This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.
Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 7
Johann Wolfgang von Goethe
Siebentes Buch
Erstes Kapitel
Der Fr¸hling war in seiner vËlligen Herrlichkeit erschienen; ein fr¸hzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging st¸rmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. “Ach!” sagte er zu sich selbst, “erscheinen uns denn eben die schËnsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? Und m¸ssen Tropfen fallen, wenn wir entz¸ckt werden sollen? Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn unger¸hrt ansehen, und was kann uns r¸hren als die stille Hoffnung, daï¬ die angeborne Neigung unsers Herzens nicht ohne Gegenstand bleiben werde? Uns r¸hrt die Erzâ°hlung jeder guten Tat, uns r¸hrt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; wir f¸hlen dabei, daï¬ wir nicht ganz in der Fremde sind, wir wâ°hnen einer Heimat nâ°her zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt.”
Inzwischen hatte ihn ein Fuï¬gâ°nger eingeholt, der sich zu ihm gesellte, mit starkem Schritte neben dem Pferde blieb und nach einigen gleichg¸ltigen Reden zu dem Reiter sagte: “Wenn ich mich nicht irre, so muï¬ ich Sie irgendwo schon gesehen haben.”
“Ich erinnere mich Ihrer auch”, versetzte Wilhelm; “haben wir nicht zusammen eine lustige Wasserfahrt gemacht?”–“Ganz recht!” erwiderte der andere.
Wilhelm betrachtete ihn genauer und sagte nach einigem Stillschweigen: “Ich weiï¬ nicht, was f¸r eine Verâ°nderung mit Ihnen vorgegangen sein mag; damals hielt ich Sie f¸r einen lutherischen Landgeistlichen, und jetzt sehen Sie mir eher einem katholischen â°hnlich.”
“Heute betriegen Sie sich wenigstens nicht”, sagte der andere, indem er den Hut abnahm und die Tonsur sehen lieï¬. “Wo ist denn Ihre Gesellschaft hingekommen? Sind Sie noch lange bei ihr geblieben?”
“Lâ°nger als billig: denn leider wenn ich an jene Zeit zur¸ckdenke, die ich mit ihr zugebracht habe, so glaube ich in ein unendliches Leere zu sehen; es ist mir nichts davon ¸briggeblieben.”
“Darin irren Sie sich; alles, was uns begegnet, lâ°ï¬t Spuren zur¸ck, alles trâ°gt unmerklich zu unserer Bildung bei; doch es ist gefâ°hrlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen. Wir werden dabei entweder stolz und lâ°ssig oder niedergeschlagen und kleinm¸tig, und eins ist f¸r die Folge so hinderlich als das andere. Das Sicherste bleibt immer, nur das Nâ°chste zu tun, was vor uns liegt, und das ist jetzt”, fuhr er mit einem Lâ°cheln fort, “daï¬ wir eilen, ins Quartier zu kommen.”
Wilhelm fragte, wie weit noch der Weg nach Lotharios Gut sei, der andere versetzte, daï¬ es hinter dem Berge liege. “Vielleicht treffe ich Sie dort an”, fuhr er fort, “ich habe nur in der Nachbarschaft noch etwas zu besorgen. Leben Sie solange wohl!” Und mit diesen Worten ging er einen steilen Pfad, der schneller ¸ber den Berg hin¸berzuf¸hren schien.
“Ja wohl hat er recht!” sagte Wilhelm vor sich, indem er weiterritt. “An das Nâ°chste soll man denken, und f¸r mich ist wohl jetzt nichts Nâ°heres als der traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. Laï¬ sehen, ob ich die Rede noch ganz im Gedâ°chtnis habe, die den grausamen Freund beschâ°men soll.”
Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen; es fehlte ihm auch nicht eine Silbe, und je mehr ihm sein Gedâ°chtnis zustatten kam, desto mehr wuchs seine Leidenschaft und sein Mut. Aureliens Leiden und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegenwâ°rtig.
“Geist meiner Freundin!” rief er aus, “umschwebe mich! und wenn es dir mËglich ist, so gib mir ein Zeichen, daï¬ du besâ°nftigt, daï¬ du versËhnt seist!”
Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die HËhe des Berges gekommen und sah an dessen Abhang an der andern Seite ein wunderliches Gebâ°ude liegen, das er sogleich f¸r Lotharios Wohnung hielt. Ein altes, unregelmâ°ï¬iges Schloï¬ mit einigen T¸rmen und Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch unregelmâ°ï¬iger waren die neuen Angebâ°ude, die, teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgebâ°ude durch Galerien und bedeckte Gâ°nge zusammenhingen. Alle â°uï¬ere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bed¸rfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von k¸nstlichen Gâ°rten und groï¬en Alleen. Ein Gem¸se- und Baumgarten drang bis an die Hâ°user hinan, und kleine nutzbare Gâ°rten waren selbst in den Zwischenrâ°umen angelegt. Ein heiteres DËrfchen lag in einiger Entfernung; Gâ°rten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande.
In seine eignen leidenschaftlichen Betrachtungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne viel ¸ber das, was er sah, nachzudenken, stellte sein Pferd in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem Schlosse zu.
Ein alter Bedienter empfing ihn an der T¸re und berichtete ihm mit vieler Gutm¸tigkeit, daï¬ er heute wohl schwerlich vor den Herren kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon einige seiner Geschâ°ftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, und endlich muï¬te der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zur¸ck und f¸hrte Wilhelmen in einen groï¬en, alten Saal. Dort ersuchte er ihn, sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeitlang ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab und warf einige Blicke auf die Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. Sooft er etwas rauschen hËrte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit W¸rde zu empfangen, ihm erst den Brief zu ¸berreichen und ihn dann mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen.
Mehrmals war er schon getâ°uscht worden und fing wirklich an, verdrieï¬lich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitent¸r ein wohlgebildeter Mann in Stiefeln und einem schlichten ¸berrocke heraustrat. “Was bringen Sie mir Gutes?” sagte er mit freundlicher Stimme zu Wilhelmen, “verzeihen Sie, daï¬ ich Sie habe warten lassen.”
Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, ¸berreichte ihm das Blatt Aureliens und sagte: “Ich bringe die letzten Worte einer Freundin, die Sie nicht ohne R¸hrung lesen werden.”
Lothario nahm den Brief und ging sogleich in das Zimmer zur¸ck, wo er, wie Wilhelm recht gut durch die offne T¸re sehen konnte, erst noch einige Briefe siegelte und ¸berschrieb, dann Aureliens Brief erËffnete und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und Wilhelm, obgleich seinem Gef¸hl nach die pathetische Rede zu dem nat¸rlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch zusammen, ging auf die Schwelle los und wollte seinen Spruch beginnen, als eine Tapetent¸re des Kabinetts sich Ëffnete und der Geistliche hereintrat.
“Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt”, rief Lothario ihm entgegen; “verzeihn Sie mir”, fuhr er fort, indem er sich gegen Wilhelmen wandte, “wenn ich in diesem Augenblicke nicht gestimmt bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute nacht bei uns! Und Sie sorgen f¸r unsern Gast, Abbe, daï¬ ihm nichts abgeht.”
Mit diesen Worten machte er eine Verbeugung gegen Wilhelmen, der Geistliche nahm unsern Freund bei der Hand, der nicht ohne Widerstreben folgte.
Stillschweigend gingen sie durch wunderliche Gâ°nge und kamen in ein gar artiges Zimmer. Der Geistliche f¸hrte ihn ein und verlieï¬ ihn ohne weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der sich bei Wilhelmen als seine Bedienung ank¸ndigte und das Abendessen brachte, bei der Aufwartung von der Ordnung des Hauses, wie man zu fr¸hst¸cken, zu speisen, zu arbeiten und sich zu vergn¸gen pflegte, manches erzâ°hlte und besonders zu Lotharios Ruhm gar vieles vorbrachte.
So angenehm auch der Knabe war, so suchte ihn Wilhelm doch bald loszuwerden. Er w¸nschte allein zu sein, denn er f¸hlte sich in seiner Lage â°uï¬erst gedr¸ckt und beklommen. Er machte sich Vorw¸rfe, seinen Vorsatz so schlecht vollf¸hrt, seinen Auftrag nur halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er sich vor, den andern Morgen das Versâ°umte nachzuholen, bald ward er gewahr, daï¬ Lotharios Gegenwart ihn zu ganz andern Gef¸hlen stimmte. Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wuï¬te sich in seine Lage nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und Ëffnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen brachte er zugleich den Schleier des Geistes hervor, den Mignon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte seine traurige Stimmung. “”Flieh! J¸ngling, flieh!”” rief er aus, “was soll das mystische Wort heiï¬en? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser hâ°tte der Geist mir zugerufen: “Kehre in dich selbst zur¸ck!”” Er betrachtete die englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichg¸ltig sah er ¸ber die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein ungl¸cklich strandendes Schiff vorgestellt: ein Vater mit seinen schËnen TËchtern erwartete den Tod von den hereindringenden Wellen. Das eine Frauenzimmer schien â°hnlichkeit mit jener Amazone zu haben; ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er f¸hlte ein unwiderstehliches Bed¸rfnis, seinem Herzen Luft zu machen, Trâ°nen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf ¸berwâ°ltigte.
Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Garten, den er als Knabe Ëfters besucht hatte, und sah mit Vergn¸gen die bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Mariane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Miï¬verhâ°ltnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hieï¬ er den Sohn zwei St¸hle aus dem Gartenhause holen, nahm Marianen bei der Hand und f¸hrte sie nach einer Laube.
Wilhelm eilte nach dem Gartensaale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen; er ging, sie anzureden, allein sie blieb unverwandt, und ob er sich gleich neben sie stellte, konnte er doch ihr Gesicht nicht sehen. Er blickte zum Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen, von denen er einige sogleich erkannte. Frau Melina saï¬ unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt; Laertes stand neben ihr und zâ°hlte Gold aus einer Hand in die andere. Mignon und Felix lagen im Grase, jene ausgestreckt auf dem R¸cken, dieser auf dem Gesichte. Philine trat hervor und klatschte ¸ber den Kindern in die Hâ°nde, Mignon blieb unbeweglich, Felix sprang auf und floh vor Philinen. Erst lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolgte, dann schrie er â°ngstlich, als der Harfenspieler mit groï¬en, langsamen Schritten ihm nachging. Das Kind lief grade auf einen Teich los; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu spâ°t, das Kind lag im Wasser! Wilhelm stand wie eingewurzelt. Nun sah er die schËne Amazone an der andern Seite des Teichs, sie streckte ihre rechte Hand gegen das Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind durchstrich das Wasser in gerader Richtung auf den Finger zu und folgte ihr nach, wie sie ging, endlich reichte sie ihm ihre Hand und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war indessen nâ°her gekommen, das Kind brannte ¸ber und ¸ber, und es fielen feurige Tropfen von ihm herab. Wilhelm war noch besorgter, doch die Amazone nahm schnell einen weiï¬en Schleier vom Haupte und bedeckte das Kind damit. Das Feuer war sogleich gelËscht. Als sie den Schleier aufhob, sprangen zwei Knaben hervor, die zusammen mutwillig hin und her spielten, als Wilhelm mit der Amazone Hand in Hand durch den Garten ging und in der Entfernung seinen Vater und Marianen in einer Allee spazieren sah, die mit hohen Bâ°umen den ganzen Garten zu umgeben schien. Er richtete seinen Weg auf beide zu und machte mit seiner schËnen Begleiterin den Durchschnitt des Gartens, als auf einmal der blonde Friedrich ihnen in den Weg trat und sie mit groï¬em Gelâ°chter und allerlei Possen aufhielt. Sie wollten demungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu; der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Fluge durch die Allee hinschweben. Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu H¸lfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zur¸ck. Wie gern lieï¬ er sich halten! Mit dieser gemischten Empfindung wachte er auf und fand sein Zimmer schon von der hellen Sonne erleuchtet.
VII. Buch, 2. Kapitel
Zweites Kapitel
Der Knabe lud Wilhelmen zum Fr¸hst¸ck ein; dieser fand den Abbe schon im Saale; Lothario, hieï¬ es, sei ausgeritten; der Abbe war nicht sehr gesprâ°chig und schien eher nachdenklich zu sein; er fragte nach Aureliens Tode und hËrte mit Teilnahme der Erzâ°hlung Wilhelms zu. “Ach!” rief er aus, “wem es lebhaft und gegenwâ°rtig ist, welche unendliche Operationen Natur und Kunst machen m¸ssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst soviel als mËglich an der Bildung seiner Mitbr¸der teilnimmt, der mËchte verzweifeln, wenn er sieht, wie freventlich sich oft der Mensch zerstËrt und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld, zerstËrt zu werden. Wenn ich das bedenke, so scheint mir das Leben selbst eine so zufâ°llige Gabe, daï¬ ich jeden loben mËchte, der sie nicht hËher als billig schâ°tzt.”
Er hatte kaum ausgesprochen, als die T¸re mit Heftigkeit sich aufriï¬, ein junges Frauenzimmer hereinst¸rzte und den alten Bedienten, der sich ihr in den Weg stellte, zur¸ckstieï¬. Sie eilte gerade auf den Abbe zu und konnte, indem sie ihn beim Arm faï¬te, vor Weinen und Schluchzen kaum die wenigen Worte hervorbringen: “Wo ist er? Wo habt ihr ihn? Es ist eine entsetzliche Verrâ°terei! Gesteht nur! Ich weiï¬, was vorgeht! Ich will ihm nach! Ich will wissen, wo er ist.”
“Beruhigen Sie sich, mein Kind”, sagte der Abbe mit angenommener Gelassenheit, “kommen Sie auf Ihr Zimmer, Sie sollen alles erfahren, nur m¸ssen Sie hËren kËnnen, wenn ich Ihnen erzâ°hlen soll.” Er bot ihr die Hand an im Sinne, sie wegzuf¸hren. “Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen”, rief sie aus, “ich hasse die Wâ°nde, zwischen denen ihr mich schon so lange gefangenhaltet! Und doch habe ich alles erfahren, der Obrist hat ihn herausgefordert, er ist hinausgeritten, seinen Gegner aufzusuchen, und vielleicht jetzt eben in diesem Augenblicke–es war mir etlichemal, als hËrte ich schieï¬en. Lassen Sie anspannen und fahren Sie mit mir, oder ich f¸lle das Haus, das ganze Dorf mit meinem Geschrei.”
Sie eilte unter den heftigsten Trâ°nen nach dem Fenster, der Abbe hielt sie zur¸ck und suchte vergebens, sie zu besâ°nftigen.
Man hËrte einen Wagen fahren, sie riï¬ das Fenster auf: “Er ist tot!” rief sie, “da bringen sie ihn.”–“Er steigt aus!” sagte der Abbe. “Sie sehen, er lebt.”–“Er ist verwundet”, versetzte sie heftig, “sonst kâ°m er zu Pferde! Sie f¸hren ihn! Er ist gefâ°hrlich verwundet!” Sie rannte zur T¸re hinaus und die Treppe hinunter, der Abbe eilte ihr nach, und Wilhelm folgte ihnen; er sah, wie die SchËne ihrem heraufkommenden Geliebten begegnete.
Lothario lehnte sich auf seinen Begleiter, welchen Wilhelm sogleich f¸r seinen alten GËnner Jarno erkannte, sprach dem trostlosen Frauenzimmer gar liebreich und freundlich zu, und indem er sich auch auf sie st¸tzte, kam er die Treppe langsam herauf; er gr¸ï¬te Wilhelmen und ward in sein Kabinett gef¸hrt.
Nicht lange darauf kam Jarno wieder heraus und trat zu Wilhelmen: “Sie sind, wie es scheint”, sagte er, “prâ°destiniert, ¸berall Schauspieler und Theater zu finden; wir sind eben in einem Drama begriffen, das nicht ganz lustig ist.”
“Ich freue mich”, versetzte Wilhelm, “Sie in diesem sonderbaren Augenblicke wiederzufinden; ich bin verwundert, erschrocken, und Ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und gefaï¬t. Sagen Sie mir, hat es Gefahr? Ist der Baron schwer verwundet?”–“Ich glaube nicht”, versetzte Jarno.
Nach einiger Zeit trat der junge Wundarzt aus dem Zimmer. “Nun, was sagen Sie?” rief ihm Jarno entgegen. “Daï¬ es sehr gefâ°hrlich steht”, versetzte dieser und steckte einige Instrumente in seine lederne Tasche zusammen.
Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunterhing, er glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren zeichneten dieses Band vor allen Bâ°ndern der Welt aus. Wilhelm war ¸berzeugt, die Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme durch sein ganzes Wesen.
“Wo haben Sie die Tasche her?” rief er aus. “Wem gehËrte sie vor Ihnen? Ich bitte, sagen Sie mir’s.”–“Ich habe Sie in einer Auktion gekauft”, versetzte jener; “was k¸mmert’s mich, wem sie angehËrte?” Mit diesen Worten entfernte er sich, und Jarno sagte: “Wenn diesem jungen Menschen nur ein wahres Wort aus dem Munde ginge.”–“So hat er also diese Tasche nicht erstanden?” versetzte Wilhelm. “Sowenig, als es Gefahr mit Lothario hat”, antwortete Jarno.
Wilhelm stand in ein vielfaches Nachdenken versenkt, als Jarno ihn fragte, wie es ihm zeither gegangen sei. Wilhelm erzâ°hlte seine Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und seiner Botschaft gesprochen hatte, rief jener aus: “Es ist doch sonderbar, sehr sonderbar!”
Der Abbe trat aus dem Zimmer, winkte Jarno zu, an seiner Statt hineinzugehen, und sagte zu Wilhelmen: “Der Baron lâ°ï¬t Sie ersuchen, hierzubleiben, einige Tage die Gesellschaft zu vermehren und zu seiner Unterhaltung unter diesen Umstâ°nden beizutragen. Haben Sie nËtig, etwas an die Ihrigen zu bestellen, so soll Ihr Brief gleich besorgt werden, und damit Sie diese wunderbare Begebenheit verstehen, von der Sie Augenzeuge sind, muï¬ ich Ihnen erzâ°hlen, was eigentlich kein Geheimnis ist. Der Baron hatte ein kleines Abenteuer mit einer Dame, das mehr Aufsehen machte, als billig war, weil sie den Triumph, ihn einer Nebenbuhlerin entrissen zu haben, allzu lebhaft genieï¬en wollte. Leider fand er nach einiger Zeit bei ihr nicht die nâ°mliche Unterhaltung, er vermied sie; allein bei ihrer heftigen Gem¸tsart war es ihr unmËglich, ihr Schicksal mit gesetztem Mute zu tragen. Bei einem Balle gab es einen Ëffentlichen Bruch, sie glaubte sich â°uï¬erst beleidigt und w¸nschte gerâ°cht zu werden; kein Ritter fand sich, der sich ihrer angenommen hâ°tte, bis endlich ihr Mann, von dem sie sich lange getrennt hatte, die Sache erfuhr und sich ihrer annahm, den Baron herausforderte und heute verwundete; doch ist der Obrist, wie ich hËre, noch schlimmer dabei gefahren.”
Von diesem Augenblicke an ward unser Freund im Hause, als gehËre er zur Familie, behandelt.
VII. Buch, 3. Kapitel
Drittes Kapitel
Man hatte einigemal dem Kranken vorgelesen; Wilhelm leistete diesen kleinen Dienst mit Freuden. Lydie kam nicht vom Bette hinweg, ihre Sorgfalt f¸r den Verwundeten verschlang alle ihre ¸brige Aufmerksamkeit, aber heute schien auch Lothario zerstreut, ja er bat, daï¬ man nicht weiterlesen mËchte.
“Ich f¸hle heute so lebhaft”, sagte er, “wie tËricht der Mensch seine Zeit verstreichen lâ°ï¬t! Wie manches habe ich mir vorgenommen, wie manches durchdacht, und wie zaudert man nicht bei seinen besten Vorsâ°tzen! Ich habe die Vorschlâ°ge ¸ber die Verâ°nderungen gelesen, die ich auf meinen G¸tern machen will, und ich kann sagen, ich freue mich vorz¸glich dieserwegen, daï¬ die Kugel keinen gefâ°hrlichern Weg genommen hat.”
Lydie sah ihn zâ°rtlich, ja mit Trâ°nen in den Augen an, als wollte sie fragen, ob denn sie, ob seine Freunde nicht auch Anteil an der Lebensfreude fordern kËnnten. Jarno dagegen versetzte: “Verâ°nderungen, wie Sie vorhaben, werden billig erst von allen Seiten ¸berlegt, bis man sich dazu entschlieï¬t.”
“Lange ¸berlegungen”, versetzte Lothario, “zeigen gewËhnlich, daï¬ man den Punkt nicht im Auge hat, von dem die Rede ist, ¸bereilte Handlungen, daï¬ man ihn gar nicht kennt. Ich ¸bersehe sehr deutlich, daï¬ ich in vielen St¸cken bei der Wirtschaft meiner G¸ter die Dienste meiner Landleute nicht entbehren kann und daï¬ ich auf gewissen Rechten strack und streng halten muï¬; ich sehe aber auch, daï¬ andere Befugnisse mir zwar vorteilhaft, aber nicht ganz unentbehrlich sind, so daï¬ ich davon meinen Leuten auch was gËnnen kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich nicht meine G¸ter weit besser als mein Vater? Werde ich meine Eink¸nfte nicht noch hËher treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vorteil allein genieï¬en? Soll ich dem, der mit mir und f¸r mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vorteile gËnnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorr¸ckende Zeit darbietet?”
“Der Mensch ist nun einmal so!” rief Jarno, “und ich tadle mich nicht, wenn ich mich auch in dieser Eigenheit ertappe; der Mensch begehrt, alles an sich zu reiï¬en, um nur nach Belieben damit schalten und walten zu kËnnen; das Geld, das er nicht selbst ausgibt, scheint ihm selten wohl angewendet.”
“O ja!” versetzte Lothario, “wir kËnnten manches vom Kapital entbehren, wenn wir mit den Interessen weniger willk¸rlich umgingen.”
“Das einzige, was ich zu erinnern habe”, sagte Jarno, “und warum ich nicht raten kann, daï¬ Sie eben jetzt diese Verâ°nderungen machen, wodurch Sie wenigstens im Augenblicke verlieren, ist, daï¬ Sie selbst noch Schulden haben, deren Abzahlung Sie einengt. Ich w¸rde raten, Ihren Plan aufzuschieben, bis Sie vËllig im reinen wâ°ren.”
“Und indessen einer Kugel oder einem Dachziegel zu ¸berlassen, ob er die Resultate meines Lebens und meiner Tâ°tigkeit auf immer vernichten wollte! Oh, mein Freund!” fuhr Lothario fort, “das ist ein Hauptfehler gebildeter Menschen, daï¬ sie alles an eine Idee, wenig oder nichts an einen Gegenstand wenden mËgen. Wozu habe ich Schulden gemacht? Warum habe ich mich mit meinem Oheim entzweit? meine Geschwister so lange sich selbst ¸berlassen? als um einer Idee willen. In Amerika glaubte ich zu wirken, ¸ber dem Meere glaubte ich n¸tzlich und notwendig zu sein; war eine Handlung nicht mit tausend Gefahren umgeben, so schien sie mir nicht bedeutend, nicht w¸rdig. Wie anders seh ich jetzt die Dinge, und wie ist mir das Nâ°chste so wert, so teuer geworden.”
“Ich erinnere mich wohl des Briefes”, versetzte Jarno, “den ich noch ¸ber das Meer erhielt. Sie schrieben mir: Ich werde zur¸ckkehren und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen: “Hier oder nirgend ist Amerika!””
“Ja, mein Freund, und ich wiederhole noch immer dasselbe, und doch schelte ich mich zugleich, daï¬ ich hier nicht so tâ°tig wie dort bin. Zu einer gewissen gleichen, fortdauernden Gegenwart brauchen wir nur Verstand, und wir werden auch nur zu Verstand, so daï¬ wir das Auï¬erordentliche, was jeder gleichg¸ltige Tag von uns fordert, nicht mehr sehen und, wenn wir es erkennen, doch tausend Entschuldigungen finden, es nicht zu tun. Ein verstâ°ndiger Mensch ist viel f¸r sich, aber f¸rs Ganze ist er wenig.”
“Wir wollen”, sagte Jarno, “dem Verstande nicht zu nahe treten und bekennen, daï¬ das Auï¬erordentliche, was geschieht, meistens tËricht ist.”
“Ja, und zwar eben deswegen, weil die Menschen das Auï¬erordentliche auï¬er der Ordnung tun. So gibt mein Schwager sein VermËgen, insofern er es verâ°uï¬ern kann, der Br¸dergemeinde und glaubt seiner Seele Heil dadurch zu befËrdern; hâ°tte er einen geringen Teil seiner Eink¸nfte aufgeopfert, so hâ°tte er viel gl¸ckliche Menschen machen und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen kËnnen. Selten sind unsere Aufopferungen tâ°tig, wir tun gleich Verzicht auf das, was wir weggeben. Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen. Diese Tage, ich gesteh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus ¸berzeugung zu tun, wozu ihn ein â°ngstlicher Wahn treibt; ich will meine Genesung nicht abwarten. Hier sind die Papiere, sie d¸rfen nur ins reine gebracht werden. Nehmen Sie den Gerichtshalter dazu, unser Gast hilft Ihnen auch, Sie wissen so gut als ich, worauf es ankommt, und ich will hier genesend oder sterbend dabei bleiben und ausrufen: “Hier oder nirgend ist Herrnhut!””
Als Lydie ihren Freund von Sterben reden hËrte, st¸rzte sie vor seinem Bette nieder, hing an seinen Armen und weinte bitterlich. Der Wundarzt kam herein, Jarno gab Wilhelmen die Papiere und nËtigte Lydien, sich zu entfernen.
“Um ‘s Himmels willen!” rief Wilhelm, als sie in dem Saal allein waren, “was ist das mit dem Grafen? Welch ein Graf ist das, der sich unter die Br¸dergemeinde begibt?”
“Den Sie sehr wohl kennen”, versetzte Jarno. “Sie sind das Gespenst, das ihn in die Arme der FrËmmigkeit jagt, Sie sind der BËsewicht, der sein artiges Weib in einen Zustand versetzt, in dem sie ertrâ°glich findet, ihrem Manne zu folgen.”
“Und sie ist Lotharios Schwester?” rief Wilhelm.
“Nicht anders.”
“Und Lothario weiﬖ?”
“Alles.”
“O lassen Sie mich fliehen!” rief Wilhelm aus, “wie kann ich vor ihm stehen? Was kann er sagen?”
“Daï¬ niemand einen Stein gegen den andern aufheben soll und daï¬ niemand lange Reden komponieren soll, um die Leute zu beschâ°men, er m¸ï¬te sie denn vor dem Spiegel halten wollen.”
“Auch das wissen Sie?”
“Wie manches andere”, versetzte Jarno lâ°chelnd; “doch diesmal”, fuhr er fort, “werde ich Sie so leicht nicht wie das vorige Mal loslassen, und vor meinem Werbesold haben Sie sich auch nicht mehr zu f¸rchten. Ich bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat hâ°tte ich Ihnen diesen Argwohn nicht einflËï¬en sollen. Seit der Zeit, daï¬ ich Sie nicht gesehen habe, hat sich vieles geâ°ndert. Nach dem Tode meines F¸rsten, meines einzigen Freundes und Wohltâ°ters, habe ich mich aus der Welt und aus allen weltlichen Verhâ°ltnissen herausgerissen. Ich befËrderte gern, was vern¸nftig war, verschwieg nicht, wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem bËsen Maule zu reden. Das Menschenpack f¸rchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich f¸rchten, wenn sie begriffen, was f¸rchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man muï¬ ihn beiseite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten. Doch es mag hingehen, ich habe zu leben, und von meinem Plane sollen Sie weiter hËren. Sie sollen teil daran nehmen, wenn Sie mËgen; aber sagen Sie mir, wie ist es Ihnen ergangen? Ich sehe, ich f¸hle Ihnen an, auch Sie haben sich verâ°ndert. Wie steht’s mit Ihrer alten Grille, etwas SchËnes und Gutes in Gesellschaft von Zigeunern hervorzubringen?”
“Ich bin gestraft genug!” rief Wilhelm aus, “erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon machen. Wie vËllig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Geschâ°ft ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff. Nicht allein will jeder der erste, sondern auch der einzige sein, jeder mËchte gerne alle ¸brigen ausschlieï¬en und sieht nicht, daï¬ er mit ihnen zusammen kaum etwas leistet; jeder d¸nkt sich wunderoriginal zu sein und ist unfâ°hig, sich in etwas zu finden, was auï¬er dem Schlendrian ist; dabei eine immerwâ°hrende Unruhe nach etwas Neuem. Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegeneinander! Und nur die kleinlichste Eigenliebe, der beschrâ°nkteste Eigennutz macht, daï¬ sie sich miteinander verbinden. Vom wechselseitigen Betragen ist gar die Rede nicht; ein ewiges Miï¬trauen wird durch heimliche T¸cke und schâ°ndliche Reden unterhalten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern. Jeder macht Anspruch auf die unbedingteste Achtung, jeder ist empfindlich gegen den mindesten Tadel. Das hat er selbst alles schon besser gewuï¬t! Und warum hat er denn immer das Gegenteil getan? Immer bed¸rftig und immer ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr f¸rchteten als vor Vernunft und gutem Geschmack und nichts so sehr zu erhalten suchten als das Majestâ°tsrecht ihrer persËnlichen Willk¸r.”
Wilhelm holte Atem, um seine Litanei noch weiter fortzusetzen, als ein unmâ°ï¬iges Gelâ°chter Jarnos ihn unterbrach. “Die armen Schauspieler!” rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort: “die armen, guten Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund”, fuhr er fort, nachdem er sich einigermaï¬en wieder erholt hatte, “daï¬ Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben und daï¬ ich Ihnen aus allen Stâ°nden genug Figuren und Handlungen zu Ihren harten Pinselstrichen finden wollte? Verzeihen Sie mir, ich muï¬ wieder lachen, daï¬ Sie glaubten, diese schËnen Qualitâ°ten seien nur auf die Bretter gebannt.”
Wilhelm faï¬te sich, denn wirklich hatte ihn das unbâ°ndige und unzeitige Gelâ°chter Jarnos verdrossen. “Sie kËnnen”, sagte er, “Ihren Menschenhaï¬ nicht ganz verbergen, wenn Sie behaupten, daï¬ diese Fehler allgemein seien.”
“Und es zeugt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese Erscheinungen dem Theater so hoch anrechnen. Wahrhaftig, ich verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug und aus der Begierde zu gefallen entspringt; denn wenn er sich und andern nicht etwas scheint, so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er muï¬ den augenblicklichen Beifall hochschâ°tzen, denn er erhâ°lt keinen andern Lohn; er muï¬ zu glâ°nzen suchen, denn deswegen steht er da.”
“Sie erlauben”, versetzte Wilhelm, “daï¬ ich von meiner Seite wenigstens lâ°chele. Nie hâ°tte ich geglaubt, daï¬ Sie so billig, so nachsichtig sein kËnnten.”
“Nein, bei Gott! dies ist mein vËlliger, wohlbedachter Ernst. Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen Sie mich meine Klaglieder hier¸ber nicht anstimmen, sie w¸rden heftiger klingen als die Ihrigen.”
Der Chirurgus kam aus dem Kabinett, und auf Befragen, wie sich der Kranke befinde, sagte er mit lebhafter Freundlichkeit: “Recht sehr wohl, ich hoffe, ihn bald vËllig wiederhergestellt zu sehen.” Sogleich eilte er zum Saal hinaus und erwartete Wilhelms Frage nicht, der schon den Mund Ëffnete, sich nochmals und dringender nach der Brieftasche zu erkundigen. Das Verlangen, von seiner Amazone etwas zu erfahren, gab ihm Vertrauen zu Jarno; er entdeckte ihm seinen Fall und bat ihn um seine Beih¸lfe. “Sie wissen so viel”, sagte er, “sollten Sie nicht auch das erfahren kËnnen?”
Jarno war einen Augenblick nachdenkend, dann sagte er zu seinem jungen Freunde: “Seien Sie ruhig, und lassen Sie sich weiter nichts merken, wir wollen der SchËnen schon auf die Spur kommen. Jetzt beunruhigt mich nur Lotharios Zustand, die Sache steht gefâ°hrlich, das sagt mir die Freundlichkeit und der gute Trost des Wundarztes. Ich hâ°tte Lydien schon gerne weggeschafft, denn sie nutzt hier gar nichts, aber ich weiï¬ nicht, wie ich es anfangen soll. Heute abend, hoff ich, soll unser alter Medikus kommen, und dann wollen wir weiter ratschlagen.”
VII. Buch, 4. Kapitel
Viertes Kapitel
Der Medikus kam; es war der gute, alte, kleine Arzt, den wir schon kennen und dem wir die Mitteilung des interessanten Manuskripts verdanken. Er besuchte vor allen Dingen den Verwundeten und schien mit dessen Befinden keinesweges zufrieden. Dann hatte er mit Jarno eine lange Unterredung, doch lieï¬en sie nichts merken, als sie abends zu Tische kamen.
Wilhelm begr¸ï¬te ihn aufs freundlichste und erkundigte sich nach seinem Harfenspieler. “Wir haben noch Hoffnung, den Ungl¸cklichen zurechtezubringen”, versetzte der Arzt. “Dieser Mensch war eine traurige Zugabe zu Ihrem eingeschrâ°nkten und wunderlichen Leben”, sagte Jarno. “Wie ist es ihm weiter ergangen? Lassen Sie mich es wissen.”
Nachdem man Jarnos Neugierde befriedigst hatte, fuhr der Arzt fort: “Nie habe ich ein Gem¸t in einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was auï¬er ihm war, den mindesten Anteil genommen, ja fast auf nichts gemerkt; bloï¬ in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermeï¬licher Abgrund erschien. Wie r¸hrend war es, wenn er von diesem traurigen Zustande sprach! “Ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir”, rief er aus, “als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde; kein Gef¸hl bleibt mir als das Gef¸hl meiner Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes, unfËrmliches Gespenst sich r¸ckwâ°rts sehen lâ°ï¬t. Doch da ist keine HËhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zur¸ck, kein Wort dr¸ckt diesen immer gleichen Zustand aus. Manchmal ruf ich in der Not dieser Gleichg¸ltigkeit: ‘Ewig! ewig!’ mit Heftigkeit aus, und dieses seltsame, unbegreifliche Wort ist hell und klar gegen die Finsternis meines Zustandes. Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in dieser Nacht, ich weine meine Trâ°nen alle mir selbst und um mich selbst. Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe, denn sie allein locken mir den Wunsch ab, daï¬ die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich sein mËchten. Aber auch diese beiden Gespenster sind nur aus dem Abgrunde gestiegen, um mich zu â°ngstigen und um mir zuletzt auch das teure Bewuï¬tsein dieses ungeheuren Daseins zu rauben.”
Sie sollten ihn hËren”, fuhr der Arzt fort, “wenn er in vertraulichen Stunden auf diese Weise sein Herz erleichtert; mit der grËï¬ten R¸hrung habe ich ihm einigemal zugehËrt. Wenn sich ihm etwas aufdringt, das ihn nËtigt, einen Augenblick zu gestehen, eine Zeit sei vergangen, so scheint er wie erstaunt, und dann verwirft er wieder die Verâ°nderung an den Dingen als eine Erscheinung der Erscheinungen. Eines Abends sang er ein Lied ¸ber seine grauen Haare; wir saï¬en alle um ihn her und weinten.”
“O schaffen Sie es mir!” rief Wilhelm aus.
“Haben Sie denn aber”, fragte Jarno, “nichts entdeckt von dem, was er sein Verbrechen nennt, nicht die Ursache seiner sonderbaren Tracht, sein Betragen beim Brande, seine Wut gegen das Kind?”
“Nur durch Mutmaï¬ungen kËnnen wir seinem Schicksale nâ°herkommen; ihn unmittelbar zu fragen w¸rde gegen unsere Grundsâ°tze sein. Da wir wohl merken, daï¬ er katholisch erzogen ist, haben wir geglaubt, ihm durch eine Beichte Linderung zu verschaffen; aber er entfernt sich auf eine sonderbare Weise jedesmal, wenn wir ihn dem Geistlichen nâ°her zu bringen suchen. Daï¬ ich aber Ihren Wunsch, etwas von ihm zu wissen, nicht ganz unbefriedigt lasse, will ich Ihnen wenigstens unsere Vermutungen entdecken. Er hat seine Jugend in dem geistlichen Stande zugebracht; daher scheint er sein langes Gewand und seinen Bart erhalten zu wollen. Die Freuden der Liebe blieben ihm die grËï¬te Zeit seines Lebens unbekannt. Erst spâ°t mag eine Verirrung mit einem sehr nahe verwandten Frauenzimmer, es mag ihr Tod, der einem ungl¸cklichen GeschËpfe das Dasein gab, sein Gehirn vËllig zerr¸ttet haben.
Sein grËï¬ter Wahn ist, daï¬ er ¸berall Ungl¸ck bringe und daï¬ ihm der Tod durch einen unschuldigen Knaben bevorstehe. Erst f¸rchtete er sich vor Mignon, eh er wuï¬te, daï¬ es ein Mâ°dchen war; nun â°ngstigte ihn Felix, und da er das Leben bei alle seinem Elend unendlich liebt, scheint seine Abneigung gegen das Kind daher entstanden zu sein.”
“Was haben Sie denn zu seiner Besserung f¸r Hoffnung?” fragte Wilhelm.
“Es geht langsam vorwâ°rts”, versetzte der Arzt, “aber doch nicht zur¸ck. Seine bestimmten Beschâ°ftigungen treibt er fort, und wir haben ihn gewËhnt, die Zeitungen zu lesen, die er jetzt immer mit groï¬er Begierde erwartet.”
“Ich bin auf seine Lieder neugierig”, sagte Jarno.
“Davon werde ich Ihnen verschiedene geben kËnnen”, sagte der Arzt. “Der â°lteste Sohn des Geistlichen, der seinem Vater die Predigten nachzuschreiben gewohnt ist, hat manche Strophe, ohne von dem Alten bemerkt zu werden, aufgezeichnet und mehrere Lieder nach und nach zusammengesetzt.”
Den andern Morgen kam Jarno zu Wilhelmen und sagte ihm: “Sie m¸ssen uns einen Gefallen tun; Lydie muï¬ einige Zeit entfernt werden; ihre heftige und, ich darf wohl sagen, unbequeme Liebe und Leidenschaft hindert des Barons Genesung. Seine Wunde verlangt Ruhe und Gelassenheit, ob sie gleich bei seiner guten Natur nicht gefâ°hrlich ist. Sie haben gesehen, wie ihn Lydie mit st¸rmischer Sorgfalt, unbezwinglicher Angst und nie versiegenden Trâ°nen quâ°lt, und–genug”, setzte er nach einer Pause mit einem Lâ°cheln hinzu, “der Medikus verlangt ausdr¸cklich, daï¬ sie das Haus auf einige Zeit verlassen solle. Wir haben ihr eingebildet, eine sehr gute Freundin halte sich in der Nâ°he auf, verlange sie zu sehen und erwarte sie jeden Augenblick. Sie hat sich bereden lassen, zu dem Gerichtshalter zu fahren, der nur zwei Stunden von hier wohnt. Dieser ist unterrichtet und wird herzlich bedauern, daï¬ Frâ°ulein Therese soeben weggefahren sei; er wird wahrscheinlich machen, daï¬ man sie noch einholen kËnne, Lydie wird ihr nacheilen, und wenn das Gl¸ck gut ist, wird sie von einem Orte zum andern gef¸hrt werden. Zuletzt, wenn sie drauf besteht, wieder umzukehren, darf man ihr nicht widersprechen; man muï¬ die Nacht zu H¸lfe nehmen, der Kutscher ist ein gescheiter Kerl, mit dem man noch Abrede nehmen muï¬. Sie setzen sich zu ihr in den Wagen, unterhalten sie und dirigieren das Abenteuer.”
“Sie geben mir einen sonderbaren und bedenklichen Auftrag”, versetzte Wilhelm, “wie â°ngstlich ist die Gegenwart einer gekrâ°nkten treuen Liebe! Und ich soll selbst dazu das Werkzeug sein? Es ist das erste Mal in meinem Leben, daï¬ ich jemanden auf diese Weise hintergehe: denn ich habe immer geglaubt, daï¬ es uns zu weit f¸hren kËnne, wenn wir einmal um des Guten und N¸tzlichen willen zu betriegen anfangen.”
“KËnnen wir doch Kinder nicht anders erziehen als auf diese Weise”, versetzte Jarno.
“Bei Kindern mËchte es noch hingehen”, sagte Wilhelm, “indem wir sie so zâ°rtlich lieben und offenbar ¸bersehen; aber bei unsersgleichen, f¸r die uns nicht immer das Herz so laut um Schonung anruft, mËchte es oft gefâ°hrlich werden. Doch glauben Sie nicht”, fuhr er nach einem kurzen Nachdenken fort, “daï¬ ich deswegen diesen Auftrag ablehne. Bei der Ehrfurcht, die mir Ihr Verstand einflËï¬t, bei der Neigung, die ich f¸r Ihren trefflichen Freund f¸hle, bei dem lebhaften Wunsch, seine Genesung, durch welche Mittel sie auch mËglich sei, zu befËrdern, mag ich mich gerne selbst vergessen. Es ist nicht genug, daï¬ man sein Leben f¸r einen Freund wagen kËnne, man muï¬ auch im Notfall seine ¸berzeugung f¸r ihn verleugnen. Unsere liebste Leidenschaft, unsere besten W¸nsche sind wir f¸r ihn aufzuopfern schuldig. Ich ¸bernehme den Auftrag, ob ich gleich schon die Qual voraussehe, die ich von Lydiens Trâ°nen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben.”
“Dagegen erwartet Sie auch keine geringe Belohnung”, versetzte Jarno, “indem Sie Frâ°ulein Theresen kennenlernen, ein Frauenzimmer, wie es ihrer wenige gibt; sie beschâ°mt hundert Mâ°nner, und ich mËchte sie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieser zweideutigen Kleidung herumgehen.”
Wilhelm war betroffen, er hoffte in Theresen seine Amazone wiederzufinden, um so mehr, als Jarno, von dem er einige Auskunft verlangte, kurz abbrach und sich entfernte.
Die neue, nahe Hoffnung, jene verehrte und geliebte Gestalt wiederzusehen, brachte in ihm die sonderbarsten Bewegungen hervor. Er hielt nunmehr den Auftrag, der ihm gegeben worden war, f¸r ein Werk einer ausdr¸cklichen Schickung, und der Gedanke, daï¬ er ein armes Mâ°dchen von dem Gegenstande ihrer aufrichtigsten und heftigsten Liebe hinterlistig zu entfernen im Begriff war, erschien ihm nur im Vor¸bergehen, wie der Schatten eines Vogels ¸ber die erleuchtete Erde wegfliegt.
Der Wagen stand vor der T¸re, Lydie zauderte einen Augenblick hineinzusteigen. “Gr¸ï¬t Euren Herrn nochmals”, sagte sie zu dem alten Bedienten, “vor Abend bin ich wieder zur¸ck.” Trâ°nen standen ihr im Auge, als sie im Fortfahren sich nochmals umwendete. Sie kehrte sich darauf zu Wilhelmen, nahm sich zusammen und sagte: “Sie werden an Frâ°ulein Theresen eine sehr interessante Person finden. Mich wundert, wie sie in diese Gegend kommt: denn Sie werden wohl wissen, daï¬ sie und der Baron sich heftig liebten. Ungeachtet der Entfernung war Lothario oft bei ihr; ich war damals um sie, es schien, als ob sie nur f¸reinander leben w¸rden. Auf einmal aber zerschlug sich’s, ohne daï¬ ein Mensch begreifen konnte, warum. Er hatte mich kennenlernen, und ich leugne nicht, daï¬ ich Theresen herzlich beneidete, daï¬ ich meine Neigung zu ihm kaum verbarg und daï¬ ich ihn nicht zur¸ckstieï¬, als er auf einmal mich statt Theresen zu wâ°hlen schien. Sie betrug sich gegen mich, wie ich es nicht besser w¸nschen konnte, ob es gleich beinahe scheinen muï¬te, als hâ°tte ich ihr einen so werten Liebhaber geraubt. Aber auch wieviel tausend Trâ°nen und Schmerzen hat mich diese Liebe schon gekostet! Erst sahen wir uns nur zuweilen am dritten Orte verstohlen, aber lange konnte ich das Leben nicht ertragen; nur in seiner Gegenwart war ich gl¸cklich, ganz gl¸cklich! Fern von ihm hatte ich kein trocknes Auge, keinen ruhigen Pulsschlag. Einst verzog er mehrere Tage, ich war in Verzweiflung, machte mich auf den Weg und ¸berraschte ihn hier. Er nahm mich liebevoll auf, und wâ°re nicht dieser ungl¸ckselige Handel dazwischengekommen, so hâ°tte ich ein himmlisches Leben gef¸hrt; und was ich ausgestanden habe, seitdem er in Gefahr ist, seitdem er leidet, sag ich nicht, und noch in diesem Augenblicke mache ich mir lebhafte Vorw¸rfe, daï¬ ich mich nur einen Tag von ihm habe entfernen kËnnen.”
Wilhelm wollte sich eben nâ°her nach Theresen erkundigen, als sie bei dem Gerichtshalter vorfuhren, der an den Wagen kam und von Herzen bedauerte, daï¬ Frâ°ulein Therese schon abgefahren sei. Er bot den Reisenden ein Fr¸hst¸ck an, sagte aber zugleich, der Wagen w¸rde noch im nâ°chsten Dorfe einzuholen sein. Man entschloï¬ sich nachzufahren, und der Kutscher sâ°umte nicht; man hatte schon einige DËrfer zur¸ckgelegt und niemand angetroffen. Lydie bestand nun darauf, man solle umkehren; der Kutscher fuhr zu, als verst¸nde er es nicht. Endlich verlangte sie es mit grËï¬ter Heftigkeit; Wilhelm rief ihm zu und gab ihm das verabredete Zeichen. Der Kutscher erwiderte: “Wir haben nicht nËtig, denselben Weg zur¸ckzufahren; ich weiï¬ einen nâ°hern, der zugleich viel bequemer ist.” Er fuhr nun seitwâ°rts durch einen Wald und ¸ber lange Triften weg. Endlich, da kein bekannter Gegenstand zum Vorschein kam, gestand der Kutscher, er sei ungl¸cklicherweise irregefahren, wolle sich aber bald wieder zurechtefinden, indem er dort ein Dorf sehe. Die Nacht kam herbei, und der Kutscher machte seine Sache so geschickt, daï¬ er ¸berall fragte und nirgends die Antwort abwartete. So fuhr man die ganze Nacht, Lydie schloï¬ kein Auge; bei Mondschein fand sie ¸berall â°hnlichkeiten, und immer verschwanden sie wieder. Morgens schienen ihr die Gegenstâ°nde bekannt, aber desto unerwarteter. Der Wagen hielt vor einem kleinen, artig gebauten Landhause stille; ein Frauenzimmer trat aus der T¸re und Ëffnete den Schlag. Lydie sah sie starr an, sah sich um, sah sie wieder an und lag ohnmâ°chtig in Wilhelms Armen.
VII. Buch, 5. Kapitel
F¸nftes Kapitel
Wilhelm ward in ein Mansardzimmerchen gef¸hrt; das Haus war neu und so klein, als es beinah nur mËglich war, â°uï¬erst reinlich und ordentlich. In Theresen, die ihn und Lydien an der Kutsche empfangen hatte, fand er seine Amazone nicht, es war ein anderes, ein himmelweit von ihr unterschiedenes Wesen. Wohlgebaut, ohne groï¬ zu sein, bewegte sie sich mit viel Lebhaftigkeit, und ihren hellen, blauen, offnen Augen schien nichts verborgen zu bleiben, was vorging.
Sie trat in Wilhelms Stube und fragte, ob er etwas bed¸rfe. “Verzeihen Sie”, sagte sie, “daï¬ ich Sie in ein Zimmer logiere, das der Ëlgeruch noch unangenehm macht; mein kleines Haus ist eben fertig geworden, und Sie weihen dieses St¸bchen ein, das meinen Gâ°sten bestimmt ist. Wâ°ren Sie nur bei einem angenehmern Anlaï¬ hier! Die arme Lydie wird uns keine guten Tage machen, und ¸berhaupt m¸ssen Sie vorliebnehmen; meine KËchin ist mir eben zur ganz unrechten Zeit aus dem Dienste gelaufen, und ein Knecht hat sich die Hand zerquetscht. Es tâ°te not, ich verrichtete alles selbst, und am Ende, wenn man sich darauf einrichtete, m¸ï¬te es auch gehen. Man ist mit niemand mehr geplagt als mit den Dienstboten; es will niemand dienen, nicht einmal sich selbst.”
Sie sagte noch manches ¸ber verschiedene Gegenstâ°nde, ¸berhaupt schien sie gern zu sprechen. Wilhelm fragte nach Lydien, ob er das gute Mâ°dchen nicht sehen und sich bei ihr entschuldigen kËnnte.
“Das wird jetzt nicht bei ihr wirken”, versetzte Therese; “die Zeit entschuldigt, wie sie trËstet, Worte sind in beiden Fâ°llen von wenig Kraft. Lydie will Sie nicht sehen. “Lassen Sie mir ihn ja nicht vor die Augen kommen”, rief sie, als ich sie verlieï¬, “ich mËchte an der Menschheit verzweifeln! So ein ehrlich Gesicht, so ein offnes Betragen und diese heimliche T¸cke!” Lothario ist ganz bei ihr entschuldigt, auch sagt er in einem Briefe an das gute Mâ°dchen: “Meine Freunde beredeten mich, meine Freunde nËtigten mich!” Zu diesen rechnet Lydie Sie auch und verdammt Sie mit den ¸brigen.”
“Sie erzeigt mir zuviel Ehre, indem sie mich schilt”, versetzte Wilhelm, “ich darf an die Freundschaft dieses trefflichen Mannes noch keinen Anspruch machen und bin diesmal nur ein unschuldiges Werkzeug. Ich will meine Handlung nicht loben; genug, ich konnte sie tun! Es war von der Gesundheit, es war von dem Leben eines Mannes die Rede, den ich hËher schâ°tzen muï¬ als irgend jemand, den ich vorher kannte. O welch ein Mann ist das, Frâ°ulein! und welche Menschen umgeben ihn! In dieser Gesellschaft hab ich, so darf ich wohl sagen, zum erstenmal ein Gesprâ°ch gef¸hrt, zum erstenmal kam mir der eigenste Sinn meiner Worte aus dem Munde eines andern reichhaltiger, voller und in einem grËï¬ern Umfang wieder entgegen; was ich ahnete, ward mir klar, und was ich meinte, lernte ich anschauen. Leider ward dieser Genuï¬ erst durch allerlei Sorgen und Grillen, dann durch den unangenehmen Auftrag unterbrochen. Ich ¸bernahm ihn mit Ergebung: denn ich hielt f¸r Schuldigkeit, selbst mit Aufopferung meines Gef¸hls diesem trefflichen Kreise von Menschen meinen Einstand abzutragen.”
Therese hatte unter diesen Worten ihren Gast sehr freundlich angesehen. “O wie sÂ¸ï¬ ist es”, rief sie aus, “seine eigne ¸berzeugung aus einem fremden Munde zu hËren! Wie werden wir erst recht wir selbst, wenn uns ein anderer vollkommen recht gibt. Auch ich denke ¸ber Lothario vollkommen wie Sie; nicht jedermann lâ°ï¬t ihm Gerechtigkeit widerfahren, daf¸r schwâ°rmen aber auch alle die f¸r ihn, die ihn nâ°her kennen, und das schmerzliche Gef¸hl, das sich in meinem Herzen zu seinem Andenken mischt, kann mich nicht abhalten, tâ°glich an ihn zu denken.” Ein Seufzer erweiterte ihre Brust, indem sie dieses sagte, und in ihrem rechten Auge blinkte eine schËne Trâ°ne. “Glauben Sie nicht”, fuhr sie fort, “daï¬ ich so weich, so leicht zu r¸hren bin! Es ist nur das Auge, das weint. Ich hatte eine kleine Warze am untern Augenlid, man hat mir sie gl¸cklich abgebunden, aber das Auge ist seit der Zeit immer schwach geblieben, der geringste Anlaï¬ drâ°ngt mir eine Trâ°ne hervor. Hier saï¬ das Wâ°rzchen, Sie sehen keine Spur mehr davon.”
Er sah keine Spur, aber er sah ihr ins Auge, es war klar wie Kristall, er glaubte bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen.
“Wir haben”, sagte sie, “nun das Losungswort unserer Verbindung ausgesprochen; lassen Sie uns so bald als mËglich miteinander vËllig bekannt werden. Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter. Ich will Ihnen erzâ°hlen, wie es mir ergangen ist; schenken Sie mir ein gleiches Vertrauen, und lassen Sie uns auch in der Ferne verbunden bleiben. Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Fl¸sse und Stâ°dte darin denkt, aber hie und da jemand zu wissen, der mit uns ¸bereinstimmt, mit dem wir auch stillschweigend fortleben, das macht uns dieses Erdenrund erst zu einem bewohnten Garten.”
Sie eilte fort und versprach, ihn bald zum Spaziergange abzuholen. Ihre Gegenwart hatte sehr angenehm auf ihn gewirkt, er w¸nschte ihr Verhâ°ltnis zu Lothario zu erfahren. Er ward gerufen, sie kam ihm aus ihrem Zimmer entgegen.
Als sie die enge und beinah steile Treppe einzeln hinuntergehen muï¬ten, sagte sie: “Das kËnnte alles weiter und breiter sein, wenn ich auf das Anerbieten Ihres groï¬m¸tigen Freundes hâ°tte hËren wollen; doch um seiner wert zu bleiben, muï¬ ich das an mir erhalten, was mich ihm so wert machte. Wo ist der Verwalter?” fragte sie, indem sie die Treppe vËllig herunterkam. “Sie m¸ssen nicht denken”, fuhr sie fort, “daï¬ ich so reich bin, um einen Verwalter zu brauchen; die wenigen Acker meines Freig¸tchens kann ich wohl selbst bestellen. Der Verwalter gehËrt meinem neuen Nachbar, der das schËne Gut gekauft hat, das ich in- und auswendig kenne; der gute alte Mann liegt krank am Podagra, seine Leute sind in dieser Gegend neu, und ich helfe ihnen gerne sich einrichten.”
Sie machten einen Spaziergang durch â°cker, Wiesen und einige Baumgâ°rten. Therese bedeutete den Verwalter in allem, sie konnte ihm von jeder Kleinigkeit Rechenschaft geben, und Wilhelm hatte Ursache genug, sich ¸ber ihre Kenntnis, ihre Bestimmtheit und ¸ber die Gewandtheit, wie sie in jedem Falle Mittel anzugeben wuï¬te, zu verwundern. Sie hielt sich nirgends auf, eilte immer zu den bedeutenden Punkten, und so war die Sache bald abgetan. “Gr¸ï¬t Euren Herrn”, sagte sie, als sie den Mann verabschiedete; “ich werde ihn so bald als mËglich besuchen und w¸nsche vollkommene Besserung. Da kËnnte ich nun auch”, sagte sie mit Lâ°cheln, als er weg war, “bald reich und vielhabend werden; denn mein guter Nachbar wâ°re nicht abgeneigt, mir seine Hand zu geben.”
“Der Alte mit dem Podagra?” rief Wilhelm, “ich w¸ï¬te nicht, wie Sie in Ihren Jahren zu so einem verzweifelten Entschluï¬ kommen kËnnten. “–“Ich bin auch gar nicht versucht!” versetzte Therese. “Wohlhabend ist jeder, der dem, was er besitzt, vorzustehen weiï¬; vielhabend zu sein ist eine lâ°stige Sache, wenn man es nicht versteht.”
Wilhelm zeigte seine Verwunderung ¸ber ihre Wirtschaftskenntnisse. “Entschiedene Neigung, fr¸he Gelegenheit, â°uï¬erer Antrieb und eine fortgesetzte Beschâ°ftigung in einer n¸tzlichen Sache machen in der Welt noch viel mehr mËglich”, versetzte Therese, “und wenn Sie erst erfahren werden, was mich dazu belebt hat, so werden Sie sich ¸ber das sonderbar scheinende Talent nicht mehr wundern.”
Sie lieï¬ ihn, als sie zu Hause anlangten, in ihrem kleinen Garten, in welchem er sich kaum herumdrehen konnte; so eng waren die Wege, und so reichlich war alles bepflanzt. Er muï¬te lâ°cheln, als er ¸ber den Hof zur¸ckkehrte, denn da lag das Brennholz so akkurat gesâ°gt, gespalten und geschrâ°nkt, als wenn es ein Teil des Gebâ°udes wâ°re und immer so liegenbleiben sollte. Rein standen alle Gefâ°ï¬e an ihren Plâ°tzen, das Hâ°uschen war weiï¬ und rot angestrichen und lustig anzusehen. Was das Handwerk hervorbringen kann, das keine schËnen Verhâ°ltnisse kennt, aber f¸r Bed¸rfnis, Dauer und Heiterkeit arbeitet, schien auf dem Platze vereinigt zu sein. Man brachte ihm das Essen auf sein Zimmer, und er hatte Zeit genug, Betrachtungen anzustellen. Besonders fiel ihm auf, daï¬ er nun wieder eine so interessante Person kennenlernte, die mit Lothario in einem nahen Verhâ°ltnisse gestanden hatte. “Billig ist es”, sagte er zu sich selbst, “daï¬ so ein trefflicher Mann auch treffliche Weiberseelen an sich ziehe! Wie weit verbreitet sich die Wirkung der Mâ°nnlichkeit und W¸rde. Wenn nur andere nicht so sehr dabei zu kurz kâ°men! Ja, gestehe dir nur deine Furcht. Wenn du dereinst deine Amazone wieder antriffst, diese Gestalt aller Gestalten, du findest sie trotz aller deiner Hoffnungen und Trâ°ume zu deiner Beschâ°mung und Dem¸tigung doch noch am Ende–als seine Braut.”
VII. Buch, 6. Kapitel–1
Sechstes Kapitel
Wilhelm hatte einen unruhigen Nachmittag nicht ganz ohne Langeweile zugebracht, als sich gegen Abend seine T¸r Ëffnete und ein junger, artiger Jâ°gerbursche mit einem Gruï¬e hereintrat. “Wollen wir nun spazierengehen?” sagte der junge Mensch, und in dem Augenblicke erkannte Wilhelm Theresen an ihren schËnen Augen.
“Verzeihn Sie mir diese Maskerade”, fing sie an, “denn leider ist es jetzt nur Maskerade. Doch da ich Ihnen einmal von der Zeit erzâ°hlen soll, in der ich mich so gerne in dieser Weste sah, will ich mir auch jene Tage auf alle Weise vergegenwâ°rtigen. Kommen Sie! selbst der Platz, an dem wir so oft von unsern Jagden und Spaziergâ°ngen ausruhten, soll dazu beitragen.”
Sie gingen, und auf dem Wege sagte Therese zu ihrem Begleiter: “Es ist nicht billig, daï¬ Sie mich allein reden lassen; schon wissen Sie genug von mir, und ich weiï¬ noch nicht das mindeste von Ihnen; erzâ°hlen Sie mir indessen etwas von sich, damit ich Mut bekomme, Ihnen auch meine Geschichte und meine Verhâ°ltnisse vorzulegen.”–“Leider hab ich”, versetzte Wilhelm, “nichts zu erzâ°hlen als Irrt¸mer auf Irrt¸mer, Verirrungen auf Verirrungen, und ich w¸ï¬te nicht, wem ich die Verworrenheiten, in denen ich mich befand und befinde, lieber verbergen mËchte als Ihnen. Ihr Blick und alles, was Sie umgibt, Ihr ganzes Wesen und Ihr Betragen zeigt mir, daï¬ Sie sich Ihres vergangenen Lebens freuen kËnnen, daï¬ Sie auf einem schËnen, reinen Wege in einer sichern Folge gegangen sind, daï¬ Sie keine Zeit verloren, daï¬ Sie sich nichts vorzuwerfen haben.”
Therese lâ°chelte und versetzte: “Wir m¸ssen abwarten, ob Sie auch noch so denken, wenn Sie meine Geschichte hËren.” Sie gingen weiter, und unter einigen allgemeinen Gesprâ°chen fragte ihn Therese. “Sind Sie frei?”–“Ich glaube es zu sein”, versetzte er, “aber ich w¸nsche es nicht.”–“Gut!” sagte sie, “das deutet auf einen komplizierten Roman und zeigt mir, daï¬ Sie auch etwas zu erzâ°hlen haben.”
Unter diesen Worten stiegen sie den H¸gel hinan und lagerten sich bei einer groï¬en Eiche, die ihren Schatten weit umher verbreitete. “Hier”, sagte Therese, “unter diesem deutschen Baume will ich Ihnen die Geschichte eines deutschen Mâ°dchens erzâ°hlen, hËren Sie mich geduldig an.
Mein Vater war ein wohlhabender Edelmann dieser Provinz, ein heiterer, klarer, tâ°tiger, wackrer Mann, ein zâ°rtlicher Vater, ein redlicher Freund, ein trefflicher Wirt, an dem ich nur den einzigen Fehler kannte, daï¬ er gegen eine Frau zu nachsichtig war, die ihn nicht zu schâ°tzen wuï¬te. Leider muï¬ ich das von meiner eigenen Mutter sagen! Ihr Wesen war dem seinigen ganz entgegengesetzt. Sie war rasch, unbestâ°ndig, ohne Neigung weder f¸r ihr Haus noch f¸r mich, ihr einziges Kind; verschwenderisch, aber schËn, geistreich, voller Talente, das Entz¸cken eines Zirkels, den sie um sich zu versammeln wuï¬te. Freilich war ihre Gesellschaft niemals groï¬ oder blieb es nicht lange. Dieser Zirkel bestand meist aus Mâ°nnern, denn keine Frau befand sich wohl neben ihr, und noch weniger konnte sie das Verdienst irgendeines Weibes dulden. Ich glich meinem Vater an Gestalt und Gesinnungen. Wie eine junge Ente gleich das Wasser sucht, so waren von der ersten Jugend an die K¸che, die Vorratskammer, die Scheunen und BËden mein Element. Die Ordnung und Reinlichkeit des Hauses schien, selbst da ich noch spielte, mein einziger Instinkt, mein einziges Augenmerk zu sein. Mein Vater freute sich dar¸ber und gab meinem kindischen Bestreben stufenweise die zweckmâ°ï¬igsten Beschâ°ftigungen; meine Mutter dagegen liebte mich nicht und verhehlte es keinen Augenblick.
Ich wuchs heran, mit den Jahren vermehrte sich meine Tâ°tigkeit und die Liebe meines Vaters zu mir. Wenn wir allein waren, auf die Felder gingen, wenn ich ihm die Rechnungen durchsehen half, dann konnte ich ihm recht anf¸hlen, wie gl¸cklich er war. Wenn ich ihm in die Augen sah, so war es, als wenn ich in mich selbst hineinsâ°he, denn eben die Augen waren es, die mich ihm vollkommen â°hnlich machten. Aber nicht ebenden Mut, nicht ebenden Ausdruck behielt er in der Gegenwart meiner Mutter; er entschuldigte mich gelind, wenn sie mich heftig und ungerecht tadelte; er nahm sich meiner an, nicht als wenn er mich besch¸tzen, sondern als wenn er meine guten Eigenschaften nur entschuldigen kËnnte. So setzte er auch keiner von ihren Neigungen Hindernisse entgegen; sie fing an, mit grËï¬ter Leidenschaft sich auf das Schauspiel zu werfen, ein Theater ward erbauet, an Mâ°nnern fehlte es nicht von allen Altern und Gestalten, die sich mit ihr auf der B¸hne darstellten, an Frauen hingegen mangelte es oft. Lydie, ein artiges Mâ°dchen, das mit mir erzogen worden war und das gleich in ihrer ersten Jugend reizend zu werden versprach, muï¬te die zweiten Rollen ¸bernehmen und eine alte Kammerfrau die M¸tter und Tanten vorstellen, indes meine Mutter sich die ersten Liebhaberinnen, Heldinnen und Schâ°ferinnen aller Art vorbehielt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lâ°cherlich mir es vorkam, wenn die Menschen, die ich alle recht gut kannte, sich verkleidet hatten, da droben standen und f¸r etwas anders, als sie waren, gehalten sein wollten. Ich sah immer nur meine Mutter und Lydien, diesen Baron und jenen Sekretâ°r, sie mochten nun als F¸rsten und Grafen oder als Bauern erscheinen, und ich konnte nicht begreifen, wie sie mir zumuten wollten zu glauben, daï¬ es ihnen wohl oder wehe sei, daï¬ sie verliebt oder gleichg¸ltig, geizig oder freigebig seien, da ich doch meist von dem Gegenteile genau unterrichtet war. Deswegen blieb ich auch sehr selten unter den Zuschauern; ich putzte ihnen immer die Lichter, damit ich nur etwas zu tun hatte, besorgte das Abendessen und hatte des andern Morgens, wenn sie noch lange schliefen, schon ihre Garderobe in Ordnung gebracht, die sie des Abends gewËhnlich ¸bereinandergeworfen zur¸cklieï¬en.
Meiner Mutter schien diese Tâ°tigkeit ganz recht zu sein, aber ihre Neigung konnte ich nicht erwerben; sie verachtete mich, und ich weiï¬ noch recht gut, daï¬ sie mehr als einmal mit Bitterkeit wiederholte: “Wenn die Mutter so ungewiï¬ sein kËnnte als der Vater, so w¸rde man wohl schwerlich diese Magd f¸r meine Tochter halten.” Ich leugnete nicht, daï¬ ihr Betragen mich nach und nach ganz von ihr entfernte, ich betrachtete ihre Handlungen wie die Handlungen einer fremden Person, und da ich gewohnt war, wie ein Falke das Gesinde zu beobachten–denn, im Vorbeigehen gesagt, darauf beruht eigentlich der Grund aller Haushaltung–so fielen mir nat¸rlich auch die Verhâ°ltnisse meiner Mutter und ihrer Gesellschaft auf. Es lieï¬ sich wohl bemerken, daï¬ sie nicht alle Mâ°nner mit ebendenselben Augen ansah, ich gab schâ°rfer acht und bemerkte bald, daï¬ Lydie Vertraute war und bei dieser Gelegenheit selbst mit einer Leidenschaft bekannter wurde, die sie von ihrer ersten Jugend an so oft vorgestellt hatte. Ich wuï¬te alle ihre Zusammenk¸nfte, aber ich schwieg und sagte meinem Vater nichts, den ich zu betr¸ben f¸rchtete; endlich aber ward ich dazu genËtigt. Manches konnten sie nicht unternehmen, ohne das Gesinde zu bestechen. Dieses fing an, mir zu trotzen, die Anordnungen meines Vaters zu vernachlâ°ssigen und meine Befehle nicht zu vollziehen; die Unordnungen, die daraus entstanden, waren mir unertrâ°glich, ich entdeckte, ich klagte alles meinem Vater.
Er hËrte mich gelassen an. “Gutes Kind!” sagte er zuletzt mit Lâ°cheln, “ich weiï¬ alles; sei ruhig, ertrag es mit Geduld, denn es ist nur um deinetwillen, daï¬ ich es leide.”
Ich war nicht ruhig, ich hatte keine Geduld. Ich schalt meinen Vater im stillen; denn ich glaubte nicht, daï¬ er um irgendeiner Ursache willen so etwas zu dulden brauche; ich bestand auf der Ordnung, und ich war entschlossen, die Sache aufs â°uï¬erste kommen zu lassen.
Meine Mutter war reich von sich, verzehrte aber doch mehr, als sie sollte, und dies gab, wie ich wohl merkte, manche Erklâ°rung zwischen meinen Eltern. Lange war der Sache nicht geholfen, bis die Leidenschaften meiner Mutter selbst eine Art von Entwickelung hervorbrachten’
Der erste Liebhaber ward auf eine eklatante Weise ungetreu; das Haus, die Gegend, ihre Verhâ°ltnisse waren ihr zuwider. Sie wollte auf ein anderes Gut ziehen, da war es ihr zu einsam; sie wollte nach der Stadt, da galt sie nicht genug. Ich weiï¬ nicht, was alles zwischen ihr und meinem Vater vorging; genug, er entschloï¬ sich endlich unter Bedingungen, die ich nicht erfuhr, in eine Reise, die sie nach dem s¸dlichen Frankreich tun wollte, einzuwilligen.
Wir waren nun frei und lebten wie im Himmel; ja ich glaube, daï¬ mein Vater nichts verloren hat, wenn er ihre Gegenwart auch schon mit einer ansehnlichen Summe abkaufte. Alles unn¸tze Gesinde ward abgeschafft, und das Gl¸ck schien unsere Ordnung zu beg¸nstigen; wir hâ°tten einige sehr gute Jahre, alles gelang nach Wunsch. Aber leider dauerte dieser frohe Zustand nicht lange–ganz unvermutet ward mein Vater von einem Schlagflusse befallen, der ihm die rechte Seite lâ°hmte und den reinen Gebrauch der Sprache benahm. Man muï¬te alles erraten, was er verlangte, denn er brachte nie das Wort hervor, das er im Sinne hatte. Sehr â°ngstlich waren mir daher manche Augenblicke, in denen er mit mir ausdr¸cklich allein sein wollte; er deutete mit heftiger Gebâ°rde, daï¬ jedermann sich entfernen sollte, und wenn wir uns allein sahen, war er nicht imstande, das rechte Wort hervorzubringen. Seine Ungeduld stieg aufs â°uï¬erste, und sein Zustand betr¸bte mich im innersten Herzen. Soviel schien mir gewiï¬, daï¬ er mir etwas zu vertrauen hatte, das mich besonders anging. Welches Verlangen f¸hlt ich nicht, es zu erfahren! Sonst konnt ich ihm alles an den Augen ansehen; aber jetzt war es vergebens. Selbst seine Augen sprachen nicht mehr. Nur soviel war mir deutlich: er wollte nichts, er begehrte nichts, er strebte nur, mir etwas zu entdecken, das ich leider nicht erfuhr. Sein ¸bel wiederholte sich, er ward bald darauf ganz untâ°tig und unfâ°hig; und nicht lange, so war er tot.
Ich weiï¬ nicht, wie sich bei mir der Gedanke festgesetzt hatte, daï¬ er irgendwo einen Schatz niedergelegt habe, den er mir nach seinem Tode lieber als meiner Mutter gËnnen wollte; ich suchte schon bei seinen Lebzeiten nach, allein ich fand nichts; nach seinem Tode ward alles versiegelt. Ich schrieb meiner Mutter und bot ihr an, als Verwalter im Hause zu bleiben; sie schlug es aus, und ich muï¬te das Gut râ°umen. Es kam ein wechselseitiges Testament zum Vorschein, wodurch sie im Besitz und Genuï¬ von allem und ich, wenigstens ihre ganze Lebenszeit ¸ber, von ihr abhâ°ngig blieb. Nun glaubte ich erst recht die Winke meines Vaters zu verstehn; ich bedauerte ihn, daï¬ er so schwach gewesen war, auch nach seinem Tode ungerecht gegen mich zu sein. Denn einige meiner Freunde wollten sogar behaupten, es sei beinah nicht besser, als ob er mich enterbt hâ°tte, und verlangten, ich sollte das Testament angreifen, wozu ich mich aber nicht entschlieï¬en konnte. Ich verehrte das Andenken meines Vaters zu sehr; ich vertraute dem Schicksal, ich vertraute mir selbst.
Ich hatte mit einer Dame in der Nachbarschaft, die groï¬e G¸ter besaï¬, immer in gutem Verhâ°ltnisse gestanden; sie nahm mich mit Vergn¸gen auf, und es ward mir leicht, bald ihrer Haushaltung vorzustehn. Sie lebte sehr regelmâ°ï¬ig und liebte die Ordnung in allem, und ich half ihr treulich in dem Kampf mit Verwalter und Gesinde. Ich bin weder geizig noch miï¬g¸nstig, aber wir Weiber bestehn ¸berhaupt viel ernsthafter als selbst ein Mann darauf, daï¬ nichts verschleudert werde. Jeder Unterschleif ist uns unertrâ°glich; wir wollen, daï¬ jeder nur genieï¬e, insofern er dazu berechtigt ist.
Nun war ich wieder in meinem Elemente und trauerte still ¸ber den Tod meines Vaters. Meine Besch¸tzerin war mit mir zufrieden, nur ein kleiner Umstand stËrte meine Ruhe. Lydie kam zur¸ck; meine Mutter war grausam genug, das arme Mâ°dchen abzustoï¬en, nachdem sie aus dem Grunde verdorben war. Sie hatte bei meiner Mutter gelernt, Leidenschaften als Bestimmung anzusehen; sie war gewËhnt, sich in nichts zu mâ°ï¬igen. Als sie unvermutet wieder erschien, nahm meine Wohltâ°terin auch sie auf; sie wollte mir an die Hand gehn und konnte sich in nichts schicken.
Um diese Zeit kamen die Verwandten und k¸nftigen Erben meiner Dame oft ins Haus und belustigten sich mit der Jagd. Auch Lothario war manchmal mit ihnen; ich bemerkte gar bald, wie sehr er sich vor allen andern auszeichnete, jedoch ohne die mindeste Beziehung auf mich selbst. Er war gegen alle hËflich, und bald schien Lydie seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich hatte immer zu tun und war selten bei der Gesellschaft; in seiner Gegenwart sprach ich weniger als gewËhnlich: denn ich will nicht leugnen, daï¬ eine lebhafte Unterhaltung von jeher mir die W¸rze des Lebens war. Ich sprach mit meinem Vater gern viel ¸ber alles, was begegnete. Was man nicht bespricht, bedenkt man nicht recht. Keinem Menschen hatte ich jemals lieber zugehËrt als Lothario, wenn er von seinen Reisen, von seinen Feldz¸gen erzâ°hlte. Die Welt lag ihm so klar, so offen da wie mir die Gegend, in der ich gewirtschaftet hatte. Ich hËrte nicht etwa die wunderlichen Schicksale des Abenteurers, die ¸bertriebenen Halbwahrheiten eines beschrâ°nkten Reisenden, der immer nur seine Person an die Stelle des Landes setzt, wovon er uns ein Bild zu geben verspricht; er erzâ°hlte nicht, er f¸hrte uns an die Orte selbst; ich habe nicht leicht ein so reines Vergn¸gen empfunden.
Aber unaussprechlich war meine Zufriedenheit, als ich ihn eines Abends ¸ber die Frauen reden hËrte. Das Gesprâ°ch machte sich ganz nat¸rlich; einige Damen aus der Nachbarschaft hatten uns besucht und ¸ber die Bildung der Frauen die gewËhnlichen Gesprâ°che gef¸hrt. Man sei ungerecht gegen unser Geschlecht, hieï¬ es, die Mâ°nner wollten alle hËhere Kultur f¸r sich behalten, man wolle uns zu keinen Wissenschaften zulassen, man verlange, daï¬ wir nur Tâ°ndelpuppen oder Haushâ°lterinnen sein sollten. Lothario sprach wenig zu all diesem; als aber die Gesellschaft kleiner ward, sagte er auch hier¸ber offen seine Meinung. “Es ist sonderbar”, rief er aus, “daï¬ man es dem Manne verargt, der eine Frau an die hËchste Stelle setzen will, die sie einzunehmen fâ°hig ist: und welche ist hËher als das Regiment des Hauses? Wenn der Mann sich mit â°uï¬ern Verhâ°ltnissen quâ°lt, wenn er die Besitzt¸mer herbeischaffen und besch¸tzen muï¬, wenn er sogar an der Staatsverwaltung Anteil nimmt, ¸berall von Umstâ°nden abhâ°ngt und, ich mËchte sagen, nichts regiert, indem er zu regieren glaubt, immer nur politisch sein muï¬, wo er gern vern¸nftig wâ°re, versteckt, wo er offen, falsch, wo er redlich zu sein w¸nschte; wenn er um des Zieles willen, das er nie erreicht, das schËnste Ziel, die Harmonie mit sich selbst, in jedem Augenblicke aufgeben muï¬; indessen herrscht eine vern¸nftige Hausfrau im Innern wirklich und macht einer ganzen Familie jede Tâ°tigkeit, jede Zufriedenheit mËglich. Was ist das hËchste Gl¸ck des Menschen, als daï¬ wir das ausf¸hren, was wir als recht und gut einsehen? daï¬ wir wirklich Herren ¸ber die Mittel zu unsern Zwecken sind? Und wo sollen, wo kËnnen unsere nâ°chsten Zwecke liegen als innerhalb des Hauses? Alle immer wiederkehrenden, unentbehrlichen Bed¸rfnisse, wo erwarten wir, wo fordern wir sie als da, wo wir aufstehn und uns niederlegen, wo K¸che und Keller und jede Art von Vorrat f¸r uns und die Unsrigen immer bereit sein soll? Welche regelmâ°ï¬ige Tâ°tigkeit wird erfordert, um diese immer wiederkehrende Ordnung in einer unverr¸ckten, lebendigen Folge durchzuf¸hren! Wie wenig Mâ°nnern ist es gegeben, gleichsam als ein Gestirn regelmâ°ï¬ig wiederzukehren und dem Tage so wie der Nacht vorzustehn! sich ihre hâ°uslichen Werkzeuge zu bilden, zu pflanzen und zu ernten, zu verwahren und auszuspenden und den Kreis immer mit Ruhe, Liebe und Zweckmâ°ï¬igkeit zu durchwandeln! Hat ein Weib einmal diese innere Herrschaft ergriffen, so macht sie den Mann, den sie liebt, erst allein dadurch zum Herrn; ihre Aufmerksamkeit erwirbt alle Kenntnisse, und ihre Tâ°tigkeit weiï¬ sie alle zu benutzen. So ist sie von niemand abhâ°ngig und verschafft ihrem Manne die wahre Unabhâ°ngigkeit, die hâ°usliche, die innere; das, was er besitzt, sieht er gesichert, das, was er erwirbt, gut benutzt, und so kann er sein Gem¸t nach groï¬en Gegenstâ°nden wenden und, wenn das Gl¸ck gut ist, das dem Staate sein, was seiner Gattin zu Hause so wohl ansteht.”
Er machte darauf eine Beschreibung, wie er sich eine Frau w¸nsche. Ich ward rot, denn er beschrieb mich, wie ich leibte und lebte. Ich genoï¬ im stillen meinen Triumph, um so mehr, da ich aus allen Umstâ°nden sah, daï¬ er mich persËnlich nicht gemeint hatte, daï¬ er mich eigentlich nicht kannte. Ich erinnere mich keiner angenehmern Empfindung in meinem ganzen Leben, als daï¬ ein Mann, den ich so sehr schâ°tzte, nicht meiner Person, sondern meiner innersten Natur den Vorzug gab. Welche Belohnung f¸hlte ich! Welche Aufmunterung war mir geworden!
Als sie weg waren, sagte meine w¸rdige Freundin lâ°chelnd zu mir: “Schade, daï¬ die Mâ°nner oft denken und reden, was sie doch nicht zur Ausf¸hrung kommen lassen, sonst wâ°re eine treffliche Partie f¸r meine liebe Therese geradezu gefunden.” Ich scherzte ¸ber ihre â°uï¬erung und f¸gte hinzu, daï¬ zwar der Verstand der Mâ°nner sich nach Haushâ°lterinnen umsehe, daï¬ aber ihr Herz und ihre Einbildungskraft sich nach andern Eigenschaften sehne und daï¬ wir Haushâ°lterinnen eigentlich gegen die liebensw¸rdigen und reizenden Mâ°dchen keinen Wettstreit aushalten kËnnen. Diese Worte sagte ich Lydien zum GehËr: denn sie verbarg nicht, daï¬ Lothario groï¬en Eindruck auf sie gemacht habe, und auch er schien bei jedem neuen Besuche immer aufmerksamer auf sie zu werden. Sie war arm, sie war nicht von Stande, sie konnte an keine Heirat mit ihm denken; aber sie konnte der Wonne nicht widerstehen, zu reizen und gereizt zu werden. Ich hatte nie geliebt und liebte auch jetzt nicht; allein ob es mir schon unendlich angenehm war zu sehen, wohin meine Natur von einem so verehrten Manne gestellt und gerechnet werde, will ich doch nicht leugnen, daï¬ ich damit nicht ganz zufrieden war. Ich w¸nschte nun auch, daï¬ er mich kennen, daï¬ er persËnlich Anteil an mir nehmen mËchte. Es entstand bei mir dieser Wunsch ohne irgendeinen bestimmten Gedanken, was daraus folgen kËnnte.
Der grËï¬te Dienst, den ich meiner Wohltâ°terin leistete, war, daï¬ ich die schËnen Waldungen ihrer G¸ter in Ordnung zu bringen suchte. In diesen kËstlichen Besitzungen, deren groï¬en Wert Zeit und Umstâ°nde immer vermehren, ging es leider nur immer nach dem alten Schlendrian fort, nirgends war Plan und Ordnung und des Stehlens und des Unterschleifs kein Ende. Manche Berge standen Ëde, und einen gleichen Wuchs hatten nur noch die â°ltesten Schlâ°ge. Ich beging alles selbst mit einem geschickten Forstmann, ich lieï¬ die Waldungen messen, ich lieï¬ schlagen, sâ°en, pflanzen, und in kurzer Zeit war alles im Gange. Ich hatte mir, um leichter zu Pferde fortzukommen und auch zu Fuï¬e nirgends gehindert zu sein, Mannskleider machen lassen, ich war an vielen Orten, und man f¸rchtete mich ¸berall.
VII. Buch, 6. Kapitel–2
Ich hËrte, daï¬ die Gesellschaft junger Freunde mit Lothario wieder ein Jagen angestellt hatte; zum erstenmal in meinem Leben fiel mir’s ein zu scheinen oder, daï¬ ich mir nicht unrecht tue, in den Augen des trefflichen Mannes f¸r das zu gelten, was ich war. Ich zog meine Mannskleider an, nahm die Flinte auf den R¸cken und ging mit unserm Jâ°ger hinaus, um die Gesellschaft an der Grenze zu erwarten. Sie kam, Lothario kannte mich nicht gleich; einer von den Neffen meiner Wohltâ°terin stellte mich ihm als einen geschickten Forstmann vor, scherzte ¸ber meine Jugend und trieb sein Spiel zu meinem Lobe so lange, bis endlich Lothario mich erkannte. Der Neffe sekundierte meine Absicht, als wenn wir es abgeredet hâ°tten. Umstâ°ndlich erzâ°hlte er und dankbar, was ich f¸r die G¸ter der Tante und also auch f¸r ihn getan hatte.
Lothario hËrte mit Aufmerksamkeit zu, unterhielt sich mit mir, fragte nach allen Verhâ°ltnissen der G¸ter und der Gegend, und ich war froh, meine Kenntnisse vor ihm ausbreiten zu kËnnen; ich bestand in meinem Examen sehr gut, ich legte ihm einige Vorschlâ°ge zu gewissen Verbesserungen zur Pr¸fung vor, er billigte sie, erzâ°hlte mir â°hnliche Beispiele und verstâ°rkte meine Gr¸nde durch den Zusammenhang, den er ihnen gab. Meine Zufriedenheit wuchs mit jedem Augenblick. Aber gl¸cklicherweise wollte ich nur gekannt, wollte nicht geliebt sein: denn–wir kamen nach Hause, und ich bemerkte mehr als sonst, daï¬ die Aufmerksamkeit, die er Lydien bezeigte, eine heimliche Neigung zu verraten schien. Ich hatte meinen Endzweck erreicht und war doch nicht ruhig; er zeigte von dem Tage an eine wahre Achtung und ein schËnes Vertrauen gegen mich, er redete mich in Gesellschaft gewËhnlich an, fragte mich um meine Meinung und schien besonders in Haushaltungssachen das Zutrauen zu mir zu haben, als wenn ich alles wisse. Seine Teilnahme munterte mich auï¬erordentlich auf; sogar wenn von allgemeiner LandesËkonomie und von Finanzen die Rede war, zog er mich ins Gesprâ°ch, und ich suchte in seiner Abwesenheit mehr Kenntnisse von der Provinz, ja von dem ganzen Lande zu erlangen. Es ward mir leicht, denn es wiederholte sich nur im groï¬en, was ich im kleinen so genau wuï¬te und kannte.
Er kam von dieser Zeit an Ëfter in unser Haus. Es ward, ich kann wohl sagen, von allem gesprochen, aber gewissermaï¬en ward unser Gesprâ°ch zuletzt immer Ëkonomisch, wenn auch nur im uneigentlichen Sinne. Was der Mensch durch konsequente Anwendung seiner Krâ°fte, seiner Zeit, seines Geldes, selbst durch gering scheinende Mittel f¸r ungeheure Wirkungen hervorbringen kËnne, dar¸ber ward viel gesprochen.
Ich widerstand der Neigung nicht, die mich zu ihm zog, und ich f¸hlte leider nur zu bald, wie sehr, wie herzlich, wie rein und aufrichtig meine Liebe war, da ich immer mehr zu bemerken glaubte, daï¬ seine Ëftern Besuche Lydien und nicht mir galten. Sie wenigstens war auf das lebhafteste davon ¸berzeugt; sie machte mich zu ihrer Vertrauten, und dadurch fand ich mich noch einigermaï¬en getrËstet. Das, was sie so sehr zu ihrem Vorteil auslegte, fand ich keinesweges bedeutend; von der Absicht einer ernsthaften, dauernden Verbindung zeigte sich keine Spur, um so deutlicher sah ich den Hang des leidenschaftlichen Mâ°dchens, um jeden Preis die Seinige zu werden.
So standen die Sachen, als mich die Frau vom Hause mit einem unvermuteten Antrag ¸berraschte. “Lothario”, sagte sie, “bietet Ihnen seine Hand an und w¸nscht Sie in seinem Leben immer zur Seite zu haben.” Sie verbreitete sich ¸ber meine Eigenschaften und sagte mir, was ich so gerne anhËrte: daï¬ Lothario ¸berzeugt sei, in mir die Person gefunden zu haben, die er so lange gew¸nscht hatte.
Das hËchste Gl¸ck war nun f¸r mich erreicht: ein Mann verlangte mich, den ich so sehr schâ°tzte, bei dem und mit dem ich eine vËllige, freie, ausgebreitete, n¸tzliche Wirkung meiner angebornen Neigung, meines durch ¸bung erworbenen Talents vor mir sah; die Summe meines ganzen Daseins schien sich ins Unendliche vermehrt zu haben. Ich gab meine Einwilligung, er kam selbst, er sprach mit mir allein, er reichte mir seine Hand, er sah mir in die Augen, er umarmte mich und dr¸ckte einen Kuï¬ auf meine Lippen. Es war der erste und letzte. Er vertraute mir seine ganze Lage, was ihn sein amerikanischer Feldzug gekostet, welche Schulden er auf seine G¸ter geladen, wie er sich mit seinem Groï¬oheim einigermaï¬en dar¸ber entzweit habe, wie dieser w¸rdige Mann f¸r ihn zu sorgen denke, aber freilich auf seine eigene Art: er wolle ihm eine reiche Frau geben, da einem wohldenkenden Manne doch nur mit einer haushâ°ltischen gedient sei; er hoffe durch seine Schwester den Alten zu bereden. Er legte mir den Zustand seines VermËgens, seine Plane, seine Aussichten vor und erbat sich meine Mitwirkung. Nur bis zur Einwilligung seines Oheims sollte es ein Geheimnis bleiben.
Kaum hatte er sich entfernt, so fragte mich Lydie, ob er etwa von ihr gesprochen habe. Ich sagte nein und machte ihr Langeweile mit Erzâ°hlung von Ëkonomischen Gegenstâ°nden. Sie war unruhig, miï¬launig, und sein Betragen, als er wiederkam, verbesserte ihren Zustand nicht.
Doch ich sehe, daï¬ die Sonne sich zu ihrem Untergange neigt! Es ist Ihr Gl¸ck, mein Freund, Sie hâ°tten sonst die Geschichte, die ich mir so gerne selbst erzâ°hle, mit allen ihren kleinen Umstâ°nden durchhËren m¸ssen. Lassen Sie mich eilen, wir nahen einer Epoche, bei der nicht gut zu verweilen ist.
Lothario machte mich mit seiner trefflichen Schwester bekannt, und diese wuï¬te mich auf eine schickliche Weise beim Oheim einzuf¸hren; ich gewann den Alten, er willigte in unsre W¸nsche, und ich kehrte mit einer gl¸cklichen Nachricht zu meiner Wohltâ°terin zur¸ck. Die Sache war im Hause nun kein Geheimnis mehr, Lydie erfuhr sie, sie glaubte etwas UnmËgliches zu vernehmen. Als sie endlich daran nicht mehr zweifeln konnte, verschwand sie auf einmal, und man wuï¬te nicht, wohin sie sich verloren hatte.
Der Tag unserer Verbindung nahte heran; ich hatte ihn schon oft um sein Bildnis gebeten, und ich erinnerte ihn, eben als er wegreisen wollte, nochmals an sein Versprechen. “Sie haben vergessen”, sagte er, “mir das Gehâ°use zu geben, wohinein Sie es gepaï¬t w¸nschen.” Es war so: ich hatte ein Geschenk von einer Freundin, das ich sehr wert hielt. Von ihren Haaren war ein verzogener Name unter dem â°uï¬ern Glase befestigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein, worauf eben ihr Bild gemalt werden sollte, als sie mir ungl¸cklicherweise durch den Tod entrissen wurde. Lotharios Neigung begl¸ckte mich in dem Augenblicke, da ihr Verlust mir noch sehr schmerzhaft war, und ich w¸nschte die L¸cke, die sie mir in ihrem Geschenk zur¸ckgelassen hatte, durch das Bild meines Freundes auszuf¸llen.
Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein Schmuckkâ°stchen und erËffne es in seiner Gegenwart; kaum sieht er hinein, so erblickt er ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauenzimmers, er nimmt es in die Hand, betrachtet es mit Aufmerksamkeit und fragt hastig: “Wen soll dies Portrâ°t vorstellen?”–“Meine Mutter”, versetzte ich. “Hâ°tt ich doch geschworen”, rief er aus, “es sei das Portrâ°t einer Frau von Saint-Alban, die ich vor einigen Jahren in der Schweiz antraf.”–“Es ist einerlei Person”, versetzte ich lâ°chelnd, “und Sie haben also Ihre Schwiegermutter, ohne es zu wissen, kennengelernt. Saint-Alban ist der romantische Name, unter dem meine Mutter reist; sie befindet sich unter demselben noch gegenwâ°rtig in Frankreich.”
“Ich bin der ungl¸cklichste aller Menschen!” rief er aus, indem er das Bild in das Kâ°stchen zur¸ckwarf, seine Augen mit der Hand bedeckte und sogleich das Zimmer verlieï¬. Er warf sich auf sein Pferd, ich lief auf den Balkon und rief ihm nach; er kehrte sich um, warf mir eine Hand zu; entfernte sich eilig–und ich habe ihn nicht wieder gesehen.”
Die Sonne ging unter, Therese sah mit unverwandtem Blicke in die Glut, und ihre beiden schËnen Augen f¸llten sich mit Trâ°nen.
Therese schwieg und legte auf ihres neuen Freundes Hâ°nde ihre Hand; er k¸ï¬te sie mit Teilnehmung, sie trocknete ihre Trâ°nen und stand auf. “Lassen Sie uns zur¸ckgehen”, sagte sie, “und f¸r die Unsrigen sorgen!”
Das Gesprâ°ch auf dem Wege war nicht lebhaft; sie kamen zur Gartent¸re herein und sahen Lydien auf einer Bank sitzen; sie stand auf, wich ihnen aus und begab sich ins Haus zur¸ck; sie hatte ein Papier in der Hand, und zwei kleine Mâ°dchen waren bei ihr. “Ich sehe”, sagte Therese, “sie trâ°gt ihren einzigen Trost, den Brief Lotharios, noch immer bei sich. Ihr Freund verspricht ihr, daï¬ sie gleich, sobald er sich wohl befindet, wieder an seiner Seite leben soll; er bittet sie, so lange ruhig bei mir zu verweilen. An diesen Worten hâ°ngt sie, mit diesen Zeilen trËstet sie sich, aber seine Freunde sind ¸bel bei ihr angeschrieben.”
Indessen waren die beiden Kinder herangekommen, begr¸ï¬ten Theresen und gaben ihr Rechenschaft von allem, was in ihrer Abwesenheit im Hause vorgegangen war. “Sie sehen hier noch einen Teil meiner Beschâ°ftigung”, sagte Therese. “Ich habe mit Lotharios trefflicher Schwester einen Bund gemacht; wir erziehen eine Anzahl Kinder gemeinschaftlich: ich bilde die lebhaften und dienstfertigen Haushâ°lterinnen, und sie ¸bernimmt diejenigen, an denen sich ein ruhigeres und feineres Talent zeigt; denn es ist billig, daï¬ man auf jede Weise f¸r das Gl¸ck der Mâ°nner und der Haushaltung sorge. Wenn Sie meine edle Freundin kennenlernen, so werden Sie ein neues Leben anfangen: ihre SchËnheit, ihre G¸te macht sie der Anbetung einer ganzen Welt w¸rdig.” Wilhelm getraute sich nicht zu sagen, daï¬ er leider die schËne Grâ°fin schon kenne und daï¬ ihn sein vor¸bergehendes Verhâ°ltnis zu ihr auf ewig schmerzen werde: er war sehr zufrieden, daï¬ Therese das Gesprâ°ch nicht fortsetzte und daï¬ ihre Geschâ°fte sie in das Haus zur¸ckzugehen nËtigten. Er befand sich nun allein, und die letzte Nachricht, daï¬ die junge, schËne Grâ°fin auch schon genËtigt sei, durch Wohltâ°tigkeit den Mangel an eignem Gl¸ck zu ersetzen, machte ihn â°uï¬erst traurig; er f¸hlte, daï¬ es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zerstreuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder Gl¸ckseligkeit zu setzen. Er pries Theresen gl¸cklich, daï¬ selbst bei jener unerwarteten traurigen Verâ°nderung keine Verâ°nderung in ihr selbst vorzugehen brauchte. “Wie gl¸cklich ist der ¸ber alles”, rief er aus, “der, um sich mit dem Schicksal in Einigkeit zu setzen, nicht sein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwerfen braucht!”
Therese kam auf sein Zimmer und bat um Verzeihung, daï¬ sie ihn stËre. “Hier in dem Wandschrank”, sagte sie, “steht meine ganze Bibliothek; es sind eher B¸cher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Lydie verlangt ein geistliches Buch, es findet sich wohl auch eins und das andere darunter. Die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie m¸ï¬ten zur Zeit der Not geistlich sein; sie sehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzenei an, die man mit Widerwillen zu sich nimmt, wenn man sich schlecht befindet; sie sehen in einem Geistlichen, einem Sittenlehrer nur einen Arzt, den man nicht geschwind genug aus dem Hause loswerden kann: ich aber gestehe gern, ich habe vom Sittlichen den Begriff als von einer Diâ°t, die eben dadurch nur Diâ°t ist, wenn ich sie zur Lebensregel mache, wenn ich sie das ganze Jahr nicht auï¬er Augen lasse.”
Sie suchten unter den B¸chern und fanden einige sogenannte Erbauungsschriften. “Die Zuflucht zu diesen B¸chern”, sagte Therese, “hat Lydie von meiner Mutter gelernt: Schauspiele und Romane waren ihr Leben, solange der Liebhaber treu blieb; seine Entfernung brachte sogleich diese B¸cher wieder in Kredit. Ich kann ¸berhaupt nicht begreifen”, fuhr sie fort, “wie man hat glauben kËnnen, daï¬ Gott durch B¸cher und Geschichten zu uns spreche. Wem die Welt nicht unmittelbar erËffnet, was sie f¸r ein Verhâ°ltnis zu ihm hat, wem sein Herz nicht sagt, was er sich und andern schuldig ist, der wird es wohl schwerlich aus B¸chern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind, unsern Irrt¸mern Namen zu geben.”
Sie lieï¬ Wilhelmen allein, und er brachte seinen Abend mit Revision der kleinen Bibliothek zu; sie war wirklich bloï¬ durch Zufall zusammengekommen.
Therese blieb die wenigen Tage, die Wilhelm bei ihr verweilte, sich immer gleich; sie erzâ°hlte ihm die Folgen ihrer Begebenheit in verschiedenen Absâ°tzen sehr umstâ°ndlich. Ihrem Gedâ°chtnis war Tag und Stunde, Platz und Name gegenwâ°rtig, und wir ziehen, was unsern Lesern zu wissen nËtig ist, hier ins Kurze zusammen.
Die Ursache von Lotharios rascher Entfernung lieï¬ sich leider leicht erklâ°ren: er war Theresens Mutter auf ihrer Reise begegnet, ihre Reize zogen ihn an, sie war nicht karg gegen ihn, und nun entfernte ihn dieses ungl¸ckliche, schnell vor¸bergegangene Abenteuer von der Verbindung mit einem Frauenzimmer, das die Natur selbst f¸r ihn gebildet zu haben schien. Therese blieb in dem reinen Kreise ihrer Beschâ°ftigung und ihrer Pflicht. Man erfuhr, daï¬ Lydie sich heimlich in der Nachbarschaft aufgehalten habe. Sie war gl¸cklich, als die Heirat, obgleich aus unbekannten Ursachen, nicht vollzogen wurde; sie suchte sich Lothario zu nâ°hern, und es schien, daï¬ er mehr aus Verzweiflung als aus Neigung, mehr ¸berrascht als mit ¸berlegung, mehr aus Langerweile als aus Vorsatz ihren W¸nschen begegnet sei.
Therese war ruhig dar¸ber, sie machte keine weitern Anspr¸che auf ihn, und selbst wenn er ihr Gatte gewesen wâ°re, hâ°tte sie vielleicht Mut genug gehabt, ein solches Verhâ°ltnis zu ertragen, wenn es nur ihre hâ°usliche Ordnung nicht gestËrt hâ°tte; wenigstens â°uï¬erte sie oft, daï¬ eine Frau, die das Hauswesen recht zusammenhalte, ihrem Manne jede kleine Phantasie nachsehen und von seiner R¸ckkehr jederzeit gewiï¬ sein kËnne.
Theresens Mutter hatte bald die Angelegenheiten ihres VermËgens in Unordnung gebracht; ihre Tochter muï¬te es entgelten, denn sie erhielt wenig von ihr; die alte Dame, Theresens Besch¸tzerin, starb, hinterlieï¬ ihr das kleine Freigut und ein artiges Kapital zum Vermâ°chtnis. Therese wuï¬te sich sogleich in den engen Kreis zu finden, Lothario bot ihr ein besseres Besitztum an, Jarno machte den Unterhâ°ndler, sie schlug es aus. “Ich will”, sagte sie, “im kleinen zeigen, daï¬ ich wert war, das Groï¬e mit ihm zu teilen; aber das behalte ich mir vor, daï¬, wenn der Zufall mich um meiner oder anderer willen in Verlegenheit setzt, ich zuerst zu meinem werten Freund ohne Bedenken die Zuflucht nehmen kËnne.”
Nichts bleibt weniger verborgen und ungenutzt als zweckmâ°ï¬ige Tâ°tigkeit. Kaum hatte sie sich auf ihrem kleinen Gute eingerichtet, so suchten die Nachbarn schon ihre nâ°here Bekanntschaft und ihren Rat, und der neue Besitzer der angrenzenden G¸ter gab nicht undeutlich zu verstehen, daï¬ es nur auf sie ankomme, ob sie seine Hand annehmen und Erbe des grËï¬ten Teils seines VermËgens werden wolle. Sie hatte schon gegen Wilhelmen dieses Verhâ°ltnisses erwâ°hnt und scherzte gelegentlich ¸ber Heiraten und Miï¬heiraten mit ihm.
“Es gibt”, sagte sie, “den Menschen nichts mehr zu reden, als wenn einmal eine Heirat geschieht, die sie nach ihrer Art eine Miï¬heirat nennen kËnnen, und doch sind die Miï¬heiraten viel gewËhnlicher als die Heiraten, denn es sieht leider nach einer kurzen Zeit mit den meisten Verbindungen gar miï¬lich aus. Die Vermischung der Stâ°nde durch Heiraten verdienen nur insofern Miï¬heiraten genannt zu werden, als der eine Teil an der angebornen, ungewohnten und gleichsam notwendig gewordenen Existenz des andern keinen Teil nehmen kann. Die verschiedenen Klassen haben verschiedene Lebensweisen, die sie nicht miteinander teilen noch verwechseln kËnnen, und das ist’s, warum Verbindungen dieser Art besser nicht geschlossen werden; aber Ausnahmen und recht gl¸ckliche Ausnahmen sind mËglich. So ist die Heirat eines jungen Mâ°dchens mit einem bejahrten Manne immer miï¬lich, und doch habe ich sie recht gut ausschlagen sehen. F¸r mich kenne ich nur eine Miï¬heirat, wenn ich feiern und reprâ°sentieren m¸ï¬te; ich wollte lieber jedem ehrbaren Pâ°chterssohn aus der Nachbarschaft meine Hand geben.”
Wilhelm gedachte nunmehr zur¸ckzukehren und bat seine neue Freundin, ihm noch ein Abschiedswort bei Lydien zu verschaffen. Das leidenschaftliche Mâ°dchen lieï¬ sich bewegen, er sagte ihr einige freundliche Worte, sie versetzte: “Den ersten Schmerz hab ich ¸berwunden, Lothario wird mir ewig teuer sein; aber seine Freunde kenne ich, es ist mir leid, daï¬ er so umgeben ist. Der Abbe wâ°re fâ°hig, wegen einer Grille die Menschen in Not zu lassen oder sie gar hineinzust¸rzen; der Arzt mËchte gern alles ins gleiche bringen; Jarno hat kein Gem¸t und Sie–wenigstens keinen Charakter! Fahren Sie nur so fort, und lassen Sie sich als Werkzeug dieser drei Menschen brauchen, man wird Ihnen noch manche Exekution auftragen. Lange, mir ist es recht wohl bekannt, war ihnen meine Gegenwart zuwider; ich hatte ihr Geheimnis nicht entdeckt, aber ich hatte beobachtet, daï¬ sie ein Geheimnis verbargen. Wozu diese verschlossenen Zimmer? diese wunderlichen Gâ°nge? Warum kann niemand zu dem groï¬en Turm gelangen? Warum verbannten sie mich, sooft sie nur konnten, in meine Stube? Ich will gestehen, daï¬ Eifersucht zuerst mich auf diese Entdeckung brachte, ich f¸rchtete, eine gl¸ckliche Nebenbuhlerin sei irgendwo versteckt. Nun glaube ich das nicht mehr, ich bin ¸berzeugt, daï¬ Lothario mich liebt, daï¬ er es redlich mit mir meint, aber ebenso gewiï¬ bin ich ¸berzeugt, daï¬ er von seinen k¸nstlichen und falschen Freunden betrogen wird. Wenn Sie sich um ihn verdient machen wollen, wenn Ihnen verziehen werden soll, was Sie an mir verbrochen haben, so befreien Sie ihn aus den Hâ°nden dieser Menschen. Doch was hoffe ich! ¸berreichen Sie ihm diesen Brief, wiederholen Sie, was er enthâ°lt: daï¬ ich ihn ewig lieben werde, daï¬ ich mich auf sein Wort verlasse. Ach!” rief sie aus, indem sie aufstand und am Halse Theresens weinte, “er ist von meinen Feinden umgeben, sie werden ihn zu bereden suchen, daï¬ ich ihm nichts aufgeopfert habe; oh! der beste Mann mag gerne hËren, daï¬ er jedes Opfer wert ist, ohne daf¸r dankbar sein zu d¸rfen.”
Wilhelms Abschied von Theresen war heiterer; sie w¸nschte ihn bald wiederzusehen. “Sie kennen mich ganz!” sagte sie, “Sie haben mich immer reden lassen; es ist das nâ°chste Mal Ihre Pflicht, meine Aufrichtigkeit zu erwidern.”
Auf seiner R¸ckreise hatte er Zeit genug, diese neue, helle Erscheinung lebhaft in der Erinnerung zu betrachten. Welch ein Zutrauen hatte sie ihm eingeflËï¬t! Er dachte an Mignon und Felix, wie gl¸cklich die Kinder unter einer solchen Aufsicht werden kËnnten; dann dachte er an sich selbst und f¸hlte, welche Wonne es sein m¸sse, in der Nâ°he eines so ganz klaren menschlichen Wesens zu leben. Als er sich dem Schloï¬ nâ°herte, fiel ihm der Turm mit den vielen Gâ°ngen und Seitengebâ°uden mehr als sonst auf; er nahm sich vor, bei der nâ°chsten Gelegenheit Jarno oder den Abbe dar¸ber zur Rede zu stellen.
VII. Buch, 7. Kapitel
Siebentes Kapitel
Als Wilhelm nach dem Schlosse kam, fand er den edlen Lothario auf dem Wege der vËlligen Besserung; der Arzt und der Abbe waren nicht zugegen, Jarno allein war geblieben. In kurzer Zeit ritt der Genesende schon wieder aus, bald allein, bald mit seinen Freunden. Sein Gesprâ°ch war ernsthaft und gefâ°llig, seine Unterhaltung belehrend und erquickend; oft bemerkte man Spuren einer zarten F¸hlbarkeit, ob er sie gleich zu verbergen suchte und, wenn sie sich wider seinen Willen zeigte, beinah zu miï¬billigen schien.
So war er eines Abends still bei Tische, ob er gleich heiter aussah.
“Sie haben heute gewiï¬ ein Abenteuer gehabt”, sagte endlich Jarno, “und zwar ein angenehmes.”
“Wie Sie sich auf Ihre Leute verstehen!” versetzte Lothario. “Ja, es ist mir ein sehr angenehmes Abenteuer begegnet. Zu einer andern Zeit hâ°tte ich es vielleicht nicht so reizend gefunden als diesmal, da es mich so empfâ°nglich antraf. Ich ritt gegen Abend jenseit des Wassers durch die DËrfer, einen Weg, den ich oft genug in fr¸hern Jahren besucht hatte. Mein kËrperliches Leiden muï¬ mich m¸rber gemacht haben, als ich selbst glaubte: ich f¸hlte mich weich und bei wieder auflebenden Krâ°ften wie neugeboren. Alle Gegenstâ°nde erschienen mir in ebendem Lichte, wie ich sie in fr¸hern Jahren gesehen hatte, alle so lieblich, so anmutig, so reizend, wie sie mir lange nicht erschienen sind. Ich merkte wohl, daï¬ es Schwachheit war; ich lieï¬ mir sie aber ganz wohl gefallen, ritt sachte hin, und es wurde mir ganz begreiflich, wie Menschen eine Krankheit liebgewinnen kËnnen, welche uns zu s¸ï¬en Empfindungen stimmt. Sie wissen vielleicht, was mich ehemals so oft diesen Weg f¸hrte?”
“Wenn ich mich recht erinnere”, versetzte Jarno, “so war es ein kleiner Liebeshandel, der sich mit der Tochter eines Pachters entspannen hatte.”
“Man d¸rfte es wohl einen groï¬en nennen”, versetzte Lothario; “denn wir hatten uns beide sehr lieb, recht im Ernste, und auch ziemlich lange. Zufâ°lligerweise traf heute alles zusammen, mir die ersten Zeiten unserer Liebe recht lebhaft darzustellen. Die Knaben sch¸ttelten eben wieder Maikâ°fer von den Bâ°umen, und das Laub der Eschen war eben nicht weiter als an dem Tage, als ich sie zum erstenmal sah. Nun war es lange, daï¬ ich Margareten nicht gesehen habe, denn sie ist weit weg verheiratet, nun hËrte ich zufâ°llig, sie sei mit ihren Kindern vor wenigen Wochen gekommen, ihren Vater zu besuchen.”
“So war ja wohl dieser Spazierritt nicht so ganz zufâ°llig?”
“Ich leugne nicht”, sagte Lothario, “daï¬ ich sie anzutreffen w¸nschte. Als ich nicht weit von dem Wohnhaus war, sah ich ihren Vater vor der T¸re sitzen; ein Kind von ungefâ°hr einem Jahre stand bei ihm. Als ich mich nâ°herte, sah eine Frauensperson schnell oben zum Fenster heraus, und als ich gegen die T¸re kam, hËrte ich jemand die Treppe herunterspringen. Ich dachte gewiï¬, sie sei es, und, ich will’s nur gestehen, ich schmeichelte mir, sie habe mich erkannt und sie komme mir eilig entgegen. Aber wie beschâ°mt war ich, als sie zur T¸re heraussprang, das Kind, dem die Pferde nâ°her kamen, anfaï¬te und in das Haus hineintrug. Es war mir eine unangenehme Empfindung, und nur wurde meine Eitelkeit ein wenig getrËstet, als ich, wie sie hinwegeilte, an ihrem Nacken und an dem freistehenden Ohr eine merkliche RËte zu sehen glaubte.
Ich hielt still und sprach mit dem Vater und schielte indessen an den Fenstern herum, ob sie sich nicht hier oder da blicken lieï¬e; allein ich bemerkte keine Spur von ihr. Fragen wollt ich auch nicht, und so ritt ich vorbei. Mein Verdruï¬ wurde durch Verwunderung einigermaï¬en gemildert: denn ob ich gleich kaum das Gesicht gesehen hatte, so schien sie mir fast gar nicht verâ°ndert, und zehn Jahre sind doch eine Zeit! ja sie schien mir j¸nger, ebenso schlank, ebenso leicht auf den F¸ï¬en, der Hals womËglich noch zierlicher als vorher, ihre Wange ebenso leicht der liebensw¸rdigen RËte empfâ°nglich, dabei Mutter von sechs Kindern, vielleicht noch von mehrern. Es paï¬te diese Erscheinung so gut in die ¸brige Zauberwelt, die mich umgab, daï¬ ich um so mehr mit einem verj¸ngten Gef¸hl weiterritt und an dem nâ°chsten Walde erst umkehrte, als die Sonne im Untergehen war. Sosehr mich auch der fallende Tau an die Vorschrift des Arztes erinnerte und es wohl râ°tlicher gewesen wâ°re, gerade nach Hause zu kehren, so nahm ich doch wieder meinen Weg nach der Seite des Pachthofs zur¸ck. Ich bemerkte, daï¬ ein weibliches GeschËpf in dem Garten auf und nieder ging, der mit einer leichten Hecke umzogen ist. Ich ritt auf dem Fuï¬pfade nach der Hecke zu, und ich fand mich eben nicht weit von der Person, nach der ich verlangte.
Ob mir gleich die Abendsonne in den Augen lag, sah ich doch, daï¬ sie sich am Zaune beschâ°ftigte, der sie nur leicht bedeckte. Ich glaubte meine alte Geliebte zu erkennen. Da ich an sie kam, hielt ich still, nicht ohne Regung des Herzens. Einige hohe Zweige wilder Rosen, die eine leise Luft hin und her wehte, machten mir ihre Gestalt undeutlich. Ich redete sie an und fragte, wie sie lebe. Sie antwortete mir mit halber Stimme: “Ganz wohl”. Indes bemerkte ich, daï¬ ein Kind hinter dem Zaune beschâ°ftigt war, Blumen auszureiï¬en, und nahm die Gelegenheit, sie zu fragen, wo denn ihre ¸brigen Kinder seien. “Es ist nicht mein Kind”, sagte sie, “das wâ°re fr¸h!” und in diesem Augenblick schickte sich’s, daï¬ ich durch die Zweige ihr Gesicht genau sehen konnte, und ich wuï¬te nicht, was ich zu der Erscheinung sagen sollte. Es war meine Geliebte und war es nicht. Fast j¸nger, fast schËner, als ich sie vor zehen Jahren gekannt hatte. “Sind Sie denn nicht die Tochter des Pachters?” fragte ich halb verwirrt. “Nein”, sagte sie, “ich bin ihre Muhme.”
“Aber Sie gleichen einander so auï¬erordentlich”, versetzte ich.
“Das sagt jedermann, der sie vor zehen Jahren gekannt hat.”
Ich fuhr fort, sie verschiedenes zu fragen; mein Irrtum war mir angenehm, ob ich ihn gleich schon entdeckt hatte. Ich konnte mich von dem lebendigen Bilde voriger Gl¸ckseligkeit, das vor mir stand, nicht losreiï¬en. Das Kind hatte sich indessen von ihr entfernt und war, Blumen zu suchen, nach dem Teiche gegangen. Sie nahm Abschied und eilte dem Kinde nach.
Indessen hatte ich doch erfahren, daï¬ meine alte Geliebte noch wirklich in dem Hause ihres Vaters sei, und indem ich ritt, beschâ°ftigte ich mich mit Mutmaï¬ungen, ob sie selbst oder die Muhme das Kind vor den Pferden gesichert habe. Ich wiederholte mir die ganze Geschichte mehrmals im Sinne, und ich w¸ï¬te nicht leicht, daï¬ irgend etwas angenehmer auf mich gewirkt hâ°tte. Aber ich f¸hle wohl, ich bin noch krank, und wir wollen den Doktor bitten, daï¬ er uns von dem ¸berreste dieser Stimmung erlËse.”
Es pflegt in vertraulichen Bekenntnissen anmutiger Liebesbegebenheiten wie mit Gespenstergeschichten zu gehen: ist nur erst eine erzâ°hlt, so flieï¬en die ¸brigen von selbst zu.
Unsere kleine Gesellschaft fand in der R¸ckerinnerung vergangener Zeiten manchen Stoff dieser Art. Lothario hatte am meisten zu erzâ°hlen. Jarnos Geschichten trugen alle einen eigenen Charakter, und was Wilhelm zu gestehen hatte, wissen wir schon. Indessen war ihm bange, daï¬ man ihn an die Geschichte mit der Grâ°fin erinnern mËchte; allein niemand dachte derselben auch nur auf die entfernteste Weise.
“Es ist wahr”, sagte Lothario, “angenehmer kann keine Empfindung in der Welt sein, als wenn das Herz nach einer gleichg¸ltigen Pause sich der Liebe zu einem neuen Gegenstande wieder Ëffnet, und doch wollt ich diesem Gl¸ck f¸r mein Leben entsagt haben, wenn mich das Schicksal mit Theresen hâ°tte verbinden wollen. Man ist nicht immer J¸ngling, und man sollte nicht immer Kind sein. Dem Manne, der die Welt kennt, der weiï¬, was er darin zu tun, was er von ihr zu hoffen hat, was kann ihm erw¸nschter sein, als eine Gattin zu finden, die ¸berall mit ihm wirkt und die ihm alles vorzubereiten weiï¬, deren Tâ°tigkeit dasjenige aufnimmt, was die seinige liegenlassen muï¬, deren Geschâ°ftigkeit sich nach allen Seiten verbreitet, wenn die seinige nur einen geraden Weg fortgehen darf. Welchen Himmel hatte ich mir mit Theresen getrâ°umt! nicht den Himmel eines schwâ°rmerischen Gl¸cks, sondern eines sichern Lebens auf der Erde: Ordnung im Gl¸ck, Mut im Ungl¸ck, Sorge f¸r das Geringste, und eine Seele, fâ°hig, das GrËï¬te zu fassen und wieder fahrenzulassen. Oh! ich sah in ihr gar wohl die Anlagen, deren Entwickelung wir bewundern, wenn wir in der Geschichte Frauen sehen, die uns weit vorz¸glicher als alle Mâ°nner erscheinen: diese Klarheit ¸ber die Umstâ°nde, diese Gewandtheit in allen Fâ°llen, diese Sicherheit im einzelnen, wodurch das Ganze sich immer so gut befindet, ohne daï¬ sie jemals daran zu denken scheinen. Sie kËnnen wohl”, fuhr er fort, indem er sich lâ°chelnd gegen Wilhelmen wendete, “mir verzeihen, wenn Therese mich Aurelien entf¸hrte: mit jener konnte ich ein heitres Leben hoffen, da bei dieser auch nicht an eine gl¸ckliche Stunde zu denken war.”
“Ich leugne nicht”, versetzte Wilhelm, “daï¬ ich mit groï¬er Bitterkeit im Herzen gegen Sie hierhergekommen hin und daï¬ ich mir vorgenommen hatte, Ihr Betragen gegen Aurelien sehr streng zu tadeln.”
“Auch verdient es Tadel”, sagte Lothario; “ich hâ°tte meine Freundschaft zu ihr nicht mit dem Gef¸hl der Liebe verwechseln sollen, ich hâ°tte nicht an die Stelle der Achtung, die sie verdiente, eine Neigung eindrâ°ngen sollen, die sie weder erregen noch erhalten konnte. Ach! sie war nicht liebensw¸rdig, wenn sie liebte, und das ist das grËï¬te Ungl¸ck, das einem Weibe begegnen kann.”
“Es sei drum”, erwiderte Wilhelm, “wir kËnnen nicht immer das Tadelnswerte vermeiden, nicht vermeiden, daï¬ unsere Gesinnungen und Handlungen auf eine sonderbare Weise von ihrer nat¸rlichen und guten Richtung abgelenkt werden; aber gewisse Pflichten sollten wir niemals aus den Augen setzen. Die Asche der Freundin ruhe sanft; wir wollen, ohne uns zu schelten und sie zu tadeln, mitleidig Blumen auf ihr Grab streuen. Aber bei dem Grabe, in welchem die ungl¸ckliche Mutter ruht, lassen Sie mich fragen, warum Sie sich des Kindes nicht annehmen? eines Sohnes, dessen sich jedermann erfreuen w¸rde und den Sie ganz und gar zu vernachlâ°ssigen scheinen. Wie kËnnen Sie bei Ihren reinen und zarten Gef¸hlen das Herz eines Vaters gâ°nzlich verleugnen? Sie haben diese ganze Zeit noch mit keiner Silbe an das kËstliche GeschËpf gedacht, von dessen Anmut so viel zu erzâ°hlen wâ°re.”
“Von wem reden Sie?” versetzte Lothario, “ich verstehe Sie nicht.”
“Von wem anders als von Ihrem Sohne, dem Sohne Aureliens, dem schËnen Kinde, dem zu seinem Gl¸cke nichts fehlt, als daï¬ ein zâ°rtlicher Vater sich seiner annimmt?”
“Sie irren sehr, mein Freund”, rief Lothario; “Aurelie hatte keinen Sohn, am wenigsten von mir, ich weiï¬ von keinem Kinde, sonst w¸rde ich mich dessen mit Freuden annehmen; aber auch im gegenwâ°rtigen Falle will ich gern das kleine GeschËpf als eine Verlassenschaft von ihr ansehen und f¸r seine Erziehung sorgen. Hat sie sich denn irgend etwas merken lassen, daï¬ der Knabe ihr, daï¬ er mir zugehËre?”
“Nicht daï¬ ich mich erinnere, ein ausdr¸ckliches Wort von ihr gehËrt zu haben, es war aber einmal so angenommen, und ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt.”
“Ich kann”, fiel Jarno ein, “einigen Aufschluï¬ hier¸ber geben. Ein altes Weib, das Sie oft m¸ssen gesehen haben, brachte das Kind zu Aurelien, sie nahm es mit Leidenschaft auf und hoffte ihre Leiden durch seine Gegenwart zu lindern: auch hat es ihr manchen vergn¸gten Augenblick gemacht.”
Wilhelm war durch diese Entdeckung sehr unruhig geworden, er gedachte der guten Mignon neben dem schËnen Felix auf das lebhafteste, er zeigte seinen Wunsch, die beiden Kinder aus der Lage, in der sie sich befanden, herauszuziehen.
“Wir wollen damit bald fertig sein”, versetzte Lothario. “Das wunderliche Mâ°dchen ¸bergeben wir Theresen, sie kann unmËglich in bessere Hâ°nde geraten, und was den Knaben betrifft, den, dâ°cht ich, nâ°hmen Sie selbst zu sich: denn was sogar die Frauen an uns ungebildet zur¸cklassen, das bilden die Kinder aus, wenn wir uns mit ihnen abgeben.”
“¸berhaupt dâ°chte ich”, versetzte Jarno, “Sie entsagten kurz und gut dem Theater, zu dem Sie doch einmal kein Talent haben.”
Wilhelm war betroffen; er muï¬te sich zusammennehmen, denn Jarnos harte Worte hatten seine Eigenliebe nicht wenig verletzt. “Wenn Sie mich davon ¸berzeugen”, versetzte er mit gezwungenem Lâ°cheln, “so werden Sie mir einen Dienst erweisen, ob es gleich nur ein trauriger Dienst ist, wenn man uns aus einem Lieblingstraume aufsch¸ttelt.”
“Ohne viel weiter dar¸ber zu reden”, versetzte Jarno, “mËchte ich Sie nur antreiben, erst die Kinder zu holen; das ¸brige wird sich schon geben.”
“Ich bin bereit dazu”, versetzte Wilhelm, “ich bin unruhig und neugierig, ob ich nicht von dem Schicksal des Knaben etwas Nâ°heres entdecken kann; ich verlange das Mâ°dchen wiederzusehen, das sich mit so vieler Eigenheit an mich angeschlossen hat.”
Man ward einig, daï¬ er bald abreisen sollte.
Den andern Tag hatte er sich dazu vorbereitet, das Pferd war gesattelt, nur wollte er noch von Lothario Abschied nehmen. Als die Eï¬zeit herbeikam, setzte man sich wie gewËhnlich zu Tische, ohne auf den Hausherrn zu warten; er kam erst spâ°t und setzte sich zu ihnen.
“Ich wollte wetten”, sagte Jarno, “Sie haben heute Ihr zâ°rtliches Herz wieder auf die Probe gestellt, Sie haben der Begierde nicht widerstehen kËnnen, Ihre ehemalige Geliebte wiederzusehen.”
“Erraten!” versetzte Lothario.
“Lassen Sie uns hËren”, sagte Jarno, “wie ist es abgelaufen? Ich bin â°uï¬erst neugierig.”
“Ich leugne nicht”, versetzte Lothario, “daï¬ mir das Abenteuer mehr als billig auf dem Herzen lag; ich faï¬te daher den Entschluï¬, nochmals hinzureiten und die Person wirklich zu sehen, deren verj¸ngtes Bild mir eine so angenehme Illusion gemacht hatte. Ich stieg schon in einiger Entfernung vom Hause ab und lieï¬ die Pferde beiseite f¸hren, um die Kinder nicht zu stËren, die vor dem Tore spielten. Ich ging in das Haus, und von ungefâ°hr kam sie mir entgegen, denn sie war es selbst, und ich erkannte sie ungeachtet der groï¬en Verâ°nderung wieder. Sie war stâ°rker geworden und schien grËï¬er zu sein; ihre Anmut blickte durch ein gesetztes Wesen hindurch, und ihre Munterkeit war in ein stilles Nachdenken ¸bergegangen. Ihr Kopf, den sie sonst so leicht und frei trug, hing ein wenig gesenkt, und leise Falten waren ¸ber ihre Stirne gezogen.
Sie schlug die Augen nieder, als sie mich sah, aber keine RËte verk¸ndigte eine innere Bewegung des Herzens. Ich reichte ihr die Hand, sie gab mir die ihrige; ich fragte nach ihrem Manne, er war abwesend; nach ihren Kindern, sie trat an die T¸re und rief sie herbei, alle kamen und versammelten sich um sie. Es ist nichts reizender, als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme, und nichts ehrw¸rdiger als eine Mutter unter vielen Kindern. Ich fragte nach den Namen der Kleinen, um doch nur etwas zu sagen; sie bat mich, hineinzutreten und auf ihren Vater zu warten. Ich nahm es an; sie f¸hrte mich in die Stube, wo ich beinahe noch alles auf dem alten Platze fand, und–sonderbar! die schËne Muhme, ihr Ebenbild, saï¬ auf ebendem Schemel hinter dem Spinnrocken, wo ich meine Geliebte in ebender Gestalt so oft gefunden hatte. Ein kleines Mâ°dchen, das seiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und so stand ich in der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der Vergangenheit und Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Bl¸ten und Fr¸chte stufenweis nebeneinander leben. Die Muhme ging hinaus, einige Erfrischung zu holen, ich gab dem ehemals so geliebten GeschËpfe die Hand und sagte zu ihr: “Ich habe eine rechte Freude, Sie wiederzusehen. “–“Sie sind sehr gut, mir das zu sagen”, versetzte sie; “aber auch ich kann Ihnen versichern, daï¬ ich eine unaussprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gew¸nscht, Sie nur noch einmal in meinem Leben wiederzusehen; ich habe es in Augenblicken gew¸nscht, die ich f¸r meine letzten hielt.” Sie sagte das mit einer gesetzten Stimme, ohne R¸hrung, mit jener Nat¸rlichkeit, die mich ehemals so sehr an ihr entz¸ckte. Die Muhme kam wieder, ihr Vater dazu–und ich ¸berlasse euch zu denken, mit welchem Herzen ich blieb und mit welchem ich mich entfernte.”
VII. Buch, 8. Kapitel–1
Achtes Kapitel
Wilhelm hatte auf seinem Wege nach der Stadt die edlen weiblichen GeschËpfe, die er kannte und von denen er gehËrt hatte, im Sinne; ihre sonderbaren Schicksale, die wenig Erfreuliches enthielten, waren ihm schmerzlich gegenwâ°rtig. “Ach!” rief er aus, “arme Mariane! was werde ich noch von dir erfahren m¸ssen? Und dich, herrliche Amazone, edler Schutzgeist, dem ich so viel schuldig bin, dem ich ¸berall zu begegnen hoffe und den ich leider nirgends finde, in welchen traurigen Umstâ°nden treff ich dich vielleicht, wenn du mir einst wieder begegnest!”
In der Stadt war niemand von seinen Bekannten zu Hause; er eilte auf das Theater, er glaubte sie in der Probe zu finden; alles war still, das Haus schien leer, doch sah er einen Laden offen. Als er auf die B¸hne kam, fand er Aureliens alte Dienerin beschâ°ftigt, Leinwand zu einer neuen Dekoration zusammenzunâ°hen; es fiel nur so viel Licht herein, als nËtig war, ihre Arbeit zu erhellen. Felix und Mignon saï¬en neben ihr auf der Erde; beide hielten ein Buch, und indem Mignon laut las, sagte ihr Felix alle Worte nach, als wenn er die Buchstaben kennte, als wenn er auch zu lesen verst¸nde.
Die Kinder sprangen auf und begr¸ï¬ten den Ankommenden: er umarmte sie aufs zâ°rtlichste und f¸hrte sie nâ°her zu der Alten. “Bist du es”, sagte er zu ihr mit Ernst, “die dieses Kind Aurelien zugef¸hrt hatte?” Sie sah von ihrer Arbeit auf und wendete ihr Gesicht zu ihm; er sah sie in vollem Lichte, erschrak, trat einige Schritte zur¸ck; es war die alte Barbara.
“Wo ist Mariane?” rief er aus. “Weit von hier”, versetzte die Alte.
“Und Felix?”
“Ist der Sohn dieses ungl¸cklichen, nur allzu zâ°rtlich liebenden Mâ°dchens. MËchten Sie niemals empfinden, was Sie uns gekostet haben! MËchte der Schatz, den ich Ihnen ¸berliefere, Sie so gl¸cklich machen, als er uns ungl¸cklich gemacht hat!”
Sie stand auf, um wegzugehen. Wilhelm hielt sie fest. “Ich denke Ihnen nicht zu entlaufen”, sagte sie, “lassen Sie mich ein Dokument holen, das Sie erfreuen und schmerzen wird.” Sie entfernte sich, und Wilhelm sah den Knaben mit einer â°ngstlichen Freude an; er durfte sich das Kind noch nicht zueignen. “Er ist dein”, rief Mignon, “er ist dein!” und dr¸ckte das Kind an Wilhelms Knie.
Die Alte kam und ¸berreichte ihm einen Brief. “Hier sind Marianens letzte Worte”, sagte sie.
“Sie ist tot!” rief er aus.
“Tot!” sagte die Alte; “mËchte ich Ihnen doch alle Vorw¸rfe ersparen kËnnen.”
¸berrascht und verwirrt erbrach Wilhelm den Brief; er hatte aber kaum die ersten Worte gelesen, als ihn ein bittrer Schmerz ergriff; er lieï¬ den Brief fallen, st¸rzte auf eine Rasenbank und blieb eine Zeitlang liegen. Mignon bem¸hte sich um ihn. Indessen hatte Felix den Brief aufgehoben und zerrte seine Gespielin so lange, bis diese nachgab und zu ihm kniete und ihm vorlas. Felix wiederholte die Worte, und Wilhelm war genËtigt, sie zweimal zu hËren. “Wenn dieses Blatt jemals zu dir kommt, so bedaure deine ungl¸ckliche Geliebte, deine Liebe hat ihr den Tod gegeben. Der Knabe, dessen Geburt ich nur wenige Tage ¸berlebe, ist dein; ich sterbe dir treu, sosehr der Schein auch gegen mich sprechen mag; mit dir verlor ich alles, was mich an das Leben fesselte. Ich sterbe zufrieden, da man mir versichert, das Kind sei gesund und werde leben. HËre die alte Barbara, verzeih ihr, leb wohl und vergiï¬ mich nicht!”
Welch ein schmerzlicher und noch zu seinem Troste halb râ°tselhafter Brief! dessen Inhalt ihm erst recht f¸hlbar ward, da ihn die Kinder stockend und stammelnd vortrugen und wiederholten.
“Da haben Sie es nun!” rief die Alte, ohne abzuwarten, bis er sich erholt hatte; “danken Sie dem Himmel, daï¬ nach dem Verluste eines so guten Mâ°dchens Ihnen noch so ein vortreffliches Kind ¸brigbleibt. Nichts wird Ihrem Schmerze gleichen, wenn Sie vernehmen, wie das gute Mâ°dchen Ihnen bis ans Ende treu geblieben, wie ungl¸cklich sie geworden ist und was sie Ihnen alles aufgeopfert hat.”
“Laï¬ mich den Becher des Jammers und der Freuden”, rief Wilhelm aus, “auf einmal trinken! ¸berzeuge mich, ja ¸berrede mich nur, daï¬ sie ein gutes Mâ°dchen war, daï¬ sie meine Achtung wie meine Liebe verdiente, und ¸berlaï¬ mich dann meinen Schmerzen ¸ber ihren unersetzlichen Verlust.”
“Es ist jetzt nicht Zeit”, versetzte die Alte, “ich habe zu tun und w¸nschte nicht, daï¬ man uns beisammen fâ°nde. Lassen Sie es ein Geheimnis sein, daï¬ Felix Ihnen angehËrt; ich hâ°tte ¸ber meine bisherige Verstellung zuviel Vorw¸rfe von der Gesellschaft zu erwarten. Mignon verrâ°t uns nicht, sie ist gut und verschwiegen.”
“Ich wuï¬te es lange und sagte nichts”, versetzte Mignon. “Wie ist es mËglich?” rief die Alte. “Woher?” fiel Wilhelm ein.
“Der Geist hat mir’s gesagt.”
“Wie? wo?”
“Im GewËlbe, da der Alte das Messer zog, rief mir’s zu: “Rufe seinen Vater!” und da fielst du mir ein.”
“Wer rief denn?”
“Ich weiï¬ nicht, im Herzen, im Kopfe, ich war so angst, ich zitterte, ich betete, da rief’s, und ich verstand’s.”
Wilhelm dr¸ckte sie an sein Herz, empfahl ihr Felix und entfernte sich. Er bemerkte erst zuletzt, daï¬ sie viel blâ°sser und magerer geworden war, als er sie verlassen hatte. Madame Melina fand er von seinen Bekannten zuerst; sie begr¸ï¬te ihn aufs freundlichste. “Oh! daï¬ Sie doch alles”, rief sie aus, “bei uns finden mËchten, wie Sie w¸nschten!”
“Ich zweifle daran”, sagte Wilhelm, “und erwartete es nicht. Gestehen Sie es nur, man hat alle Anstalten gemacht, mich entbehren zu kËnnen.”
“Warum sind Sie auch weggegangen?” versetzte die Freundin.
“Man kann die Erfahrung nicht fr¸h genug machen, wie entbehrlich man in der Welt ist. Welche wichtige Personen glauben wir zu sein! Wir denken allein den Kreis zu beleben, in welchem wir wirken; in unserer Abwesenheit muï¬, bilden wir uns ein, Leben, Nahrung und Atem stocken, und die L¸cke, die entsteht, wird kaum bemerkt, sie f¸llt sich so geschwind wieder aus, ja sie wird oft nur der Platz, wo nicht f¸r etwas Besseres, doch f¸r etwas Angenehmeres.”
“Und die Leiden unserer Freunde bringen wir nicht in Anschlag?”
“Auch unsere Freunde tun wohl, wenn sie sich bald finden, wenn sie sich sagen: “Da, wo du bist, da, wo du bleibst, wirke, was du kannst, sei tâ°tig und gefâ°llig, und laï¬ dir die Gegenwart heiter sein”.”
Bei nâ°herer Erkundigung fand Wilhelm, was er vermutet hatte: die Oper war eingerichtet und zog die ganze Aufmerksamkeit des Publikums an sich. Seine Rollen waren inzwischen durch Laertes und Horatio besetzt worden, und beide lockten den Zuschauern einen weit lebhaftern Beifall ab, als er jemals hatte erlangen kËnnen.
Laertes trat herein, und Madame Melina rief aus: “Sehn Sie hier diesen gl¸cklichen Menschen, der bald ein Kapitalist oder Gott weiï¬ was werden wird!” Wilhelm umarmte ihn und f¸hlte ein vortrefflich feines Tuch an seinem Rocke; seine ¸brige Kleidung war einfach, aber alles vom besten Zeuge.
“LËsen Sie mir das Râ°tsel!” rief Wilhelm aus.
“Es ist noch Zeit genug”, versetzte Laertes, “um zu erfahren, daï¬ mir mein Hin- und Herlaufen nunmehr bezahlt wird, daï¬ ein Patron eines groï¬en Handelshauses von meiner Unruhe, meinen Kenntnissen und Bekanntschaften Vorteil zieht und mir einen Teil davon ablâ°ï¬t; ich wollte viel drum geben, wenn ich mir dabei auch Zutrauen gegen die Weiber ermâ°keln kËnnte: denn es ist eine h¸bsche Nichte im Hause, und ich merke wohl, wenn ich wollte, kËnnte ich bald ein gemachter Mann sein.”
“Sie wissen wohl noch nicht”, sagte Madame Melina, “daï¬ sich indessen auch unter uns eine Heirat gemacht hat? Serlo ist wirklich mit der schËnen Elmire Ëffentlich getraut, da der Vater ihre heimliche Vertraulichkeit nicht gutheiï¬en wollte.”
So unterhielten sie sich ¸ber manches, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und er konnte gar wohl bemerken, daï¬ er, dem Geist und dem Sinne der Gesellschaft nach, wirklich lâ°ngst verabschiedet war.
Mit Ungeduld erwartete er die Alte, die ihm tief in der Nacht ihren sonderbaren Besuch angek¸ndigt hatte. Sie wollte kommen, wenn alles schlief, und verlangte solche Vorbereitungen, eben als wenn das j¸ngste Mâ°dchen sich zu einem Geliebten schleichen wollte. Er las indes Marianens Brief wohl hundertmal durch, las mit unaussprechlichem Entz¸cken das Wort Treue von ihrer geliebten Hand und mit Entsetzen die Ank¸ndigung ihres Todes, dessen Annâ°herung sie nicht zu f¸rchten schien.
Mitternacht war vorbei, als etwas an der halboffnen T¸re rauschte und die Alte mit einem KËrbchen hereintrat. “Ich soll Euch”, sagte sie, “die Geschichte unserer Leiden erzâ°hlen, und ich muï¬ erwarten, daï¬ Ihr unger¸hrt dabeisitzt, daï¬ Ihr nur, um Eure Neugierde zu befriedigen, mich so sorgsam erwartet und daï¬ Ihr Euch jetzt wie damals in Eure kalte Eigenliebe h¸llet, wenn uns das Herz bricht. Aber seht her! so brachte ich an jenem gl¸cklichen Abend die Champagnerflasche hervor, so stellte ich drei Glâ°ser auf den Tisch, und so fingt Ihr an, uns mit gutm¸tigen Kindergeschichten zu tâ°uschen und einzuschlâ°fern, wie ich Euch jetzt mit traurigen Wahrheiten aufklâ°ren und wach erhalten muï¬.”
Wilhelm wuï¬te nicht, was er sagen sollte, als die Alte wirklich den StËpsel springen lieï¬ und die drei Glâ°ser vollschenkte.
“Trinkt!” rief sie, nachdem sie ihr schâ°umendes Glas schnell ausgeleert hatte, “trinkt, eh der Geist verraucht! Dieses dritte Glas soll zum Andenken meiner ungl¸cklichen Freundin ungenossen verschâ°umen. Wie rot waren ihre Lippen, als sie Euch damals Bescheid tat! Ach! und nun auf ewig verblaï¬t und erstarrt!”
“Sibylle! Furie!” rief Wilhelm aus, indem er aufsprang und mit der Faust auf den Tisch schlug, “welch ein bËser Geist besitzt und treibt dich? F¸r wen hâ°ltst du mich, daï¬ du denkst, die einfachste Geschichte von Marianens Tod und Leiden werde mich nicht empfindlich genug krâ°nken, daï¬ du noch solche hËllische Kunstgriffe brauchst, um meine Marter zu schâ°rfen? Geht deine unersâ°ttliche VËllerei so weit, daï¬ du beim Totenmahle schwelgen muï¬t, so trink und rede! Ich habe dich von jeher verabscheut, und noch kann ich mir Marianen nicht unschuldig denken, wenn ich dich, ihre Gesellschafterin, nur ansehe.”
“Gemach, mein Herr!” versetzte die Alte, “Sie werden mich nicht aus meiner Fassung bringen. Sie sind uns noch sehr verschuldet, und von einem Schuldner lâ°ï¬t man sich nicht ¸bel begegnen. Aber Sie haben recht, auch meine einfachste Erzâ°hlung ist Strafe genug f¸r Sie. So hËren Sie denn den Kampf und den Sieg Marianens, um die Ihrige zu bleiben.”
“Die Meinige?” rief Wilhelm aus, “welch ein Mâ°rchen willst du beginnen?”
“Unterbrechen Sie mich nicht”, fiel sie ein, “hËren Sie mich, und dann glauben Sie, was Sie wollen, es ist ohnedies jetzt ganz einerlei. Haben Sie nicht am letzten Abend, als Sie bei uns waren, ein Billett gefunden und mitgenommen?”
“Ich fand das Blatt erst, als ich es mitgenommen hatte; es war in das Halstuch verwickelt, das ich aus inbr¸nstiger Liebe ergriff und zu mir steckte.”
“Was enthielt das Papier?”
“Die Aussichten eines verdrieï¬lichen Liebhabers, in der nâ°chsten Nacht besser als gestern aufgenommen zu werden. Und daï¬ man ihm Wort gehalten hat, habe ich mit eignen Augen gesehen, denn er schlich fr¸h vor Tage aus eurem Hause hinweg.”
“Sie kËnnen ihn gesehen haben; aber was bei uns vorging, wie traurig Mariane diese Nacht, wie verdrieï¬lich ich sie zubrachte, das werden Sie erst jetzt erfahren. Ich will ganz aufrichtig sein, weder leugnen noch beschËnigen, daï¬ ich Marianen beredete, sich einem gewissen Norberg zu ergeben; sie folgte, ja ich kann sagen, sie gehorchte mir mit Widerwillen. Er war reich, er schien verliebt, und ich hoffte, er werde bestâ°ndig sein. Gleich darauf muï¬te er eine Reise machen, und Mariane lernte Sie kennen. Was hatte ich da nicht auszustehen! was zu hindern! was zu erdulden! “Oh!” rief sie manchmal, “hâ°ttest du meiner Jugend, meiner Unschuld nur noch vier Wochen geschont, so hâ°tte ich einen w¸rdigen Gegenstand meiner Liebe gefunden, ich wâ°re seiner w¸rdig gewesen, und die Liebe hâ°tte das mit einem ruhigen Bewuï¬tsein geben d¸rfen, was ich jetzt wider Willen verkauft habe.” Sie ¸berlieï¬ sich ganz ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen, ob Sie gl¸cklich waren. Ich hatte eine uneingeschrâ°nkte Gewalt ¸ber ihren Verstand, denn ich kannte alle Mittel, ihre kleinen Neigungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht ¸ber ihr Herz, denn niemals billigte sie, was ich f¸r sie tat, wozu ich sie bewegte, wenn ihr Herz widersprach: nur der unbezwinglichen Not gab sie nach, und die Not erschien ihr bald sehr dr¸ckend. In den ersten Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts gemangelt; ihre Familie verlor durch eine Verwickelung von Umstâ°nden ihr VermËgen, das arme Mâ°dchen war an mancherlei Bed¸rfnisse gewËhnt, und ihrem kleinen Gem¸t waren gewisse gute Grundsâ°tze eingeprâ°gt, die sie unruhig machten, ohne ihr viel zu helfen. Sie hatte nicht die mindeste Gewandtheit in weltlichen Dingen, sie war unschuldig im eigentlichen Sinne; sie hatte keinen Begriff, daï¬ man kaufen kËnne, ohne zu bezahlen; vor nichts war ihr mehr bange, als wenn sie schuldig war; sie hâ°tte immer lieber gegeben als genommen, und nur eine solche Lage machte es mËglich, daï¬ sie genËtigt ward, sich selbst hinzugeben, um eine Menge kleiner Schulden loszuwerden.”
VII. Buch, 8. Kapitel–2
“Und hâ°ttest du”, fuhr Wilhelm auf, “sie nicht retten kËnnen?”
“O ja”, versetzte die Alte, “mit Hunger und Not, mit Kummer und Entbehrung, und darauf war ich niemals eingerichtet.”
“Abscheuliche, niedertrâ°chtige Kupplerin! so hast du das ungl¸ckliche GeschËpf geopfert? so hast du sie deiner Kehle, deinem unersâ°ttlichen Heiï¬hunger hingegeben?”
“Ihr tâ°tet besser, Euch zu mâ°ï¬igen und mit Schimpfreden innezuhalten”, versetzte die Alte. “Wenn Ihr schimpfen wollt, so geht in Eure groï¬en, vornehmen Hâ°user, da werdet Ihr M¸tter finden, die recht â°ngstlich besorgt sind, wie sie f¸r ein liebensw¸rdiges, himmlisches Mâ°dchen den allerabscheulichsten Menschen auffinden wollen, wenn er nur zugleich der reichste ist. Seht das arme GeschËpf vor seinem Schicksale zittern und beben und nirgends Trost finden, als bis ihr irgendeine erfahrne Freundin begreiflich macht, daï¬ sie durch den Ehestand das Recht erwerbe, ¸ber ihr Herz und ihre Person nach Gefallen disponieren zu kËnnen.”
“Schweig!” rief Wilhelm, “glaubst du denn, daï¬ ein Verbrechen durch das andere entschuldigt werden kËnne? Erzâ°hle, ohne weitere Anmerkungen zu machen!”
“So hËren Sie, ohne mich zu tadeln! Mariane ward wider meinen Willen die Ihre. Bei diesem Abenteuer habe ich mir wenigstens nichts vorzuwerfen. Norberg kam zur¸ck, er eilte, Marianen zu sehen, die ihn kalt und verdrieï¬lich aufnahm und ihm nicht einen Kuï¬ erlaubte. Ich brauchte meine ganze Kunst, um ihr Betragen zu entschuldigen; ich lieï¬ ihn merken, daï¬ ein Beichtvater ihr das Gewissen geschâ°rft habe und daï¬ man ein Gewissen, solange es spricht, respektieren m¸sse. Ich brachte ihn dahin, daï¬ er ging, und versprach ihm, mein Bestes zu tun. Er war reich und roh, aber er hatte einen Grund von Gutm¸tigkeit und liebte Marianen auf das â°uï¬erste. Er versprach mir Geduld, und ich arbeitete desto lebhafter, um ihn nicht zu sehr zu pr¸fen. Ich hatte mit Marianen einen harten Stand; ich ¸berredete sie, ja ich kann sagen, ich zwang sie endlich durch die Drohung, daï¬ ich sie verlassen w¸rde, an ihren Liebhaber zu schreiben und ihn auf die Nacht einzuladen. Sie kamen und rafften zufâ°lligerweise seine Antwort in dem Halstuch auf. Ihre unvermutete Gegenwart hatte mir ein bËses Spiel gemacht. Kaum waren Sie weg, so ging die Qual von neuem an; sie schwur, daï¬ sie Ihnen nicht untreu werden kËnne, und war so leidenschaftlich, so auï¬er sich, daï¬ sie mir ein herzliches Mitleid ablockte. Ich versprach ihr endlich, daï¬ ich auch diese Nacht Norbergen beruhigen und ihn unter allerlei Vorwâ°nden entfernen wollte; ich bat sie, zu Bette zu gehen, allein sie schien mir nicht zu trauen: sie blieb angezogen und schlief zuletzt, bewegt und ausgeweint, wie sie war, in ihren Kleidern ein.
Norberg kam; ich suchte ihn abzuhalten, ich stellte ihm ihre Gewissensbisse, ihre Reue mit den schwâ°rzesten Farben vor; er w¸nschte sie nur zu sehen, und ich ging in das Zimmer, um sie vorzubereiten; er schritt mir nach, und wir traten beide zu gleicher Zeit vor ihr Bette. Sie erwachte, sprang mit Wut auf und entriï¬ sich unsern Armen; sie beschwur und bat, sie flehte, drohte und versicherte, daï¬ sie nicht nachgeben w¸rde. Sie war unvorsichtig genug, ¸ber ihre wahre Leidenschaft einige Worte fallenzulassen, die der arme Norberg im geistlichen Sinne deuten muï¬te. Endlich verlieï¬ er sie, und sie schloï¬ sich ein. Ich behielt ihn noch lange bei mir und sprach mit ihm ¸ber ihren Zustand, daï¬ sie guter Hoffnung sei und daï¬ man das arme Mâ°dchen schonen m¸sse. Er f¸hlte sich so stolz auf seine Vaterschaft, er freute sich so sehr auf einen Knaben, daï¬ er alles einging, was sie von ihm verlangte, und daï¬ er versprach, lieber einige Zeit zu verreisen, als seine Geliebte zu â°ngstigen und ihr durch diese Gem¸tsbewegungen zu schaden. Mit diesen Gesinnungen schlich er morgens fr¸h von mir weg, und Sie, mein Herr, wenn Sie Schildwache gestanden haben, so hâ°tte es zu Ihrer Gl¸ckseligkeit nichts weiter bedurft, als in den Busen Ihres Nebenbuhlers zu sehen, den Sie so beg¸nstigt, so gl¸cklich hielten und dessen Erscheinung Sie zur Verzweiflung brachte.”
“Redest du wahr?” sagte Wilhelm.
“So wahr”, sagte die Alte, “als ich noch hoffe, Sie zur Verzweiflung zu bringen.
Ja gewiï¬, Sie w¸rden verzweifeln, wenn ich Ihnen das Bild unsers nâ°chsten Morgens recht lebhaft darstellen kËnnte. Wie heiter wachte sie auf! wie freundlich rief sie mich herein! wie lebhaft dankte sie mir! wie herzlich dr¸ckte sie mich an ihren Busen! “Nun”, sagte sie, indem sie lâ°chelnd vor den Spiegel trat, “darf ich mich wieder an mir selbst, mich an meiner Gestalt freuen, da ich wieder mir, da ich meinem einzig geliebten Freund angehËre. Wie ist es so s¸ï¬, ¸berwunden zu haben! welch eine himmlische Empfindung ist es, seinem Herzen zu folgen! Wie dank ich dir, daï¬ du dich meiner angenommen, daï¬ du deine Klugheit, deinen Verstand auch einmal zu meinem Vorteil angewendet hast! Steh mir bei, und ersinne, was mich ganz gl¸cklich machen kann!”
Ich gab ihr nach, ich wollte sie nicht reizen, ich schmeichelte ihrer Hoffnung, und sie liebkoste mich auf das anmutigste. Entfernte sie sich einen Augenblick vom Fenster, so muï¬te ich Wache stehen: denn Sie sollten nun ein f¸r allemal vorbeigehen, man wollte Sie wenigstens sehen; so ging der ganze Tag unruhig hin. Nachts zur gewËhnlichen Stunde erwarteten wir Sie ganz gewiï¬. Ich paï¬te schon an der Treppe, die Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr hinein. Ich fand sie zu meiner Verwunderung in ihrer Offizierstracht, sie sah unglaublich heiter und reizend aus. “Verdien ich nicht”, sagte sie, “heute in Mannstracht zu erscheinen? Habe ich mich nicht brav gehalten? Mein Geliebter soll mich heute wie das erstemal sehen, ich will ihn so zâ°rtlich und mit mehr Freiheit an mein Herz dr¸cken als damals: denn bin ich jetzt nicht viel mehr die Seine als damals, da mich ein edler Entschluï¬ noch nicht frei gemacht hatte? Aber”, f¸gte sie nach einigem Nachdenken hinzu, “noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muï¬ ich erst das â°uï¬erste wagen, um seiner wert, um seines Besitzes gewiï¬ zu sein; ich muï¬ ihm alles entdecken, meinen ganzen Zustand offenbaren und ihm alsdann ¸berlassen, ob er mich behalten oder verstoï¬en will. Diese Szene bereite ich ihm, bereite ich mir zu; und wâ°re sein Gef¸hl mich zu verstoï¬en fâ°hig, so w¸rde ich alsdann ganz wieder mir selbst angehËren, ich w¸rde in meiner Strafe meinen Trost finden und alles erdulden, was das Schicksal mir auferlegen wollte.”
Mit diesen Gesinnungen, mit diesen Hoffnungen, mein Herr, erwartete Sie das liebensw¸rdige Mâ°dchen; Sie kamen nicht. Oh! wie soll ich den Zustand des Wartens und Hoffens beschreiben? Ich sehe dich noch vor mir, mit welcher Liebe, mit welcher Inbrunst du von dem Manne sprachst, dessen Grausamkeit du noch nicht erfahren hattest!”
“Gute, liebe Barbara!” rief Wilhelm, indem er aufsprang und die Alte bei der Hand faï¬te, “es ist nun genug der Verstellung, genug der Vorbereitung! Dein gleichg¸ltiger, dein ruhiger, dein zufriedner Ton hat dich verraten. Gib mir Marianen wieder! Sie lebt, sie ist in der Nâ°he. Nicht umsonst hast du diese spâ°te, einsame Stunde zu deinem Besuche gewâ°hlt, nicht umsonst hast du mich durch diese entz¸ckende Erzâ°hlung vorbereitet. Wo hast du sie? Wo verbirgst du sie? Ich glaube dir alles, ich verspreche dir alles zu glauben, wenn du mir sie zeigst, wenn du sie meinen Armen wiedergibst. Ihren Schatten habe ich schon im Fluge gesehen, laï¬ mich sie wieder in meine Arme fassen! Ich will vor ihr auf den Knien liegen, ich will sie um Vergebung bitten, ich will ihr zu ihrem Kampfe, zu ihrem Siege ¸ber sich und dich Gl¸ck w¸nschen, ich will ihr meinen Felix zuf¸hren. Komm! Wo hast du sie versteckt? Laï¬ sie, laï¬ mich nicht lâ°nger in Ungewiï¬heit! Dein Endzweck ist erreicht. Wo hast du sie verborgen? Komm, daï¬ ich sie mit diesem Licht beleuchte! daï¬ ich wieder ihr holdes Angesicht sehe!”
Er hatte die Alte vom Stuhl aufgezogen, sie sah ihn starr an, die Trâ°nen st¸rzten ihr aus den Augen, und ein ungeheurer Schmerz ergriff sie. “Welch ein ungl¸cklicher Irrtum”, rief sie aus, “lâ°ï¬t Sie noch einen Augenblick hoffen!–Ja, ich habe sie verborgen, aber unter die Erde; weder das Licht der Sonne noch eine vertrauliche Kerze wird ihr holdes Angesicht jemals wieder erleuchten. F¸hren Sie den guten Felix an ihr Grab, und sagen Sie ihm: “Da liegt deine Mutter, die dein Vater ungehËrt verdammt hat.” Das liebe Herz schlâ°gt nicht mehr vor Ungeduld, Sie zu sehen, nicht etwa in einer benachbarten Kammer wartet sie auf den Ausgang meiner Erzâ°hlung oder meines Mâ°rchens; die dunkle Kammer hat sie aufgenommen, wohin kein Brâ°utigam folgt, woraus man keinem Geliebten entgegengeht.”
Sie warf sich auf die Erde an einem Stuhle nieder und weinte bitterlich; Wilhelm war zum erstenmal vËllig ¸berzeugt, daï¬ Mariane tot sei; er befand sich in einem traurigen Zustande. Die Alte richtete sich auf. “Ich habe Ihnen weiter nichts zu sagen”, rief sie und warf ein Paket auf den Tisch. “Hier diese Briefschaften mËgen vËllig Ihre Grausamkeit beschâ°men; lesen Sie diese Blâ°tter mit trocknen Augen durch, wenn es Ihnen mËglich ist.” Sie schlich leise fort, und Wilhelm hatte diese Nacht das Herz nicht, die Brieftasche zu Ëffnen, er hatte sie selbst Marianen geschenkt, er wuï¬te, daï¬ sie jedes Blâ°ttchen, das sie von ihm erhalten hatte, sorgfâ°ltig darin aufhob. Den andern Morgen vermochte er es ¸ber sich; er lËste das Band, und es fielen ihm kleine Zettelchen, mit Bleistift von seiner eigenen Hand geschrieben, entgegen und riefen ihm jede Situation von dem ersten Tage ihrer anmutigen Bekanntschaft bis zu dem letzten ihrer grausamen Trennung wieder herbei. Allein nicht ohne die lebhaftesten Schmerzen durchlas er eine kleine Sammlung von Billetten, die an ihn geschrieben waren und die, wie er aus dem Inhalt sah, von Wernern waren zur¸ckgewiesen worden.
“Keines meiner Blâ°tter hat bis zu dir durchdringen kËnnen, mein Bitten und Flehen hat dich nicht erreicht; hast du selbst diese grausamen Befehle gegeben? Soll ich dich nie wiedersehen? Noch einmal versuch ich es, ich bitte dich: komm, o komm! ich verlange dich nicht zu behalten, wenn ich dich nur noch einmal an mein Herz dr¸cken kann.”
“Wenn ich sonst bei dir saï¬, deine Hâ°nde hielt, dir in die Augen sah und mit vollem Herzen der Liebe und des Zutrauens zu dir sagte: “Lieber, lieber, guter Mann!” das hËrtest du so gern, ich muï¬t es dir so oft wiederholen, ich wiederhole es noch einmal–Lieber, lieber, guter Mann! sei gut, wie du warst, komm und laï¬ mich nicht in meinem Elende verderben!”
“Du hâ°ltst mich f¸r schuldig, ich bin es auch, aber nicht, wie du denkst. Komm, damit ich nur den einzigen Trost habe, von dir ganz gekannt zu sein, es gehe mir nachher, wie es wolle.”
“Nicht um meinetwillen allein, auch um dein selbst willen fleh ich dich an zu kommen. Ich f¸hle die unertrâ°glichen Schmerzen, die du leidest, indem du mich fliehst; komm, daï¬ unsere Trennung weniger grausam werde! Ich war vielleicht nie deiner w¸rdig als eben in dem Augenblick, da du mich in ein grenzenloses Elend zur¸ckstËï¬est.”
“Bei allem, was heilig ist, bei allem, was ein menschliches Herz r¸hren kann, ruf ich dich an! Es ist um eine Seele, es ist um ein Leben zu tun, um zwei Leben, von denen dir eins ewig teuer sein muï¬. Dein Argwohn wird auch das nicht glauben, und doch werde ich es in der Stunde des Todes aussprechen: das Kind, das ich unter dem Herzen trage, ist dein. Seitdem ich dich liebe, hat kein anderer mir auch nur die Hand gedr¸ckt; o daï¬ deine Liebe, daï¬ deine Rechtschaffenheit die Gefâ°hrten meiner Jugend gewesen wâ°ren!”
“Du willst mich nicht hËren? So muï¬ ich denn zuletzt wohl verstummen, aber diese Blâ°tter sollen nicht untergehen, vielleicht kËnnen sie noch zu dir sprechen, wenn das Leichentuch schon meine Lippe bedeckt und wenn die Stimme deiner Reue nicht mehr zu meinem Ohre reichen kann. Durch mein trauriges Leben bis an den letzten Augenblick wird das mein einziger Trost sein: daï¬ ich ohne Schuld gegen dich war, wenn ich mich auch nicht unschuldig nennen durfte.”
Wilhelm konnte nicht weiter; er ¸berlieï¬ sich ganz seinem Schmerz, aber noch mehr war er bedrâ°ngt, als Laertes hereintrat, dem er seine Empfindungen zu verbergen suchte. Dieser brachte einen Beutel mit Dukaten hervor, zâ°hlte und rechnete und versicherte Wilhelmen: es sei nichts SchËneres in der Welt, als wenn man eben auf dem Wege sei, reich zu werden; es kËnne uns auch alsdann nichts stËren oder abhalten. Wilhelm erinnerte sich seines Traums und lâ°chelte; aber zugleich gedachte er auch mit Schaudern: daï¬ in jenem Traumgesichte Mariane ihn verlassen, um seinem verstorbenen Vater zu folgen, und daï¬ beide zuletzt wie Geister schwebend sich um den Garten bewegt hatten.
Laertes riï¬ ihn aus seinem Nachdenken und f¸hrte ihn auf ein Kaffeehaus, wo sich sogleich mehrere Personen um ihn versammelten, die ihn sonst gern auf dem Theater gesehen hatten; sie freuten sich seiner Gegenwart, bedauerten aber, daï¬ er, wie sie hËrten, die B¸hne verlassen wolle; sie sprachen so bestimmt und vern¸nftig von ihm und seinem Spiele, von dem Grade seines Talents, von ihren Hoffnungen, daï¬ Wilhelm nicht ohne R¸hrung zuletzt ausrief: “O wie unendlich wert wâ°re mir diese Teilnahme vor wenig Monaten gewesen! Wie belehrend und wie erfreuend! Niemals hâ°tte ich mein Gem¸t so ganz von der B¸hne abgewendet, und niemals wâ°re ich so weit gekommen, am Publiko zu verzweifeln.”
“Dazu sollte es ¸berhaupt nicht kommen”, sagte ein â°ltlicher Mann, der hervortrat; “das Publikum ist groï¬, wahrer Verstand und wahres Gef¸hl sind nicht so selten, als man glaubt; nur muï¬ der K¸nstler niemals einen unbedingten Beifall f¸r das, was er hervorbringt, verlangen: denn eben der unbedingte ist am wenigsten wert, und den bedingten wollen die Herren nicht gerne. Ich weiï¬ wohl, im Leben wie in der Kunst muï¬ man mit sich zu Rate gehen, wenn man etwas tun und hervorbringen soll; wenn es aber getan und vollendet ist, so darf man mit Aufmerksamkeit nur viele hËren, und man kann sich mit einiger ¸bung aus diesen vielen Stimmen gar bald ein ganzes Urteil zusammensetzen: denn diejenigen, die uns diese M¸he ersparen kËnnten, halten sich meist stille genug.”
“Das sollten sie eben nicht”, sagte Wilhelm. “Ich habe so oft gehËrt, daï¬ Menschen, die selbst ¸ber gute Werke schwiegen, doch beklagten und bedauerten, daï¬ geschwiegen wird.”
“So wollen wir heute laut werden”, rief ein junger Mann, “Sie m¸ssen mit uns speisen, und wir wollen alles einholen, was wir Ihnen und manchmal der guten Aurelie schuldig geblieben sind.”
Wilhelm lehnte die Einladung ab und begab sich zu Madame Melina, die er wegen der Kinder sprechen wollte, indem er sie von ihr wegzunehmen gedachte.
VII. Buch, 8. Kapitel–3
Das Geheimnis der Alten war nicht zum besten bei ihm verwahrt. Er verriet sich, als er den schËnen Felix wieder ansichtig ward. “O mein Kind!” rief er aus, “mein liebes Kind!” Er hub ihn auf und dr¸ckte ihn an sein Herz. “Vater! was hast du mir mitgebracht?” rief das Kind. Mignon sah beide an, als wenn sie warnen wollte, sich nicht zu verraten.
“Was ist das f¸r eine neue Erscheinung?” sagte Madame Melina. Man suchte die Kinder beiseite zu bringen, und Wilhelm, der der Alten das strengste Geheimnis nicht schuldig zu sein glaubte, entdeckte seiner Freundin das ganze Verhâ°ltnis. Madame Melina sah ihn lâ°chelnd an. “O ¸ber die leichtglâ°ubigen Mâ°nner!” rief sie aus, “wenn nur etwas auf ihrem Wege ist, so kann man es ihnen sehr leicht aufb¸rden; aber daf¸r sehen sie sich auch ein andermal weder rechts noch links um und wissen nichts zu schâ°tzen, als was sie vorher mit dem Stempel einer willk¸rlichen Leidenschaft bezeichnet haben.” Sie konnte einen Seufzer nicht unterdr¸cken, und wenn Wilhelm nicht ganz blind gewesen wâ°re, so hâ°tte er eine nie ganz besiegte Neigung in ihrem Betragen erkennen m¸ssen.
Er sprach nunmehr mit ihr von den Kindern, wie er Felix bei sich zu behalten und Mignon auf das Land zu tun gedâ°chte. Frau Melina, ob sie sich gleich ungerne von beiden zugleich trennte, fand doch den Vorschlag gut, ja notwendig. Felix verwilderte bei ihr, und Mignon schien einer freien Luft und anderer Verhâ°ltnisse zu bed¸rfen; das gute Kind war krâ°nklich und konnte sich nicht erholen.
“Lassen Sie sich nicht irren”, fuhr Madame Melina fort, “daï¬ ich einige Zweifel, ob Ihnen der Knabe wirklich zugehËre, leichtsinnig geâ°uï¬ert habe. Der Alten ist freilich wenig zu trauen, doch wer Unwahrheit zu seinem Nutzen ersinnt, kann auch einmal wahr reden, wenn ihm die Wahrheiten n¸tzlich scheinen. Aurelien hatte die Alte vorgespiegelt, Felix sei ein Sohn Lotharios, und die Eigenheit haben wir Weiber, daï¬ wir die Kinder unserer Liebhaber recht herzlich lieben, wenn wir schon die Mutter nicht kennen oder sie von Herzen hassen.” Felix kam hereingesprungen, sie dr¸ckte ihn an sich, mit einer Lebhaftigkeit, die ihr sonst nicht gewËhnlich war.
Wilhelm eilte nach Hause und bestellte die Alte, die ihn, jedoch nicht eher als in der Dâ°mmerung, zu besuchen versprach; er empfing sie verdrieï¬lich und sagte zu ihr: “Es ist nichts Schâ°ndlichers in der Welt, als sich auf L¸gen und Mâ°rchen einzurichten! Schon hast du viel BËses damit gestiftet, und jetzt, da dein Wort das Gl¸ck meines Lebens entscheiden kËnnte, jetzt steh ich zweifelhaft und wage nicht, das Kind in meine Arme zu schlieï¬en, dessen ungetr¸bter Besitz mich â°uï¬erst gl¸cklich machen w¸rde. Ich kann dich, schâ°ndliche Kreatur, nicht ohne Haï¬ und Verachtung ansehen.”
“Euer Betragen kommt mir, wenn ich aufrichtig reden soll”, versetzte die Alte, “ganz unertrâ°glich vor. Und wenn’s nun Euer Sohn nicht wâ°re, so ist es das schËnste, angenehmste Kind von der Welt, das man gern f¸r jeden Preis kaufen mËchte, um es nur immer um sich zu haben. Ist es nicht wert, daï¬ Ihr Euch seiner annehmt? Verdiene ich f¸r meine Sorgfalt, f¸r meine M¸he mit ihm nicht einen kleinen Unterhalt f¸r mein k¸nftiges Leben? Oh! ihr Herren, denen nichts abgeht, ihr habt gut von Wahrheit und Geradheit reden; aber wie eine arme Kreatur, deren geringstem Bed¸rfnis nichts entgegenkommt, die in ihren Verlegenheiten keinen Freund, keinen Rat, keine H¸lfe sieht, wie die sich durch die selbstischen Menschen durchdr¸cken und im stillen darben muﬖdavon w¸rde manches zu sagen sein, wenn ihr hËren wolltet und kËnntet. Haben Sie Marianens Briefe gelesen? Es sind dieselben, die sie zu jener ungl¸cklichen Zeit schrieb. Vergebens suchte ich mich Ihnen zu nâ°hern, vergebens Ihnen diese Blâ°tter zuzustellen; Ihr grausamer Schwager hatte Sie so umlagert, daï¬ alle List und Klugheit vergebens war, und zuletzt, als er mir und Marianen mit dem Gefâ°ngnis drohte, muï¬te ich wohl alle Hoffnung aufgeben. Trifft nicht alles mit dem ¸berein, was ich erzâ°hlt habe? Und setzt nicht Norbergs Brief die ganze Geschichte auï¬er allen Zweifel?”
“Was f¸r ein Brief?” fragte Wilhelm.
“Haben Sie ihn nicht in der Brieftasche gefunden?” versetzte die Alte.
“Ich habe noch nicht alles durchlesen.”
“Geben Sie nur die Brieftasche her; auf dieses Dokument kommt alles an. Norbergs ungl¸ckliches Billett hat die traurige Verwirrung gemacht, ein anderes von seiner Hand mag auch den Knoten lËsen, insofern am Faden noch etwas gelegen ist.” Sie nahm ein Blatt aus der Brieftasche, Wilhelm erkannte jene verhaï¬te Hand, er nahm sich zusammen und las:
“Sag mir nur, Mâ°dchen, wie vermagst du das ¸ber mich? Hâ°tt ich doch nicht geglaubt, daï¬ eine GËttin selbst mich zum seufzenden Liebhaber umschaffen kËnnte. Anstatt mir mit offenen Armen entgegenzueilen, ziehst du dich zur¸ck; man hâ°tte es wahrhaftig f¸r Abscheu nehmen kËnnen, wie du dich betrugst. Ist’s erlaubt, daï¬ ich die Nacht mit der alten Barbara auf einem Koffer in einer Kammer zubringen muï¬te? Und mein geliebtes Mâ°dchen war nur zwei T¸ren davon. Es ist zu toll, sag ich dir! Ich habe versprochen, dir einige Bedenkzeit zu lassen, nicht gleich in dich zu dringen, und ich mËchte rasend werden ¸ber jede verlorne Viertelstunde. Habe ich dir nicht geschenkt, was ich wuï¬te und konnte? Zweifelst du noch an meiner Liebe? Was willst du haben? sag es mir! Es soll dir an nichts fehlen. Ich wollte, der Pfaffe m¸ï¬te verstummen und verblinden, der dir solches Zeug in den Kopf gesetzt hat. Muï¬test du auch gerade an so einen kommen! Es gibt so viele, die jungen Leuten etwas nachzusehen wissen. Genug, ich sage dir, es muï¬ anders werden, in ein paar Tagen muï¬ ich Antwort wissen, denn ich gehe bald wieder weg, und wenn du nicht wieder freundlich und gefâ°llig bist, so sollst du mich nicht wiedersehen…”
In dieser Art ging der Brief noch lange fort, drehte sich zu Wilhelms schmerzlicher Zufriedenheit immer um denselben Punkt herum und zeugte f¸r die Wahrheit der Geschichte, die er von Barbara vernommen hatte. Ein zweites Blatt bewies deutlich, daï¬ Mariane auch in der Folge nicht nachgegeben hatte, und Wilhelm vernahm aus diesen und mehreren Papieren nicht ohne tiefen Schmerz die Geschichte des ungl¸cklichen Mâ°dchens bis zur Stunde ihres Todes.
Die Alte hatte den rohen Menschen nach und nach zahm gemacht, indem sie ihm den Tod Marianens meldete und ihm den Glauben lieï¬, als wenn Felix sein Sohn sei; er hatte ihr einigemal Geld geschickt, das sie aber f¸r sich behielt, da sie Aurelien die Sorge f¸r des Kindes Erziehung aufgeschwatzt hatte. Aber leider dauerte dieser heimliche Erwerb nicht lange. Norberg hatte durch ein wildes Leben den grËï¬ten Teil seines VermËgens verzehrt und wiederholte Liebesgeschichten sein Herz gegen seinen ersten, eingebildeten Sohn verhâ°rtet.
So wahrscheinlich das alles lautete und so schËn es zusammentraf, traute Wilhelm doch noch nicht, sich der Freude zu ¸berlassen; er schien sich vor einem Geschenke zu f¸rchten, das ihm ein bËser Genius darreichte.
“Ihre Zweifelsucht”, sagte die Alte, die seine Gem¸tsstimmung erriet, “kann nur die Zeit heilen. Sehen Sie das Kind als ein fremdes an, und geben Sie desto genauer auf ihn acht, bemerken Sie seine Gaben, seine Natur, seine Fâ°higkeiten, und wenn Sie nicht nach und nach sich selbst wiedererkennen, so m¸ssen Sie schlechte Augen haben. Denn das versichre ich Sie, wenn ich ein Mann wâ°re, mir sollte niemand ein Kind unterschieben; aber es ist ein Gl¸ck f¸r die Weiber, daï¬ die Mâ°nner in diesen Fâ°llen nicht so scharfsichtig sind.”
Nach allem diesen setzte sich Wilhelm mit der Alten auseinander; er wollte den Felix mit sich nehmen, sie sollte Mignon zu Theresen bringen und hernach eine kleine Pension, die er ihr versprach, wo sie wollte, verzehren.
Er lieï¬ Mignon rufen, um sie auf diese Verâ°nderung vorzubereiten. “Meister!” sagte sie, “behalte mich bei dir, es wird mir wohltun und weh.”
Er stellte ihr vor, daï¬ sie nun herangewachsen sei und daï¬ doch etwas f¸r ihre weitere Bildung getan werden m¸sse. “Ich bin gebildet genug”, versetzte sie, “um zu lieben und zu trauern.”
Er machte sie auf ihre Gesundheit aufmerksam, daï¬ sie eine anhaltende Sorgfalt und die Leitung eines geschickten Arztes bed¸rfe. “Warum soll man f¸r mich sorgen”, sagte sie, “da so viel zu sorgen ist?”
Nachdem er sich viele M¸he gegeben, sie zu ¸berzeugen, daï¬ er sie jetzt nicht mit sich nehmen kËnne, daï¬ er sie zu Personen bringen wolle, wo er sie Ëfters sehen werde, schien sie von alledem nichts gehËrt zu haben. “Du willst mich nicht bei dir?” sagte sie. “Vielleicht ist es besser, schicke mich zum alten Harfenspieler, der arme Mann ist so allein.”
Wilhelm suchte ihr begreiflich zu machen, daï¬ der Alte gut aufgehoben sei. “Ich sehne mich jede Stunde nach ihm”, versetzte das Kind.
“Ich habe aber nicht bemerkt”, sagte Wilhelm, “daï¬ du ihm so geneigt seist, als er noch mit uns lebte.”
“Ich f¸rchtete mich vor ihm, wenn er wachte; ich konnte nur seine Augen nicht sehen, aber wenn er schlief, setzte ich mich gern zu ihm, ich wehrte ihm die Fliegen und konnte mich nicht satt an ihm sehen. Oh! er hat mir in schrecklichen Augenblicken beigestanden, es weiï¬ niemand, was ich ihm schuldig bin. Hâ°tt ich nur den Weg gewuï¬t, ich wâ°re schon zu ihm gelaufen.”
Wilhelm stellte ihr die Umstâ°nde weitlâ°ufig vor und sagte: sie sei so ein vern¸nftiges Kind, sie mËchte doch auch diesmal seinen W¸nschen folgen. “Die Vernunft ist grausam”, versetzte sie, “das Herz ist besser. Ich will hingehen, wohin du willst, aber laï¬ mir deinen Felix!”
Nach vielem Hin- und Widerreden war sie immer auf ihrem Sinne geblieben, und Wilhelm muï¬te sich zuletzt entschlieï¬en, die beiden Kinder der Alten zu ¸bergeben und sie zusammen an Frâ°ulein Therese zu schicken. Es ward ihm das um so leichter, als er sich noch immer f¸rchtete, den schËnen Felix sich als seinen Sohn zuzueignen. Er nahm ihn auf den Arm und trug ihn herum; das Kind mochte gern vor den Spiegel gehoben sein, und ohne sich es zu gestehen, trug Wilhelm ihn gern vor den Spiegel und suchte dort â°hnlichkeiten zwischen sich und dem Kinde auszuspâ°hen. Ward es ihm dann einen Augenblick recht wahrscheinlich, so dr¸ckte er den Knaben an seine Brust, aber auf einmal, erschreckt durch den Gedanken, daï¬ er sich betriegen kËnne, setzte er das Kind nieder und lieï¬ es hinlaufen. “Oh!” rief er aus, “wenn ich mir dieses unschâ°tzbare Gut zueignen kËnnte und es w¸rde mir dann entrissen, so wâ°re ich der ungl¸cklichste aller Menschen!”
Die Kinder waren weggefahren, und Wilhelm wollte nun seinen fËrmlichen Abschied vom Theater nehmen, als er f¸hlte, daï¬ er schon abgeschieden sei und nur zu gehen brauchte. Mariane war nicht mehr, seine zwei Schutzgeister hatten sich entfernt, und seine Gedanken eilten ihnen nach. Der schËne Knabe schwebte wie eine reizende ungewisse Erscheinung vor seiner Einbildungskraft, er sah ihn an Theresens Hand durch Felder und Wâ°lder laufen, in der freien Luft und neben einer freien und heitern Begleiterin sich bilden; Therese war ihm noch viel werter geworden, seitdem er das Kind in ihrer Gesellschaft dachte. Selbst als Zuschauer im Theater erinnerte er sich ihrer mit Lâ°cheln; beinahe war er in ihrem Falle, die Vorstellungen machten ihm keine Illusion mehr.
Serlo und Melina waren â°uï¬erst hËflich gegen ihn, sobald sie merkten, daï¬ er an seinen vorigen Platz keinen weitern Anspruch machte. Ein Teil des Publikums w¸nschte ihn nochmals auftreten zu sehen; es wâ°re ihm unmËglich gewesen, und bei der Gesellschaft w¸nschte es niemand als allenfalls Frau Melina.
Er nahm nun wirklich Abschied von dieser Freundin, er war ger¸hrt und sagte: “Wenn doch der Mensch sich nicht vermessen wollte, irgend etwas f¸r die Zukunft zu versprechen! Das Geringste vermag er nicht zu halten, geschweige wenn sein Vorsatz von Bedeutung ist. Wie schâ°me ich mich, wenn ich denke, was ich Ihnen allen zusammen in jener ungl¸cklichen Nacht versprach, da wir beraubt, krank, verletzt und verwundet in eine elende Schenke zusammengedrâ°ngt waren. Wie erhËhte damals das Ungl¸ck meinen Mut, und welchen Schatz glaubte ich in meinem guten Willen zu finden; nun ist aus allem dem nichts, gar nichts geworden! Ich verlasse Sie als Ihr Schuldner, und mein Gl¸ck ist, daï¬ man mein Versprechen nicht mehr achtete, als es wert war, und daï¬ niemand mich jemals deshalb gemahnt hat.”
“Sein Sie nicht ungerecht gegen sich selbst”, versetzte Frau Melina; “wenn niemand erkennt, was Sie f¸r uns getan hatten, so werde ich es nicht verkennen: denn unser ganzer Zustand wâ°re vËllig anders, wenn wir Sie nicht besessen hâ°tten. Geht es doch unsern Vorsâ°tzen wie unsern W¸nschen. Sie sehen sich gar nicht mehr â°hnlich, wenn sie ausgef¸hrt, wenn sie erf¸llt sind, und wir glauben nichts getan, nichts erlangt zu haben.”
“Sie werden”, versetzte Wilhelm, “durch Ihre freundschaftliche Auslegung mein Gewissen nicht beruhigen, und ich werde mir immer als Ihr Schuldner vorkommen.”
“Es ist auch wohl mËglich, daï¬ Sie es sind”, versetzte Madame Melina, “nur nicht auf die Art, wie Sie es denken. Wir rechnen uns zur Schande, ein Versprechen nicht zu erf¸llen, das wir mit dem Munde getan haben. Oh, mein Freund, ein guter Mensch verspricht durch seine Gegenwart nur immer zuviel! Das Vertrauen, das er hervorlockt, die Neigung, die er einflËï¬t, die Hoffnungen, die er erregt, sind unendlich; er wird und bleibt ein Schuldner, ohne es zu wissen. Leben Sie wohl! Wenn unsere â°uï¬eren Umstâ°nde sich unter Ihrer Leitung recht gl¸cklich hergestellt haben, so entsteht in meinem Innern durch Ihren Abschied eine L¸cke, die sich so leicht nicht wieder ausf¸llen wird.”
Wilhelm schrieb vor seiner Abreise aus der Stadt noch einen weitlâ°ufigen Brief an Wernern. Sie hatten zwar einige Briefe gewechselt, aber weil sie nicht einig werden konnten, hËrten sie zuletzt auf zu schreiben. Nun hatte sich Wilhelm wieder genâ°hert, er war im Begriff, dasjenige zu tun, was jener so sehr w¸nschte, er konnte sagen: “Ich verlasse das Theater und verbinde mich mit Mâ°nnern, deren Umgang mich in jedem Sinne zu einer reinen und sichern Tâ°tigkeit f¸hren muï¬.” Er erkundigte sich nach seinem VermËgen, und es schien ihm nunmehr sonderbar, daï¬ er so lange sich nicht darum bek¸mmert hatte. Er wuï¬te nicht, daï¬ es die Art aller der Menschen sei, denen an ihrer innern Bildung viel gelegen ist, daï¬ sie die â°uï¬eren Verhâ°ltnisse ganz und gar vernachlâ°ssigen. Wilhelm hatte sich in diesem Falle befunden; er schien nunmehr zum erstenmal zu merken, daï¬ er â°uï¬erer H¸lfsmittel bed¸rfe, um nachhaltig zu wirken. Er reiste fort mit einem ganz andern Sinn als das erstemal; die Aussichten, die sich ihm zeigten, waren reizend, und er hoffte auf seinem Wege etwas Frohes zu erleben.
VII. Buch, 9. Kapitel
Neuntes Kapitel
Als er nach Lotharios Gut zur¸ckkam, fand er eine groï¬e Verâ°nderung. Jarno kam ihm entgegen mit der Nachricht, daï¬ der Oheim gestorben, daï¬ Lothario hingegangen sei, die hinterlassenen G¸ter in Besitz zu nehmen. “Sie kommen eben zur rechten Zeit”, sagte er, “um mir und dem Abbe beizustehn. Lothario hat uns den Handel um wichtige G¸ter in unserer Nachbarschaft aufgetragen; es war schon lange vorbereitet, und nun finden wir Geld und Kredit eben zur rechten Stunde. Das einzige war dabei bedenklich, daï¬ ein auswâ°rtiges Handelshaus auch schon auf dieselben G¸ter Absicht hatte; nun sind wir kurz und gut entschlossen, mit jenem gemeine Sache zu machen, denn sonst hâ°tten wir uns ohne Not und Vernunft hinaufgetrieben. Wir haben, so scheint es, mit einem klugen Manne zu tun. Nun machen wir Kalk¸ls und Anschlâ°ge; auch muï¬ Ëkonomisch ¸berlegt werden, wie wir die G¸ter teilen kËnnen, so daï¬ jeder ein schËnes Besitztum erhâ°lt.” Es wurden Wilhelmen die Papiere vorgelegt, man besah die Felder, Wiesen, SchlËsser, und obgleich Jarno und der Abbe die Sache sehr gut zu verstehen schienen, so w¸nschte Wilhelm doch, daï¬ Frâ°ulein Therese von der Gesellschaft sein mËchte.
Sie brachten mehrere Tage mit diesen Arbeiten zu, und Wilhelm hatte kaum Zeit, seine Abenteuer und seine zweifelhafte Vaterschaft den Freunden zu erzâ°hlen, die eine ihm so wichtige Begebenheit gleichg¸ltig und leichtsinnig behandelten.
Er hatte bemerkt, daï¬ sie manchmal in vertrauten Gesprâ°chen, bei Tische und auf Spaziergâ°ngen, auf einmal innehielten, ihren Worten eine andere Wendung gaben und dadurch wenigstens anzeigten, daï¬ sie unter sich manches abzutun hatten, das ihm verborgen sei. Er erinnerte sich an das, was Lydie gesagt hatte, und glaubte um so mehr daran, als eine ganze Seite des Schlosses vor ihm immer unzugâ°nglich gewesen war. Zu gewissen Galerien und besonders zu dem alten Turm, den er von auï¬en recht gut kannte, hatte er bisher vergebens Weg und Eingang gesucht.
Eines Abends sagte Jarno zu ihm: “Wir kËnnen Sie nun so sicher als den Unsern ansehen, daï¬ es unbillig wâ°re, wenn wir Sie nicht tiefer in unsere Geheimnisse einf¸hrten. Es ist gut, daï¬ der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daï¬ er sich viele Vorz¸ge zu erwerben denke, daï¬ er alles mËglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer grËï¬ern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmâ°ï¬igen Tâ°tigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern. Sie sollen bald erfahren, welch eine kleine Welt sich in Ihrer Nâ°he befindet und wie gut Sie in dieser kleinen Welt gekannt sind; morgen fr¸h vor Sonnenaufgang sein Sie angezogen und bereit.”
Jarno kam zur bestimmten Stunde und f¸hrte ihn durch bekannte und unbekannte Zimmer des Schlosses, dann durch einige Galerien, und sie gelangten endlich vor eine groï¬e, alte T¸re, die stark mit Eisen beschlagen war. Jarno pochte, die T¸re tat sich ein wenig auf, so daï¬ eben ein Mensch hineinschl¸pfen konnte. Jarno schob Wilhelmen hinein, ohne ihm zu folgen. Dieser fand sich in einem dunkeln und engen Behâ°ltnisse, es war finster um ihn, und als er einen Schritt vorwâ°rts gehen wollte, stieï¬ er schon wider. Eine nicht ganz unbekannte Stimme rief ihm zu: “Tritt herein!”, und nun bemerkte er erst, daï¬ die Seiten des Raums, in dem er sich befand, nur mit Teppichen behangen waren, durch welche ein schwaches Licht hindurchschimmerte. “Tritt herein!” rief es nochmals; er hob den Teppich auf und trat hinein.
Der Saal, in dem er sich nunmehr befand, schien ehemals eine Kapelle gewesen zu sein; anstatt des Altars stand ein groï¬er Tisch auf einigen Stufen, mit einem gr¸nen Teppich behangen, dar¸ber schien ein zugezogener Vorhang ein Gemâ°lde zu bedecken; an den Seiten waren schËn gearbeitete Schrâ°nke, mit feinen Drahtgittern verschlossen, wie man sie in Bibliotheken zu sehen pflegt, nur sah er anstatt der B¸cher viele Rollen aufgestellt. Niemand befand sich in dem Saal; die aufgehende Sonne fiel durch die farbigen Fenster Wilhelmen grade entgegen und begr¸ï¬te ihn freundlich.
“Setze dich!” rief eine Stimme, die von dem Altar her zu tËnen schien. Wilhelm setzte sich auf einen kleinen Armstuhl, der wider den Verschlag des Eingangs stand; es war kein anderer Sitz im ganzen Zimmer, er muï¬te sich darein ergeben, ob ihn schon die Morgensonne blendete; der Sessel stand fest, er konnte nur die Hand vor die Augen halten.
Indem erËffnete sich mit einem kleinen Gerâ°usche der Vorhang ¸ber dem Altar und zeigte innerhalb eines Rahmens eine leere, dunkle Ëffnung. Es trat ein Mann hervor in gewËhnlicher Kleidung, der ihn begr¸ï¬te und zu ihm sagte: “Sollten Sie mich nicht wiedererkennen? Sollten Sie unter andern Dingen, die Sie wissen mËchten, nicht auch zu erfahren w¸nschen, wo die Kunstsammlung Ihres Groï¬vaters sich gegenwâ°rtig befindet? Erinnern Sie sich des Gemâ°ldes nicht mehr, das Ihnen so reizend war? Wo mag der kranke KËnigssohn wohl jetzo schmachten?” Wilhelm erkannte leicht den Fremden, der in jener bedeutenden Nacht sich mit ihm im Gasthause unterhalten hatte. “Vielleicht”, fuhr dieser fort, “kËnnen wir jetzt ¸ber Schicksal und Charakter eher einig werden.”
Wilhelm wollte eben antworten, als der Vorhang sich wieder rasch zusammenzog. “Sonderbar!” sagte er bei sich selbst, “sollten zufâ°llige Ereignisse einen Zusammenhang haben? Und das, was wir Schicksal nennen, sollte es bloï¬ Zufall sein? Wo mag sich meines Groï¬vaters Sammlung befinden? Und warum erinnert man mich in diesen feierlichen Augenblicken daran?”
Er hatte nicht Zeit, weiterzudenken, denn der Vorhang Ëffnete sich wieder, und ein Mann stand vor seinen Augen, den er sogleich f¸r den Landgeistlichen erkannte, der mit ihm und der lustigen Gesellschaft jene Wasserfahrt gemacht hatte; er glich dem Abbe, ob er gleich nicht dieselbe Person schien. Mit einem heitern Gesichte und einem w¸rdigen Ausdruck fing der Mann an: “Nicht vor Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschl¸rfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, hâ°lt lange damit haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Gl¸cks, aber wer ihn ganz erschËpft, der muï¬ ihn kennenlernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.” Der Vorhang schloï¬ sich abermals, und Wilhelm hatte Zeit nachzudenken. “Von welchem Irrtum kann der Mann sprechen?” sagte er zu sich selbst, “als von dem, der mich mein ganzes Leben verfolgt hat, daï¬ ich da Bildung suchte, wo keine zu finden war, daï¬ ich mir einbildete, ein Talent erwerben zu kËnnen, zu dem ich nicht die geringste Anlage hatte.”
Der Vorhang riï¬ sich schneller auf, ein Offizier trat hervor und sagte nur im Vorbeigehen: “Lernen Sie die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen haben kann!” Der Vorhang schloï¬ sich, und Wilhelm brauchte sich nicht lange zu besinnen, um diesen Offizier f¸r denjenigen zu erkennen, der ihn in des Grafen Park umarmt hatte und schuld gewesen war, daï¬ er Jarno f¸r einen Werber hielt. Wie dieser hierhergekommen und wer er sei, war Wilhelmen vËllig ein Râ°tsel. “Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten und wuï¬ten, was darauf zu tun sei, warum f¸hrten sie dich nicht strenger? warum nicht ernster? warum beg¸nstigten sie deine Spiele, anstatt dich davon wegzuf¸hren?”
“Rechte nicht mit uns!” rief eine Stimme. “Du bist gerettet und auf dem Wege zum Ziel. Du wirst keine deiner Torheiten bereuen und keine zur¸ckw¸nschen, kein gl¸cklicheres Schicksal kann einem Menschen werden.” Der Vorhang riï¬ sich voneinander, und in voller R¸stung stand der alte KËnig von Dâ°nemark in dem Raume. “Ich bin der Geist deines Vaters”, sagte das Bildnis, “und scheide getrost, da meine W¸nsche f¸r dich, mehr als ich sie selbst begriff, erf¸llt sind. Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene f¸hren gerade Wege von einem Ort zum andern. Lebe wohl, und gedenke mein, wenn du genieï¬est, was ich dir vorbereitet habe.”
Wilhelm war â°uï¬erst betroffen, er glaubte die Stimme seines Vaters zu hËren, und doch war sie es auch nicht; er befand sich durch die Gegenwart und die Erinnerung in der verworrensten Lage.
Nicht lange konnte er nachdenken, als der Abbe hervortrat und sich hinter den gr¸nen Tisch stellte. “Treten Sie herbei!” rief er seinem verwunderten Freunde zu. Er trat herbei und stieg die Stufen hinan. Auf dem Teppiche lag eine kleine Rolle. “Hier ist Ihr Lehrbrief”, sagte der Abbe, “beherzigen Sie ihn, er ist von wichtigem Inhalt.” Wilhelm nahm ihn auf, Ëffnete ihn und las:
Lehrbrief
Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit fl¸chtig. Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem. Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er lernt spielend, der Ernst ¸berrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschâ°tzt. Die HËhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge, wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der K¸nstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet viel; wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder spâ°t. Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft, ihre Lehre ist wie gebackenes Brot schmackhaft und sâ°ttigend f¸r einen Tag; aber Mehl kann man nicht sâ°en, und die Saatfr¸chte sollen nicht vermahlen werden. Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das HËchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. Niemand weiï¬, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewuï¬t. Wer bloï¬ mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder ein Pfuscher. Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwâ°tz hâ°lt den Sch¸ler zur¸ck, und ihre beharrliche Mittelmâ°ï¬igkeit â°ngstigt die Besten. Des echten K¸nstlers Lehre schlieï¬t den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Der echte Sch¸ler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nâ°hert sich dem Meister.
“Genug!” rief der Abbe, “das ¸brige zu seiner Zeit. Jetzt sehen Sie sich in jenen Schrâ°nken um!”
Wilhelm ging hin und las die Aufschriften der Rollen. Er fand mit Verwunderung Lotharios Lehrjahre, Jarnos Lehrjahre und seine eignen Lehrjahre daselbst aufgestellt, unter vielen andern, deren Namen ihm unbekannt waren.
“Darf ich hoffen, in diese Rollen einen Blick zu werfen?”
“Es ist f¸r Sie nunmehr in diesem Zimmer nichts verschlossen.”
“Darf ich eine Frage tun?”
“Ohne Bedenken! und Sie kËnnen entscheidende Antwort erwarten, wenn es eine Angelegenheit betrifft, die Ihnen zunâ°chst am Herzen liegt und am Herzen liegen soll.”
“Gut denn! Ihr sonderbaren und weisen Menschen, deren Blick in so viel Geheimnisse dringt, kËnnt ihr mir sagen, ob Felix wirklich mein Sohn sei?”
“Heil Ihnen ¸ber diese Frage!” rief der Abbe, indem er vor Freuden die Hâ°nde zusammenschlug, “Felix ist Ihr Sohn! Bei dem Heiligsten, was unter uns verborgen liegt, schwËr ich Ihnen: Felix ist Ihr Sohn! und der Gesinnung nach war seine abgeschiedne Mutter Ihrer nicht unwert. Empfangen Sie das liebliche Kind aus unserer Hand, kehren Sie sich um, und wagen Sie es, gl¸cklich zu sein!”
Wilhelm hËrte ein Gerâ°usch hinter sich, er kehrte sich um und sah ein Kindergesicht schalkhaft durch die Teppiche des Eingangs hervorgucken: es war Felix. Der Knabe versteckte sich sogleich scherzend, als er gesehen wurde. “Komm hervor!” rief der Abbe. Er kam gelaufen, sein Vater st¸rzte ihm entgegen, nahm ihn in die Arme und dr¸ckte ihn an sein Herz. “Ja, ich f¸hl’s”, rief er aus, “du bist mein! Welche Gabe des Himmels habe ich meinen Freunden zu verdanken! Wo kommst du her, mein Kind, gerade in diesem Augenblick?”
“Fragen Sie nicht”, sagte der Abbe. “Heil dir, junger Mann! deine Lehrjahre sind vor¸ber; die Natur hat dich losgesprochen.”