ehrfurcht aber nicht; man f¸rchtet ein bekanntes oder unbekanntes m‰chtiges Wesen, der Starke sucht es zu bek‰mpfen, der Schwache zu vermeiden, beide w¸nschen es loszuwerden und f¸hlen sich gl¸cklich, wenn sie es auf kurze Zeit beseitigt haben, wenn ihre Natur sich zur Freiheit und Unabh‰ngigkeit einigermaflen wieder herstellte. Der nat¸rliche Mensch wiederholt diese Operation millionenmal in seinem Leben, von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu f¸rchten ist leicht, aber beschwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequem. Ungern entschlieflt sich der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr entschlieflt sich nie dazu; es ist ein hˆherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden mufl und der sich nur bei besonders Beg¸nstigten aus sich selbst entwickelt, die man auch deswegen von jeher f¸r Heilige, f¸r Gˆtter gehalten. Hier liegt die W¸rde, hier das Gesch‰ft aller echten Religionen, deren es auch nur dreie gibt, nach den Objekten, gegen welche sie ihre Andacht wenden.”

Die M‰nner hielten inne, Wilhelm schwieg eine Weile nachdenkend; da er in sich aber die Anmaflung nicht f¸hlte, den Sinn jener sonderbaren Worte zu deuten, so bat er die W¸rdigen, in ihrem Vortrage fortzufahren, worin sie ihm denn auch sogleich willfahrten. “Keine Religion”, sagten sie, “die sich auf Furcht gr¸ndet, wird unter uns geachtet. Bei der Ehrfurcht, die der Mensch in sich walten l‰flt, kann er, indem er Ehre gibt, seine Ehre behalten, er ist nicht mit sich selbst veruneint wie in jenem Falle. Die Religion, welche auf Ehrfurcht vor dem, was ¸ber uns ist, beruht, nennen wir die ethnische, es ist die Religion der Vˆlker und die erste gl¸ckliche Ablˆsung von einer niedern Furcht; alle sogenannten heidnischen Religionen sind von dieser Art, sie mˆgen ¸brigens Namen haben, wie sie wollen. Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gr¸ndet, die wir vor dem haben, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische: denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, mufl alles Hˆhere zu sich herab, alles Niedere zu sich herauf ziehen, und nur in diesem Mittelzustand verdient er den Namen des Weisen. Indem er nun das Verh‰ltnis zu seinesgleichen und also zur ganzen Menschheit, das Verh‰ltnis zu allen ¸brigen irdischen Umgebungen, notwendigen und zuf‰lligen, durchschaut, lebt er im kosmischen Sinne allein in der Wahrheit. Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegr¸ndet auf die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliche, weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart; es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und muflte. Aber was gehˆrte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen hˆhern Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als gˆttlich anzuerkennen, ja S¸nde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fˆrdernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen. Hievon finden sich freilich Spuren durch alle Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die Mehrheit nicht wieder zur¸ck, und man darf sagen, dafl die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann, da sie sich einmal gˆttlich verkˆrpert hat, nicht wieder aufgelˆst werden mag.”

“Zu welcher von diesen Religionen bekennt ihr euch denn insbesondere?” sagte Wilhelm. “Zu allen dreien”, erwiderten jene; “denn sie zusammen bringen eigentlich die wahre Religion hervor; aus diesen drei Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor sich selbst, und jene entwickeln sich abermals aus dieser, so dafl der Mensch zum Hˆchsten gelangt, was er zu erreichen f‰hig ist, dafl er sich selbst f¸r das Beste halten darf, was Gott und Natur hervorgebracht haben, ja, dafl er auf dieser Hˆhe verweilen kann, ohne durch D¸nkel und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden.”

“Ein solches Bekenntnis, auf diese Weise entwickelt, befremdet mich nicht”, versetzte Wilhelm, “es kommt mit allem ¸berein, was man im Leben hie und da vernimmt, nur dafl euch dasjenige vereinigt, was andere trennt.” Hierauf versetzten jene: “Schon wird dieses Bekenntnis von einem groflen Teil der Welt ausgesprochen, doch unbewuflt.”

“Wie denn und wo?” fragte Wilhelm. “Im Credo!” riefen jene laut; “denn der erste Artikel ist ethnisch und gehˆrt allen Vˆlkern; der zweite christlich, f¸r die mit Leiden K‰mpfenden und in Leiden Verherrlichten; der dritte zuletzt lehrt eine begeisterte Gemeinschaft der Heiligen, welches heiflt: der im hˆchsten Grad Guten und Weisen. Sollten daher die drei gˆttlichen Personen, unter deren Gleichnis und Namen solche ¸berzeugungen und Verheiflungen ausgesprochen sind, nicht billigermaflen f¸r die hˆchste Einheit gelten?”

“Ich danke”, versicherte jener, “dafl ihr mir dieses, als einem Erwachsenen, dem die drei Sinnesarten nicht fremd sind, so klar und zusammenh‰ngend aussprechen wollen, und wenn ich nun zur¸ckdenke, dafl ihr den Kindern diese hohe Lehre erst als sinnliches Zeichen, dann mit einigem symbolischen Anklang ¸berliefert und zuletzt die oberste Deutung ihnen entwickelt, so mufl ich es hˆchlich billigen.”

“Ganz richtig”, erwiderten jene; “nun aber m¸flt Ihr noch mehr erfahren, damit Ihr Euch ¸berzeugt, dafl Euer Sohn in den besten H‰nden sei. Doch dies Gesch‰ft bleibe f¸r die Morgenstunden; ruht aus und erquickt Euch, damit Ihr uns, vergn¸gt und vollkommen menschlich, morgen fr¸h in das Innere folgen kˆnnt.”

Zweites Kapitel

An der Hand des ‰ltesten trat nun unser Freund durch ein ansehnliches Portal in eine runde oder vielmehr achteckige Halle, die mit Gem‰lden so reichlich ausgeziert war, dafl sie den Ankˆmmling in Erstaunen setzte. Er begriff leicht, dafl alles, was er erblickte, einen bedeutenden Sinn haben m¸flte, ob er sich gleich denselben nicht so geschwind entziffern konnte. Er war eben im Begriff, seinen Begleiter deshalb zu befragen, als dieser ihn einlud, seitw‰rts in eine Galerie zu treten, die, an der einen Seite offen, einen ger‰umigen, blumenreichen Garten umgab. Die Wand zog jedoch mehr als dieser heitre, nat¸rliche Schmuck die Augen an sich: denn sie war durchaus gemalt, und der Ankˆmmling konnte nicht lange daran hergehen, ohne zu bemerken, dafl die heiligen B¸cher der Israeliten den Stoff zu diesen Bildern geliefert hatten.

“Es ist hier”, sagte der ‰lteste, “wo wir diejenige Religion ¸berliefern, die ich Euch der K¸rze wegen die ethnische genannt habe. Der Gehalt derselben findet sich in der Weltgeschichte, so wie die H¸lle derselben in den Begebenheiten. An der Wiederkehr der Schicksale ganzer Vˆlker wird sie eigentlich begriffen.”

“Ihr habt”, sagte Wilhelm, “wie ich sehe, dem israelitischen Volke die Ehre erzeigt und seine Geschichte zum Grunde dieser Darstellung gelegt, oder vielmehr ihr habt sie zum Hauptgegenstande derselben gemacht.”–“Wie Ihr seht”, versetzte der Alte; “denn Ihr werdet bemerken, dafl in den Sockeln und Friesen nicht sowohl synchronistische als symphronistische Handlungen und Begebenheiten aufgef¸hrt sind, indem unter allen Vˆlkern gleichbedeutende und Gleiches deutende Nachrichten vorkommen. So erblickt Ihr hier, wenn in dem Hauptfelde Abraham von seinen Gˆttern in der Gestalt schˆner J¸nglinge besucht wird, den Apoll unter den Hirten Admets oben in der Friese; woraus wir lernen kˆnnen, dafl, wenn die Gˆtter den Menschen erscheinen, sie gewˆhnlich unerkannt unter ihnen wandeln.”

Die Betrachtenden schritten weiter. Wilhelm fand meistens bekannte Gegenst‰nde, jedoch lebhafter und bedeutender vorgetragen, als er sie sonst zu sehen gewohnt war. ¸ber weniges bat er sich einige Erkl‰rung aus; wobei er sich nicht enthalten konnte, nochmals zu fragen, warum man die israelitische Geschichte vor allen andern gew‰hlt. Hierauf antwortete der ‰lteste: “Unter allen heidnischen Religionen, denn eine solche ist die israelitische gleichfalls, hat diese grofle Vorz¸ge, wovon ich nur einiger erw‰hnen will. Vor dem ethnischen Richterstuhle, vor dem Richterstuhl des Gottes der Vˆlker, wird nicht gefragt, ob es die beste, die vortrefflichste Nation sei, sondern nur, ob sie daure, ob sie sich erhalten habe. Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt, wie es ihm seine Anf¸hrer, Richter, Vorsteher, Propheten tausendmal vorgeworfen haben; es besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler anderer Vˆlker: aber an Selbst‰ndigkeit, Festigkeit, Tapferkeit und, wenn alles das nicht mehr gilt, an Z‰heit sucht es seinesgleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den Namen Jehova durch alle Zeiten zu verherrlichen. Wir haben es daher als Musterbild aufgestellt, als Hauptbild, dem die andern nur zum Rahmen dienen.”

“Es ziemt sich nicht, mit Euch zu rechten”, versetzte Wilhelm, “da Ihr mich zu belehren imstande seid. Erˆffnet mir daher noch die ¸brigen Vorteile dieses Volks, oder vielmehr seiner Geschichte, seiner Religion.”–“Ein Hauptvorteil”, versetzte jener, “ist die treffliche Sammlung ihrer heiligen B¸cher. Sie stehen so gl¸cklich beisammen, dafl aus den fremdesten Elementen ein t‰uschendes Ganze entgegentritt. Sie sind vollst‰ndig genug, um zu befriedigen, fragmentarisch genug, um anzureizen; hinl‰nglich barbarisch, um aufzufordern, hinl‰nglich zart, um zu bes‰nftigen; und wie manche andere entgegengesetzte Eigenschaften sind an diesen B¸chern, an diesem Buche zu r¸hmen!”

Die Folge der Hauptbilder sowohl als die Beziehung der kleinern, die sie oben und unten begleiteten, gab dem Gast so viel zu denken, dafl er kaum auf die bedeutenden Bemerkungen hˆrte, wodurch der Begleiter mehr seine Aufmerksamkeit abzulenken als an die Gegenst‰nde zu fesseln schien. Indessen sagte jener bei Gelegenheit: “Noch einen Vorteil der israelitischen Religion mufl ich hier erw‰hnen: dafl sie ihren Gott in keine Gestalt verkˆrpert und uns also die Freiheit l‰flt, ihm eine w¸rdige Menschengestalt zu geben, auch im Gegensatz die schlechte Abgˆtterei durch Tier–und Untiergestalten zu bezeichnen.”

Unser Freund hatte sich nunmehr auf einer kurzen Wanderung durch diese Hallen die Weltgeschichte wieder vergegenw‰rtigt; es war ihm einiges neu in Absicht auf die Begebenheit. So waren ihm durch Zusammenstellung der Bilder, durch die Reflexionen seines Begleiters manche neue Ansichten entsprungen, und er freute sich, dafl Felix durch eine so w¸rdige sinnliche Darstellung sich jene groflen, bedeutenden, musterhaften Ereignisse f¸r sein ganzes Leben als wirklich, und als wenn sie neben ihm lebendig gewesen w‰ren, zueignen sollte. Er betrachtete diese Bilder zuletzt nur aus den Augen des Kindes, und in diesem Sinne war er vollkommen damit zufrieden; und so waren die Wandelnden zu den traurigen, verworrenen Zeiten und endlich zu dem Untergang der Stadt und des Tempels, zum Morde, zur Verbannung, zur Sklaverei ganzer Massen dieser beharrlichen Nation gelangt. Ihre nachherigen Schicksale waren auf eine kluge Weise allegorisch vorgestellt, da eine historische, eine reale Darstellung derselben aufler den Grenzen der edlen Kunst liegt.

Hier war die bisher durchwanderte Galerie auf einmal abgeschlossen, und Wilhelm war verwundert, sich schon am Ende zu sehen. “Ich finde”, sagte er zu seinem F¸hrer, “in diesem Geschichtsgang eine L¸cke. Ihr habt den Tempel Jerusalems zerstˆrt und das Volk zerstreut, ohne den gˆttlichen Mann aufzuf¸hren, der kurz vorher daselbst noch lehrte, dem sie noch kurz vorher kein Gehˆr geben wollten.”

“Dies zu tun, wie Ihr es verlangt, w‰re ein Fehler gewesen. Das Leben dieses gˆttlichen Mannes, den Ihr bezeichnet, steht mit der Weltgeschichte seiner Zeit in keiner Verbindung. Es war ein Privatleben, seine Lehre eine Lehre f¸r die Einzelnen. Was Vˆlkermassen und ihren Gliedern ˆffentlich begegnet, gehˆrt der Weltgeschichte, der Weltreligion, welche wir f¸r die erste halten. Was dem Einzelnen innerlich begegnet, gehˆrt zur zweiten Religion, zur Religion der Weisen: eine solche war die, welche Christus lehrte und ¸bte, solange er auf der Erde umherging. Deswegen ist hier das ‰uflere abgeschlossen, und ich erˆffne Euch nun das Innere.”

Eine Pforte tat sich auf, und sie traten in eine ‰hnliche Galerie, wo Wilhelm sogleich die Bilder der zweiten heiligen Schriften erkannte. Sie schienen von einer andern Hand zu sein als die ersten: alles war sanfter, Gestalten, Bewegungen, Umgebung, Licht und F‰rbung.

“Ihr seht”, sagte der Begleiter, nachdem sie an einem Teil der Bilder vor¸bergegangen waren, “hier weder Taten noch Begebenheiten, sondern Wunder und Gleichnisse. Es ist eine neue Welt, ein neues ‰uflere, anders als das vorige, und ein Inneres, das dort ganz fehlt. Durch Wunder und Gleichnisse wird eine neue Welt aufgetan. Jene machen das Gemeine auflerordentlich, diese das Auflerordentliche gemein. “– “Ihr werdet die Gef‰lligkeit haben”, versetzte Wilhelm, “mir diese wenigen Worte umst‰ndlicher auszulegen: denn ich f¸hle mich nicht geschickt, es selbst zu tun.”–“Sie haben einen nat¸rlichen Sinn”, versetzte jener, “obgleich einen tiefen. Beispiele werden ihn am geschwindesten aufschlieflen. Es ist nichts gemeiner und gewˆhnlicher als Essen und Trinken; auflerordentlich dagegen, einen Trank zu veredeln, eine Speise zu vervielf‰ltigen, dafl sie f¸r eine Unzahl hinreiche. Es ist nichts gewˆhnlicher als Krankheit und kˆrperliche Gebrechen; aber diese durch geistige oder geistigen ‰hnlichen Mittel aufheben, lindern ist auflerordentlich, und eben daher entsteht das Wunderbare des Wunders, dafl das Gewˆhnliche und das Auflerordentliche, das Mˆgliche und das Unmˆgliche eins werden. Bei dem Gleichnisse, bei der Parabel ist das Umgekehrte: hier ist der Sinn, die Einsicht, der Begriff das Hohe, das Auflerordentliche, das Unerreichbare. Wenn dieser sich in einem gemeinen, gewˆhnlichen, fafllichen Bilde verkˆrpert, so dafl er uns als lebendig, gegenw‰rtig, wirklich entgegentritt, dafl wir ihn uns zueignen, ergreifen, festhalten, mit ihm wie mit unsersgleichen umgehen kˆnnen, das ist denn auch eine zweite Art von Wunder und wird billig zu jenen ersten gesellt, ja vielleicht ihnen noch vorgezogen. Hier ist die lebendige Lehre ausgesprochen, die Lehre, die keinen Streit erregt; es ist keine Meinung ¸ber das, was Recht oder Unrecht ist; es ist das Rechte oder Unrechte unwidersprechlich selbst.”

Dieser Teil der Galerie war k¸rzer, oder vielmehr es war nur der vierte Teil der Umgebung des innern Hofes. Wenn man jedoch an dem ersten nur vorbeiging, so verweilte man hier gern; man ging gern hier auf und ab. Die Gegenst‰nde waren nicht so auffallend, nicht so mannigfaltig; aber desto einladender, den tiefen, stillen Sinn derselben zu erforschen. Auch kehrten die beiden Wandelnden am Ende des Ganges um, indem Wilhelm eine Bedenklichkeit ‰uflerte, dafl man hier eigentlich nur bis zum Abendmahle, bis zum Scheiden des Meisters von seinen J¸ngern gelangt sei. Er fragte nach dem ¸brigen Teil der Geschichte.

“Wir sondern”, versetzte der ‰lteste, “bei jedem Unterricht, bei aller ¸berlieferung sehr gerne, was nur mˆglich zu sondern ist; denn dadurch allein kann der Begriff des Bedeutenden bei der Jugend entspringen. Das Leben mengt und mischt ohnehin alles durcheinander, und so haben wir auch hier das Leben jenes vortrefflichen Mannes ganz von dem Ende desselben abgesondert. Im Leben erscheint er als ein wahrer Philosoph–stoflet Euch nicht an diesen Ausdruck–, als ein Weiser im hˆchsten Sinne. Er steht auf seinem Punkte fest; er wandelt seine Strafle unverr¸ckt, und indem er das Niedere zu sich heraufzieht, indem er die Unwissenden, die Armen, die Kranken seiner Weisheit, seines Reichtums, seiner Kraft teilhaftig werden l‰flt und sich deshalb ihnen gleichzustellen scheint, so verleugnet er nicht von der andern Seite seinen gˆttlichen Ursprung; er wagt, sich Gott gleichzustellen, ja sich f¸r Gott zu erkl‰ren. Auf diese Weise setzt er von Jugend auf seine Umgebung in Erstaunen, gewinnt einen Teil derselben f¸r sich, regt den andern gegen sich auf und zeigt allen, denen es um eine gewisse Hˆhe im Lehren und Leben zu tun ist, was sie von der Welt zu erwarten haben. Und so ist sein Wandel f¸r den edlen Teil der Menschheit noch belehrender und fruchtbarer als sein Tod: denn zu jenen Pr¸fungen ist jeder, zu diesem sind nur wenige berufen; und damit wir alles ¸bergehen, was aus dieser Betrachtung folgt, so betrachtet die r¸hrende Szene des Abendmahls. Hier l‰flt der Weise, wie immer, die Seinigen ganz eigentlich verwaist zur¸ck, und indem er f¸r die Guten besorgt ist, f¸ttert er zugleich mit ihnen einen Verr‰ter, der ihn und die Bessern zugrunde richten wird.”

Mit diesen Worten erˆffnete der ‰lteste eine Pforte, und Wilhelm stutzte, als er sich wieder in der ersten Halle des Eingangs fand. Sie hatten, wie er wohl merkte, indessen den ganzen Umkreis des Hofes zur¸ckgelegt. “Ich hoffte”, sagte Wilhelm. “Ihr w¸rdet mich ans Ende f¸hren, und bringt mich wieder zum Anfang.”– “F¸r diesmal kann ich Euch weiter nichts zeigen”, sagte der ‰lteste; “mehr lassen wir unsere Zˆglinge nicht sehen, mehr erkl‰ren wir ihnen nicht, als was Ihr bis jetzt durchlaufen habt; das ‰uflere allgemein Weltliche einem jeden von Jugend auf, das innere besonders Geistige und Herzliche nur denen, die mit einiger Besonnenheit heranwachsen, und das ¸brige, was des Jahrs nur einmal erˆffnet wird, kann nur denen mitgeteilt werden, die wir entlassen. Jene letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, entspringt, jene Verehrung des Widerw‰rtigen, Verhaflten, Fliehenswerten geben wir einem jeden nur ausstattungsweise in die Welt mit, damit er wisse, wo er dergleichen zu finden hat, wenn ein solches Bed¸rfnis sich in ihm regen sollte. Ich lade Euch ein, nach Verlauf eines Jahres wiederzukehren, unser allgemeines Fest zu besuchen und zu sehen, wie weit Euer Sohn vorw‰rts gekommen; alsdann sollt auch Ihr in das Heiligtum des Schmerzes eingeweiht werden.”

“Erlaubt mir eine Frage”, versetzte Wilhelm. “Habt ihr denn auch, so wie ihr das Leben dieses gˆttlichen Mannes als Lehr–und Musterbild aufstellt, sein Leiden, seinen Tod gleichfalls als ein Vorbild erhabener Duldungen herausgehoben?”–“Auf alle F‰lle”, sagte der ‰lteste. “Hieraus machen wir kein Geheimnis; aber wir ziehen einen Schleier ¸ber diese Leiden, eben weil wir sie so hoch verehren. Wir halten es f¸r eine verdammungsw¸rdige Frechheit, jenes Marterger¸st und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die gˆttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu t‰ndeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das W¸rdigste gemein und abgeschmackt erscheint. So viel sei f¸r diesmal genug, um Euch ¸ber Euren Knaben zu beruhigen und vˆllig zu ¸berzeugen, dafl Ihr ihn auf irgendeine Art, mehr oder weniger, aber doch nach w¸nschenswerter Weise gebildet und auf alle F‰lle nicht verworren, schwankend und unst‰t wiederfinden sollt.”

Wilhelm zauderte, indem er sich die Bilder der Vorhalle besah und ihren Sinn gedeutet w¸nschte. “Auch dieses”, sagte der ‰lteste, “bleiben wir Euch bis ¸bers Jahr schuldig. Bei dem Unterricht, den wir in der Zwischenzeit den Kindern geben, lassen wir keine Fremden zu; aber alsdann kommt und vernehmt, was unsere besten Redner ¸ber diese Gegenst‰nde ˆffentlich zu sagen f¸r dienlich halten.”

Bald nach dieser Unterredung hˆrte man an der kleine Pforte pochen. Der gestrige Aufseher meldete sich, er hatte Wilhelms Pferd vorgef¸hrt, und so beurlaubte sich der Freund von der Dreie, welche zum Abschied ihn dem Aufseher folgendermaflen empfahl: “Dieser wird nun zu den Vertrauten gez‰hlt, und dir ist bekannt, was du ihm auf seine Fragen zu erwidern hast: denn er w¸nscht gewifl noch ¸ber manches, was er bei uns sah und hˆrte, belehrt zu werden; Mafl und Ziel ist dir nicht verborgen.”

Wilhelm hatte freilich noch einige Fragen auf dem Herzen, die er auch sogleich anbrachte. Wo sie durchritten, stellten sich die Kinder wie gestern; aber heute sah er, obgleich selten, einen und den andern Knaben, der den vorbereitenden Aufseher nicht gr¸flte, von seiner Arbeit nicht aufsah und ihn unbemerkt vor¸berliefl. Wilhelm fragte nun nach der Ursache und was diese Ausnahme zu bedeuten habe. Jener erwiderte darauf: “Sie ist freilich sehr bedeutungsvoll: denn es ist die hˆchste Strafe, die wir den Zˆglingen auflegen, sie sind unw¸rdig erkl‰rt, Ehrfurcht zu beweisen, und genˆtigt, sich als roh und ungebildet darzustellen; sie tun aber das mˆgliche, um sich aus dieser Lage zu retten, und finden sich aufs geschwindeste in jede Pflicht. Sollte jedoch ein junges Wesen verstockt zu seiner R¸ckkehr keine Anstalt machen, so wird es mit einem kurzen, aber b¸ndigen Bericht den Eltern wieder zur¸ckgesandt. Wer sich den Gesetzen nicht f¸gen lernt, mufl die Gegend verlassen, wo sie gelten.”

Ein anderer Anblick reizte, heute wie gestern, des Wanderers Neugierde; es war Mannigfaltigkeit an Farbe und Schnitt der Zˆglingskleidung; hier schien kein Stufengang obzuwalten, denn solche, die verschieden gr¸flten, waren ¸berein gekleidet, gleich Gr¸flende waren anders angezogen. Wilhelm fragte nach der Ursache dieses scheinbaren Widerspruchs. “Er lˆst sich”, versetzte jener, “darin auf, dafl es ein Mittel ist, die Gem¸ter der Knaben eigens zu erforschen. Wir lassen, bei sonstiger Strenge und Ordnung, in diesem Falle eine gewisse Willk¸r gelten. Innerhalb des Kreises unserer Vorr‰te an T¸chern und Verbr‰mungen d¸rfen die Zˆglinge nach beliebiger Farbe greifen, so auch innerhalb einer m‰fligen Beschr‰nkung Form und Schnitt w‰hlen; dies beobachten wir genau, denn an der Farbe l‰flt sich die Sinnesweise, an dem Schnitt die Lebensweise des Menschen erkennen. Doch macht eine besondere Eigenheit der menschlichen Natur eine genauere Beurteilung gewissermaflen schwierig; es ist der Nachahmungsgeist, die Neigung, sich anzuschlieflen. Sehr selten, dafl ein Zˆgling auf etwas f‰llt, was noch nicht dagewesen, meistens w‰hlen sie etwas Bekanntes, was sie gerade vor sich sehen. Doch auch diese Betrachtung bleibt uns nicht unfruchtbar, durch solche ‰uflerlichkeiten treten sie zu dieser oder jener Partei, sie schlieflen sich da oder dort an, und so zeichnen sich allgemeinere Gesinnungen aus, wir erfahren, wo jeder sich hinneigt, welchem Beispiel er sich gleichstellt.

Nun hat man F‰lle gesehen, wo die Gem¸ter sich ins Allgemeine neigten, wo eine Mode sich ¸ber alle verbreiten, jede Absonderung sich zur Einheit verlieren wollte. Einer solchen Wendung suchen wir auf gelinde Weise Einhalt zu tun, wir lassen die Vorr‰te ausgehen; dieses und jenes Zeug, eine und die andere Verzierung ist nicht mehr zu haben; wir schieben etwas Neues, etwas Reizendes herein, durch helle Farben und kurzen, knappen Schnitt locken wir die Muntern, durch ernste Schattierungen, bequeme, faltenreiche Tracht die Besonnenen und stellen so nach und nach ein Gleichgewicht her.

Denn der Uniform sind wir durchaus abgeneigt, sie verdeckt den Charakter und entzieht die Eigenheiten der Kinder, mehr als jede andere Verstellung, dem Blicke der Vorgesetzten.”

Unter solchen und andern Gespr‰chen gelangte Wilhelm an die Grenze der Provinz, und zwar an den Punkt, wo sie der Wanderer, nach des alten Freundes Andeutung, verlassen sollte, um seinem eigentlichen Zweck entgegenzusehen.

Beim Lebewohl bemerkte zun‰chst der Aufseher: Wilhelm mˆge nun erwarten, bis das grofle Fest allen Teilnehmern auf mancherlei Weise angek¸ndigt werde. Hierzu w¸rden die s‰mtlichen Eltern eingeladen und t¸chtige Zˆglinge ins freie, zuf‰llige Leben entlassen. Alsdann solle er, hiefl es, auch die ¸brigen Landschaften nach Belieben betreten, wo, nach eigenen Grunds‰tzen, der einzelne Unterricht in vollst‰ndiger Umgebung erteilt und ausge¸bt wird.

Drittes Kapitel

Der Angewˆhnung des werten Publikums zu schmeicheln, welches seit geraumer Zeit Gefallen findet, sich st¸ckweise unterhalten zu lassen, gedachten wir erst, nachstehende Erz‰hlung in mehreren Abteilungen vorzulegen. Der innere Zusammenhang jedoch, nach Gesinnungen, Empfindungen und Ereignissen betrachtet, veranlaflte einen fortlaufenden Vortrag. Mˆge derselbe seinen Zweck erreichen und zugleich am Ende deutlich werden, wie die Personen dieser abgesondert scheinenden Begebenheit mit denjenigen, die wir schon kennen und lieben, aufs innigste zusammengeflochten worden. Der Mann von funfzig Jahren

Der Major war in den Gutshof hereingeritten, und Hilarie, seine Nichte, stand schon, um ihn zu empfangen, auflen auf der Treppe, die zum Schlofl hinauff¸hrte. Kaum erkannte er sie; denn schon war sie wieder grˆfler und schˆner geworden. Sie flog ihm entgegen, er dr¸ckte sie an seine Brust mit dem Sinn eines Vaters, und sie eilten hinauf zu ihrer Mutter.

Der Baronin, seiner Schwester, war er gleichfalls willkommen, und als Hilarie schnell hinwegging, das Fr¸hst¸ck zu bereiten, sagte der Major freudig: “Diesmal kann ich mich kurz fassen und sagen, dafl unser Gesch‰ft beendigt ist. Unser Bruder, der Obermarschall, sieht wohl ein, dafl er weder mit P‰chtern noch Verwaltern zurechtkommt. Er tritt bei seinen Lebzeiten die G¸ter uns und unsern Kindern ab; das Jahrgehalt, das er sich ausbedingt, ist freilich stark; aber wir kˆnnen es ihm immer geben: wir gewinnen doch noch f¸r die Gegenwart viel und f¸r die Zukunft alles. Die neue Einrichtung soll bald in Ordnung sein. Da ich zun‰chst meinen Abschied erwarte, so sehe ich doch wieder ein t‰tiges Leben vor mir, das uns und den Unsrigen einen entschiedenen Vorteil bringen kann. Wir sehen ruhig zu, wie unsre Kinder emporwachsen, und es h‰ngt von uns, von ihnen ab, ihre Verbindung zu beschleunigen.”

“Das w‰re alles recht gut”, sagte die Baronin, “wenn ich dir nur nicht ein Geheimnis zu entdecken h‰tte, das ich selbst erst gewahr worden bin. Hilariens Herz ist nicht mehr frei; von der Seite hat dein Sohn wenig oder nichts zu hoffen.”

“Was sagst du?” rief der Major; “ist’s mˆglich? indessen wir uns alle M¸he geben, uns ˆkonomisch vorzusehen, so spielt uns die Neigung einen solchen Streich! Sag’ mir, Liebe, sag’ mir geschwind, wer ist es, der das Herz Hilariens fesseln konnte? Oder ist es denn auch schon so arg? Ist es nicht vielleicht ein fl¸chtiger Eindruck, den man wieder auszulˆschen hoffen kann?”

“Du muflt erst ein wenig sinnen und raten”, versetzte die Baronin und vermehrte dadurch seine Ungeduld. Sie war schon aufs hˆchste gestiegen, als Hilarie, mit den Bedienten, welche das Fr¸hst¸ck trugen, hereintretend, eine schnelle Auflˆsung des R‰tsels unmˆglich machte.

Der Major selbst glaubte das schˆne Kind mit andern Augen anzusehen als kurz vorher. Es war ihm beinahe, als wenn er eifers¸chtig auf den Begl¸ckten w‰re, dessen Bild sich in einem so schˆnen Gem¸t hatte eindr¸cken kˆnnen. Das Fr¸hst¸ck wollte ihm nicht schmecken, und er bemerkte nicht, dafl alles genau so eingerichtet war, wie er es am liebsten hatte und wie er es sonst zu w¸nschen und zu verlangen pflegte. ¸ber dieses Schweigen und Stocken verlor Hilarie fast selbst ihre Munterkeit. Die Baronin f¸hlte sich verlegen und zog ihre Tochter ans Klavier; aber ihr geistreiches und gef¸hlvolles Spiel konnte dem Major kaum einigen Beifall ablocken. Er w¸nschte das schˆne Kind und das Fr¸hst¸ck je eher je lieber entfernt zu sehen, und die Baronin muflte sich entschlieflen, aufzubrechen und ihrem Bruder einen Spaziergang in den Garten vorzuschlagen.

Kaum waren sie allein, so wiederholte der Major dringend seine vorige Frage; worauf seine Schwester nach einer Pause l‰chelnd versetzte: “Wenn du den Gl¸cklichen finden willst, den sie liebt, so brauchst du nicht weit zu gehen, er ist ganz in der N‰he: dich liebt sie.”

Der Major stand betroffen, dann rief er aus: “Es w‰re ein sehr unzeitiger Scherz, wenn du mich etwas ¸berreden wolltest, das mich im Ernst so verlegen wie ungl¸cklich machen w¸rde. Denn ob ich gleich Zeit brauche, mich von meiner Verwunderung zu erholen, so sehe ich doch mit einem Blicke voraus, wie sehr unsere Verh‰ltnisse durch ein so unerwartetes Ereignis gestˆrt werden m¸flten. Das einzige, was mich trˆstet, ist die ¸berzeugung, dafl Neigungen dieser Art nur scheinbar sind, dafl ein Selbstbetrug dahinter verborgen liegt, und dafl eine echte, gute Seele von dergleichen Fehlgriffen oft durch sich selbst oder doch wenigstens mit einiger Beih¸lfe verst‰ndiger Personen gleich wieder zur¸ckkommt.”

“Ich bin dieser Meinung nicht”, sagte die Baronin; “denn nach allen Symptomen ist es ein sehr ernstliches Gef¸hl, von welchem Hilarie durchdrungen ist.”

“Etwas so Unnat¸rliches h‰tte ich ihrem nat¸rlichen Wesen nicht zugetraut”, versetzte der Major.

“Es ist so unnat¸rlich nicht”, sagte die Schwester. “Aus meiner Jugend erinnere ich mich selbst einer Leidenschaft f¸r einen ‰lteren Mann, als du bist. Du hast funfzig Jahre; das ist immer noch nicht gar zu viel f¸r einen Deutschen, wenn vielleicht andere, lebhaftere Nationen fr¸her altern.”

“Wodurch willst du aber deine Vermutung bekr‰ftigen?” sagte der Major.

“Es ist keine Vermutung, es ist Gewiflheit. Das N‰here sollst du nach und nach vernehmen.”

Hilarie gesellte sich zu ihnen, und der Major f¸hlte sich, wider seinen Willen, abermals ver‰ndert. Ihre Gegenwart deuchte ihn noch lieber und werter als vorher; ihr Betragen schien ihm liebevoller, und schon fing er an, den Worten seiner Schwester Glauben beizumessen. Die Empfindung war f¸r ihn hˆchst angenehm, ob er sich gleich solche weder gestehen noch erlauben wollte. Freilich war Hilarie hˆchst liebensw¸rdig, indem sich in ihrem Betragen die zarte Scheu gegen einen Liebhaber und die freie Bequemlichkeit gegen einen Oheim auf das innigste verband; denn sie liebte ihn wirklich und von ganzer Seele. Der Garten war in seiner vollen Fr¸hlingspracht, und der Major, der so viele alte B‰ume sich wieder belauben sah, konnte auch an die Wiederkehr seines eignen Fr¸hlings glauben. Und wer h‰tte sich nicht in der Gegenwart des liebensw¸rdigsten M‰dchens dazu verf¸hren lassen!

So verging ihnen der Tag zusammen; alle h‰uslichen Epochen wurden mit der grˆflten Gem¸tlichkeit durchlebt; abends nach Tisch setzte sich Hilarie wieder ans Klavier; der Major hˆrte mit andern Ohren als heute fr¸h; eine Melodie schlang sich in die andere, ein Lied schlofl sich ans andere, und kaum vermochte die Mitternacht die kleine Gesellschaft zu trennen.

Als der Major auf seinem Zimmer ankam, fand er alles nach seiner alten, gewohnten Bequemlichkeit eingerichtet; sogar einige Kupferstiche, bei denen er gern verweilte, waren aus andern Zimmern her¸bergeh‰ngt; und da er einmal aufmerksam geworden war, so sah er sich bis auf jeden einzelnen kleinen Umstand versorgt und geschmeichelt.

Nur wenig Stunden Schlaf bedurfte er diesmal; seine Lebensgeister waren fr¸h aufgeregt. Aber nun merkte er auf einmal, dafl eine neue Ordnung der Dinge manches Unbequeme nach sich ziehe. Er hatte seinem alten Reitknecht, der zugleich die Stelle des Bedienten und Kammerdieners vertrat, seit mehreren Jahren kein bˆses Wort gegeben: denn alles ging in der strengsten Ordnung seinen gewˆhnlichen Gang; die Pferde waren versorgt und die Kleidungsst¸cke zu rechter Stunde gereinigt; aber der Herr war fr¸her aufgestanden, und nichts wollte passen.

Sodann gesellte sich noch ein anderer Umstand hinzu, um die Ungeduld und eine Art bˆser Laune des Majors zu vermehren. Sonst war ihm alles an sich und seinem Diener recht gewesen; nun aber fand er sich, als er vor den Spiegel trat, nicht so, wie er zu sein w¸nschte. Einige graue Haare konnte er nicht leugnen, und von Runzeln schien sich auch etwas eingefunden zu haben. Er wischte und puderte mehr als sonst und muflte es doch zuletzt lassen, wie es sein konnte. Auch mit der Kleidung und ihrer Sauberkeit war er nicht zufrieden. Da sollten sich immer noch Fasern auf dem Rock und noch Staub auf den Stiefeln finden. Der Alte wuflte nicht, was er sagen sollte, und war erstaunt, einen so ver‰nderten Herrn vor sich zu sehen.

Ungeachtet aller dieser Hindernisse war der Major schon fr¸h genug im Garten. Hilarien, die er zu finden hoffte, fand er wirklich. Sie brachte ihm einen Blumenstraufl entgegen, und er hatte nicht den Mut, sie wie sonst zu k¸ssen und an sein Herz zu dr¸cken. Er befand sich in der angenehmsten Verlegenheit von der Welt und ¸berliefl sich seinen Gef¸hlen, ohne zu denken, wohin das f¸hren kˆnne.

Die Baronin gleichfalls s‰umte nicht lange zu erscheinen, und indem sie ihrem Bruder ein Billet wies, das ihr eben ein Bote gebracht hatte, rief sie aus: “Du r‰tst nicht, wen uns dieses Blatt anzumelden kommt.”–“So entdecke es nur bald!” versetzte der Major; und er erfuhr, dafl ein alter theatralischer Freund nicht weit von dem Gute vorbeireise und f¸r einen Augenblick einzukehren gedenke. “Ich bin neugierig, ihn wiederzusehen”, sagte der Major; “er ist kein J¸ngling mehr, und ich hˆre, dafl er noch immer die jungen Rollen spielt.”–“Er mufl um zehn Jahre ‰lter sein als du”, versetzte die Baronin.–“Ganz gewifl”, erwiderte der Major, “nach allem, was ich mich erinnere.”

Es w‰hrte nicht lange, so trat ein munterer, wohlgebauter, gef‰lliger Mann herzu. Man stutzte einen Augenblick, als man sich wiedersah. Doch sehr bald erkannten sich die Freunde, und Erinnerungen aller Art belebten das Gespr‰ch. Hierauf ging man zu Erz‰hlungen, zu Fragen und zu Rechenschaft ¸ber; man machte sich wechselweise mit den gegenw‰rtigen Lagen bekannt und f¸hlte sich bald, als w‰re man nie getrennt gewesen.

Die geheime Geschichte sagt uns, dafl dieser Mann in fr¸herer Zeit, als ein sehr schˆner und angenehmer J¸ngling, einer vornehmen Dame zu gefallen das Gl¸ck oder Ungl¸ck gehabt habe; dafl er dadurch in grofle Verlegenheit und Gefahr geraten, woraus ihn der Major eben im Augenblick, als ihn das traurigste Schicksal bedrohte, gl¸cklich herausrifl. Ewig blieb er dankbar, dem Bruder sowohl als der Schwester; denn diese hatte durch zeitige Warnung zur Vorsicht Anlafl gegeben.

Einige Zeit vor Tische liefl man die M‰nner allein. Nicht ohne Bewunderung, ja gewissermaflen mit Erstaunen hatte der Major das ‰uflere Behaben seines alten Freundes im ganzen und einzelnen betrachtet. Er schien gar nicht ver‰ndert zu sein, und es war kein Wunder, dafl er noch immer als jugendlicher Liebhaber auf dem Theater erscheinen konnte. “Du betrachtest mich aufmerksamer als billig ist”, sprach er endlich den Major an; “ich f¸rchte sehr, du findest den Unterschied gegen vorige Zeit nur allzu grofl.”–“Keineswegs”, versetzte der Major, “vielmehr bin ich voll Verwunderung, dein Aussehen frischer und j¸nger zu finden als das meine; da ich doch weifl, dafl du schon ein gemachter Mann warst, als ich, mit der K¸hnheit eines wagehalsigen Gelbschnabels, dir in gewissen Verlegenheiten beistand.”–“Es ist deine Schuld”, versetzte der andere, “es ist die Schuld aller deinesgleichen; und ob ihr schon darum nicht zu schelten seid, so seid ihr doch zu tadeln. Man denkt immer nur ans Notwendige; man will sein und nicht scheinen. Das ist recht gut, solange man etwas ist. Wenn aber zuletzt das Sein mit dem Scheinen sich zu empfehlen anf‰ngt und der Schein noch fl¸chtiger als das Sein ist, so merkt denn doch ein jeder, dafl er nicht ¸bel getan h‰tte, das ‰uflere ¸ber dem Innern nicht ganz zu vernachl‰ssigen.” –“Du hast recht”, versetzte der Major und konnte sich fast eines Seufzers nicht enthalten “Vielleicht nicht ganz recht”, sagte der bejahrte J¸ngling; “denn freilich bei meinem Handwerke w‰re es ganz unverzeihlich, wenn man das ‰uflere nicht so lange aufstutzen wollte, als nur mˆglich ist. Ihr andern aber habt Ursache, auf andere Dinge zu sehen, die bedeutender und nachhaltiger sind.”–“Doch gibt es Gelegenheiten”, sagte der Major, “wo man sich innerlich frisch f¸hlt und sein ‰ufleres auch gar zu gern wieder auffrischen mˆchte.”

Da der Ankˆmmling die wahre Gem¸tslage des Majors nicht ahnen konnte, so nahm er diese ‰uflerung im Soldatensinne und liefl sich weitl‰ufig dar¸ber aus: wie viel beim Milit‰r aufs ‰uflere ankomme und wie der Offizier, der so manches auf seine Kleidung zu wenden habe, doch auch einige Aufmerksamkeit auf Haut und Haare wenden kˆnne.

“Es ist zum Beispiel unverantwortlich”, fuhr er fort, “dafl Eure Schl‰fen schon grau sind, dafl hie und da sich Runzeln zusammenziehen und dafl Euer Scheitel kahl zu werden droht. Seht mich alten Kerl einmal an! betrachtet, wie ich mich erhalten habe! und das alles ohne Hexerei und mit weit weniger M¸he und Sorgfalt, als man t‰glich anwendet, um sich zu besch‰digen oder wenigstens Langeweile zu machen.”

Der Major fand bei dieser zuf‰lligen Unterredung zu sehr seinen Vorteil, als dafl er sie so bald h‰tte abbrechen sollen; doch ging er leise und selbst gegen einen alten Bekannten mit Behutsamkeit zu Werke. “Das habe ich nun leider vers‰umt!” rief er aus, “und nachzuholen ist es nicht; ich mufl mich nun schon darein ergeben, und Ihr werdet deshalb nicht schlimmer von mir denken.”

“Vers‰umt ist nichts!” erwiderte jener, “wenn ihr andern ernsthaften Herren nur nicht so starr und steif w‰ret, nicht gleich einen jeden, der sein ‰ufleres bedenkt, f¸r eitel erkl‰ren und euch dadurch selbst die Freude verk¸mmern mˆchtet, in gef‰lliger Gesellschaft zu sein und selbst zu gefallen.”– “Wenn es auch keine Zauberei ist”, l‰chelte der Major, “wodurch ihr andern euch jung erhaltet, so ist es doch ein Geheimnis, oder wenigstens sind es Arcana, dergleichen oft in Zeitungen gepriesen werden, von denen ihr aber die besten herauszuproben wiflt.” –“Du magst im Scherz oder im Ernst reden”, versetzte der Freund, “so hast du’s getroffen. Unter den vielen Dingen, die man von jeher versucht hat, um dem ‰ufleren einige Nahrung zu geben, das oft viel fr¸her als das Innere abnimmt, gibt es wirklich unsch‰tzbare, einfache sowohl als zusammengesetzte Mittel, die mir von Kunstgenossen mitgeteilt, f¸r bares Geld oder durch Zufall ¸berliefert und von mir selbst ausgeprobt worden. Dabei bleib’ ich und verharre nun, ohne deshalb meine weitern Forschungen aufzugeben. So viel kann ich dir sagen, und ich ¸bertreibe nicht: ein Toilettenk‰stchen f¸hre ich bei mir, ¸ber allen Preis! ein K‰stchen, dessen Wirkungen ich wohl an dir erproben mˆchte, wenn wir nur vierzehn Tage zusammenblieben.”

Der Gedanke, etwas dieser Art sei mˆglich und diese Mˆglichkeit werde ihm gerade in dem rechten Augenblicke so zuf‰llig nahe gebracht, erheiterte den Geist des Majors dergestalt, dafl er wirklich schon frischer und munterer aussah und, von der Hoffnung, Haupt und Gesicht mit seinem Herzen in ¸bereinstimmung zu bringen, belebt, von der Unruhe, die Mittel dazu bald n‰her kennen zu lernen, in Bewegung gesetzt, bei Tische ein ganz anderer Mensch erschien, Hilariens anmutigen Aufmerksamkeiten getrost entgegenging und auf sie mit einer gewissen Zuversicht blickte, die ihm heute fr¸h noch sehr fremd gewesen war.

Hatte nun durch mancherlei Erinnerungen, Erz‰hlungen und gl¸ckliche Einf‰lle der theatralische Freund die einmal angeregte gute Laune zu erhalten, zu beleben und zu vermehren gewuflt, so wurde der Major um so verlegener, als jener gleich nach Tische sich zu entfernen und seinen Weg weiter fortzusetzen drohte. Auf alle Weise suchte er den Aufenthalt seines Freundes, wenigstens ¸ber Nacht, zu erleichtern, indem er Vorspann und Relais auf morgen fr¸h andringlich zusagte. Genug, die heilsame Toilette sollte nicht aus dem Hause, bis man von ihrem Inhalt und Gebrauch n‰her unterrichtet w‰re.

Der Major sah sehr wohl ein, dafl hier keine Zeit zu verlieren sei, und suchte daher gleich nach Tische seinen alten G¸nstling allein zu sprechen. Da er das Herz nicht hatte, ganz gerade auf die Sache loszugehen, so lenkte er von weitem dahin, indem er, das vorige Gespr‰ch wieder auffassend, versicherte: er f¸r seine Person w¸rde gern mehr Sorgfalt auf das ‰uflere verwenden, wenn nur nicht gleich die Menschen einen jeden, dem sie ein solches Bestreben anmerken, f¸r eitel erkl‰rten und ihm dadurch sogleich wieder an der sittlichen Achtung entzˆgen, was sie sich genˆtigt f¸hlten an der sinnlichen ihm zuzugestehen.

“Mache mich mit solchen Redensarten nicht verdriefllich!” versetzte der Freund; “denn das sind Ausdr¸cke, die sich die Gesellschaft angewˆhnt hat, ohne etwas dabei zu denken, oder, wenn man es strenger nehmen will, wodurch sich ihre unfreundliche und miflwollende Natur ausspricht. Wenn du es recht genau betrachtest: was ist denn das, was man oft als Eitelkeit verrufen mˆchte? Jeder Mensch soll Freude an sich selbst haben, und gl¸cklich, wer sie hat. Hat er sie aber, wie kann er sich verwehren, dieses angenehme Gef¸hl merken zu lassen? Wie soll er mitten im Dasein verbergen, dafl er eine Freude am Dasein habe? F‰nde die gute Gesellschaft, denn von der ist doch hier allein die Rede, nur alsdann diese ‰uflerungen tadelhaft, wenn sie zu lebhaft werden, wenn des einen Menschen Freude an sich und seinem Wesen die andern hindert, Freude an dem ihrigen zu haben und sie zu zeigen, so w‰re nichts dabei zu erinnern, und von diesem ¸bermafl ist auch wohl der Tadel zuerst ausgegangen. Aber was soll eine wunderlich-verneinende Strenge gegen etwas Unvermeidliches? Warum will man nicht eine ‰uflerung l‰fllich und ertr‰glich finden, die man denn doch mehr oder weniger sich von Zeit zu Zeit selbst erlaubt? ja, ohne die eine gute Gesellschaft gar nicht existieren kˆnnte: denn das Gefallen an sich selbst, das Verlangen, dieses Selbstgef¸hl andern mitzuteilen, macht gef‰llig, das Gef¸hl eigner Anmut macht anmutig. Wollte Gott, alle Menschen w‰ren eitel, w‰ren es aber mit Bewufltsein, mit Mafl und im rechten Sinne: so w¸rden wir in der gebildeten Welt die gl¸cklichsten Menschen sein. Die Weiber, sagt man, sind eitel von Hause aus; doch es kleidet sie, und sie gefallen uns um desto mehr. Wie kann ein junger Mann sich bilden, der nicht eitel ist? Eine leere, hohle Natur wird sich wenigstens einen ‰uflern Schein zu geben wissen, und der t¸chtige Mensch wird sich bald von auflen nach innen zu bilden. Was mich betrifft, so habe ich Ursache, mich auch deshalb f¸r den gl¸cklichsten Menschen zu halten, weil mein Handwerk mich berechtigt, eitel zu sein, und weil ich, je mehr ich es bin, nur desto mehr Vergn¸gen den Menschen schaffe. Ich werde gelobt, wo man andere tadelt, und habe, gerade auf diesem Wege, das Recht und das Gl¸ck, noch in einem Alter das Publikum zu ergˆtzen und zu entz¸cken, in welchem andere notgedrungen vom Schauplatz abtreten oder nur mit Schmach darauf verweilen.”

Der Major hˆrte nicht gerne den Schlufl dieser Betrachtungen. Das Wˆrtchen Eitelkeit, als er es vorbrachte, sollte nur zu einem ¸bergang dienen, um dem Freunde auf eine geschickte Weise seinen Wunsch vorzutragen; nun f¸rchtete er, bei einem fortgesetzten Gespr‰ch das Ziel noch weiter verr¸ckt zu sehen, und eilte daher unmittelbar zum Zweck.

“F¸r mich”, sagte er, “w‰re ich gar nicht abgeneigt, auch zu deiner Fahne zu schwˆren, da du es nicht f¸r zu sp‰t h‰ltst und glaubst, dafl ich das Vers‰umte noch einigermaflen nachholen kˆnne. Teile mir etwas von deinen Tinkturen, Pomaden und Balsamen mit, und ich will einen Versuch machen.”

“Mitteilungen”, sagte der andere, “sind schwerer, als man denkt. Denn hier z. B. kommt es nicht allein darauf an, dafl ich dir von meinen Fl‰schchen etwas abf¸lle und von den besten Ingredienzien meiner Toilette die H‰lfte zur¸cklasse; die Anwendung ist das Schwerste. Man kann das ¸berlieferte sich nicht gleich zu eigen machen; wie dieses und jenes passe, unter was f¸r Umst‰nden, in welcher Folge die Dinge zu gebrauchen seien, dazu gehˆrt ¸bung und Nachdenken; ja selbst diese wollen kaum fruchten, wenn man nicht eben zu der Sache, wovon die Rede ist, ein angebotenes Talent hat.”

“Du willst, wie es scheint”, versetzte der Major, “nun wieder zur¸cktreten. Du machst mir Schwierigkeiten, um deine freilich etwas fabelhaften Behauptungen in Sicherheit zu bringen. Du hast nicht Lust, mir einen Anlafl, eine Gelegenheit zu geben, deine Worte durch die Tat zu pr¸fen.”

“Durch diese Neckereien, mein Freund”, versetzte der andere, “w¸rdest du mich nicht bewegen, deinem Verlangen zu willfahren, wenn ich nicht selbst so gute Gesinnungen gegen dich h‰tte, wie ich es ja zuerst dir angeboten habe. Dabei bedenke, mein Freund, der Mensch hat gar eine eigne Lust, Proselyten zu machen, dasjenige, was er an sich sch‰tzt, auch aufler sich in andern zu Erscheinung zu bringen, sie genieflen zu lassen, was er selbst genieflt, und sich in ihnen wiederzufinden und darzustellen. F¸rwahr, wenn dies auch Egoismus ist, so ist er der liebensw¸rdigste und lobensw¸rdigste, derjenige, der uns zu Menschen gemacht hat und uns als Menschen erh‰lt. Aus ihm nehme ich denn auch, abgesehen von der Freundschaft, die ich zu dir hege, die Lust, einen Sch¸ler in der Verj¸ngungskunst aus dir zu machen. Weil man aber von dem Meister erwarten kann, dafl er keine Pfuscher ziehen will, so bin ich verlegen, wie wir es anfangen. Ich sagte schon: weder Spezereien noch irgendeine Anweisung ist hinl‰nglich; die Anwendung kann nicht im Allgemeinen gelehrt werden. Dir zuliebe und aus Lust, meine Lehre fortzupflanzen, bin ich zu jeder Aufopferung bereit. Die grˆflte f¸r den Augenblick will ich dir sogleich anbieten. Ich lasse dir meinen Diener hier, eine Art von Kammerdiener und Tausendk¸nstler, der, wenn er gleich nicht alles zu bereiten weifl, nicht in alle Geheimnisse eingeweiht ist, doch die ganze Behandlung recht gut versteht und f¸r den Anfang dir von groflem Nutzen sein wird, bis du dich in die Sache so hineinarbeitest, dafl ich dir die hˆheren Geheimnisse endlich auch offenbaren kann.”

“Wie!” rief der Major, “du hast auch Stufen und Grade deiner Verj¸ngungskunst? Du hast noch Geheimnisse f¸r die Eingeweihten?”– “Ganz gewifl!” versetzte jener. “Das m¸flte gar eine schlechte Kunst sein, die sich auf einmal fassen liefle, deren Letztes von demjenigen gleich geschaut werden kˆnnte, der zuerst hereintritt.”

Man zauderte nicht lange, der Kammerdiener ward an den Major gewiesen, der ihn gut zu halten versprach. Die Baronin muflte Sch‰chtelchen, B¸chschen und Gl‰ser hergeben, sie wuflte nicht wozu; die Teilung ging vor sich, man war bis in die Nacht munter und geistreich zusammen. Bei dem sp‰teren Aufgang des Mondes fuhr der Gast hinweg und versprach, in einiger Zeit zur¸ckzukehren.

Der Major kam ziemlich m¸de auf sein Zimmer. Er war fr¸h aufgestanden, hatte sich den Tag nicht geschont und glaubte nunmehr das Bett bald zu erreichen. Allein er fand statt eines Dieners nunmehr zwei. Der alte Reitknecht zog ihn nach alter Art und Weise eilig aus; aber nun trat der neue hervor und liefl merken, dafl die eigentliche Zeit, Verj¸ngungs–und Verschˆnerungsmittel anzubringen, die Nacht sei, damit in einem ruhigen Schlaf die Wirkung desto sicherer vor sich gehe. Der Major muflte sich also gefallen lassen, dafl sein Haupt gesalbt, sein Gesicht bestrichen, seine Augenbrauen bepinselt und seine Lippen betupft wurden. Auflerdem wurden noch verschiedene Zeremonien erfordert; sogar sollte die Nachtm¸tze nicht unmittelbar aufgesetzt, sondern vorher ein Netz, wo nicht gar eine feine lederne M¸tze ¸bergezogen werden.

Der Major legte sich zu Bette mit einer Art von unangenehmer Empfindung, die er jedoch sich deutlich zu machen keine Zeit hatte, indem er gar bald einschlief. Sollen wir aber in seine Seele sprechen, so f¸hlte er sich etwas mumienhaft, zwischen einem Kranken und einem Einbalsamierten. Allein das s¸fle Bild Hilariens, umgeben von den heitersten Hoffnungen, zog ihn bald in einen erquickenden Schlaf.

Morgens zur rechten Zeit war der Reitknecht bei der Hand. Alles, was zum Anzuge des Herrn gehˆrte, lag in gewohnter Ordnung auf den St¸hlen, und eben war der Major im Begriff, aus dem Bette zu steigen, als der neue Kammerdiener hereintrat und lebhaft gegen eine solche ¸bereilung protestierte. Man m¸sse ruhen, man m¸sse sich abwarten, wenn das Vorhaben gelingen, wenn man f¸r so manche M¸he und Sorgfalt Freude erleben solle. Der Herr vernahm sodann, dafl er in einiger Zeit aufzustehen, ein kleines Fr¸hst¸ck zu genieflen und alsdann in ein Bad zu steigen habe, welches schon bereitet sei. Den Anordnungen war nicht auszuweichen, sie muflten befolgt werden, und einige Stunden gingen unter diesen Gesch‰ften hin.

Der Major verk¸rzte die Ruhezeit nach dem Bade, dachte sich geschwind in die Kleider zu werfen; denn er war seiner Natur nach expedit und w¸nschte noch ¸berdies, Hilarien bald zu begegnen; aber auch hier trat ihm sein neuer Diener entgegen und machte ihm begreiflich, dafl man sich durchaus abgewˆhnen m¸sse, fertig werden zu wollen. Alles, was man tue, m¸sse man langsam und behaglich vollbringen, besonders aber die Zeit des Anziehens habe man als angenehme Unterhaltungsstunde mit sich selbst anzusehen.

Die Behandlungsart des Kammerdieners traf mit seinen Reden vˆllig ¸berein. Daf¸r glaubte sich aber auch der Major wirklich besser angezogen denn jemals, als er vor den Spiegel trat und sich auf das schmuckeste herausgeputzt erblickte. Ohne viel zu fragen, hatte der Kammerdiener sogar die Uniform moderner zugestutzt, indem er die Nacht auf diese Verwandlung wendete. Eine so schnell erscheinende Verj¸ngung gab dem Major einen besonders heitern Sinn, so dafl er sich von innen und auflen erfrischt f¸hlte und mit ungeduldigem Verlangen den Seinigen entgegeneilte.

Er fand seine Schwester vor dem Stammbaume stehen, den sie hatte aufh‰ngen lassen, weil abends vorher zwischen ihnen von einigen Seitenverwandten die Rede gewesen, welche, teils unverheiratet, teils in fernen Landen wohnhaft, teils gar verschollen, mehr oder weniger den beiden Geschwistern oder ihren Kindern auf reiche Erbschaften Hoffnung machten. Sie unterhielten sich einige Zeit dar¸ber, ohne des Punktes zu erw‰hnen, dafl sich bisher alle Familiensorgen und Bem¸hungen blofl auf ihre Kinder bezogen. Durch Hilariens Neigung hatte sich diese ganze Ansicht freilich ver‰ndert, und doch mochte weder der Major noch seine Schwester in diesem Augenblick der Sache weiter gedenken.

Die Baronin entfernte sich, der Major stand allein vor dem lakonischen Familiengem‰lde. Hilarie trat an ihn heran, lehnte sich kindlich an ihn, beschaute die Tafel und fragte: wen er alles von diesen gekannt habe? Und wer wohl noch leben und ¸brig sein mˆchte?

Der Major begann seine Schilderung von den ‰ltesten, deren er sich aus seiner Kindheit nur noch dunkel erinnerte. Dann ging er weiter, zeichnete die Charaktere verschiedener V‰ter, die ‰hnlichkeit oder Un‰hnlichkeit der Kinder mit denselben, bemerkte, dafl oft der Groflvater im Enkel wieder hervortrete, sprach gelegentlich von dem Einflufl der Weiber, die, aus fremden Familien her¸ber heiratend, oft den Charakter ganzer St‰mme ver‰ndern. Er r¸hmte die Tugend manches Vorfahren und Seitenverwandten und verschwieg ihre Fehler nicht. Mit Stillschweigen ¸berging er diejenigen, deren man sich h‰tte zu sch‰men gehabt. Endlich kam er an die untersten Reihen. Da stand nun sein Bruder, der Obermarschall, er und seine Schwester und unten drunter sein Sohn und daneben Hilarie.

“Diese sehen einander gerade genug ins Gesicht”, sagte der Major und f¸gte nicht hinzu, was er im Sinne hatte. Nach einer Pause versetzte Hilarie bescheiden, halblaut und fast mit einem Seufzer: “Und doch wird man denjenigen niemals tadeln, der in die Hˆhe blickt!” Zugleich sah sie mit ein paar Augen an ihm hinauf, aus denen ihre ganze Neigung hervorsprach.–“Versteh’ ich dich recht?” sagte der Major, indem er sich zu ihr wendete.–“Ich kann nichts sagen”, versetzte Hilarie l‰chelnd, “was Sie nicht schon wissen.”–“Du machst mich zum gl¸cklichsten Menschen unter der Sonne!” rief er aus und fiel ihr zu F¸flen. “Willst du mein sein?” –“Um Gottes willen stehen Sie auf! Ich bin dein auf ewig.”

Die Baronin trat herein. Ohne ¸berrascht zu sein, stutzte sie. –“W‰re es ein Ungl¸ck”, sagte der Major, “Schwester! so ist die Schuld dein; als Gl¸ck wollen wir’s dir ewig verdanken.”

Die Baronin hatte ihren Bruder von Jugend auf dergestalt geliebt, dafl sie ihn allen M‰nnern vorzog, und vielleicht war selbst die Neigung Hilariens aus dieser Vorliebe der Mutter, wo nicht entsprungen, doch gewifl gen‰hrt worden. Alle drei vereinigten sich nunmehr in einer Liebe, einem Behagen, und so flossen f¸r sie die gl¸cklichsten Stunden dahin. Nur wurden sie denn doch zuletzt auch wieder die Welt um sich her gewahr, und diese steht selten mit solchen Empfindungen im Einklang.

Nun dachte man auch wieder an den Sohn. Ihm hatte man Hilarien bestimmt, das ihm sehr wohl bekannt war. Gleich nach Beendigung des Gesch‰fts mit dem Obermarschall sollte der Major seinen Sohn in der Garnison besuchen, alles mit ihm abreden und diese Angelegenheiten zu einem gl¸cklichen Ende f¸hren. Nun war aber durch ein unerwartetes Ereignis der ganze Zustand verr¸ckt; die Verh‰ltnisse, die sonst sich freundlich ineinanderschmiegten, schienen sich nunmehr anzufeinden, und es war schwer vorauszusehen, was die Sache f¸r eine Wendung nehmen, was f¸r eine Stimmung die Gem¸ter ergreifen w¸rde.

Indessen muflte sich der Major entschlieflen, seinen Sohn aufzusuchen, dem er sich schon angemeldet hatte. Er machte sich nicht ohne Widerwillen, nicht ohne sonderbare Ahnung, nicht ohne Schmerz, Hilarien auch nur auf kurze Zeit zu verlassen, nach manchem Zaudern auf den Weg, liefl Reitknecht und Pferde zur¸ck und fuhr mit seinem Verj¸ngungsdiener, den er nun nicht mehr entbehren konnte, der Stadt, dem Aufenthalte seines Sohnes, entgegen.

Beide begr¸flten und umarmten sich nach so langer Trennung aufs herzlichste. Sie hatten einander viel zu sagen und sprachen doch nicht sogleich aus, was ihnen zun‰chst am Herzen lag. Der Sohn erging sich in Hoffnungen eines baldigen Avancements; wogegen ihm der Vater genaue Nachricht gab, was zwischen den ‰ltern Familiengliedern wegen des Vermˆgens ¸berhaupt, wegen der einzelnen G¸ter und sonst verhandelt und beschlossen worden.

Das Gespr‰ch fing schon einigermaflen an zu stocken, als der Sohn sich ein Herz faflte und zu dem Vater l‰chelnd sagte: “Sie behandeln mich sehr zart, lieber Vater, und ich danke Ihnen daf¸r. Sie erz‰hlen mir von Besitzt¸mern und Vermˆgen und erw‰hnen der Bedingung nicht, unter der, wenigstens zum Teil, es mir eigen werden soll; Sie halten mit dem Namen Hilariens zur¸ck, Sie erwarten, dafl ich ihn selbst ausspreche, dafl ich mein Verlangen zu erkennen gebe, mit dem liebensw¸rdigen Kinde bald vereinigt zu sein.”

Der Major befand sich bei diesen Worten des Sohnes in grofler Verlegenheit; da es aber teils seiner Natur, teils einer alten Gewohnheit gem‰fl war, den Sinn des andern, mit dem er zu verhandeln hatte, zu erforschen, so schwieg er und blickte den Sohn mit einem zweideutigen L‰cheln an.–“Sie erraten nicht, mein Vater, was ich zu sagen habe”, fuhr der Lieutenant fort, “und ich will es nur rasch ein f¸r allemal herausreden. Ich kann mich auf Ihre G¸te verlassen, die, bei so vielfacher Sorge f¸r mich, gewifl auch an mein wahres Gl¸ck gedacht hat. Einmal mufl es gesagt sein, und so sei es gleich gesagt: Hilarie kann mich nicht gl¸cklich machen! Ich gedenke Hilariens als einer liebensw¸rdigen Anverwandten, mit der ich zeitlebens in den freundschaftlichsten Verh‰ltnissen stehen mˆchte; aber eine andere hat meine Leidenschaft erregt, meine Neigung gefesselt. Unwiderstehlich ist dieser Hang; Sie werden mich nicht ungl¸cklich machen.” Nur mit M¸he verbarg der Major die Heiterkeit, die sich ¸ber sein Gesicht verbreiten wollte, und fragte den Sohn mit einem milden Ernst: wer denn die Person sei, welche sich seiner so g‰nzlich bem‰chtigen kˆnnen.–“Sie m¸ssen dieses Wesen sehen, mein Vater: denn sie ist so unbeschreiblich als unbegreiflich. Ich f¸rchte nur, Sie werden selbst von ihr hingerissen, wie jedermann, der sich ihr n‰hert. Bei Gott! Ich erlebe es und sehe Sie als den Rival Ihres Sohnes.”

“Wer ist sie denn?” fragte der Major. “Wenn du ihre Persˆnlichkeit zu schildern nicht imstande bist, so erz‰hle mir wenigstens von ihren ‰uflern Umst‰nden: denn diese sind doch wohl eher auszusprechen. “–“Wohl, mein Vater!” versetzte der Sohn; “und doch w¸rden auch diese ‰ufleren Umst‰nde bei einer andern anders sein, anders auf eine andere wirken. Sie ist eine junge Witwe, Erbin eines alten, reichen, vor kurzem verstorbenen Mannes, unabh‰ngig und hˆchst wert, es zu sein, von vielen umgeben, von ebenso vielen geliebt, von ebenso vielen umworben, doch, wenn ich mich nicht sehr betriege, mir von Herzen angehˆrig.”

Mit Behaglichkeit, weil der Vater schwieg und kein Zeichen der Miflbilligung ‰uflerte, fuhr der Sohn fort, das Betragen der schˆnen Witwe gegen ihn zu erz‰hlen, jene unwiderstehliche Anmut, jene zarten Gunstbezeigungen einzeln herzur¸hmen, in denen der Vater freilich nur die leichte Gef‰lligkeit einer allgemein gesuchten Frau erkennen konnte, die unter vielen wohl irgendeinen vorzieht, ohne sich eben f¸r ihn ganz und gar zu entscheiden. Unter jeden andern Umst‰nden h‰tte er gewifl gesucht, einen Sohn, ja nur einen Freund auf den Selbstbetrug aufmerksam zu machen, der wahrscheinlich hier obwalten kˆnnte; aber diesmal war ihm selbst so viel daran gelegen, wenn der Sohn sich nicht t‰uschen, wenn die Witwe ihn wirklich lieben und sich so schnell als mˆglich zu seinen Gunsten entscheiden mˆchte, dafl er entweder kein Bedenken hatte oder einen solchen Zweifel bei sich ablehnte, vielleicht auch nur verschwieg.

“Du setzest mich in grofle Verlegenheit”, begann der Vater nach einiger Pause. “Die ganze ¸bereinkunft zwischen den ¸briggebliebenen Gliedern unsers Geschlechts beruht auf der Voraussetzung, dafl du dich mit Hilarien verbindest. Heiratet sie einen Fremden, so ist die ganze, schˆne, k¸nstliche Vereinigung eines ansehnlichen Vermˆgens wieder aufgehoben, und du besonders in deinem Teile nicht zum besten bedacht. Es g‰be wohl noch ein Mittel, das aber ein wenig sonderbar klingt und wobei du auch nicht viel gewinnen w¸rdest: ich m¸flte noch in meinen alten Tagen Hilarien heiraten, wodurch ich dir aber schwerlich ein grofles Vergn¸gen machen w¸rde.”

“Das grˆflte von der Welt!” rief der Lieutenant aus; “denn wer kann eine wahre Neigung empfinden, wer kann das Gl¸ck der Liebe genieflen oder hoffen, ohne dafl er dieses hˆchste Gl¸ck einem jeden Freund, einem jeden gˆnnte, der ihm wert ist! Sie sind nicht alt, mein Vater; wie liebensw¸rdig ist nicht Hilarie! und schon der vor¸berschwebende Gedanke, ihr die Hand zu bieten, zeugt von einem jugendlichen Herzen, von frischer Mutigkeit. Lassen Sie uns diesen Einfall, diesen Vorschlag aus dem Stegreife ja recht gut durchsinnen und ausdenken. Dann w¸rde ich erst recht gl¸cklich sein, wenn ich Sie gl¸cklich w¸flte; dann w¸rde ich mich erst recht freuen, dafl Sie f¸r die Sorgfalt, mit der Sie mein Schicksal bedacht, an sich selbst so schˆn und hˆchlich belohnt w¸rden. Nun f¸hre ich sie erst mutig, zutraulich und mit recht offenem Herzen zu meiner Schˆnen. Sie werden meine Empfindungen billigen, weil Sie selbst f¸hlen; Sie werden dem Gl¸ck eines Sohnes nichts in den Weg legen, weil Sie Ihrem eigenen Gl¸ck entgegengehen.”

Mit diesen und andern dringenden Worten liefl der Sohn den Vater, der manche Bedenklichkeiten einstreuen wollte, nicht Raum gewinnen, sondern eilte mit ihm zur schˆnen Witwe, welche sie in einem groflen, wohleingerichteten Hause, umgeben von einer zwar nicht zahlreichen, aber ausgesuchten Gesellschaft, in heiterer Unterhaltung antrafen. Sie war eins von den weiblichen Wesen, denen kein Mann entgeht. Mit unglaublicher Gewandtheit wuflte sie den Major zum Helden dieses Abends zu machen. Die ¸brige Gesellschaft schien ihre Familie, der Major allein der Gast zu sein. Sie kannte seine Verh‰ltnisse recht gut, und doch wuflte sie darnach zu fragen, als wenn sie alles erst von ihm recht erfahren wollte; und so muflte auch jedes von der Gesellschaft schon irgendeinen Anteil an dem Neuangekommenen zeigen. Der eine muflte seinen Bruder, der andere seine G¸ter und der Dritte sonst wieder etwas gekannt haben, so dafl der Major bei einem lebhaften Gespr‰ch sich immer als den Mittelpunkt f¸hlte. Auch safl er zun‰chst bei der Schˆnen; ihre Augen waren auf ihn, ihr L‰cheln an ihn gerichtet; genug, er fand sich so behaglich, dafl er beinahe die Ursache vergafl, warum er gekommen war. Auch erw‰hnte sie seines Sohnes kaum mit einem Worte, obgleich der junge Mann lebhaft mitsprach; er schien f¸r sie, wie die ¸brigen alle, heute nur um des Vaters willen gegenw‰rtig.

Frauenzimmerliche Handarbeiten, in Gesellschaft unternommen und scheinbar gleichg¸ltig fortgesetzt, erhalten durch Klugheit und Anmut oft eine wichtige Bedeutung. Unbefangen und emsig fortgesetzt, geben solche Bem¸hungen einer Schˆnen das Ansehen vˆlliger Unaufmerksamkeit auf die Umgebung und erregen in derselben ein stilles Miflgef¸hl. Dann aber, gleichsam wie beim Erwachen, ein Wort, ein Blick versetzt die Abwesende wieder mitten in die Gesellschaft, sie erscheint als neu willkommen; legt sie aber gar die Arbeit in den Schofl nieder, zeigt sie Aufmerksamkeit auf eine Erz‰hlung, einen belehrenden Vortrag, in welchem sich die M‰nner so gern ergehen, dies wird demjenigen hˆchst schmeichelhaft, den sie dergestalt beg¸nstigt.

Unsere schˆne Witwe arbeitete auf diese Weise an einer so pr‰chtigen als geschmackvollen Brieftasche, die sich noch ¸berdies durch ein grˆfleres Format auszeichnete. Dies ward nun eben von der Gesellschaft besprochen, von dem n‰chsten Nachbar aufgenommen, unter groflen Lobpreisungen der Reihe nach herumgegeben, indessen die K¸nstlerin sich mit dem Major von ernsten Gegenst‰nden besprach; ein alter Hausfreund r¸hmte das beinahe fertige Werk mit ¸bertreibung, doch als solches an den Major kam, schien sie es als seiner Aufmerksamkeit nicht wert von ihm ablehnen zu wollen, wogegen er auf eine verbindliche Weise die Verdienste der Arbeit anzuerkennen verstand, inzwischen der Hausfreund darin ein penelopeisch zauderhaftes Werk zu sehen glaubte.

Man ging in den Zimmern auf und ab und gesellte sich zuf‰llig zusammen. Der Lieutenant trat zu der Schˆnen und fragte: “Was sagen Sie zu meinem Vater?” L‰chelnd versetzte sie: “Mich deucht, dafl Sie ihn wohl zum Muster nehmen kˆnnten. Sehn Sie nur, wie nett er angezogen ist! Ob er sich nicht besser tr‰gt und h‰lt als sein lieber Sohn!” So fuhr sie fort, den Vater auf Unkosten des Sohnes zu beschreiben und zu loben und eine sehr gemischte Empfindung von Zufriedenheit und Eifersucht in dem Herzen des jungen Mannes hervorzubringen.

Nicht lange, so gesellte sich der Sohn zum Vater und erz‰hlte ihm alles haarklein wieder. Der Vater betrug sich nur desto freundlicher gegen die Witwe, und sie setzte sich gegen ihn schon auf einen lebhafteren, vertraulichem Ton. Kurz, man kann sagen, dafl, als es zum Scheiden ging, der Major so gut als die ¸brigen alle ihr und ihrem Kreise schon angehˆrte.

Ein stark einfallender Regen hinderte die Gesellschaft, auf die Weise nach Hause zu kehren, wie sie gekommen war. Einige Equipagen fuhren vor, in welche man die Fuflg‰nger verteilte; nur der Lieutenant, unter dem Vorwande, man sitze ohnehin schon zu eng, liefl den Vater fortfahren und blieb zur¸ck.

Der Major, als er in sein Zimmer trat, f¸hlte sich wirklich in einer Art von Taumel, von Unsicherheit seiner selbst, wie es denen geht, die schnell aus einem Zustande in den entgegengesetzten ¸bertreten. Die Erde scheint sich f¸r den zu bewegen, der aus dem Schiffe steigt, und das Licht zittert noch im Auge dessen, der auf einmal ins Finstere tritt. So f¸hlte sich der Major noch von der Gegenwart des schˆnen Wesens umgeben. Er w¸nschte, sie noch zu sehen, zu hˆren, sie wieder zu sehen, wieder zu hˆren; und nach einiger Besinnung verzieh er seinem Sohne, ja er pries ihn gl¸cklich, dafl er Anspr¸che machen d¸rfe, so viel Vorz¸ge zu besitzen.

Aus diesen Empfindungen rifl ihn der Sohn, der mit einer lebhaften Entz¸ckung zur T¸re hereinst¸rzte, den Vater umarmte und ausrief: “Ich bin der gl¸cklichste Mensch von der Welt!” Nach solchen und ‰hnlichen Ausrufen kam es endlich unter beiden zur Aufkl‰rung. Der Vater bemerkte, dafl die schˆne Frau im Gespr‰ch gegen ihn des Sohnes auch nicht mit einer Silbe erw‰hnt habe.–“Das ist eben ihre zarte, schweigende, halb schweigende, halb andeutende Manier, wodurch man seiner W¸nsche gewifl wird und sich doch immer des Zweifels nicht ganz erwehren kann. So war sie bisher gegen mich; aber Ihre Gegenwart, mein Vater, hat Wunder getan. Ich gestehe es gern, dafl ich zur¸ckblieb, um sie noch einen Augenblick zu sehen. Ich fand sie in ihren erleuchteten Zimmern auf und ab gehen; denn ich weifl wohl, es ist ihre Gewohnheit: wenn die Gesellschaft weg ist, darf kein Licht ausgelˆscht werden. Sie geht allein in ihren Zaubers‰len auf und ab, wenn die Geister entlassen sind, die sie hergebannt hat. Sie liefl den Vorwand gelten, unter dessen Schutz ich zur¸ckkam. Sie sprach anmutig, doch von gleichg¸ltigen Dingen. Wir gingen hin und wider durch die offenen T¸ren die ganze Reihe der Zimmer durch. Wir waren schon einigemale bis ans Ende gelangt, in das kleine Kabinett, das nur von einer tr¸ben Lampe erhellt ist. War sie schˆn, wenn sie sich unter den Kronleuchtern her bewegte, so war sie es noch unendlich mehr, beleuchtet von dem sanften Schein der Lampe. Wir waren wieder dahin gekommen und standen beim Umkehren einen Augenblick still. Ich weifl nicht, was mir die Verwegenheit abnˆtigte, ich weifl nicht, wie ich es wagen konnte, mitten im gleichg¸ltigsten Gespr‰ch auf einmal ihre Hand zu fassen, diese zarte Hand zu k¸ssen, sie an mein Herz zu dr¸cken. Man zog sie nicht weg. “Himmlisches Wesen”, rief ich, “verbirg dich nicht l‰nger vor mir. Wenn in diesem schˆnen Herzen eine Neigung wohnt f¸r den Gl¸cklichen, der vor dir steht, so verh¸lle sie nicht l‰nger, offenbare sie, gestehe sie! es ist die schˆnste, es ist die hˆchste Zeit. Verbanne mich oder nimm mich in deinen Armen auf!”

Ich weifl nicht, was ich alles sagte, ich weifl nicht, wie ich mich geb‰rdete. Sie entfernte sich nicht, sie widerstrebte nicht, sie antwortete nicht. Ich wagte es, sie in meine Arme zu fassen, sie zu fragen, ob sie die Meinige sein wolle. Ich k¸flte sie mit Ungest¸m; sie dr‰ngte mich weg.–“Ja, doch, ja!” oder so etwas sagte sie halblaut und wie verworren. Ich entfernte mich und rief: “Ich sende meinen Vater, der soll f¸r mich reden!”–“Kein Wort mit ihm dar¸ber!” versetzte sie, indem sie mir einige Schritte nachfolgte. “Entfernen Sie sich, vergessen Sie, was geschehen ist.””

Was der Major dachte, wollen wir nicht entwickeln. Er sagte jedoch zum Sohne: “Was glaubst du nun, was zu tun sei? Sie Sache ist, d‰cht’ ich, aus dem Stegreife gut genug eingeleitet, dafl wir nun etwas fˆrmlicher zu Werke gehen kˆnnen, dafl es vielleicht sehr schicklich ist, wenn ich mich morgen dort melde und f¸r dich anhalte. “–“Um Gottes willen, mein Vater!” rief er aus, “das hiefle die ganze Sache verderben. Jenes Betragen, jener Ton will durch keine Fˆrmlichkeit gestˆrt und verstimmt sein. Es ist genug, mein Vater, dafl Ihre Gegenwart diese Verbindung beschleunigt, ohne dafl Sie ein Wort aussprechen. Ja, Sie sind es, dem ich mein Gl¸ck schuldig bin! Die Achtung meiner Geliebten f¸r Sie hat jeden Zweifel besiegt, und niemals w¸rde der Sohn einen so gl¸cklichen Augenblick gefunden haben, wenn ihn der Vater nicht vorbereitet h‰tte.”

Solche und ‰hnliche Mitteilungen unterhielten sie bis tief in die Nacht. Sie vereinigten sich wechselseitig ¸ber ihre Plane; der Major wollte bei der schˆnen Witwe nur noch der Form wegen einen Abschiedsbesuch machen und sodann seiner Verbindung mit Hilarien entgegengehen; der Sohn sollte die seinige befˆrdern und beschleunigen, wie es mˆglich w‰re.

Viertes Kapitel

Der schˆnen Witwe machte unser Major einen Morgenbesuch, um Abschied zu nehmen und, wenn es mˆglich w‰re, die Absicht seines Sohnes mit Schicklichkeit zu fˆrdern. Er fand sie in zierlichster Morgenkleidung in Gesellschaft einer ‰ltern Dame, die durch ein hˆchst gesittetes, freundliches Wesen ihn alsobald einnahm. Die Anmut der J¸ngern, der Anstand der ‰lteren setzten das Paar in das w¸nschenswerteste Gleichgewicht, auch schien ihr wechselseitiges Betragen durchaus daf¸r zu sprechen, dafl sie einander angehˆrten.

Die J¸ngere schien eine fleiflig gearbeitete, uns von gestern schon bekannte Brieftasche soeben vollendet zu haben; denn nach den gewˆhnlichen Empfangsbegr¸flungen und verbindlichen Worten eines willkommenen Erscheinens wendete sie sich zur Freundin und reichte das k¸nstliche Werk hin, gleichsam ein unterbrochenes Gespr‰ch wieder ankn¸pfend: “Sie sehen also, dafl ich doch fertig geworden bin, wenn es gleich wegen Zˆgerns und manchen S‰umens den Anschein nicht hatte.”

“Sie kommen eben recht, Herr Major”, sagte die ‰ltere, “unsern Streit zu entscheiden oder wenigstens sich f¸r eine oder die andere Partei zu erkl‰ren; ich behaupte, man f‰ngt eine solche weitschichtige Arbeit nicht an, ohne einer Person zu gedenken, der man sie bestimmt hat, man vollendet sie nicht ohne einen solchen Gedanken. Beschauen Sie selbst das Kunstwerk, denn so nenn’ ich es billig, ob dergleichen so ganz ohne Zweck unternommen werden kˆnne.”

Unser Major muflte der Arbeit freilich allen Beifall zusprechen. Teils geflochten, teils gestickt, erregte sie zugleich mit der Bewunderung das Verlangen, zu erfahren, wie sie gemacht sei. Die bunte Seide waltete vor, doch war auch das Gold nicht verschm‰ht, genug, man wuflte nicht, ob man Pracht oder Geschmack mehr bewundern sollte.

“Es ist doch noch einiges daran zu tun”, versetzte die Schˆne, indem sie die Schleife des umgeschlagenen Bandes wieder aufzog und sich mit dem Innern besch‰ftigte. “Ich will nicht streiten”, fuhr sie fort, “aber erz‰hlen will ich, wie mir bei solchem Gesch‰ft zumute ist. Als junge M‰dchen werden wir gewˆhnt, mit den Fingern zu tifteln und mit den Gedanken umherzuschweifen; beides bleibt uns, indem wir nach und nach die schwersten und zierlichsten Arbeiten verfertigen lernen, und ich leugne nicht, dafl ich an jede Arbeit dieser Art immer Gedanken angekn¸pft habe, an Personen, an Zust‰nde, an Freud und Leid. Und so ward mir das Angefangene wert und das Vollendete, ich darf wohl sagen, kostbar. Als ein solches nun durft’ ich das Geringste f¸r etwas halten, die leichteste Arbeit gewann einen Wert, und die schwierigste doch auch nur dadurch, dafl die Erinnerung dabei reicher und vollst‰ndiger war. Freunden und Liebenden, ehrw¸rdigen und hohen Personen glaubt’ ich daher dergleichen immer anbieten zu kˆnnen; sie erkannten es auch und wuflten, dafl ich ihnen etwas von meinem Eigensten ¸berreichte, das, vielfach und unaussprechlich, doch zuletzt zu einer angenehmen Gabe vereinigt, immer wie ein freundlicher Grufl wohlgef‰llig aufgenommen ward.”

Auf ein so liebensw¸rdiges Bekenntnis war freilich kaum eine Erwiderung mˆglich; doch wuflte die Freundin dagegen etwas in wohlklingende Worte zu f¸gen. Der Major aber, von jeher gewohnt, die anmutige Weisheit rˆmischer Schriftsteller und Dichter zu sch‰tzen und ihre leuchtenden Ausdr¸cke dem Ged‰chtnis einzupr‰gen, erinnerte sich einiger hierher gar wohl passender Verse, h¸tete sich aber, um nicht als Pedant zu erscheinen, sie auszusprechen oder auch ihrer nur zu erw‰hnen; versuchte jedoch, um nicht stumm und geistlos zu erscheinen, aus dem Stegreif eine prosaische Paraphrase, die aber nicht recht gelingen wollte, wodurch das Gespr‰ch beinahe ins Stocken geraten w‰re.

Die ‰ltere Dame griff deshalb nach einem bei dem Eintritt des Freundes niedergelegten Buche; es war eine Sammlung von Poesien, welche soeben die Aufmerksamkeit der Freundinnen besch‰ftigte; dies gab Gelegenheit, von Dichtkunst ¸berhaupt zu sprechen, doch blieb die Unterhaltung nicht lange im Allgemeinen, denn gar bald bekannten die Frauenzimmer zutraulich, dafl sie von dem poetischen Talent des Majors unterrichtet seien. Ihnen hatte der Sohn, der selbst auf den Ehrentitel eines Dichters seine Absichten nicht verbarg, von den Gedichten seines Vaters gesprochen, auch einiges rezitiert; im Grunde, um sich mit einer poetischen Herkunft zu schmeicheln und, wie es die Jugend gewohnt ist, sich f¸r einen vorschreitenden, die F‰higkeiten des Vaters steigernden J¸ngling bescheidentlich geben zu kˆnnen. Der Major aber, der sich zur¸ckzuziehen suchte, da er blofl als Literator und Liebhaber gelten wollte, suchte, da ihm kein Ausweg gelassen war, wenigstens auszuweichen, indem er die Dichtart, in der er sich allenfalls ge¸bt habe, f¸r subaltern und fast f¸r unrecht wollte angesehen wissen; er konnte nicht leugnen, dafl er in demjenigen, was man beschreibend und in einem gewissen Sinne belehrend nennt, einige Versuche gemacht habe.

Die Damen, besonders die j¸ngere, nahmen sich dieser Dichtart an; sie sagte: “Wenn man vern¸nftig und ruhig leben will, welches denn doch zuletzt eines jeden Menschen Wunsch und Absicht bleibt, was soll uns da das aufgeregte Wesen, das uns willk¸rlich anreizt, ohne etwas zu geben, das uns beunruhigt, um uns denn doch zuletzt uns wieder selbst zu ¸berlassen; unendlich viel angenehmer ist mir, da ich doch einmal der Dichtung nicht gern entbehren mag, jene, die mich in heitere Gegenden versetzt, wo ich mich wiederzuerkennen glaube, mir den Grundwert des Einfach-L‰ndlichen zu Gem¸te f¸hrt, mich durch buschige Haine zum Wald, unvermerkt auf eine Hˆhe zum Anblick eines Landsees hinf¸hrt, da denn auch wohl gegen¸ber erst angebaute H¸gel, sodann waldgekrˆnte Hˆhen emporsteigen und die blauen Berge zum Schlufl ein befriedigendes Gem‰lde bilden. Bringt man mir das alles in klaren Rhythmen und Reimen, so bin ich auf meinem Sofa dankbar, dafl der Dichter ein Bild in meiner Imagination entwickelt hat, an dem ich mich ruhiger erfreuen kann, als wenn ich es, nach erm¸dender Wanderschaft, vielleicht unter andern, ung¸nstigen Umst‰nden vor Augen sehe.”

Der Major, der das vorwaltende Gespr‰ch eigentlich nur als Mittel ansah, seine Zwecke zu befˆrdern, suchte sich wieder nach der lyrischen Dichtkunst hinzuwenden, worin sein Sohn wirklich Lˆbliches geleistet hatte. Man widersprach ihm nicht geradezu, aber man suchte ihn von dem Wege wegzuscherzen, den er eingeschlagen hatte, besonders da er auf leidenschaftliche Gedichte hinzudeuten schien, womit der Sohn der unvergleichlichen Dame die entschiedene Neigung seines Herzens nicht ohne Kraft und Geschick vorzutragen gesucht hatte. “Lieder der Liebenden”, sagte die schˆne Frau, “mag ich weder vorgelesen noch vorgesungen; gl¸cklich Liebende beneidet man, eh’ man sich’s versieht, und die Ungl¸cklichen machen uns immer Langeweile.”

Hierauf nahm die ‰ltere Dame, zu ihrer holden Freundin gewendet, das Wort auf und sagte: “Warum machen wir solche Umschweife, verlieren die Zeit in Umst‰ndlichkeiten gegen einen Mann, den wir verehren und lieben? Sollen wir ihm nicht vertrauen, dafl wir sein anmutiges Gedicht, worin er die wackere Leidenschaft zur Jagd in allen ihren Einzelheiten vortr‰gt, schon teilweise zu kennen das Vergn¸gen haben, und nunmehr ihn bitten, auch das Ganze nicht vorzuenthalten? Ihr Sohn”, fuhr sie fort, “hat uns einige Stellen mit Lebhaftigkeit aus dem Ged‰chtnis vorgetragen und uns neugierig gemacht, den Zusammenhang zu sehen.” Als nun der Vater abermals auf die Talente des Sohnes zur¸ckkehren und diese hervorheben wollte, lieflen es die Damen nicht gelten, indem sie es f¸r eine offenbare Ausflucht ansprachen, um die Erf¸llung ihrer W¸nsche indirekt abzulehnen. Er kam nicht los, bis er unbewunden versprochen hatte, das Gedicht zu senden, sodann aber nahm das Gespr‰ch eine Wendung, die ihn hinderte, zugunsten des Sohnes weiter etwas vorzubringen, besonders da ihm dieser alle Zudringlichkeit abgeraten hatte.

Da es nun Zeit schien, sich zu beurlauben, und der Freund auch deshalb einige Bewegung machte, sprach die Schˆne mit einer Art von Verlegenheit, wodurch sie nur noch schˆner ward, indem sie die frisch gekn¸pfte Schleife der Brieftasche sorgf‰ltig zurechtzupfte: “Dichter und Liebhaber sind l‰ngst schon leider im Ruf, dafl ihren Versprechen und Zusagen nicht viel zu trauen sei; verzeihen Sie daher, wenn ich das Wort eines Ehrenmannes in Zweifel zu ziehen wage und deshalb ein Pfand, einen Treupfennig nicht verlange, sondern gebe. Nehmen Sie diese Brieftasche, sie hat etwas ‰hnliches von Ihrem Jagdgedicht, viel Erinnerungen sind daran gekn¸pft, manche Zeit verging unter der Arbeit, endlich ist sie fertig; bedienen Sie sich derselben als eines Boten, uns Ihre liebliche Arbeit zu ¸berbringen.”

Bei solch unerwartetem Anerbieten f¸hlte sich der Major wirklich betroffen; die zierliche Pracht dieser Gabe hatte so gar kein Verh‰ltnis zu dem, was ihn gewˆhnlich umgab, zu dem ¸brigen, dessen er sich bediente, dafl er sie sich, obgleich dargereicht, kaum zueignen konnte; doch nahm er sich zusammen, und wie seinem Erinnern ein ¸berliefertes Gute niemals versagte, so trat eine klassische Stelle alsbald ihm ins Ged‰chtnis. Nur w‰re es pedantisch gewesen, sie anzuf¸hren, doch regte sie einen heitern Gedanken bei ihm auf, dafl er aus dem Stegreife mit artiger Paraphrase einen freundlichen Dank und ein zierliches Kompliment entgegenzubringen im Falle war; und so schlofl sich denn diese Szene auf eine befriedigende Weise f¸r die s‰mtlichen Unterredenden.

Also fand er sich zuletzt nicht ohne Verlegenheit in ein angenehmes Verh‰ltnis verflochten; er hatte zu senden, zu schreiben zugesagt, sich verpflichtet, und wenn ihm die Veranlassung einigermaflen unangenehm fiel, so muflte er es doch f¸r ein Gl¸ck sch‰tzen, auf eine heitere Weise mit dem Frauenzimmer in Verh‰ltnis zu bleiben, das bei ihren groflen Vorz¸gen ihm so nahe angehˆren sollte. Er schied also nicht ohne eine gewisse innere Zufriedenheit; denn wie sollte der Dichter eine solche Aufmunterung nicht empfinden, dessen treufleifliger Arbeit, die so lange unbeachtet geruht, nun ganz unerwartet eine liebensw¸rdige Aufmerksamkeit zuteil wird.

Gleich nach seiner R¸ckkehr ins Quartier setzte der Major sich nieder, zu schreiben, seiner guten Schwester alles zu berichten, und da war nichts nat¸rlicher, als dafl in seiner Darstellung eine gewisse Exaltation sich hervortat, wie er sie selbst empfand, die aber durch das Einreden seines von Zeit zu Zeit stˆrenden Sohns noch mehr gesteigert wurde.

Auf die Baronin machte dieser Brief einen sehr gemischten Eindruck; denn wenn auch der Umstand, wodurch die Verbindung des Bruders mit Hilarien befˆrdert und beschleunigt werden konnte, geeignet war, sie ganz zufriedenzustellen, so wollte ihr doch die schˆne Witwe nicht gefallen, ohne dafl sie sich deswegen Rechenschaft zu geben gedacht h‰tte. Wir machen bei dieser Gelegenheit folgende Bemerkung.

Den Enthusiasmus f¸r irgendeine Frau mufl man einer andern niemals anvertrauen; sie kennen sich untereinander zu gut, um sich einer solchen ausschliefllichen Verehrung w¸rdig zu halten. Die M‰nner kommen ihnen vor wie K‰ufer im Laden, wo der Handelsmann mit seinen Waren, die er kennt, im Vorteil steht, auch sie in dem besten Lichte vorzuzeigen die Gelegenheit wahrnehmen kann; dahingegen der K‰ufer immer mit einer Art Unschuld hereintritt, er bedarf der Ware, will und w¸nscht sie und versteht gar selten, sie mit Kenneraugen zu betrachten. Jener weifl recht gut, was er gibt, dieser nicht immer, was er empf‰ngt. Aber es ist einmal im menschlichen Leben und Umgang nicht zu ‰ndern, ja so lˆblich als notwendig, denn alles Begehren und Freien, alles Kaufen und Tauschen beruht darauf.

In Gefolge solches Empfindens mehr als Betrachtens konnte die Baronesse weder mit der Leidenschaft des Sohns noch mit der g¸nstigen Schilderung des Vaters vˆllig zufrieden sein; sie fand sich ¸berrascht von der gl¸cklichen Wendung der Sache, doch liefl eine Ahnung wegen doppelter Ungleichheit des Alters sich nicht abweisen. Hilarie ist ihr zu jung f¸r den Bruder, die Witwe f¸r den Sohn nicht jung genug; indessen hat die Sache ihren Gang genommen, der nicht aufzuhalten scheint. Ein frommer Wunsch, dafl alles gut gehen mˆge, stieg mit einem leisen Seufzer empor. Um ihr Herz zu erleichtern, nahm sie die Feder und schrieb an jene menschenkennende Freundin, indem sie nach einem geschichtlichen Eingang also fortfuhr.

“Die Art dieser jungen, verf¸hrerischen Witwe ist mir nicht unbekannt; weiblichen Umgang scheint sie abzulehnen und nur eine Frau um sich zu leiden, die ihr keinen Eintrag tut, ihr schmeichelt und, wenn ihre stummen Vorz¸ge sich nicht klar genug dart‰ten, sie noch mit Worten und geschickter Behandlung der Aufmerksamkeit zu empfehlen weifl. Zuschauer, Teilnehmer an einer solchen Repr‰sentation m¸ssen M‰nner sein, daher entsteht die Notwendigkeit, sie anzuziehen, sie festzuhalten. Ich denke nichts ¸bles von der schˆnen Frau, sie scheint anst‰ndig und behutsam genug, aber eine solche l¸sterne Eitelkeit opfert den Umst‰nden auch wohl etwas auf, und, was ich f¸r das Schlimmste halte: nicht alles ist reflektiert und vors‰tzlich, ein gewisses gl¸ckliches Naturell leitet und besch¸tzt sie, und nichts ist gef‰hrlicher an so einer gebornen Kokette als eine aus der Unschuld entspringende Verwegenheit.”

Der Major, nunmehr auf den G¸tern angelangt, widmete Tag und Stunde der Besichtigung und Untersuchung. Er fand sich in dem Falle, zu bemerken, dafl ein richtiger, wohlgefaflter Hauptgedanke in der Ausf¸hrung mannigfaltigen Hindernissen und dem Durchkreuzen so vieler Zuf‰lligkeiten unterworfen ist, in dem Grade, dafl der erste Begriff beinahe verschwindet und f¸r Augenblicke ganz und gar unterzugehen scheint, bis mitten in allen Verwirrungen dem Geiste die Mˆglichkeit eines Gelingens sich wieder darstellt, wenn wir die Zeit als den besten Alliierten einer unbesiegbaren Ausdauer uns die Hand bieten sehen.

Und so w‰re denn auch hier der traurige Anblick schˆner, ansehnlicher, vernachl‰ssigter, miflbrauchter Besitzungen zu einem trostlosen Zustande geworden, h‰tte man nicht durch das verst‰ndige Bemerken einsichtiger ˆkonomen zugleich vorausgesehen, dafl eine Reihe von Jahren, mit Verstand und Redlichkeit benutzt, hinreichend sein werde, das Abgestorbene zu beleben und das Stockende in Umtrieb zu versetzen, um zuletzt durch Ordnung und T‰tigkeit seinen Zweck zu erreichen.

Der behagliche Obermarschall war angelangt, und zwar mit einem ernsten Advokaten, doch gab dieser dem Major weniger Besorgnisse als jener, der zu den Menschen gehˆrte, die keine Zwecke haben oder, wenn sie einen vor sich sehen, die Mittel dazu ablehnen. Ein t‰glich–und st¸ndliches Behagen war ihm das unerl‰flliche Bed¸rfnis seines Lebens. Nach langem Zaudern ward es ihm endlich Ernst, seine Gl‰ubiger loszuwerden, die G¸terlast abzusch¸tteln, die Unordnung seines Hauswesens in Regel zu setzen, eines anst‰ndigen, gesicherten Einkommens ohne Sorge zu genieflen, dagegen aber auch nicht das geringste von den bisherigen Br‰uchlichkeiten fahren zu lassen.

Im ganzen gestand er alles ein, was die Geschwister in den ungetr¸bten Besitz der G¸ter, besonders auch des Hauptgutes, setzen sollte, aber auf einen gewissen benachbarten Pavillon, in welchem er alle Jahr auf seinen Geburtstag die ‰ltesten Freunde und die neusten Bekannten einlud, ferner auf den daran gelegenen Ziergarten, der solchen mit dem Hauptgeb‰ude verband, wollte er die Anspr¸che nicht vˆllig aufgeben. Die Meublen alle sollten in dem Lusthause bleiben, die Kupferstiche an den W‰nden sowie auch die Fr¸chte der Spaliere ihm versichert werden. Pfirsiche und Erdbeeren von den ausgesuchtesten Sorten, Birnen und ‰pfel, grofl und schmackhaft, besonders aber eine gewisse Sorte grauer, kleiner ‰pfel, die er seit vielen Jahren der F¸rstin Witwe zu verehren gewohnt war, sollten ihm treulich geliefert sein. Hieran schlossen sich noch andere Bedingungen, wenig bedeutend, aber dem Hausherrn, P‰chter, Verwaltern, G‰rtnern ungemein beschwerlich.

Der Obermarschall war ¸brigens von dem besten Humor; denn da er den Gedanken nicht fahren liefl, dafl alles nach seinen W¸nschen, wie es ihm sein leichtes Temperament vorgespiegelt hatte, sich endlich einrichten w¸rde, so sorgte er f¸r eine gute Tafel, machte sich einige Stunden auf einer m¸helosen Jagd die nˆtige Bewegung, erz‰hlte Geschichten auf Geschichten und zeigte durchaus das heiterste Gesicht; auch schied er auf gleiche Weise, dankte dem Major zum schˆnsten, dafl er so br¸derlich verfahren, verlangte noch etwas Geld, liefl die kleinen vorr‰tigen grauen Gold‰pfel, welche dieses Jahr besonders wohl geraten waren, sorgf‰ltig einpacken und fuhr mit diesem Schatz, den er als eine willkommene Verehrung der F¸rstin zu ¸berreichen gedachte, nach ihrem Witwensitz, wo er denn auch gn‰dig und freundlich empfangen ward.

Der Major an seiner Seite blieb mit ganz entgegengesetzten Gef¸hlen zur¸ck und w‰re an den Verschr‰nkungen, die er vor sich fand, fast verzweifelt, w‰re ihm nicht das Gef¸hl zu H¸lfe gekommen, das einen t‰tigen Mann freudig aufrichtet, wenn er das Verworrene zu lˆsen, als entworren vor sich zu sehen hoffen darf.

Gl¸cklicherweise war der Advokat ein rechtlicher Mann, der, weil er sonst viel zu tun hatte, diese Angelegenheit bald beendigte. Ebenso gl¸cklich schlug sich ein Kammerdiener des Obermarschalls hinzu, der gegen m‰flige Bedingungen in dem Gesch‰ft mitzuwirken versprach, wodurch man einem gedeihlichen Abschlufl entgegensehen durfte. So angenehm aber auch dieses war, so f¸hlte doch der Major als ein rechtlicher Mann im Hin–und Widerwirken bei dieser Angelegenheit, es bed¸rfe gar manches Unreinen, um ins Reine zu kommen.

Bei einer Pause des Gesch‰fts, die ihm einige Freiheit liefl, eilte er auf sein Gut, wo er, des Versprechens eingedenk, das er an die schˆne Witwe getan und das ihm nicht aus dem Sinne gekommen war, seine Gedichte versuchte, die in guter Ordnung verwahrt lagen; zu gleicher Zeit kamen ihm manche Gedenk–und Erinnerungsb¸cher, Ausz¸ge beim Lesen alter und neuer Schriftsteller enthaltend, wieder zur Hand. Bei seiner Vorliebe f¸r Horaz und die rˆmischen Dichter war das meiste daher, und es fiel ihm auf, dafl die Stellen grˆfltenteils Bedauern vergangner Zeit, vor¸bergeschwundner Zust‰nde und Empfindungen andeuteten. Statt vieler r¸cken wir die einzige Stelle hier ein:

“Heu!
Quae mens est hodie, cur eadem non puero fuit? Vel cur bis animis incolumes non redeunt genae!”

“Wie ist heut mir doch zumute?
So vergn¸glich und so klar!
Da bei frischem Knabenblute
Mir so wild, so d¸ster war.
Doch wenn mich die Jahre zwacken,
Wie auch wohlgemut ich sei,
Denk’ ich jene roten Backen,
Und ich w¸nsche sie herbei.”

Nachdem unser Freund nun aus wohlgeordneten Papieren das Jagdgedicht gar bald herausgefunden, erfreute er sich an der sorgf‰ltigen Reinschrift, wie er sie vor Jahren mit lateinischen Lettern, grofl Oktav, zierlichst verfaflt hatte. Die kˆstliche Brieftasche von bedeutender Grˆfle nahm das Werk ganz bequem auf, und nicht leicht hat ein Autor sich so pr‰chtig eingebunden gesehen. Einige Zeilen dazu waren hˆchst notwendig; Prosaisches aber kaum zul‰ssig. Jene Stelle des Ovid fiel ihm wieder ein, und er glaubte jetzt durch eine poetische Umschreibung, so wie damals durch eine prosaische, sich am besten aus der Sache zu ziehen. Sie hiefl:

“Nec factas solum vestes spectare juvabat, Tum quoque dum fierent; tantus decor adfuit arti.”

Zu Deutsch:

“Ich sah’s in meisterlichen H‰nden
–Wie denk’ ich gern der schˆnen Zeit!– Sich erst entwickeln, dann vollenden
Zu nie gesehner Herrlichkeit.
Zwar ich besitz’ es gegenw‰rtig,
Doch soll ich mir nur selbst gestehn: Ich wollt’, es w‰re noch nicht fertig, Das Machen war doch gar zu schˆn!”

Mit diesem ¸bertragenen war unser Freund nur wenige Zeit zufrieden; er tadelte, dafl er das schˆne flektierte Verbum: dum fierent, in ein traurig abstraktes Substantivum ver‰ndert habe, und es verdrofl ihn, bei allem Nachdenken die Stelle doch nicht verbessern zu kˆnnen. Nun ward auf einmal seine Vorliebe zu den alten Sprachen wieder lebendig, und der Glanz des Deutschen Parnasses, auf den er doch auch im stillen hinaufstrebte, schien ihm sich zu verdunkeln.

Endlich aber, da er dieses heitere Kompliment, mit dem Urtexte unverglichen, noch ganz artig fand und glauben durfte, dafl ein Frauenzimmer es ganz wohl aufnehmen w¸rde, so entstand eine zweite Bedenklichkeit: dafl, da man in Versen nicht galant sein kann, ohne verliebt zu scheinen, er dabei als k¸nftiger Schwiegervater eine wunderliche Rolle spiele. Das Schlimmste jedoch fiel ihm zuletzt ein: jene Ovidischen Verse werden von Arachnen gesagt, einer ebenso geschickten als h¸bschen und zierlichen Weberin. Wurde nun aber diese durch die neidische Minerva in eine Spinne verwandelt, so war es gef‰hrlich, eine schˆne Frau, mit einer Spinne, wenn auch nur von ferne, verglichen, im Mittelpunkte eines ausgebreiteten Netzes schweben zu sehen. Konnte man sich doch unter der geistreichen Gesellschaft, welche unsre Dame umgab, einen Gelehrten denken, welcher diese Nachbildung ausgewittert h‰tte. Wie sich nun der Freund aus einer solchen Verlegenheit gezogen, ist uns selbst unbekannt geblieben, und wir m¸ssen diesen Fall unter diejenigen rechnen, ¸ber welche die Musen auch wohl einen Schleier zu werfen sich die Schalkheit erlauben. Genug, das Jagdgedicht selbst ward abgesendet, von welchem wir jedoch einige Worte nachzubringen haben.

Der Leser desselben belustigt sich an der entschiedenen Jagdliebhaberei und allem, was sie beg¸nstigen mag; erfreulich ist der Jahreszeitenwechsel, der sie mannigfaltig aufruft und anregt. Die Eigenheiten s‰mtlicher Geschˆpfe, denen man nachstellt, die man zu erlegen gesinnt ist, die verschiedenen Charaktere der J‰ger, die sich dieser Lust, dieser M¸he hingeben, die Zuf‰lligkeiten, wie sie befˆrdern oder sch‰digen: alles war, besonders was auf das Gefl¸gel Bezug hatte, mit der besten Laune dargestellt und mit grofler Eigent¸mlichkeit behandelt.

Von der Auerhahnbalz bis zum zweiten Schnepfenstrich und von da bis zur Rabenh¸tte war nichts vers‰umt, alles wohl gesehen, klar aufgenommen, leidenschaftlich verfolgt, leicht und scherzhaft, oft ironisch dargestellt.

Jenes elegische Thema klang jedoch durch das Ganze durch; es war mehr als ein Abschied von diesen Lebensfreuden verfaflt, wodurch es zwar einen gef¸hlvollen Anstrich des heiter Durchlebten gewann und sehr wohlt‰tig wirkte, aber doch zuletzt, wie jene Sinnspr¸che, nach dem Genufl ein gewisses Leere empfinden liefl. War es das Umbl‰ttern dieser Papiere oder sonst ein augenblickliches Miflbefinden, der Major f¸hlte sich nicht heiter gestimmt. Dafl die Jahre, die zuerst eine schˆne Gabe nach der andern bringen, sie alsdann nach und nach wieder entziehen, schien er auf dem Scheidepunkt, wo er sich befand, auf einmal lebhaft zu f¸hlen. Eine vers‰umte Badereise, ein ohne Genufl verstrichener Sommer, Mangel an stetiger gewohnter Bewegung, alles liefl ihn gewisse kˆrperliche Unbequemlichkeiten empfinden, die er f¸r wirkliche ¸bel nahm und sich ungeduldiger dabei bewies, als billig sein mochte.

Wie aber den Frauen der Augenblick, wo ihre bisher unbestrittene Schˆnheit zweifelhaft werden will, hˆchst peinlich ist, so wird den M‰nnern in gewissen Jahren, obgleich noch im vˆlligen Vigor, das leiseste Gef¸hl einer unzul‰nglichen Kraft ‰uflerst unangenehm, ja gewissermaflen ‰ngstlich.

Ein anderer eintretender Umstand jedoch, der ihn h‰tte beunruhigen sollen, verhalf ihm zu der besten Laune. Sein kosmetischer Kammerdiener, der ihn auch bei dieser Landpartie nicht verlassen hatte, schien einige Zeit her einen andern Weg einzuschlagen, wozu ihn fr¸hes Aufstehn des Majors, t‰gliches Ausreiten und Umhergehen desselben sowie der Zutritt mancher Besch‰ftigten, auch bei der Gegenwart des Obermarschalls mehrerer Gesch‰ftslosen zu nˆtigen schien. Mit allen Kleinigkeiten, die nur die Sorgfalt eines Mimen zu besch‰ftigen das Recht hatten, liefl er den Major schon einige Zeit verschont, aber desto strenger hielt er auf einige Hauptpunkte, welche bisher durch ein geringeres Hokuspokus waren verschleiert gewesen. Alles, was nicht nur den Schein der Gesundheit bezwecken, sondern was die Gesundheit selbst aufrechterhalten sollte, ward eingesch‰rft, besonders aber Mafl in allem und Abwechslung nach den Vorkommenheiten, Sorgfalt sodann f¸r Haut und Haare, f¸r Augenbrauen und Z‰hne, f¸r H‰nde und N‰gel, f¸r deren zierlichste Form und schicklichste L‰nge der Wissende schon l‰nger gesorgt hatte. Dabei wurde M‰fligung aber–und abermals in allem, was den Menschen aus seinem Gleichgewicht zu bringen pflegt, dringend anempfohlen, worauf denn dieser Schˆnheits-Erhaltungs-Lehrer sich seinen Abschied erbat, weil er seinem Herrn nichts mehr n¸tze sei. Indes konnte man denken, dafl er sich doch wohl wieder zu seinem vorigen Patron zur¸ckw¸nschen mochte, um den mannigfaltigen Vergn¸gungen eines theatralischen Lebens fernerhin sich ergeben zu kˆnnen.

Und wirklich tat es dem Major sehr wohl, wieder sich selbst gegeben zu sein. Der verst‰ndige Mann braucht sich nur zu m‰fligen, so ist er auch gl¸cklich. Er mochte sich der herkˆmmlichen Bewegung des Reitens, der Jagd und was sich daran kn¸pft, wieder mit Freiheit bedienen, die Gestalt Hilariens trat in solchen einsamen Momenten wieder freudig hervor, und er f¸gte sich in den Zustand des Br‰utigams, vielleicht den anmutigsten, der uns in dem gesitteten Kreise des Lebens gegˆnnt ist.

Schon einige Monate waren die s‰mtlichen Familienglieder ohne besondere Nachricht voneinander geblieben; der Major besch‰ftigte sich, in der Residenz gewisse Einwilligungen und Best‰tigungen seines Gesch‰fts abschliefllich zu negoziieren; die Baronin und Hilarie richteten ihre T‰tigkeit auf die heiterste, reichlichste Ausstattung; der Sohn, seiner Schˆnen mit Leidenschaft dienstpflichtig, schien hier¸ber alles zu vergessen. Der Winter war angekommen und umgab alle l‰ndlichen Wohnungen mit unerfreulichen Sturmregen und fr¸hzeitigen Finsternissen.

Wer heute durch eine d¸stre Novembernacht sich in der Gegend des adeligen Schlosses verirrt h‰tte und bei dem schwachen Lichte eines bedeckten Mondes ‰cker, Wiesen, Baumgruppen, H¸gel und Geb¸sche d¸ster vor sich liegen s‰he, auf einmal aber bei einer schnellen Wendung um eine Ecke die ganz erleuchtete Fensterreihe eines langen Geb‰udes vor sich erblickte, er h‰tte gewifl geglaubt, eine festlich geschm¸ckte Gesellschaft dort anzutreffen. Wie sehr verwundert m¸flte er aber sein, von wenigen Bedienten erleuchtete Treppen hinaufgef¸hrt, nur drei Frauenzimmer, die Baronin, Hilarien und das Kammerm‰dchen, in hellen Zimmern zwischen klaren W‰nden, neben freundlichem Hausrat, durchaus erw‰rmt und behaglich, zu erblicken.

Da wir nun aber die Baronin in einem festlichen Zustande zu ¸berraschen glauben, so ist es notwendig, zu bemerken, dafl diese gl‰nzende Erleuchtung hier nicht als auflerordentlich anzusehen sei, sondern zu den Eigenheiten gehˆre, welche die Dame aus ihrem fr¸hern Leben mit her¸bergebracht hatte. Als Tochter einer Oberhofmeisterin, bei Hof erzogen, war sie gewohnt, den Winter allen ¸brigen Jahrszeiten vorzuziehen und den Aufwand einer stattlichen Erleuchtung zum Element aller ihrer Gen¸sse zu machen. Zwar an Wachskerzen fehlte es niemals, aber einer ihrer ‰ltesten Diener hatte so grofle Lust an K¸nstlichkeiten, dafl nicht leicht eine neue Lampenart entdeckt wurde, die er im Schlosse hie und da einzuf¸hren nicht w‰re bem¸ht gewesen, wodurch denn zwar die Erhellung mitunter lebhaft gewann, aber auch wohl gelegentlich hie und da eine partielle Finsternis eintrat.

Die Baronin hatte den Zustand einer Hofdame durch Verbindung mit einem bedeutenden Gutsbesitzer und entschiedenen Landwirt aus Neigung und wohlbed‰chtig vertauscht, und ihr einsichtiger Gemahl hatte, da ihr das L‰ndliche anfangs nicht zusagte, mit Einstimmung seiner Nachbarn, ja nach den Anordnungen der Regierung, die Wege mehrere Meilen ringsumher so gut hergestellt, dafl die nachbarlichen Verbindungen nirgends in so gutem Stande gefunden wurden; doch war eigentlich bei dieser lˆblichen Anstalt die Hauptabsicht, dafl die Dame, besonders zur guten Jahrszeit, ¸berall hinrollen konnte; dagegen aber im Winter gern h‰uslich bei ihm verweilte, indem er durch Erleuchtung die Nacht dem Tag gleich zu machen wuflte. Nach dem Tode des Gemahls gab die leidenschaftliche Sorge f¸r ihre Tochter genugsame Besch‰ftigung, der ˆftere Besuch des Bruders herzliche Unterhaltung und die gewohnte Klarheit der Umgebung ein Behagen, das