Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 7 by Johann Wolfgang von Goethe

This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 7 Johann Wolfgang von Goethe Siebentes Buch Erstes Kapitel Der Fr¸hling war in seiner vˆlligen Herrlichkeit erschienen; ein fr¸hzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging st¸rmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem
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  • 1795-1796
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This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.

Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 7

Johann Wolfgang von Goethe

Siebentes Buch

Erstes Kapitel

Der Fr¸hling war in seiner vˆlligen Herrlichkeit erschienen; ein fr¸hzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging st¸rmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. “Ach!” sagte er zu sich selbst, “erscheinen uns denn eben die schˆnsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? Und m¸ssen Tropfen fallen, wenn wir entz¸ckt werden sollen? Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn unger¸hrt ansehen, und was kann uns r¸hren als die stille Hoffnung, dafl die angeborne Neigung unsers Herzens nicht ohne Gegenstand bleiben werde? Uns r¸hrt die Erz‰hlung jeder guten Tat, uns r¸hrt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; wir f¸hlen dabei, dafl wir nicht ganz in der Fremde sind, wir w‰hnen einer Heimat n‰her zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt.”

Inzwischen hatte ihn ein Fuflg‰nger eingeholt, der sich zu ihm gesellte, mit starkem Schritte neben dem Pferde blieb und nach einigen gleichg¸ltigen Reden zu dem Reiter sagte: “Wenn ich mich nicht irre, so mufl ich Sie irgendwo schon gesehen haben.”

“Ich erinnere mich Ihrer auch”, versetzte Wilhelm; “haben wir nicht zusammen eine lustige Wasserfahrt gemacht?”–“Ganz recht!” erwiderte der andere.

Wilhelm betrachtete ihn genauer und sagte nach einigem Stillschweigen: “Ich weifl nicht, was f¸r eine Ver‰nderung mit Ihnen vorgegangen sein mag; damals hielt ich Sie f¸r einen lutherischen Landgeistlichen, und jetzt sehen Sie mir eher einem katholischen ‰hnlich.”

“Heute betriegen Sie sich wenigstens nicht”, sagte der andere, indem er den Hut abnahm und die Tonsur sehen liefl. “Wo ist denn Ihre Gesellschaft hingekommen? Sind Sie noch lange bei ihr geblieben?”

“L‰nger als billig: denn leider wenn ich an jene Zeit zur¸ckdenke, die ich mit ihr zugebracht habe, so glaube ich in ein unendliches Leere zu sehen; es ist mir nichts davon ¸briggeblieben.”

“Darin irren Sie sich; alles, was uns begegnet, l‰flt Spuren zur¸ck, alles tr‰gt unmerklich zu unserer Bildung bei; doch es ist gef‰hrlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen. Wir werden dabei entweder stolz und l‰ssig oder niedergeschlagen und kleinm¸tig, und eins ist f¸r die Folge so hinderlich als das andere. Das Sicherste bleibt immer, nur das N‰chste zu tun, was vor uns liegt, und das ist jetzt”, fuhr er mit einem L‰cheln fort, “dafl wir eilen, ins Quartier zu kommen.”

Wilhelm fragte, wie weit noch der Weg nach Lotharios Gut sei, der andere versetzte, dafl es hinter dem Berge liege. “Vielleicht treffe ich Sie dort an”, fuhr er fort, “ich habe nur in der Nachbarschaft noch etwas zu besorgen. Leben Sie solange wohl!” Und mit diesen Worten ging er einen steilen Pfad, der schneller ¸ber den Berg hin¸berzuf¸hren schien.

“Ja wohl hat er recht!” sagte Wilhelm vor sich, indem er weiterritt. “An das N‰chste soll man denken, und f¸r mich ist wohl jetzt nichts N‰heres als der traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. Lafl sehen, ob ich die Rede noch ganz im Ged‰chtnis habe, die den grausamen Freund besch‰men soll.”

Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen; es fehlte ihm auch nicht eine Silbe, und je mehr ihm sein Ged‰chtnis zustatten kam, desto mehr wuchs seine Leidenschaft und sein Mut. Aureliens Leiden und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegenw‰rtig.

“Geist meiner Freundin!” rief er aus, “umschwebe mich! und wenn es dir mˆglich ist, so gib mir ein Zeichen, dafl du bes‰nftigt, dafl du versˆhnt seist!”

Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die Hˆhe des Berges gekommen und sah an dessen Abhang an der andern Seite ein wunderliches Geb‰ude liegen, das er sogleich f¸r Lotharios Wohnung hielt. Ein altes, unregelm‰fliges Schlofl mit einigen T¸rmen und Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch unregelm‰fliger waren die neuen Angeb‰ude, die, teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgeb‰ude durch Galerien und bedeckte G‰nge zusammenhingen. Alle ‰uflere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bed¸rfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von k¸nstlichen G‰rten und groflen Alleen. Ein Gem¸se- und Baumgarten drang bis an die H‰user hinan, und kleine nutzbare G‰rten waren selbst in den Zwischenr‰umen angelegt. Ein heiteres Dˆrfchen lag in einiger Entfernung; G‰rten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande.

In seine eignen leidenschaftlichen Betrachtungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne viel ¸ber das, was er sah, nachzudenken, stellte sein Pferd in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem Schlosse zu.

Ein alter Bedienter empfing ihn an der T¸re und berichtete ihm mit vieler Gutm¸tigkeit, dafl er heute wohl schwerlich vor den Herren kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon einige seiner Gesch‰ftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, und endlich muflte der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zur¸ck und f¸hrte Wilhelmen in einen groflen, alten Saal. Dort ersuchte er ihn, sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeitlang ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab und warf einige Blicke auf die Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. Sooft er etwas rauschen hˆrte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit W¸rde zu empfangen, ihm erst den Brief zu ¸berreichen und ihn dann mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen.

Mehrmals war er schon get‰uscht worden und fing wirklich an, verdriefllich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitent¸r ein wohlgebildeter Mann in Stiefeln und einem schlichten ¸berrocke heraustrat. “Was bringen Sie mir Gutes?” sagte er mit freundlicher Stimme zu Wilhelmen, “verzeihen Sie, dafl ich Sie habe warten lassen.”

Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, ¸berreichte ihm das Blatt Aureliens und sagte: “Ich bringe die letzten Worte einer Freundin, die Sie nicht ohne R¸hrung lesen werden.”

Lothario nahm den Brief und ging sogleich in das Zimmer zur¸ck, wo er, wie Wilhelm recht gut durch die offne T¸re sehen konnte, erst noch einige Briefe siegelte und ¸berschrieb, dann Aureliens Brief erˆffnete und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und Wilhelm, obgleich seinem Gef¸hl nach die pathetische Rede zu dem nat¸rlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch zusammen, ging auf die Schwelle los und wollte seinen Spruch beginnen, als eine Tapetent¸re des Kabinetts sich ˆffnete und der Geistliche hereintrat.

“Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt”, rief Lothario ihm entgegen; “verzeihn Sie mir”, fuhr er fort, indem er sich gegen Wilhelmen wandte, “wenn ich in diesem Augenblicke nicht gestimmt bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute nacht bei uns! Und Sie sorgen f¸r unsern Gast, Abbe, dafl ihm nichts abgeht.”

Mit diesen Worten machte er eine Verbeugung gegen Wilhelmen, der Geistliche nahm unsern Freund bei der Hand, der nicht ohne Widerstreben folgte.

Stillschweigend gingen sie durch wunderliche G‰nge und kamen in ein gar artiges Zimmer. Der Geistliche f¸hrte ihn ein und verliefl ihn ohne weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der sich bei Wilhelmen als seine Bedienung ank¸ndigte und das Abendessen brachte, bei der Aufwartung von der Ordnung des Hauses, wie man zu fr¸hst¸cken, zu speisen, zu arbeiten und sich zu vergn¸gen pflegte, manches erz‰hlte und besonders zu Lotharios Ruhm gar vieles vorbrachte.

So angenehm auch der Knabe war, so suchte ihn Wilhelm doch bald loszuwerden. Er w¸nschte allein zu sein, denn er f¸hlte sich in seiner Lage ‰uflerst gedr¸ckt und beklommen. Er machte sich Vorw¸rfe, seinen Vorsatz so schlecht vollf¸hrt, seinen Auftrag nur halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er sich vor, den andern Morgen das Vers‰umte nachzuholen, bald ward er gewahr, dafl Lotharios Gegenwart ihn zu ganz andern Gef¸hlen stimmte. Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wuflte sich in seine Lage nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und ˆffnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen brachte er zugleich den Schleier des Geistes hervor, den Mignon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte seine traurige Stimmung. “”Flieh! J¸ngling, flieh!”” rief er aus, “was soll das mystische Wort heiflen? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser h‰tte der Geist mir zugerufen: “Kehre in dich selbst zur¸ck!”” Er betrachtete die englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichg¸ltig sah er ¸ber die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein ungl¸cklich strandendes Schiff vorgestellt: ein Vater mit seinen schˆnen Tˆchtern erwartete den Tod von den hereindringenden Wellen. Das eine Frauenzimmer schien ‰hnlichkeit mit jener Amazone zu haben; ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er f¸hlte ein unwiderstehliches Bed¸rfnis, seinem Herzen Luft zu machen, Tr‰nen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf ¸berw‰ltigte.

Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Garten, den er als Knabe ˆfters besucht hatte, und sah mit Vergn¸gen die bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Mariane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Miflverh‰ltnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hiefl er den Sohn zwei St¸hle aus dem Gartenhause holen, nahm Marianen bei der Hand und f¸hrte sie nach einer Laube.

Wilhelm eilte nach dem Gartensaale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen; er ging, sie anzureden, allein sie blieb unverwandt, und ob er sich gleich neben sie stellte, konnte er doch ihr Gesicht nicht sehen. Er blickte zum Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen, von denen er einige sogleich erkannte. Frau Melina safl unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt; Laertes stand neben ihr und z‰hlte Gold aus einer Hand in die andere. Mignon und Felix lagen im Grase, jene ausgestreckt auf dem R¸cken, dieser auf dem Gesichte. Philine trat hervor und klatschte ¸ber den Kindern in die H‰nde, Mignon blieb unbeweglich, Felix sprang auf und floh vor Philinen. Erst lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolgte, dann schrie er ‰ngstlich, als der Harfenspieler mit groflen, langsamen Schritten ihm nachging. Das Kind lief grade auf einen Teich los; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu sp‰t, das Kind lag im Wasser! Wilhelm stand wie eingewurzelt. Nun sah er die schˆne Amazone an der andern Seite des Teichs, sie streckte ihre rechte Hand gegen das Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind durchstrich das Wasser in gerader Richtung auf den Finger zu und folgte ihr nach, wie sie ging, endlich reichte sie ihm ihre Hand und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war indessen n‰her gekommen, das Kind brannte ¸ber und ¸ber, und es fielen feurige Tropfen von ihm herab. Wilhelm war noch besorgter, doch die Amazone nahm schnell einen weiflen Schleier vom Haupte und bedeckte das Kind damit. Das Feuer war sogleich gelˆscht. Als sie den Schleier aufhob, sprangen zwei Knaben hervor, die zusammen mutwillig hin und her spielten, als Wilhelm mit der Amazone Hand in Hand durch den Garten ging und in der Entfernung seinen Vater und Marianen in einer Allee spazieren sah, die mit hohen B‰umen den ganzen Garten zu umgeben schien. Er richtete seinen Weg auf beide zu und machte mit seiner schˆnen Begleiterin den Durchschnitt des Gartens, als auf einmal der blonde Friedrich ihnen in den Weg trat und sie mit groflem Gel‰chter und allerlei Possen aufhielt. Sie wollten demungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu; der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Fluge durch die Allee hinschweben. Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu H¸lfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zur¸ck. Wie gern liefl er sich halten! Mit dieser gemischten Empfindung wachte er auf und fand sein Zimmer schon von der hellen Sonne erleuchtet.

VII. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel

Der Knabe lud Wilhelmen zum Fr¸hst¸ck ein; dieser fand den Abbe schon im Saale; Lothario, hiefl es, sei ausgeritten; der Abbe war nicht sehr gespr‰chig und schien eher nachdenklich zu sein; er fragte nach Aureliens Tode und hˆrte mit Teilnahme der Erz‰hlung Wilhelms zu. “Ach!” rief er aus, “wem es lebhaft und gegenw‰rtig ist, welche unendliche Operationen Natur und Kunst machen m¸ssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst soviel als mˆglich an der Bildung seiner Mitbr¸der teilnimmt, der mˆchte verzweifeln, wenn er sieht, wie freventlich sich oft der Mensch zerstˆrt und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld, zerstˆrt zu werden. Wenn ich das bedenke, so scheint mir das Leben selbst eine so zuf‰llige Gabe, dafl ich jeden loben mˆchte, der sie nicht hˆher als billig sch‰tzt.”

Er hatte kaum ausgesprochen, als die T¸re mit Heftigkeit sich aufrifl, ein junges Frauenzimmer hereinst¸rzte und den alten Bedienten, der sich ihr in den Weg stellte, zur¸ckstiefl. Sie eilte gerade auf den Abbe zu und konnte, indem sie ihn beim Arm faflte, vor Weinen und Schluchzen kaum die wenigen Worte hervorbringen: “Wo ist er? Wo habt ihr ihn? Es ist eine entsetzliche Verr‰terei! Gesteht nur! Ich weifl, was vorgeht! Ich will ihm nach! Ich will wissen, wo er ist.”

“Beruhigen Sie sich, mein Kind”, sagte der Abbe mit angenommener Gelassenheit, “kommen Sie auf Ihr Zimmer, Sie sollen alles erfahren, nur m¸ssen Sie hˆren kˆnnen, wenn ich Ihnen erz‰hlen soll.” Er bot ihr die Hand an im Sinne, sie wegzuf¸hren. “Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen”, rief sie aus, “ich hasse die W‰nde, zwischen denen ihr mich schon so lange gefangenhaltet! Und doch habe ich alles erfahren, der Obrist hat ihn herausgefordert, er ist hinausgeritten, seinen Gegner aufzusuchen, und vielleicht jetzt eben in diesem Augenblicke–es war mir etlichemal, als hˆrte ich schieflen. Lassen Sie anspannen und fahren Sie mit mir, oder ich f¸lle das Haus, das ganze Dorf mit meinem Geschrei.”

Sie eilte unter den heftigsten Tr‰nen nach dem Fenster, der Abbe hielt sie zur¸ck und suchte vergebens, sie zu bes‰nftigen.

Man hˆrte einen Wagen fahren, sie rifl das Fenster auf: “Er ist tot!” rief sie, “da bringen sie ihn.”–“Er steigt aus!” sagte der Abbe. “Sie sehen, er lebt.”–“Er ist verwundet”, versetzte sie heftig, “sonst k‰m er zu Pferde! Sie f¸hren ihn! Er ist gef‰hrlich verwundet!” Sie rannte zur T¸re hinaus und die Treppe hinunter, der Abbe eilte ihr nach, und Wilhelm folgte ihnen; er sah, wie die Schˆne ihrem heraufkommenden Geliebten begegnete.

Lothario lehnte sich auf seinen Begleiter, welchen Wilhelm sogleich f¸r seinen alten Gˆnner Jarno erkannte, sprach dem trostlosen Frauenzimmer gar liebreich und freundlich zu, und indem er sich auch auf sie st¸tzte, kam er die Treppe langsam herauf; er gr¸flte Wilhelmen und ward in sein Kabinett gef¸hrt.

Nicht lange darauf kam Jarno wieder heraus und trat zu Wilhelmen: “Sie sind, wie es scheint”, sagte er, “pr‰destiniert, ¸berall Schauspieler und Theater zu finden; wir sind eben in einem Drama begriffen, das nicht ganz lustig ist.”

“Ich freue mich”, versetzte Wilhelm, “Sie in diesem sonderbaren Augenblicke wiederzufinden; ich bin verwundert, erschrocken, und Ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und gefaflt. Sagen Sie mir, hat es Gefahr? Ist der Baron schwer verwundet?”–“Ich glaube nicht”, versetzte Jarno.

Nach einiger Zeit trat der junge Wundarzt aus dem Zimmer. “Nun, was sagen Sie?” rief ihm Jarno entgegen. “Dafl es sehr gef‰hrlich steht”, versetzte dieser und steckte einige Instrumente in seine lederne Tasche zusammen.

Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunterhing, er glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren zeichneten dieses Band vor allen B‰ndern der Welt aus. Wilhelm war ¸berzeugt, die Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme durch sein ganzes Wesen.

“Wo haben Sie die Tasche her?” rief er aus. “Wem gehˆrte sie vor Ihnen? Ich bitte, sagen Sie mir’s.”–“Ich habe Sie in einer Auktion gekauft”, versetzte jener; “was k¸mmert’s mich, wem sie angehˆrte?” Mit diesen Worten entfernte er sich, und Jarno sagte: “Wenn diesem jungen Menschen nur ein wahres Wort aus dem Munde ginge.”–“So hat er also diese Tasche nicht erstanden?” versetzte Wilhelm. “Sowenig, als es Gefahr mit Lothario hat”, antwortete Jarno.

Wilhelm stand in ein vielfaches Nachdenken versenkt, als Jarno ihn fragte, wie es ihm zeither gegangen sei. Wilhelm erz‰hlte seine Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und seiner Botschaft gesprochen hatte, rief jener aus: “Es ist doch sonderbar, sehr sonderbar!”

Der Abbe trat aus dem Zimmer, winkte Jarno zu, an seiner Statt hineinzugehen, und sagte zu Wilhelmen: “Der Baron l‰flt Sie ersuchen, hierzubleiben, einige Tage die Gesellschaft zu vermehren und zu seiner Unterhaltung unter diesen Umst‰nden beizutragen. Haben Sie nˆtig, etwas an die Ihrigen zu bestellen, so soll Ihr Brief gleich besorgt werden, und damit Sie diese wunderbare Begebenheit verstehen, von der Sie Augenzeuge sind, mufl ich Ihnen erz‰hlen, was eigentlich kein Geheimnis ist. Der Baron hatte ein kleines Abenteuer mit einer Dame, das mehr Aufsehen machte, als billig war, weil sie den Triumph, ihn einer Nebenbuhlerin entrissen zu haben, allzu lebhaft genieflen wollte. Leider fand er nach einiger Zeit bei ihr nicht die n‰mliche Unterhaltung, er vermied sie; allein bei ihrer heftigen Gem¸tsart war es ihr unmˆglich, ihr Schicksal mit gesetztem Mute zu tragen. Bei einem Balle gab es einen ˆffentlichen Bruch, sie glaubte sich ‰uflerst beleidigt und w¸nschte ger‰cht zu werden; kein Ritter fand sich, der sich ihrer angenommen h‰tte, bis endlich ihr Mann, von dem sie sich lange getrennt hatte, die Sache erfuhr und sich ihrer annahm, den Baron herausforderte und heute verwundete; doch ist der Obrist, wie ich hˆre, noch schlimmer dabei gefahren.”

Von diesem Augenblicke an ward unser Freund im Hause, als gehˆre er zur Familie, behandelt.

VII. Buch, 3. Kapitel

Drittes Kapitel

Man hatte einigemal dem Kranken vorgelesen; Wilhelm leistete diesen kleinen Dienst mit Freuden. Lydie kam nicht vom Bette hinweg, ihre Sorgfalt f¸r den Verwundeten verschlang alle ihre ¸brige Aufmerksamkeit, aber heute schien auch Lothario zerstreut, ja er bat, dafl man nicht weiterlesen mˆchte.

“Ich f¸hle heute so lebhaft”, sagte er, “wie tˆricht der Mensch seine Zeit verstreichen l‰flt! Wie manches habe ich mir vorgenommen, wie manches durchdacht, und wie zaudert man nicht bei seinen besten Vors‰tzen! Ich habe die Vorschl‰ge ¸ber die Ver‰nderungen gelesen, die ich auf meinen G¸tern machen will, und ich kann sagen, ich freue mich vorz¸glich dieserwegen, dafl die Kugel keinen gef‰hrlichern Weg genommen hat.”

Lydie sah ihn z‰rtlich, ja mit Tr‰nen in den Augen an, als wollte sie fragen, ob denn sie, ob seine Freunde nicht auch Anteil an der Lebensfreude fordern kˆnnten. Jarno dagegen versetzte: “Ver‰nderungen, wie Sie vorhaben, werden billig erst von allen Seiten ¸berlegt, bis man sich dazu entschlieflt.”

“Lange ¸berlegungen”, versetzte Lothario, “zeigen gewˆhnlich, dafl man den Punkt nicht im Auge hat, von dem die Rede ist, ¸bereilte Handlungen, dafl man ihn gar nicht kennt. Ich ¸bersehe sehr deutlich, dafl ich in vielen St¸cken bei der Wirtschaft meiner G¸ter die Dienste meiner Landleute nicht entbehren kann und dafl ich auf gewissen Rechten strack und streng halten mufl; ich sehe aber auch, dafl andere Befugnisse mir zwar vorteilhaft, aber nicht ganz unentbehrlich sind, so dafl ich davon meinen Leuten auch was gˆnnen kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich nicht meine G¸ter weit besser als mein Vater? Werde ich meine Eink¸nfte nicht noch hˆher treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vorteil allein genieflen? Soll ich dem, der mit mir und f¸r mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vorteile gˆnnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorr¸ckende Zeit darbietet?”

“Der Mensch ist nun einmal so!” rief Jarno, “und ich tadle mich nicht, wenn ich mich auch in dieser Eigenheit ertappe; der Mensch begehrt, alles an sich zu reiflen, um nur nach Belieben damit schalten und walten zu kˆnnen; das Geld, das er nicht selbst ausgibt, scheint ihm selten wohl angewendet.”

“O ja!” versetzte Lothario, “wir kˆnnten manches vom Kapital entbehren, wenn wir mit den Interessen weniger willk¸rlich umgingen.”

“Das einzige, was ich zu erinnern habe”, sagte Jarno, “und warum ich nicht raten kann, dafl Sie eben jetzt diese Ver‰nderungen machen, wodurch Sie wenigstens im Augenblicke verlieren, ist, dafl Sie selbst noch Schulden haben, deren Abzahlung Sie einengt. Ich w¸rde raten, Ihren Plan aufzuschieben, bis Sie vˆllig im reinen w‰ren.”

“Und indessen einer Kugel oder einem Dachziegel zu ¸berlassen, ob er die Resultate meines Lebens und meiner T‰tigkeit auf immer vernichten wollte! Oh, mein Freund!” fuhr Lothario fort, “das ist ein Hauptfehler gebildeter Menschen, dafl sie alles an eine Idee, wenig oder nichts an einen Gegenstand wenden mˆgen. Wozu habe ich Schulden gemacht? Warum habe ich mich mit meinem Oheim entzweit? meine Geschwister so lange sich selbst ¸berlassen? als um einer Idee willen. In Amerika glaubte ich zu wirken, ¸ber dem Meere glaubte ich n¸tzlich und notwendig zu sein; war eine Handlung nicht mit tausend Gefahren umgeben, so schien sie mir nicht bedeutend, nicht w¸rdig. Wie anders seh ich jetzt die Dinge, und wie ist mir das N‰chste so wert, so teuer geworden.”

“Ich erinnere mich wohl des Briefes”, versetzte Jarno, “den ich noch ¸ber das Meer erhielt. Sie schrieben mir: Ich werde zur¸ckkehren und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen: “Hier oder nirgend ist Amerika!””

“Ja, mein Freund, und ich wiederhole noch immer dasselbe, und doch schelte ich mich zugleich, dafl ich hier nicht so t‰tig wie dort bin. Zu einer gewissen gleichen, fortdauernden Gegenwart brauchen wir nur Verstand, und wir werden auch nur zu Verstand, so dafl wir das Auflerordentliche, was jeder gleichg¸ltige Tag von uns fordert, nicht mehr sehen und, wenn wir es erkennen, doch tausend Entschuldigungen finden, es nicht zu tun. Ein verst‰ndiger Mensch ist viel f¸r sich, aber f¸rs Ganze ist er wenig.”

“Wir wollen”, sagte Jarno, “dem Verstande nicht zu nahe treten und bekennen, dafl das Auflerordentliche, was geschieht, meistens tˆricht ist.”

“Ja, und zwar eben deswegen, weil die Menschen das Auflerordentliche aufler der Ordnung tun. So gibt mein Schwager sein Vermˆgen, insofern er es ver‰uflern kann, der Br¸dergemeinde und glaubt seiner Seele Heil dadurch zu befˆrdern; h‰tte er einen geringen Teil seiner Eink¸nfte aufgeopfert, so h‰tte er viel gl¸ckliche Menschen machen und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen kˆnnen. Selten sind unsere Aufopferungen t‰tig, wir tun gleich Verzicht auf das, was wir weggeben. Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen. Diese Tage, ich gesteh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus ¸berzeugung zu tun, wozu ihn ein ‰ngstlicher Wahn treibt; ich will meine Genesung nicht abwarten. Hier sind die Papiere, sie d¸rfen nur ins reine gebracht werden. Nehmen Sie den Gerichtshalter dazu, unser Gast hilft Ihnen auch, Sie wissen so gut als ich, worauf es ankommt, und ich will hier genesend oder sterbend dabei bleiben und ausrufen: “Hier oder nirgend ist Herrnhut!””

Als Lydie ihren Freund von Sterben reden hˆrte, st¸rzte sie vor seinem Bette nieder, hing an seinen Armen und weinte bitterlich. Der Wundarzt kam herein, Jarno gab Wilhelmen die Papiere und nˆtigte Lydien, sich zu entfernen.

“Um ‘s Himmels willen!” rief Wilhelm, als sie in dem Saal allein waren, “was ist das mit dem Grafen? Welch ein Graf ist das, der sich unter die Br¸dergemeinde begibt?”

“Den Sie sehr wohl kennen”, versetzte Jarno. “Sie sind das Gespenst, das ihn in die Arme der Frˆmmigkeit jagt, Sie sind der Bˆsewicht, der sein artiges Weib in einen Zustand versetzt, in dem sie ertr‰glich findet, ihrem Manne zu folgen.”

“Und sie ist Lotharios Schwester?” rief Wilhelm.

“Nicht anders.”

“Und Lothario weifl–?”

“Alles.”

“O lassen Sie mich fliehen!” rief Wilhelm aus, “wie kann ich vor ihm stehen? Was kann er sagen?”

“Dafl niemand einen Stein gegen den andern aufheben soll und dafl niemand lange Reden komponieren soll, um die Leute zu besch‰men, er m¸flte sie denn vor dem Spiegel halten wollen.”

“Auch das wissen Sie?”

“Wie manches andere”, versetzte Jarno l‰chelnd; “doch diesmal”, fuhr er fort, “werde ich Sie so leicht nicht wie das vorige Mal loslassen, und vor meinem Werbesold haben Sie sich auch nicht mehr zu f¸rchten. Ich bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat h‰tte ich Ihnen diesen Argwohn nicht einflˆflen sollen. Seit der Zeit, dafl ich Sie nicht gesehen habe, hat sich vieles ge‰ndert. Nach dem Tode meines F¸rsten, meines einzigen Freundes und Wohlt‰ters, habe ich mich aus der Welt und aus allen weltlichen Verh‰ltnissen herausgerissen. Ich befˆrderte gern, was vern¸nftig war, verschwieg nicht, wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem bˆsen Maule zu reden. Das Menschenpack f¸rchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich f¸rchten, wenn sie begriffen, was f¸rchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man mufl ihn beiseite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten. Doch es mag hingehen, ich habe zu leben, und von meinem Plane sollen Sie weiter hˆren. Sie sollen teil daran nehmen, wenn Sie mˆgen; aber sagen Sie mir, wie ist es Ihnen ergangen? Ich sehe, ich f¸hle Ihnen an, auch Sie haben sich ver‰ndert. Wie steht’s mit Ihrer alten Grille, etwas Schˆnes und Gutes in Gesellschaft von Zigeunern hervorzubringen?”

“Ich bin gestraft genug!” rief Wilhelm aus, “erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon machen. Wie vˆllig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Gesch‰ft ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff. Nicht allein will jeder der erste, sondern auch der einzige sein, jeder mˆchte gerne alle ¸brigen ausschlieflen und sieht nicht, dafl er mit ihnen zusammen kaum etwas leistet; jeder d¸nkt sich wunderoriginal zu sein und ist unf‰hig, sich in etwas zu finden, was aufler dem Schlendrian ist; dabei eine immerw‰hrende Unruhe nach etwas Neuem. Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegeneinander! Und nur die kleinlichste Eigenliebe, der beschr‰nkteste Eigennutz macht, dafl sie sich miteinander verbinden. Vom wechselseitigen Betragen ist gar die Rede nicht; ein ewiges Mifltrauen wird durch heimliche T¸cke und sch‰ndliche Reden unterhalten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern. Jeder macht Anspruch auf die unbedingteste Achtung, jeder ist empfindlich gegen den mindesten Tadel. Das hat er selbst alles schon besser gewuflt! Und warum hat er denn immer das Gegenteil getan? Immer bed¸rftig und immer ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr f¸rchteten als vor Vernunft und gutem Geschmack und nichts so sehr zu erhalten suchten als das Majest‰tsrecht ihrer persˆnlichen Willk¸r.”

Wilhelm holte Atem, um seine Litanei noch weiter fortzusetzen, als ein unm‰fliges Gel‰chter Jarnos ihn unterbrach. “Die armen Schauspieler!” rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort: “die armen, guten Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund”, fuhr er fort, nachdem er sich einigermaflen wieder erholt hatte, “dafl Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben und dafl ich Ihnen aus allen St‰nden genug Figuren und Handlungen zu Ihren harten Pinselstrichen finden wollte? Verzeihen Sie mir, ich mufl wieder lachen, dafl Sie glaubten, diese schˆnen Qualit‰ten seien nur auf die Bretter gebannt.”

Wilhelm faflte sich, denn wirklich hatte ihn das unb‰ndige und unzeitige Gel‰chter Jarnos verdrossen. “Sie kˆnnen”, sagte er, “Ihren Menschenhafl nicht ganz verbergen, wenn Sie behaupten, dafl diese Fehler allgemein seien.”

“Und es zeugt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese Erscheinungen dem Theater so hoch anrechnen. Wahrhaftig, ich verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug und aus der Begierde zu gefallen entspringt; denn wenn er sich und andern nicht etwas scheint, so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er mufl den augenblicklichen Beifall hochsch‰tzen, denn er erh‰lt keinen andern Lohn; er mufl zu gl‰nzen suchen, denn deswegen steht er da.”

“Sie erlauben”, versetzte Wilhelm, “dafl ich von meiner Seite wenigstens l‰chele. Nie h‰tte ich geglaubt, dafl Sie so billig, so nachsichtig sein kˆnnten.”

“Nein, bei Gott! dies ist mein vˆlliger, wohlbedachter Ernst. Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen Sie mich meine Klaglieder hier¸ber nicht anstimmen, sie w¸rden heftiger klingen als die Ihrigen.”

Der Chirurgus kam aus dem Kabinett, und auf Befragen, wie sich der Kranke befinde, sagte er mit lebhafter Freundlichkeit: “Recht sehr wohl, ich hoffe, ihn bald vˆllig wiederhergestellt zu sehen.” Sogleich eilte er zum Saal hinaus und erwartete Wilhelms Frage nicht, der schon den Mund ˆffnete, sich nochmals und dringender nach der Brieftasche zu erkundigen. Das Verlangen, von seiner Amazone etwas zu erfahren, gab ihm Vertrauen zu Jarno; er entdeckte ihm seinen Fall und bat ihn um seine Beih¸lfe. “Sie wissen so viel”, sagte er, “sollten Sie nicht auch das erfahren kˆnnen?”

Jarno war einen Augenblick nachdenkend, dann sagte er zu seinem jungen Freunde: “Seien Sie ruhig, und lassen Sie sich weiter nichts merken, wir wollen der Schˆnen schon auf die Spur kommen. Jetzt beunruhigt mich nur Lotharios Zustand, die Sache steht gef‰hrlich, das sagt mir die Freundlichkeit und der gute Trost des Wundarztes. Ich h‰tte Lydien schon gerne weggeschafft, denn sie nutzt hier gar nichts, aber ich weifl nicht, wie ich es anfangen soll. Heute abend, hoff ich, soll unser alter Medikus kommen, und dann wollen wir weiter ratschlagen.”

VII. Buch, 4. Kapitel

Viertes Kapitel

Der Medikus kam; es war der gute, alte, kleine Arzt, den wir schon kennen und dem wir die Mitteilung des interessanten Manuskripts verdanken. Er besuchte vor allen Dingen den Verwundeten und schien mit dessen Befinden keinesweges zufrieden. Dann hatte er mit Jarno eine lange Unterredung, doch lieflen sie nichts merken, als sie abends zu Tische kamen.

Wilhelm begr¸flte ihn aufs freundlichste und erkundigte sich nach seinem Harfenspieler. “Wir haben noch Hoffnung, den Ungl¸cklichen zurechtezubringen”, versetzte der Arzt. “Dieser Mensch war eine traurige Zugabe zu Ihrem eingeschr‰nkten und wunderlichen Leben”, sagte Jarno. “Wie ist es ihm weiter ergangen? Lassen Sie mich es wissen.”

Nachdem man Jarnos Neugierde befriedigst hatte, fuhr der Arzt fort: “Nie habe ich ein Gem¸t in einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was aufler ihm war, den mindesten Anteil genommen, ja fast auf nichts gemerkt; blofl in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermefllicher Abgrund erschien. Wie r¸hrend war es, wenn er von diesem traurigen Zustande sprach! “Ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir”, rief er aus, “als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde; kein Gef¸hl bleibt mir als das Gef¸hl meiner Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes, unfˆrmliches Gespenst sich r¸ckw‰rts sehen l‰flt. Doch da ist keine Hˆhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zur¸ck, kein Wort dr¸ckt diesen immer gleichen Zustand aus. Manchmal ruf ich in der Not dieser Gleichg¸ltigkeit: ‘Ewig! ewig!’ mit Heftigkeit aus, und dieses seltsame, unbegreifliche Wort ist hell und klar gegen die Finsternis meines Zustandes. Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in dieser Nacht, ich weine meine Tr‰nen alle mir selbst und um mich selbst. Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe, denn sie allein locken mir den Wunsch ab, dafl die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich sein mˆchten. Aber auch diese beiden Gespenster sind nur aus dem Abgrunde gestiegen, um mich zu ‰ngstigen und um mir zuletzt auch das teure Bewufltsein dieses ungeheuren Daseins zu rauben.”

Sie sollten ihn hˆren”, fuhr der Arzt fort, “wenn er in vertraulichen Stunden auf diese Weise sein Herz erleichtert; mit der grˆflten R¸hrung habe ich ihm einigemal zugehˆrt. Wenn sich ihm etwas aufdringt, das ihn nˆtigt, einen Augenblick zu gestehen, eine Zeit sei vergangen, so scheint er wie erstaunt, und dann verwirft er wieder die Ver‰nderung an den Dingen als eine Erscheinung der Erscheinungen. Eines Abends sang er ein Lied ¸ber seine grauen Haare; wir saflen alle um ihn her und weinten.”

“O schaffen Sie es mir!” rief Wilhelm aus.

“Haben Sie denn aber”, fragte Jarno, “nichts entdeckt von dem, was er sein Verbrechen nennt, nicht die Ursache seiner sonderbaren Tracht, sein Betragen beim Brande, seine Wut gegen das Kind?”

“Nur durch Mutmaflungen kˆnnen wir seinem Schicksale n‰herkommen; ihn unmittelbar zu fragen w¸rde gegen unsere Grunds‰tze sein. Da wir wohl merken, dafl er katholisch erzogen ist, haben wir geglaubt, ihm durch eine Beichte Linderung zu verschaffen; aber er entfernt sich auf eine sonderbare Weise jedesmal, wenn wir ihn dem Geistlichen n‰her zu bringen suchen. Dafl ich aber Ihren Wunsch, etwas von ihm zu wissen, nicht ganz unbefriedigt lasse, will ich Ihnen wenigstens unsere Vermutungen entdecken. Er hat seine Jugend in dem geistlichen Stande zugebracht; daher scheint er sein langes Gewand und seinen Bart erhalten zu wollen. Die Freuden der Liebe blieben ihm die grˆflte Zeit seines Lebens unbekannt. Erst sp‰t mag eine Verirrung mit einem sehr nahe verwandten Frauenzimmer, es mag ihr Tod, der einem ungl¸cklichen Geschˆpfe das Dasein gab, sein Gehirn vˆllig zerr¸ttet haben.

Sein grˆflter Wahn ist, dafl er ¸berall Ungl¸ck bringe und dafl ihm der Tod durch einen unschuldigen Knaben bevorstehe. Erst f¸rchtete er sich vor Mignon, eh er wuflte, dafl es ein M‰dchen war; nun ‰ngstigte ihn Felix, und da er das Leben bei alle seinem Elend unendlich liebt, scheint seine Abneigung gegen das Kind daher entstanden zu sein.”

“Was haben Sie denn zu seiner Besserung f¸r Hoffnung?” fragte Wilhelm.

“Es geht langsam vorw‰rts”, versetzte der Arzt, “aber doch nicht zur¸ck. Seine bestimmten Besch‰ftigungen treibt er fort, und wir haben ihn gewˆhnt, die Zeitungen zu lesen, die er jetzt immer mit grofler Begierde erwartet.”

“Ich bin auf seine Lieder neugierig”, sagte Jarno.

“Davon werde ich Ihnen verschiedene geben kˆnnen”, sagte der Arzt. “Der ‰lteste Sohn des Geistlichen, der seinem Vater die Predigten nachzuschreiben gewohnt ist, hat manche Strophe, ohne von dem Alten bemerkt zu werden, aufgezeichnet und mehrere Lieder nach und nach zusammengesetzt.”

Den andern Morgen kam Jarno zu Wilhelmen und sagte ihm: “Sie m¸ssen uns einen Gefallen tun; Lydie mufl einige Zeit entfernt werden; ihre heftige und, ich darf wohl sagen, unbequeme Liebe und Leidenschaft hindert des Barons Genesung. Seine Wunde verlangt Ruhe und Gelassenheit, ob sie gleich bei seiner guten Natur nicht gef‰hrlich ist. Sie haben gesehen, wie ihn Lydie mit st¸rmischer Sorgfalt, unbezwinglicher Angst und nie versiegenden Tr‰nen qu‰lt, und–genug”, setzte er nach einer Pause mit einem L‰cheln hinzu, “der Medikus verlangt ausdr¸cklich, dafl sie das Haus auf einige Zeit verlassen solle. Wir haben ihr eingebildet, eine sehr gute Freundin halte sich in der N‰he auf, verlange sie zu sehen und erwarte sie jeden Augenblick. Sie hat sich bereden lassen, zu dem Gerichtshalter zu fahren, der nur zwei Stunden von hier wohnt. Dieser ist unterrichtet und wird herzlich bedauern, dafl Fr‰ulein Therese soeben weggefahren sei; er wird wahrscheinlich machen, dafl man sie noch einholen kˆnne, Lydie wird ihr nacheilen, und wenn das Gl¸ck gut ist, wird sie von einem Orte zum andern gef¸hrt werden. Zuletzt, wenn sie drauf besteht, wieder umzukehren, darf man ihr nicht widersprechen; man mufl die Nacht zu H¸lfe nehmen, der Kutscher ist ein gescheiter Kerl, mit dem man noch Abrede nehmen mufl. Sie setzen sich zu ihr in den Wagen, unterhalten sie und dirigieren das Abenteuer.”

“Sie geben mir einen sonderbaren und bedenklichen Auftrag”, versetzte Wilhelm, “wie ‰ngstlich ist die Gegenwart einer gekr‰nkten treuen Liebe! Und ich soll selbst dazu das Werkzeug sein? Es ist das erste Mal in meinem Leben, dafl ich jemanden auf diese Weise hintergehe: denn ich habe immer geglaubt, dafl es uns zu weit f¸hren kˆnne, wenn wir einmal um des Guten und N¸tzlichen willen zu betriegen anfangen.”

“Kˆnnen wir doch Kinder nicht anders erziehen als auf diese Weise”, versetzte Jarno.

“Bei Kindern mˆchte es noch hingehen”, sagte Wilhelm, “indem wir sie so z‰rtlich lieben und offenbar ¸bersehen; aber bei unsersgleichen, f¸r die uns nicht immer das Herz so laut um Schonung anruft, mˆchte es oft gef‰hrlich werden. Doch glauben Sie nicht”, fuhr er nach einem kurzen Nachdenken fort, “dafl ich deswegen diesen Auftrag ablehne. Bei der Ehrfurcht, die mir Ihr Verstand einflˆflt, bei der Neigung, die ich f¸r Ihren trefflichen Freund f¸hle, bei dem lebhaften Wunsch, seine Genesung, durch welche Mittel sie auch mˆglich sei, zu befˆrdern, mag ich mich gerne selbst vergessen. Es ist nicht genug, dafl man sein Leben f¸r einen Freund wagen kˆnne, man mufl auch im Notfall seine ¸berzeugung f¸r ihn verleugnen. Unsere liebste Leidenschaft, unsere besten W¸nsche sind wir f¸r ihn aufzuopfern schuldig. Ich ¸bernehme den Auftrag, ob ich gleich schon die Qual voraussehe, die ich von Lydiens Tr‰nen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben.”

“Dagegen erwartet Sie auch keine geringe Belohnung”, versetzte Jarno, “indem Sie Fr‰ulein Theresen kennenlernen, ein Frauenzimmer, wie es ihrer wenige gibt; sie besch‰mt hundert M‰nner, und ich mˆchte sie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieser zweideutigen Kleidung herumgehen.”

Wilhelm war betroffen, er hoffte in Theresen seine Amazone wiederzufinden, um so mehr, als Jarno, von dem er einige Auskunft verlangte, kurz abbrach und sich entfernte.

Die neue, nahe Hoffnung, jene verehrte und geliebte Gestalt wiederzusehen, brachte in ihm die sonderbarsten Bewegungen hervor. Er hielt nunmehr den Auftrag, der ihm gegeben worden war, f¸r ein Werk einer ausdr¸cklichen Schickung, und der Gedanke, dafl er ein armes M‰dchen von dem Gegenstande ihrer aufrichtigsten und heftigsten Liebe hinterlistig zu entfernen im Begriff war, erschien ihm nur im Vor¸bergehen, wie der Schatten eines Vogels ¸ber die erleuchtete Erde wegfliegt.

Der Wagen stand vor der T¸re, Lydie zauderte einen Augenblick hineinzusteigen. “Gr¸flt Euren Herrn nochmals”, sagte sie zu dem alten Bedienten, “vor Abend bin ich wieder zur¸ck.” Tr‰nen standen ihr im Auge, als sie im Fortfahren sich nochmals umwendete. Sie kehrte sich darauf zu Wilhelmen, nahm sich zusammen und sagte: “Sie werden an Fr‰ulein Theresen eine sehr interessante Person finden. Mich wundert, wie sie in diese Gegend kommt: denn Sie werden wohl wissen, dafl sie und der Baron sich heftig liebten. Ungeachtet der Entfernung war Lothario oft bei ihr; ich war damals um sie, es schien, als ob sie nur f¸reinander leben w¸rden. Auf einmal aber zerschlug sich’s, ohne dafl ein Mensch begreifen konnte, warum. Er hatte mich kennenlernen, und ich leugne nicht, dafl ich Theresen herzlich beneidete, dafl ich meine Neigung zu ihm kaum verbarg und dafl ich ihn nicht zur¸ckstiefl, als er auf einmal mich statt Theresen zu w‰hlen schien. Sie betrug sich gegen mich, wie ich es nicht besser w¸nschen konnte, ob es gleich beinahe scheinen muflte, als h‰tte ich ihr einen so werten Liebhaber geraubt. Aber auch wieviel tausend Tr‰nen und Schmerzen hat mich diese Liebe schon gekostet! Erst sahen wir uns nur zuweilen am dritten Orte verstohlen, aber lange konnte ich das Leben nicht ertragen; nur in seiner Gegenwart war ich gl¸cklich, ganz gl¸cklich! Fern von ihm hatte ich kein trocknes Auge, keinen ruhigen Pulsschlag. Einst verzog er mehrere Tage, ich war in Verzweiflung, machte mich auf den Weg und ¸berraschte ihn hier. Er nahm mich liebevoll auf, und w‰re nicht dieser ungl¸ckselige Handel dazwischengekommen, so h‰tte ich ein himmlisches Leben gef¸hrt; und was ich ausgestanden habe, seitdem er in Gefahr ist, seitdem er leidet, sag ich nicht, und noch in diesem Augenblicke mache ich mir lebhafte Vorw¸rfe, dafl ich mich nur einen Tag von ihm habe entfernen kˆnnen.”

Wilhelm wollte sich eben n‰her nach Theresen erkundigen, als sie bei dem Gerichtshalter vorfuhren, der an den Wagen kam und von Herzen bedauerte, dafl Fr‰ulein Therese schon abgefahren sei. Er bot den Reisenden ein Fr¸hst¸ck an, sagte aber zugleich, der Wagen w¸rde noch im n‰chsten Dorfe einzuholen sein. Man entschlofl sich nachzufahren, und der Kutscher s‰umte nicht; man hatte schon einige Dˆrfer zur¸ckgelegt und niemand angetroffen. Lydie bestand nun darauf, man solle umkehren; der Kutscher fuhr zu, als verst¸nde er es nicht. Endlich verlangte sie es mit grˆflter Heftigkeit; Wilhelm rief ihm zu und gab ihm das verabredete Zeichen. Der Kutscher erwiderte: “Wir haben nicht nˆtig, denselben Weg zur¸ckzufahren; ich weifl einen n‰hern, der zugleich viel bequemer ist.” Er fuhr nun seitw‰rts durch einen Wald und ¸ber lange Triften weg. Endlich, da kein bekannter Gegenstand zum Vorschein kam, gestand der Kutscher, er sei ungl¸cklicherweise irregefahren, wolle sich aber bald wieder zurechtefinden, indem er dort ein Dorf sehe. Die Nacht kam herbei, und der Kutscher machte seine Sache so geschickt, dafl er ¸berall fragte und nirgends die Antwort abwartete. So fuhr man die ganze Nacht, Lydie schlofl kein Auge; bei Mondschein fand sie ¸berall ‰hnlichkeiten, und immer verschwanden sie wieder. Morgens schienen ihr die Gegenst‰nde bekannt, aber desto unerwarteter. Der Wagen hielt vor einem kleinen, artig gebauten Landhause stille; ein Frauenzimmer trat aus der T¸re und ˆffnete den Schlag. Lydie sah sie starr an, sah sich um, sah sie wieder an und lag ohnm‰chtig in Wilhelms Armen.

VII. Buch, 5. Kapitel

F¸nftes Kapitel

Wilhelm ward in ein Mansardzimmerchen gef¸hrt; das Haus war neu und so klein, als es beinah nur mˆglich war, ‰uflerst reinlich und ordentlich. In Theresen, die ihn und Lydien an der Kutsche empfangen hatte, fand er seine Amazone nicht, es war ein anderes, ein himmelweit von ihr unterschiedenes Wesen. Wohlgebaut, ohne grofl zu sein, bewegte sie sich mit viel Lebhaftigkeit, und ihren hellen, blauen, offnen Augen schien nichts verborgen zu bleiben, was vorging.

Sie trat in Wilhelms Stube und fragte, ob er etwas bed¸rfe. “Verzeihen Sie”, sagte sie, “dafl ich Sie in ein Zimmer logiere, das der ˆlgeruch noch unangenehm macht; mein kleines Haus ist eben fertig geworden, und Sie weihen dieses St¸bchen ein, das meinen G‰sten bestimmt ist. W‰ren Sie nur bei einem angenehmern Anlafl hier! Die arme Lydie wird uns keine guten Tage machen, und ¸berhaupt m¸ssen Sie vorliebnehmen; meine Kˆchin ist mir eben zur ganz unrechten Zeit aus dem Dienste gelaufen, und ein Knecht hat sich die Hand zerquetscht. Es t‰te not, ich verrichtete alles selbst, und am Ende, wenn man sich darauf einrichtete, m¸flte es auch gehen. Man ist mit niemand mehr geplagt als mit den Dienstboten; es will niemand dienen, nicht einmal sich selbst.”

Sie sagte noch manches ¸ber verschiedene Gegenst‰nde, ¸berhaupt schien sie gern zu sprechen. Wilhelm fragte nach Lydien, ob er das gute M‰dchen nicht sehen und sich bei ihr entschuldigen kˆnnte.

“Das wird jetzt nicht bei ihr wirken”, versetzte Therese; “die Zeit entschuldigt, wie sie trˆstet, Worte sind in beiden F‰llen von wenig Kraft. Lydie will Sie nicht sehen. “Lassen Sie mir ihn ja nicht vor die Augen kommen”, rief sie, als ich sie verliefl, “ich mˆchte an der Menschheit verzweifeln! So ein ehrlich Gesicht, so ein offnes Betragen und diese heimliche T¸cke!” Lothario ist ganz bei ihr entschuldigt, auch sagt er in einem Briefe an das gute M‰dchen: “Meine Freunde beredeten mich, meine Freunde nˆtigten mich!” Zu diesen rechnet Lydie Sie auch und verdammt Sie mit den ¸brigen.”

“Sie erzeigt mir zuviel Ehre, indem sie mich schilt”, versetzte Wilhelm, “ich darf an die Freundschaft dieses trefflichen Mannes noch keinen Anspruch machen und bin diesmal nur ein unschuldiges Werkzeug. Ich will meine Handlung nicht loben; genug, ich konnte sie tun! Es war von der Gesundheit, es war von dem Leben eines Mannes die Rede, den ich hˆher sch‰tzen mufl als irgend jemand, den ich vorher kannte. O welch ein Mann ist das, Fr‰ulein! und welche Menschen umgeben ihn! In dieser Gesellschaft hab ich, so darf ich wohl sagen, zum erstenmal ein Gespr‰ch gef¸hrt, zum erstenmal kam mir der eigenste Sinn meiner Worte aus dem Munde eines andern reichhaltiger, voller und in einem grˆflern Umfang wieder entgegen; was ich ahnete, ward mir klar, und was ich meinte, lernte ich anschauen. Leider ward dieser Genufl erst durch allerlei Sorgen und Grillen, dann durch den unangenehmen Auftrag unterbrochen. Ich ¸bernahm ihn mit Ergebung: denn ich hielt f¸r Schuldigkeit, selbst mit Aufopferung meines Gef¸hls diesem trefflichen Kreise von Menschen meinen Einstand abzutragen.”

Therese hatte unter diesen Worten ihren Gast sehr freundlich angesehen. “O wie s¸fl ist es”, rief sie aus, “seine eigne ¸berzeugung aus einem fremden Munde zu hˆren! Wie werden wir erst recht wir selbst, wenn uns ein anderer vollkommen recht gibt. Auch ich denke ¸ber Lothario vollkommen wie Sie; nicht jedermann l‰flt ihm Gerechtigkeit widerfahren, daf¸r schw‰rmen aber auch alle die f¸r ihn, die ihn n‰her kennen, und das schmerzliche Gef¸hl, das sich in meinem Herzen zu seinem Andenken mischt, kann mich nicht abhalten, t‰glich an ihn zu denken.” Ein Seufzer erweiterte ihre Brust, indem sie dieses sagte, und in ihrem rechten Auge blinkte eine schˆne Tr‰ne. “Glauben Sie nicht”, fuhr sie fort, “dafl ich so weich, so leicht zu r¸hren bin! Es ist nur das Auge, das weint. Ich hatte eine kleine Warze am untern Augenlid, man hat mir sie gl¸cklich abgebunden, aber das Auge ist seit der Zeit immer schwach geblieben, der geringste Anlafl dr‰ngt mir eine Tr‰ne hervor. Hier safl das W‰rzchen, Sie sehen keine Spur mehr davon.”

Er sah keine Spur, aber er sah ihr ins Auge, es war klar wie Kristall, er glaubte bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen.

“Wir haben”, sagte sie, “nun das Losungswort unserer Verbindung ausgesprochen; lassen Sie uns so bald als mˆglich miteinander vˆllig bekannt werden. Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter. Ich will Ihnen erz‰hlen, wie es mir ergangen ist; schenken Sie mir ein gleiches Vertrauen, und lassen Sie uns auch in der Ferne verbunden bleiben. Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Fl¸sse und St‰dte darin denkt, aber hie und da jemand zu wissen, der mit uns ¸bereinstimmt, mit dem wir auch stillschweigend fortleben, das macht uns dieses Erdenrund erst zu einem bewohnten Garten.”

Sie eilte fort und versprach, ihn bald zum Spaziergange abzuholen. Ihre Gegenwart hatte sehr angenehm auf ihn gewirkt, er w¸nschte ihr Verh‰ltnis zu Lothario zu erfahren. Er ward gerufen, sie kam ihm aus ihrem Zimmer entgegen.

Als sie die enge und beinah steile Treppe einzeln hinuntergehen muflten, sagte sie: “Das kˆnnte alles weiter und breiter sein, wenn ich auf das Anerbieten Ihres groflm¸tigen Freundes h‰tte hˆren wollen; doch um seiner wert zu bleiben, mufl ich das an mir erhalten, was mich ihm so wert machte. Wo ist der Verwalter?” fragte sie, indem sie die Treppe vˆllig herunterkam. “Sie m¸ssen nicht denken”, fuhr sie fort, “dafl ich so reich bin, um einen Verwalter zu brauchen; die wenigen Acker meines Freig¸tchens kann ich wohl selbst bestellen. Der Verwalter gehˆrt meinem neuen Nachbar, der das schˆne Gut gekauft hat, das ich in- und auswendig kenne; der gute alte Mann liegt krank am Podagra, seine Leute sind in dieser Gegend neu, und ich helfe ihnen gerne sich einrichten.”

Sie machten einen Spaziergang durch ‰cker, Wiesen und einige Baumg‰rten. Therese bedeutete den Verwalter in allem, sie konnte ihm von jeder Kleinigkeit Rechenschaft geben, und Wilhelm hatte Ursache genug, sich ¸ber ihre Kenntnis, ihre Bestimmtheit und ¸ber die Gewandtheit, wie sie in jedem Falle Mittel anzugeben wuflte, zu verwundern. Sie hielt sich nirgends auf, eilte immer zu den bedeutenden Punkten, und so war die Sache bald abgetan. “Gr¸flt Euren Herrn”, sagte sie, als sie den Mann verabschiedete; “ich werde ihn so bald als mˆglich besuchen und w¸nsche vollkommene Besserung. Da kˆnnte ich nun auch”, sagte sie mit L‰cheln, als er weg war, “bald reich und vielhabend werden; denn mein guter Nachbar w‰re nicht abgeneigt, mir seine Hand zu geben.”

“Der Alte mit dem Podagra?” rief Wilhelm, “ich w¸flte nicht, wie Sie in Ihren Jahren zu so einem verzweifelten Entschlufl kommen kˆnnten. “–“Ich bin auch gar nicht versucht!” versetzte Therese. “Wohlhabend ist jeder, der dem, was er besitzt, vorzustehen weifl; vielhabend zu sein ist eine l‰stige Sache, wenn man es nicht versteht.”

Wilhelm zeigte seine Verwunderung ¸ber ihre Wirtschaftskenntnisse. “Entschiedene Neigung, fr¸he Gelegenheit, ‰uflerer Antrieb und eine fortgesetzte Besch‰ftigung in einer n¸tzlichen Sache machen in der Welt noch viel mehr mˆglich”, versetzte Therese, “und wenn Sie erst erfahren werden, was mich dazu belebt hat, so werden Sie sich ¸ber das sonderbar scheinende Talent nicht mehr wundern.”

Sie liefl ihn, als sie zu Hause anlangten, in ihrem kleinen Garten, in welchem er sich kaum herumdrehen konnte; so eng waren die Wege, und so reichlich war alles bepflanzt. Er muflte l‰cheln, als er ¸ber den Hof zur¸ckkehrte, denn da lag das Brennholz so akkurat ges‰gt, gespalten und geschr‰nkt, als wenn es ein Teil des Geb‰udes w‰re und immer so liegenbleiben sollte. Rein standen alle Gef‰fle an ihren Pl‰tzen, das H‰uschen war weifl und rot angestrichen und lustig anzusehen. Was das Handwerk hervorbringen kann, das keine schˆnen Verh‰ltnisse kennt, aber f¸r Bed¸rfnis, Dauer und Heiterkeit arbeitet, schien auf dem Platze vereinigt zu sein. Man brachte ihm das Essen auf sein Zimmer, und er hatte Zeit genug, Betrachtungen anzustellen. Besonders fiel ihm auf, dafl er nun wieder eine so interessante Person kennenlernte, die mit Lothario in einem nahen Verh‰ltnisse gestanden hatte. “Billig ist es”, sagte er zu sich selbst, “dafl so ein trefflicher Mann auch treffliche Weiberseelen an sich ziehe! Wie weit verbreitet sich die Wirkung der M‰nnlichkeit und W¸rde. Wenn nur andere nicht so sehr dabei zu kurz k‰men! Ja, gestehe dir nur deine Furcht. Wenn du dereinst deine Amazone wieder antriffst, diese Gestalt aller Gestalten, du findest sie trotz aller deiner Hoffnungen und Tr‰ume zu deiner Besch‰mung und Dem¸tigung doch noch am Ende–als seine Braut.”

VII. Buch, 6. Kapitel–1

Sechstes Kapitel

Wilhelm hatte einen unruhigen Nachmittag nicht ganz ohne Langeweile zugebracht, als sich gegen Abend seine T¸r ˆffnete und ein junger, artiger J‰gerbursche mit einem Grufle hereintrat. “Wollen wir nun spazierengehen?” sagte der junge Mensch, und in dem Augenblicke erkannte Wilhelm Theresen an ihren schˆnen Augen.

“Verzeihn Sie mir diese Maskerade”, fing sie an, “denn leider ist es jetzt nur Maskerade. Doch da ich Ihnen einmal von der Zeit erz‰hlen soll, in der ich mich so gerne in dieser Weste sah, will ich mir auch jene Tage auf alle Weise vergegenw‰rtigen. Kommen Sie! selbst der Platz, an dem wir so oft von unsern Jagden und Spazierg‰ngen ausruhten, soll dazu beitragen.”

Sie gingen, und auf dem Wege sagte Therese zu ihrem Begleiter: “Es ist nicht billig, dafl Sie mich allein reden lassen; schon wissen Sie genug von mir, und ich weifl noch nicht das mindeste von Ihnen; erz‰hlen Sie mir indessen etwas von sich, damit ich Mut bekomme, Ihnen auch meine Geschichte und meine Verh‰ltnisse vorzulegen.”–“Leider hab ich”, versetzte Wilhelm, “nichts zu erz‰hlen als Irrt¸mer auf Irrt¸mer, Verirrungen auf Verirrungen, und ich w¸flte nicht, wem ich die Verworrenheiten, in denen ich mich befand und befinde, lieber verbergen mˆchte als Ihnen. Ihr Blick und alles, was Sie umgibt, Ihr ganzes Wesen und Ihr Betragen zeigt mir, dafl Sie sich Ihres vergangenen Lebens freuen kˆnnen, dafl Sie auf einem schˆnen, reinen Wege in einer sichern Folge gegangen sind, dafl Sie keine Zeit verloren, dafl Sie sich nichts vorzuwerfen haben.”

Therese l‰chelte und versetzte: “Wir m¸ssen abwarten, ob Sie auch noch so denken, wenn Sie meine Geschichte hˆren.” Sie gingen weiter, und unter einigen allgemeinen Gespr‰chen fragte ihn Therese. “Sind Sie frei?”–“Ich glaube es zu sein”, versetzte er, “aber ich w¸nsche es nicht.”–“Gut!” sagte sie, “das deutet auf einen komplizierten Roman und zeigt mir, dafl Sie auch etwas zu erz‰hlen haben.”

Unter diesen Worten stiegen sie den H¸gel hinan und lagerten sich bei einer groflen Eiche, die ihren Schatten weit umher verbreitete. “Hier”, sagte Therese, “unter diesem deutschen Baume will ich Ihnen die Geschichte eines deutschen M‰dchens erz‰hlen, hˆren Sie mich geduldig an.

Mein Vater war ein wohlhabender Edelmann dieser Provinz, ein heiterer, klarer, t‰tiger, wackrer Mann, ein z‰rtlicher Vater, ein redlicher Freund, ein trefflicher Wirt, an dem ich nur den einzigen Fehler kannte, dafl er gegen eine Frau zu nachsichtig war, die ihn nicht zu sch‰tzen wuflte. Leider mufl ich das von meiner eigenen Mutter sagen! Ihr Wesen war dem seinigen ganz entgegengesetzt. Sie war rasch, unbest‰ndig, ohne Neigung weder f¸r ihr Haus noch f¸r mich, ihr einziges Kind; verschwenderisch, aber schˆn, geistreich, voller Talente, das Entz¸cken eines Zirkels, den sie um sich zu versammeln wuflte. Freilich war ihre Gesellschaft niemals grofl oder blieb es nicht lange. Dieser Zirkel bestand meist aus M‰nnern, denn keine Frau befand sich wohl neben ihr, und noch weniger konnte sie das Verdienst irgendeines Weibes dulden. Ich glich meinem Vater an Gestalt und Gesinnungen. Wie eine junge Ente gleich das Wasser sucht, so waren von der ersten Jugend an die K¸che, die Vorratskammer, die Scheunen und Bˆden mein Element. Die Ordnung und Reinlichkeit des Hauses schien, selbst da ich noch spielte, mein einziger Instinkt, mein einziges Augenmerk zu sein. Mein Vater freute sich dar¸ber und gab meinem kindischen Bestreben stufenweise die zweckm‰fligsten Besch‰ftigungen; meine Mutter dagegen liebte mich nicht und verhehlte es keinen Augenblick.

Ich wuchs heran, mit den Jahren vermehrte sich meine T‰tigkeit und die Liebe meines Vaters zu mir. Wenn wir allein waren, auf die Felder gingen, wenn ich ihm die Rechnungen durchsehen half, dann konnte ich ihm recht anf¸hlen, wie gl¸cklich er war. Wenn ich ihm in die Augen sah, so war es, als wenn ich in mich selbst hineins‰he, denn eben die Augen waren es, die mich ihm vollkommen ‰hnlich machten. Aber nicht ebenden Mut, nicht ebenden Ausdruck behielt er in der Gegenwart meiner Mutter; er entschuldigte mich gelind, wenn sie mich heftig und ungerecht tadelte; er nahm sich meiner an, nicht als wenn er mich besch¸tzen, sondern als wenn er meine guten Eigenschaften nur entschuldigen kˆnnte. So setzte er auch keiner von ihren Neigungen Hindernisse entgegen; sie fing an, mit grˆflter Leidenschaft sich auf das Schauspiel zu werfen, ein Theater ward erbauet, an M‰nnern fehlte es nicht von allen Altern und Gestalten, die sich mit ihr auf der B¸hne darstellten, an Frauen hingegen mangelte es oft. Lydie, ein artiges M‰dchen, das mit mir erzogen worden war und das gleich in ihrer ersten Jugend reizend zu werden versprach, muflte die zweiten Rollen ¸bernehmen und eine alte Kammerfrau die M¸tter und Tanten vorstellen, indes meine Mutter sich die ersten Liebhaberinnen, Heldinnen und Sch‰ferinnen aller Art vorbehielt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie l‰cherlich mir es vorkam, wenn die Menschen, die ich alle recht gut kannte, sich verkleidet hatten, da droben standen und f¸r etwas anders, als sie waren, gehalten sein wollten. Ich sah immer nur meine Mutter und Lydien, diesen Baron und jenen Sekret‰r, sie mochten nun als F¸rsten und Grafen oder als Bauern erscheinen, und ich konnte nicht begreifen, wie sie mir zumuten wollten zu glauben, dafl es ihnen wohl oder wehe sei, dafl sie verliebt oder gleichg¸ltig, geizig oder freigebig seien, da ich doch meist von dem Gegenteile genau unterrichtet war. Deswegen blieb ich auch sehr selten unter den Zuschauern; ich putzte ihnen immer die Lichter, damit ich nur etwas zu tun hatte, besorgte das Abendessen und hatte des andern Morgens, wenn sie noch lange schliefen, schon ihre Garderobe in Ordnung gebracht, die sie des Abends gewˆhnlich ¸bereinandergeworfen zur¸cklieflen.

Meiner Mutter schien diese T‰tigkeit ganz recht zu sein, aber ihre Neigung konnte ich nicht erwerben; sie verachtete mich, und ich weifl noch recht gut, dafl sie mehr als einmal mit Bitterkeit wiederholte: “Wenn die Mutter so ungewifl sein kˆnnte als der Vater, so w¸rde man wohl schwerlich diese Magd f¸r meine Tochter halten.” Ich leugnete nicht, dafl ihr Betragen mich nach und nach ganz von ihr entfernte, ich betrachtete ihre Handlungen wie die Handlungen einer fremden Person, und da ich gewohnt war, wie ein Falke das Gesinde zu beobachten–denn, im Vorbeigehen gesagt, darauf beruht eigentlich der Grund aller Haushaltung–so fielen mir nat¸rlich auch die Verh‰ltnisse meiner Mutter und ihrer Gesellschaft auf. Es liefl sich wohl bemerken, dafl sie nicht alle M‰nner mit ebendenselben Augen ansah, ich gab sch‰rfer acht und bemerkte bald, dafl Lydie Vertraute war und bei dieser Gelegenheit selbst mit einer Leidenschaft bekannter wurde, die sie von ihrer ersten Jugend an so oft vorgestellt hatte. Ich wuflte alle ihre Zusammenk¸nfte, aber ich schwieg und sagte meinem Vater nichts, den ich zu betr¸ben f¸rchtete; endlich aber ward ich dazu genˆtigt. Manches konnten sie nicht unternehmen, ohne das Gesinde zu bestechen. Dieses fing an, mir zu trotzen, die Anordnungen meines Vaters zu vernachl‰ssigen und meine Befehle nicht zu vollziehen; die Unordnungen, die daraus entstanden, waren mir unertr‰glich, ich entdeckte, ich klagte alles meinem Vater.

Er hˆrte mich gelassen an. “Gutes Kind!” sagte er zuletzt mit L‰cheln, “ich weifl alles; sei ruhig, ertrag es mit Geduld, denn es ist nur um deinetwillen, dafl ich es leide.”

Ich war nicht ruhig, ich hatte keine Geduld. Ich schalt meinen Vater im stillen; denn ich glaubte nicht, dafl er um irgendeiner Ursache willen so etwas zu dulden brauche; ich bestand auf der Ordnung, und ich war entschlossen, die Sache aufs ‰uflerste kommen zu lassen.

Meine Mutter war reich von sich, verzehrte aber doch mehr, als sie sollte, und dies gab, wie ich wohl merkte, manche Erkl‰rung zwischen meinen Eltern. Lange war der Sache nicht geholfen, bis die Leidenschaften meiner Mutter selbst eine Art von Entwickelung hervorbrachten’

Der erste Liebhaber ward auf eine eklatante Weise ungetreu; das Haus, die Gegend, ihre Verh‰ltnisse waren ihr zuwider. Sie wollte auf ein anderes Gut ziehen, da war es ihr zu einsam; sie wollte nach der Stadt, da galt sie nicht genug. Ich weifl nicht, was alles zwischen ihr und meinem Vater vorging; genug, er entschlofl sich endlich unter Bedingungen, die ich nicht erfuhr, in eine Reise, die sie nach dem s¸dlichen Frankreich tun wollte, einzuwilligen.

Wir waren nun frei und lebten wie im Himmel; ja ich glaube, dafl mein Vater nichts verloren hat, wenn er ihre Gegenwart auch schon mit einer ansehnlichen Summe abkaufte. Alles unn¸tze Gesinde ward abgeschafft, und das Gl¸ck schien unsere Ordnung zu beg¸nstigen; wir h‰tten einige sehr gute Jahre, alles gelang nach Wunsch. Aber leider dauerte dieser frohe Zustand nicht lange–ganz unvermutet ward mein Vater von einem Schlagflusse befallen, der ihm die rechte Seite l‰hmte und den reinen Gebrauch der Sprache benahm. Man muflte alles erraten, was er verlangte, denn er brachte nie das Wort hervor, das er im Sinne hatte. Sehr ‰ngstlich waren mir daher manche Augenblicke, in denen er mit mir ausdr¸cklich allein sein wollte; er deutete mit heftiger Geb‰rde, dafl jedermann sich entfernen sollte, und wenn wir uns allein sahen, war er nicht imstande, das rechte Wort hervorzubringen. Seine Ungeduld stieg aufs ‰uflerste, und sein Zustand betr¸bte mich im innersten Herzen. Soviel schien mir gewifl, dafl er mir etwas zu vertrauen hatte, das mich besonders anging. Welches Verlangen f¸hlt ich nicht, es zu erfahren! Sonst konnt ich ihm alles an den Augen ansehen; aber jetzt war es vergebens. Selbst seine Augen sprachen nicht mehr. Nur soviel war mir deutlich: er wollte nichts, er begehrte nichts, er strebte nur, mir etwas zu entdecken, das ich leider nicht erfuhr. Sein ¸bel wiederholte sich, er ward bald darauf ganz unt‰tig und unf‰hig; und nicht lange, so war er tot.

Ich weifl nicht, wie sich bei mir der Gedanke festgesetzt hatte, dafl er irgendwo einen Schatz niedergelegt habe, den er mir nach seinem Tode lieber als meiner Mutter gˆnnen wollte; ich suchte schon bei seinen Lebzeiten nach, allein ich fand nichts; nach seinem Tode ward alles versiegelt. Ich schrieb meiner Mutter und bot ihr an, als Verwalter im Hause zu bleiben; sie schlug es aus, und ich muflte das Gut r‰umen. Es kam ein wechselseitiges Testament zum Vorschein, wodurch sie im Besitz und Genufl von allem und ich, wenigstens ihre ganze Lebenszeit ¸ber, von ihr abh‰ngig blieb. Nun glaubte ich erst recht die Winke meines Vaters zu verstehn; ich bedauerte ihn, dafl er so schwach gewesen war, auch nach seinem Tode ungerecht gegen mich zu sein. Denn einige meiner Freunde wollten sogar behaupten, es sei beinah nicht besser, als ob er mich enterbt h‰tte, und verlangten, ich sollte das Testament angreifen, wozu ich mich aber nicht entschlieflen konnte. Ich verehrte das Andenken meines Vaters zu sehr; ich vertraute dem Schicksal, ich vertraute mir selbst.

Ich hatte mit einer Dame in der Nachbarschaft, die grofle G¸ter besafl, immer in gutem Verh‰ltnisse gestanden; sie nahm mich mit Vergn¸gen auf, und es ward mir leicht, bald ihrer Haushaltung vorzustehn. Sie lebte sehr regelm‰flig und liebte die Ordnung in allem, und ich half ihr treulich in dem Kampf mit Verwalter und Gesinde. Ich bin weder geizig noch miflg¸nstig, aber wir Weiber bestehn ¸berhaupt viel ernsthafter als selbst ein Mann darauf, dafl nichts verschleudert werde. Jeder Unterschleif ist uns unertr‰glich; wir wollen, dafl jeder nur geniefle, insofern er dazu berechtigt ist.

Nun war ich wieder in meinem Elemente und trauerte still ¸ber den Tod meines Vaters. Meine Besch¸tzerin war mit mir zufrieden, nur ein kleiner Umstand stˆrte meine Ruhe. Lydie kam zur¸ck; meine Mutter war grausam genug, das arme M‰dchen abzustoflen, nachdem sie aus dem Grunde verdorben war. Sie hatte bei meiner Mutter gelernt, Leidenschaften als Bestimmung anzusehen; sie war gewˆhnt, sich in nichts zu m‰fligen. Als sie unvermutet wieder erschien, nahm meine Wohlt‰terin auch sie auf; sie wollte mir an die Hand gehn und konnte sich in nichts schicken.

Um diese Zeit kamen die Verwandten und k¸nftigen Erben meiner Dame oft ins Haus und belustigten sich mit der Jagd. Auch Lothario war manchmal mit ihnen; ich bemerkte gar bald, wie sehr er sich vor allen andern auszeichnete, jedoch ohne die mindeste Beziehung auf mich selbst. Er war gegen alle hˆflich, und bald schien Lydie seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich hatte immer zu tun und war selten bei der Gesellschaft; in seiner Gegenwart sprach ich weniger als gewˆhnlich: denn ich will nicht leugnen, dafl eine lebhafte Unterhaltung von jeher mir die W¸rze des Lebens war. Ich sprach mit meinem Vater gern viel ¸ber alles, was begegnete. Was man nicht bespricht, bedenkt man nicht recht. Keinem Menschen hatte ich jemals lieber zugehˆrt als Lothario, wenn er von seinen Reisen, von seinen Feldz¸gen erz‰hlte. Die Welt lag ihm so klar, so offen da wie mir die Gegend, in der ich gewirtschaftet hatte. Ich hˆrte nicht etwa die wunderlichen Schicksale des Abenteurers, die ¸bertriebenen Halbwahrheiten eines beschr‰nkten Reisenden, der immer nur seine Person an die Stelle des Landes setzt, wovon er uns ein Bild zu geben verspricht; er erz‰hlte nicht, er f¸hrte uns an die Orte selbst; ich habe nicht leicht ein so reines Vergn¸gen empfunden.

Aber unaussprechlich war meine Zufriedenheit, als ich ihn eines Abends ¸ber die Frauen reden hˆrte. Das Gespr‰ch machte sich ganz nat¸rlich; einige Damen aus der Nachbarschaft hatten uns besucht und ¸ber die Bildung der Frauen die gewˆhnlichen Gespr‰che gef¸hrt. Man sei ungerecht gegen unser Geschlecht, hiefl es, die M‰nner wollten alle hˆhere Kultur f¸r sich behalten, man wolle uns zu keinen Wissenschaften zulassen, man verlange, dafl wir nur T‰ndelpuppen oder Haush‰lterinnen sein sollten. Lothario sprach wenig zu all diesem; als aber die Gesellschaft kleiner ward, sagte er auch hier¸ber offen seine Meinung. “Es ist sonderbar”, rief er aus, “dafl man es dem Manne verargt, der eine Frau an die hˆchste Stelle setzen will, die sie einzunehmen f‰hig ist: und welche ist hˆher als das Regiment des Hauses? Wenn der Mann sich mit ‰uflern Verh‰ltnissen qu‰lt, wenn er die Besitzt¸mer herbeischaffen und besch¸tzen mufl, wenn er sogar an der Staatsverwaltung Anteil nimmt, ¸berall von Umst‰nden abh‰ngt und, ich mˆchte sagen, nichts regiert, indem er zu regieren glaubt, immer nur politisch sein mufl, wo er gern vern¸nftig w‰re, versteckt, wo er offen, falsch, wo er redlich zu sein w¸nschte; wenn er um des Zieles willen, das er nie erreicht, das schˆnste Ziel, die Harmonie mit sich selbst, in jedem Augenblicke aufgeben mufl; indessen herrscht eine vern¸nftige Hausfrau im Innern wirklich und macht einer ganzen Familie jede T‰tigkeit, jede Zufriedenheit mˆglich. Was ist das hˆchste Gl¸ck des Menschen, als dafl wir das ausf¸hren, was wir als recht und gut einsehen? dafl wir wirklich Herren ¸ber die Mittel zu unsern Zwecken sind? Und wo sollen, wo kˆnnen unsere n‰chsten Zwecke liegen als innerhalb des Hauses? Alle immer wiederkehrenden, unentbehrlichen Bed¸rfnisse, wo erwarten wir, wo fordern wir sie als da, wo wir aufstehn und uns niederlegen, wo K¸che und Keller und jede Art von Vorrat f¸r uns und die Unsrigen immer bereit sein soll? Welche regelm‰flige T‰tigkeit wird erfordert, um diese immer wiederkehrende Ordnung in einer unverr¸ckten, lebendigen Folge durchzuf¸hren! Wie wenig M‰nnern ist es gegeben, gleichsam als ein Gestirn regelm‰flig wiederzukehren und dem Tage so wie der Nacht vorzustehn! sich ihre h‰uslichen Werkzeuge zu bilden, zu pflanzen und zu ernten, zu verwahren und auszuspenden und den Kreis immer mit Ruhe, Liebe und Zweckm‰fligkeit zu durchwandeln! Hat ein Weib einmal diese innere Herrschaft ergriffen, so macht sie den Mann, den sie liebt, erst allein dadurch zum Herrn; ihre Aufmerksamkeit erwirbt alle Kenntnisse, und ihre T‰tigkeit weifl sie alle zu benutzen. So ist sie von niemand abh‰ngig und verschafft ihrem Manne die wahre Unabh‰ngigkeit, die h‰usliche, die innere; das, was er besitzt, sieht er gesichert, das, was er erwirbt, gut benutzt, und so kann er sein Gem¸t nach groflen Gegenst‰nden wenden und, wenn das Gl¸ck gut ist, das dem Staate sein, was seiner Gattin zu Hause so wohl ansteht.”

Er machte darauf eine Beschreibung, wie er sich eine Frau w¸nsche. Ich ward rot, denn er beschrieb mich, wie ich leibte und lebte. Ich genofl im stillen meinen Triumph, um so mehr, da ich aus allen Umst‰nden sah, dafl er mich persˆnlich nicht gemeint hatte, dafl er mich eigentlich nicht kannte. Ich erinnere mich keiner angenehmern Empfindung in meinem ganzen Leben, als dafl ein Mann, den ich so sehr sch‰tzte, nicht meiner Person, sondern meiner innersten Natur den Vorzug gab. Welche Belohnung f¸hlte ich! Welche Aufmunterung war mir geworden!

Als sie weg waren, sagte meine w¸rdige Freundin l‰chelnd zu mir: “Schade, dafl die M‰nner oft denken und reden, was sie doch nicht zur Ausf¸hrung kommen lassen, sonst w‰re eine treffliche Partie f¸r meine liebe Therese geradezu gefunden.” Ich scherzte ¸ber ihre ‰uflerung und f¸gte hinzu, dafl zwar der Verstand der M‰nner sich nach Haush‰lterinnen umsehe, dafl aber ihr Herz und ihre Einbildungskraft sich nach andern Eigenschaften sehne und dafl wir Haush‰lterinnen eigentlich gegen die liebensw¸rdigen und reizenden M‰dchen keinen Wettstreit aushalten kˆnnen. Diese Worte sagte ich Lydien zum Gehˆr: denn sie verbarg nicht, dafl Lothario groflen Eindruck auf sie gemacht habe, und auch er schien bei jedem neuen Besuche immer aufmerksamer auf sie zu werden. Sie war arm, sie war nicht von Stande, sie konnte an keine Heirat mit ihm denken; aber sie konnte der Wonne nicht widerstehen, zu reizen und gereizt zu werden. Ich hatte nie geliebt und liebte auch jetzt nicht; allein ob es mir schon unendlich angenehm war zu sehen, wohin meine Natur von einem so verehrten Manne gestellt und gerechnet werde, will ich doch nicht leugnen, dafl ich damit nicht ganz zufrieden war. Ich w¸nschte nun auch, dafl er mich kennen, dafl er persˆnlich Anteil an mir nehmen mˆchte. Es entstand bei mir dieser Wunsch ohne irgendeinen bestimmten Gedanken, was daraus folgen kˆnnte.

Der grˆflte Dienst, den ich meiner Wohlt‰terin leistete, war, dafl ich die schˆnen Waldungen ihrer G¸ter in Ordnung zu bringen suchte. In diesen kˆstlichen Besitzungen, deren groflen Wert Zeit und Umst‰nde immer vermehren, ging es leider nur immer nach dem alten Schlendrian fort, nirgends war Plan und Ordnung und des Stehlens und des Unterschleifs kein Ende. Manche Berge standen ˆde, und einen gleichen Wuchs hatten nur noch die ‰ltesten Schl‰ge. Ich beging alles selbst mit einem geschickten Forstmann, ich liefl die Waldungen messen, ich liefl schlagen, s‰en, pflanzen, und in kurzer Zeit war alles im Gange. Ich hatte mir, um leichter zu Pferde fortzukommen und auch zu Fufle nirgends gehindert zu sein, Mannskleider machen lassen, ich war an vielen Orten, und man f¸rchtete mich ¸berall.

VII. Buch, 6. Kapitel–2

Ich hˆrte, dafl die Gesellschaft junger Freunde mit Lothario wieder ein Jagen angestellt hatte; zum erstenmal in meinem Leben fiel mir’s ein zu scheinen oder, dafl ich mir nicht unrecht tue, in den Augen des trefflichen Mannes f¸r das zu gelten, was ich war. Ich zog meine Mannskleider an, nahm die Flinte auf den R¸cken und ging mit unserm J‰ger hinaus, um die Gesellschaft an der Grenze zu erwarten. Sie kam, Lothario kannte mich nicht gleich; einer von den Neffen meiner Wohlt‰terin stellte mich ihm als einen geschickten Forstmann vor, scherzte ¸ber meine Jugend und trieb sein Spiel zu meinem Lobe so lange, bis endlich Lothario mich erkannte. Der Neffe sekundierte meine Absicht, als wenn wir es abgeredet h‰tten. Umst‰ndlich erz‰hlte er und dankbar, was ich f¸r die G¸ter der Tante und also auch f¸r ihn getan hatte.

Lothario hˆrte mit Aufmerksamkeit zu, unterhielt sich mit mir, fragte nach allen Verh‰ltnissen der G¸ter und der Gegend, und ich war froh, meine Kenntnisse vor ihm ausbreiten zu kˆnnen; ich bestand in meinem Examen sehr gut, ich legte ihm einige Vorschl‰ge zu gewissen Verbesserungen zur Pr¸fung vor, er billigte sie, erz‰hlte mir ‰hnliche Beispiele und verst‰rkte meine Gr¸nde durch den Zusammenhang, den er ihnen gab. Meine Zufriedenheit wuchs mit jedem Augenblick. Aber gl¸cklicherweise wollte ich nur gekannt, wollte nicht geliebt sein: denn–wir kamen nach Hause, und ich bemerkte mehr als sonst, dafl die Aufmerksamkeit, die er Lydien bezeigte, eine heimliche Neigung zu verraten schien. Ich hatte meinen Endzweck erreicht und war doch nicht ruhig; er zeigte von dem Tage an eine wahre Achtung und ein schˆnes Vertrauen gegen mich, er redete mich in Gesellschaft gewˆhnlich an, fragte mich um meine Meinung und schien besonders in Haushaltungssachen das Zutrauen zu mir zu haben, als wenn ich alles wisse. Seine Teilnahme munterte mich auflerordentlich auf; sogar wenn von allgemeiner Landesˆkonomie und von Finanzen die Rede war, zog er mich ins Gespr‰ch, und ich suchte in seiner Abwesenheit mehr Kenntnisse von der Provinz, ja von dem ganzen Lande zu erlangen. Es ward mir leicht, denn es wiederholte sich nur im groflen, was ich im kleinen so genau wuflte und kannte.

Er kam von dieser Zeit an ˆfter in unser Haus. Es ward, ich kann wohl sagen, von allem gesprochen, aber gewissermaflen ward unser Gespr‰ch zuletzt immer ˆkonomisch, wenn auch nur im uneigentlichen Sinne. Was der Mensch durch konsequente Anwendung seiner Kr‰fte, seiner Zeit, seines Geldes, selbst durch gering scheinende Mittel f¸r ungeheure Wirkungen hervorbringen kˆnne, dar¸ber ward viel gesprochen.

Ich widerstand der Neigung nicht, die mich zu ihm zog, und ich f¸hlte leider nur zu bald, wie sehr, wie herzlich, wie rein und aufrichtig meine Liebe war, da ich immer mehr zu bemerken glaubte, dafl seine ˆftern Besuche Lydien und nicht mir galten. Sie wenigstens war auf das lebhafteste davon ¸berzeugt; sie machte mich zu ihrer Vertrauten, und dadurch fand ich mich noch einigermaflen getrˆstet. Das, was sie so sehr zu ihrem Vorteil auslegte, fand ich keinesweges bedeutend; von der Absicht einer ernsthaften, dauernden Verbindung zeigte sich keine Spur, um so deutlicher sah ich den Hang des leidenschaftlichen M‰dchens, um jeden Preis die Seinige zu werden.

So standen die Sachen, als mich die Frau vom Hause mit einem unvermuteten Antrag ¸berraschte. “Lothario”, sagte sie, “bietet Ihnen seine Hand an und w¸nscht Sie in seinem Leben immer zur Seite zu haben.” Sie verbreitete sich ¸ber meine Eigenschaften und sagte mir, was ich so gerne anhˆrte: dafl Lothario ¸berzeugt sei, in mir die Person gefunden zu haben, die er so lange gew¸nscht hatte.

Das hˆchste Gl¸ck war nun f¸r mich erreicht: ein Mann verlangte mich, den ich so sehr sch‰tzte, bei dem und mit dem ich eine vˆllige, freie, ausgebreitete, n¸tzliche Wirkung meiner angebornen Neigung, meines durch ¸bung erworbenen Talents vor mir sah; die Summe meines ganzen Daseins schien sich ins Unendliche vermehrt zu haben. Ich gab meine Einwilligung, er kam selbst, er sprach mit mir allein, er reichte mir seine Hand, er sah mir in die Augen, er umarmte mich und dr¸ckte einen Kufl auf meine Lippen. Es war der erste und letzte. Er vertraute mir seine ganze Lage, was ihn sein amerikanischer Feldzug gekostet, welche Schulden er auf seine G¸ter geladen, wie er sich mit seinem Grofloheim einigermaflen dar¸ber entzweit habe, wie dieser w¸rdige Mann f¸r ihn zu sorgen denke, aber freilich auf seine eigene Art: er wolle ihm eine reiche Frau geben, da einem wohldenkenden Manne doch nur mit einer haush‰ltischen gedient sei; er hoffe durch seine Schwester den Alten zu bereden. Er legte mir den Zustand seines Vermˆgens, seine Plane, seine Aussichten vor und erbat sich meine Mitwirkung. Nur bis zur Einwilligung seines Oheims sollte es ein Geheimnis bleiben.

Kaum hatte er sich entfernt, so fragte mich Lydie, ob er etwa von ihr gesprochen habe. Ich sagte nein und machte ihr Langeweile mit Erz‰hlung von ˆkonomischen Gegenst‰nden. Sie war unruhig, mifllaunig, und sein Betragen, als er wiederkam, verbesserte ihren Zustand nicht.

Doch ich sehe, dafl die Sonne sich zu ihrem Untergange neigt! Es ist Ihr Gl¸ck, mein Freund, Sie h‰tten sonst die Geschichte, die ich mir so gerne selbst erz‰hle, mit allen ihren kleinen Umst‰nden durchhˆren m¸ssen. Lassen Sie mich eilen, wir nahen einer Epoche, bei der nicht gut zu verweilen ist.

Lothario machte mich mit seiner trefflichen Schwester bekannt, und diese wuflte mich auf eine schickliche Weise beim Oheim einzuf¸hren; ich gewann den Alten, er willigte in unsre W¸nsche, und ich kehrte mit einer gl¸cklichen Nachricht zu meiner Wohlt‰terin zur¸ck. Die Sache war im Hause nun kein Geheimnis mehr, Lydie erfuhr sie, sie glaubte etwas Unmˆgliches zu vernehmen. Als sie endlich daran nicht mehr zweifeln konnte, verschwand sie auf einmal, und man wuflte nicht, wohin sie sich verloren hatte.

Der Tag unserer Verbindung nahte heran; ich hatte ihn schon oft um sein Bildnis gebeten, und ich erinnerte ihn, eben als er wegreisen wollte, nochmals an sein Versprechen. “Sie haben vergessen”, sagte er, “mir das Geh‰use zu geben, wohinein Sie es gepaflt w¸nschen.” Es war so: ich hatte ein Geschenk von einer Freundin, das ich sehr wert hielt. Von ihren Haaren war ein verzogener Name unter dem ‰uflern Glase befestigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein, worauf eben ihr Bild gemalt werden sollte, als sie mir ungl¸cklicherweise durch den Tod entrissen wurde. Lotharios Neigung begl¸ckte mich in dem Augenblicke, da ihr Verlust mir noch sehr schmerzhaft war, und ich w¸nschte die L¸cke, die sie mir in ihrem Geschenk zur¸ckgelassen hatte, durch das Bild meines Freundes auszuf¸llen.

Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein Schmuckk‰stchen und erˆffne es in seiner Gegenwart; kaum sieht er hinein, so erblickt er ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauenzimmers, er nimmt es in die Hand, betrachtet es mit Aufmerksamkeit und fragt hastig: “Wen soll dies Portr‰t vorstellen?”–“Meine Mutter”, versetzte ich. “H‰tt ich doch geschworen”, rief er aus, “es sei das Portr‰t einer Frau von Saint-Alban, die ich vor einigen Jahren in der Schweiz antraf.”–“Es ist einerlei Person”, versetzte ich l‰chelnd, “und Sie haben also Ihre Schwiegermutter, ohne es zu wissen, kennengelernt. Saint-Alban ist der romantische Name, unter dem meine Mutter reist; sie befindet sich unter demselben noch gegenw‰rtig in Frankreich.”

“Ich bin der ungl¸cklichste aller Menschen!” rief er aus, indem er das Bild in das K‰stchen zur¸ckwarf, seine Augen mit der Hand bedeckte und sogleich das Zimmer verliefl. Er warf sich auf sein Pferd, ich lief auf den Balkon und rief ihm nach; er kehrte sich um, warf mir eine Hand zu; entfernte sich eilig–und ich habe ihn nicht wieder gesehen.”

Die Sonne ging unter, Therese sah mit unverwandtem Blicke in die Glut, und ihre beiden schˆnen Augen f¸llten sich mit Tr‰nen.

Therese schwieg und legte auf ihres neuen Freundes H‰nde ihre Hand; er k¸flte sie mit Teilnehmung, sie trocknete ihre Tr‰nen und stand auf. “Lassen Sie uns zur¸ckgehen”, sagte sie, “und f¸r die Unsrigen sorgen!”

Das Gespr‰ch auf dem Wege war nicht lebhaft; sie kamen zur Gartent¸re herein und sahen Lydien auf einer Bank sitzen; sie stand auf, wich ihnen aus und begab sich ins Haus zur¸ck; sie hatte ein Papier in der Hand, und zwei kleine M‰dchen waren bei ihr. “Ich sehe”, sagte Therese, “sie tr‰gt ihren einzigen Trost, den Brief Lotharios, noch immer bei sich. Ihr Freund verspricht ihr, dafl sie gleich, sobald er sich wohl befindet, wieder an seiner Seite leben soll; er bittet sie, so lange ruhig bei mir zu verweilen. An diesen Worten h‰ngt sie, mit diesen Zeilen trˆstet sie sich, aber seine Freunde sind ¸bel bei ihr angeschrieben.”

Indessen waren die beiden Kinder herangekommen, begr¸flten Theresen und gaben ihr Rechenschaft von allem, was in ihrer Abwesenheit im Hause vorgegangen war. “Sie sehen hier noch einen Teil meiner Besch‰ftigung”, sagte Therese. “Ich habe mit Lotharios trefflicher Schwester einen Bund gemacht; wir erziehen eine Anzahl Kinder gemeinschaftlich: ich bilde die lebhaften und dienstfertigen Haush‰lterinnen, und sie ¸bernimmt diejenigen, an denen sich ein ruhigeres und feineres Talent zeigt; denn es ist billig, dafl man auf jede Weise f¸r das Gl¸ck der M‰nner und der Haushaltung sorge. Wenn Sie meine edle Freundin kennenlernen, so werden Sie ein neues Leben anfangen: ihre Schˆnheit, ihre G¸te macht sie der Anbetung einer ganzen Welt w¸rdig.” Wilhelm getraute sich nicht zu sagen, dafl er leider die schˆne Gr‰fin schon kenne und dafl ihn sein vor¸bergehendes Verh‰ltnis zu ihr auf ewig schmerzen werde: er war sehr zufrieden, dafl Therese das Gespr‰ch nicht fortsetzte und dafl ihre Gesch‰fte sie in das Haus zur¸ckzugehen nˆtigten. Er befand sich nun allein, und die letzte Nachricht, dafl die junge, schˆne Gr‰fin auch schon genˆtigt sei, durch Wohlt‰tigkeit den Mangel an eignem Gl¸ck zu ersetzen, machte ihn ‰uflerst traurig; er f¸hlte, dafl es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zerstreuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder Gl¸ckseligkeit zu setzen. Er pries Theresen gl¸cklich, dafl selbst bei jener unerwarteten traurigen Ver‰nderung keine Ver‰nderung in ihr selbst vorzugehen brauchte. “Wie gl¸cklich ist der ¸ber alles”, rief er aus, “der, um sich mit dem Schicksal in Einigkeit zu setzen, nicht sein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwerfen braucht!”

Therese kam auf sein Zimmer und bat um Verzeihung, dafl sie ihn stˆre. “Hier in dem Wandschrank”, sagte sie, “steht meine ganze Bibliothek; es sind eher B¸cher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Lydie verlangt ein geistliches Buch, es findet sich wohl auch eins und das andere darunter. Die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie m¸flten zur Zeit der Not geistlich sein; sie sehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzenei an, die man mit Widerwillen zu sich nimmt, wenn man sich schlecht befindet; sie sehen in einem Geistlichen, einem Sittenlehrer nur einen Arzt, den man nicht geschwind genug aus dem Hause loswerden kann: ich aber gestehe gern, ich habe vom Sittlichen den Begriff als von einer Di‰t, die eben dadurch nur Di‰t ist, wenn ich sie zur Lebensregel mache, wenn ich sie das ganze Jahr nicht aufler Augen lasse.”

Sie suchten unter den B¸chern und fanden einige sogenannte Erbauungsschriften. “Die Zuflucht zu diesen B¸chern”, sagte Therese, “hat Lydie von meiner Mutter gelernt: Schauspiele und Romane waren ihr Leben, solange der Liebhaber treu blieb; seine Entfernung brachte sogleich diese B¸cher wieder in Kredit. Ich kann ¸berhaupt nicht begreifen”, fuhr sie fort, “wie man hat glauben kˆnnen, dafl Gott durch B¸cher und Geschichten zu uns spreche. Wem die Welt nicht unmittelbar erˆffnet, was sie f¸r ein Verh‰ltnis zu ihm hat, wem sein Herz nicht sagt, was er sich und andern schuldig ist, der wird es wohl schwerlich aus B¸chern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind, unsern Irrt¸mern Namen zu geben.”

Sie liefl Wilhelmen allein, und er brachte seinen Abend mit Revision der kleinen Bibliothek zu; sie war wirklich blofl durch Zufall zusammengekommen.

Therese blieb die wenigen Tage, die Wilhelm bei ihr verweilte, sich immer gleich; sie erz‰hlte ihm die Folgen ihrer Begebenheit in verschiedenen Abs‰tzen sehr umst‰ndlich. Ihrem Ged‰chtnis war Tag und Stunde, Platz und Name gegenw‰rtig, und wir ziehen, was unsern Lesern zu wissen nˆtig ist, hier ins Kurze zusammen.

Die Ursache von Lotharios rascher Entfernung liefl sich leider leicht erkl‰ren: er war Theresens Mutter auf ihrer Reise begegnet, ihre Reize zogen ihn an, sie war nicht karg gegen ihn, und nun entfernte ihn dieses ungl¸ckliche, schnell vor¸bergegangene Abenteuer von der Verbindung mit einem Frauenzimmer, das die Natur selbst f¸r ihn gebildet zu haben schien. Therese blieb in dem reinen Kreise ihrer Besch‰ftigung und ihrer Pflicht. Man erfuhr, dafl Lydie sich heimlich in der Nachbarschaft aufgehalten habe. Sie war gl¸cklich, als die Heirat, obgleich aus unbekannten Ursachen, nicht vollzogen wurde; sie suchte sich Lothario zu n‰hern, und es schien, dafl er mehr aus Verzweiflung als aus Neigung, mehr ¸berrascht als mit ¸berlegung, mehr aus Langerweile als aus Vorsatz ihren W¸nschen begegnet sei.

Therese war ruhig dar¸ber, sie machte keine weitern Anspr¸che auf ihn, und selbst wenn er ihr Gatte gewesen w‰re, h‰tte sie vielleicht Mut genug gehabt, ein solches Verh‰ltnis zu ertragen, wenn es nur ihre h‰usliche Ordnung nicht gestˆrt h‰tte; wenigstens ‰uflerte sie oft, dafl eine Frau, die das Hauswesen recht zusammenhalte, ihrem Manne jede kleine Phantasie nachsehen und von seiner R¸ckkehr jederzeit gewifl sein kˆnne.

Theresens Mutter hatte bald die Angelegenheiten ihres Vermˆgens in Unordnung gebracht; ihre Tochter muflte es entgelten, denn sie erhielt wenig von ihr; die alte Dame, Theresens Besch¸tzerin, starb, hinterliefl ihr das kleine Freigut und ein artiges Kapital zum Verm‰chtnis. Therese wuflte sich sogleich in den engen Kreis zu finden, Lothario bot ihr ein besseres Besitztum an, Jarno machte den Unterh‰ndler, sie schlug es aus. “Ich will”, sagte sie, “im kleinen zeigen, dafl ich wert war, das Grofle mit ihm zu teilen; aber das behalte ich mir vor, dafl, wenn der Zufall mich um meiner oder anderer willen in Verlegenheit setzt, ich zuerst zu meinem werten Freund ohne Bedenken die Zuflucht nehmen kˆnne.”

Nichts bleibt weniger verborgen und ungenutzt als zweckm‰flige T‰tigkeit. Kaum hatte sie sich auf ihrem kleinen Gute eingerichtet, so suchten die Nachbarn schon ihre n‰here Bekanntschaft und ihren Rat, und der neue Besitzer der angrenzenden G¸ter gab nicht undeutlich zu verstehen, dafl es nur auf sie ankomme, ob sie seine Hand annehmen und Erbe des grˆflten Teils seines Vermˆgens werden wolle. Sie hatte schon gegen Wilhelmen dieses Verh‰ltnisses erw‰hnt und scherzte gelegentlich ¸ber Heiraten und Miflheiraten mit ihm.

“Es gibt”, sagte sie, “den Menschen nichts mehr zu reden, als wenn einmal eine Heirat geschieht, die sie nach ihrer Art eine Miflheirat nennen kˆnnen, und doch sind die Miflheiraten viel gewˆhnlicher als die Heiraten, denn es sieht leider nach einer kurzen Zeit mit den meisten Verbindungen gar mifllich aus. Die Vermischung der St‰nde durch Heiraten verdienen nur insofern Miflheiraten genannt zu werden, als der eine Teil an der angebornen, ungewohnten und gleichsam notwendig gewordenen Existenz des andern keinen Teil nehmen kann. Die verschiedenen Klassen haben verschiedene Lebensweisen, die sie nicht miteinander teilen noch verwechseln kˆnnen, und das ist’s, warum Verbindungen dieser Art besser nicht geschlossen werden; aber Ausnahmen und recht gl¸ckliche Ausnahmen sind mˆglich. So ist die Heirat eines jungen M‰dchens mit einem bejahrten Manne immer mifllich, und doch habe ich sie recht gut ausschlagen sehen. F¸r mich kenne ich nur eine Miflheirat, wenn ich feiern und repr‰sentieren m¸flte; ich wollte lieber jedem ehrbaren P‰chterssohn aus der Nachbarschaft meine Hand geben.”

Wilhelm gedachte nunmehr zur¸ckzukehren und bat seine neue Freundin, ihm noch ein Abschiedswort bei Lydien zu verschaffen. Das leidenschaftliche M‰dchen liefl sich bewegen, er sagte ihr einige freundliche Worte, sie versetzte: “Den ersten Schmerz hab ich ¸berwunden, Lothario wird mir ewig teuer sein; aber seine Freunde kenne ich, es ist mir leid, dafl er so umgeben ist. Der Abbe w‰re f‰hig, wegen einer Grille die Menschen in Not zu lassen oder sie gar hineinzust¸rzen; der Arzt mˆchte gern alles ins gleiche bringen; Jarno hat kein Gem¸t und Sie–wenigstens keinen Charakter! Fahren Sie nur so fort, und lassen Sie sich als Werkzeug dieser drei Menschen brauchen, man wird Ihnen noch manche Exekution auftragen. Lange, mir ist es recht wohl bekannt, war ihnen meine Gegenwart zuwider; ich hatte ihr Geheimnis nicht entdeckt, aber ich hatte beobachtet, dafl sie ein Geheimnis verbargen. Wozu diese verschlossenen Zimmer? diese wunderlichen G‰nge? Warum kann niemand zu dem groflen Turm gelangen? Warum verbannten sie mich, sooft sie nur konnten, in meine Stube? Ich will gestehen, dafl Eifersucht zuerst mich auf diese Entdeckung brachte, ich f¸rchtete, eine gl¸ckliche Nebenbuhlerin sei irgendwo versteckt. Nun glaube ich das nicht mehr, ich bin ¸berzeugt, dafl Lothario mich liebt, dafl er es redlich mit mir meint, aber ebenso gewifl bin ich ¸berzeugt, dafl er von seinen k¸nstlichen und falschen Freunden betrogen wird. Wenn Sie sich um ihn verdient machen wollen, wenn Ihnen verziehen werden soll, was Sie an mir verbrochen haben, so befreien Sie ihn aus den H‰nden dieser Menschen. Doch was hoffe ich! ¸berreichen Sie ihm diesen Brief, wiederholen Sie, was er enth‰lt: dafl ich ihn ewig lieben werde, dafl ich mich auf sein Wort verlasse. Ach!” rief sie aus, indem sie aufstand und am Halse Theresens weinte, “er ist von meinen Feinden umgeben, sie werden ihn zu bereden suchen, dafl ich ihm nichts aufgeopfert habe; oh! der beste Mann mag gerne hˆren, dafl er jedes Opfer wert ist, ohne daf¸r dankbar sein zu d¸rfen.”

Wilhelms Abschied von Theresen war heiterer; sie w¸nschte ihn bald wiederzusehen. “Sie kennen mich ganz!” sagte sie, “Sie haben mich immer reden lassen; es ist das n‰chste Mal Ihre Pflicht, meine Aufrichtigkeit zu erwidern.”

Auf seiner R¸ckreise hatte er Zeit genug, diese neue, helle Erscheinung lebhaft in der Erinnerung zu betrachten. Welch ein Zutrauen hatte sie ihm eingeflˆflt! Er dachte an Mignon und Felix, wie gl¸cklich die Kinder unter einer solchen Aufsicht werden kˆnnten; dann dachte er an sich selbst und f¸hlte, welche Wonne es sein m¸sse, in der N‰he eines so ganz klaren menschlichen Wesens zu leben. Als er sich dem Schlofl n‰herte, fiel ihm der Turm mit den vielen G‰ngen und Seitengeb‰uden mehr als sonst auf; er nahm sich vor, bei der n‰chsten Gelegenheit Jarno oder den Abbe dar¸ber zur Rede zu stellen.

VII. Buch, 7. Kapitel

Siebentes Kapitel

Als Wilhelm nach dem Schlosse kam, fand er den edlen Lothario auf dem Wege der vˆlligen Besserung; der Arzt und der Abbe waren nicht zugegen, Jarno allein war geblieben. In kurzer Zeit ritt der Genesende schon wieder aus, bald allein, bald mit seinen Freunden. Sein Gespr‰ch war ernsthaft und gef‰llig, seine Unterhaltung belehrend und erquickend; oft bemerkte man Spuren einer zarten F¸hlbarkeit, ob er sie gleich zu verbergen suchte und, wenn sie sich wider seinen Willen zeigte, beinah zu miflbilligen schien.

So war er eines Abends still bei Tische, ob er gleich heiter aussah.

“Sie haben heute gewifl ein Abenteuer gehabt”, sagte endlich Jarno, “und zwar ein angenehmes.”

“Wie Sie sich auf Ihre Leute verstehen!” versetzte Lothario. “Ja, es ist mir ein sehr angenehmes Abenteuer begegnet. Zu einer andern Zeit h‰tte ich es vielleicht nicht so reizend gefunden als diesmal, da es mich so empf‰nglich antraf. Ich ritt gegen Abend jenseit des Wassers durch die Dˆrfer, einen Weg, den ich oft genug in fr¸hern Jahren besucht hatte. Mein kˆrperliches Leiden mufl mich m¸rber gemacht haben, als ich selbst glaubte: ich f¸hlte mich weich und bei wieder auflebenden Kr‰ften wie neugeboren. Alle Gegenst‰nde erschienen mir in ebendem Lichte, wie ich sie in fr¸hern Jahren gesehen hatte, alle so lieblich, so anmutig, so reizend, wie sie mir lange nicht erschienen sind. Ich merkte wohl, dafl es Schwachheit war; ich liefl mir sie aber ganz wohl gefallen, ritt sachte hin, und es wurde mir ganz begreiflich, wie Menschen eine Krankheit liebgewinnen kˆnnen, welche uns zu s¸flen Empfindungen stimmt. Sie wissen vielleicht, was mich ehemals so oft diesen Weg f¸hrte?”

“Wenn ich mich recht erinnere”, versetzte Jarno, “so war es ein kleiner Liebeshandel, der sich mit der Tochter eines Pachters entspannen hatte.”

“Man d¸rfte es wohl einen groflen nennen”, versetzte Lothario; “denn wir hatten uns beide sehr lieb, recht im Ernste, und auch ziemlich lange. Zuf‰lligerweise traf heute alles zusammen, mir die ersten Zeiten unserer Liebe recht lebhaft darzustellen. Die Knaben sch¸ttelten eben wieder Maik‰fer von den B‰umen, und das Laub der Eschen war eben nicht weiter als an dem Tage, als ich sie zum erstenmal sah. Nun war es lange, dafl ich Margareten nicht gesehen habe, denn sie ist weit weg verheiratet, nun hˆrte ich zuf‰llig, sie sei mit ihren Kindern vor wenigen Wochen gekommen, ihren Vater zu besuchen.”

“So war ja wohl dieser Spazierritt nicht so ganz zuf‰llig?”

“Ich leugne nicht”, sagte Lothario, “dafl ich sie anzutreffen w¸nschte. Als ich nicht weit von dem Wohnhaus war, sah ich ihren Vater vor der T¸re sitzen; ein Kind von ungef‰hr einem Jahre stand bei ihm. Als ich mich n‰herte, sah eine Frauensperson schnell oben zum Fenster heraus, und als ich gegen die T¸re kam, hˆrte ich jemand die Treppe herunterspringen. Ich dachte gewifl, sie sei es, und, ich will’s nur gestehen, ich schmeichelte mir, sie habe mich erkannt und sie komme mir eilig entgegen. Aber wie besch‰mt war ich, als sie zur T¸re heraussprang, das Kind, dem die Pferde n‰her kamen, anfaflte und in das Haus hineintrug. Es war mir eine unangenehme Empfindung, und nur wurde meine Eitelkeit ein wenig getrˆstet, als ich, wie sie hinwegeilte, an ihrem Nacken und an dem freistehenden Ohr eine merkliche Rˆte zu sehen glaubte.

Ich hielt still und sprach mit dem Vater und schielte indessen an den Fenstern herum, ob sie sich nicht hier oder da blicken liefle; allein ich bemerkte keine Spur von ihr. Fragen wollt ich auch nicht, und so ritt ich vorbei. Mein Verdrufl wurde durch Verwunderung einigermaflen gemildert: denn ob ich gleich kaum das Gesicht gesehen hatte, so schien sie mir fast gar nicht ver‰ndert, und zehn Jahre sind doch eine Zeit! ja sie schien mir j¸nger, ebenso schlank, ebenso leicht auf den F¸flen, der Hals womˆglich noch zierlicher als vorher, ihre Wange ebenso leicht der liebensw¸rdigen Rˆte empf‰nglich, dabei Mutter von sechs Kindern, vielleicht noch von mehrern. Es paflte diese Erscheinung so gut in die ¸brige Zauberwelt, die mich umgab, dafl ich um so mehr mit einem verj¸ngten Gef¸hl weiterritt und an dem n‰chsten Walde erst umkehrte, als die Sonne im Untergehen war. Sosehr mich auch der fallende Tau an die Vorschrift des Arztes erinnerte und es wohl r‰tlicher gewesen w‰re, gerade nach Hause zu kehren, so nahm ich doch wieder meinen Weg nach der Seite des Pachthofs zur¸ck. Ich bemerkte, dafl ein weibliches Geschˆpf in dem Garten auf und nieder ging, der mit einer leichten Hecke umzogen ist. Ich ritt auf dem Fuflpfade nach der Hecke zu, und ich fand mich eben nicht weit von der Person, nach der ich verlangte.

Ob mir gleich die Abendsonne in den Augen lag, sah ich doch, dafl sie sich am Zaune besch‰ftigte, der sie nur leicht bedeckte. Ich glaubte meine alte Geliebte zu erkennen. Da ich an sie kam, hielt ich still, nicht ohne Regung des Herzens. Einige hohe Zweige wilder Rosen, die eine leise Luft hin und her wehte, machten mir ihre Gestalt undeutlich. Ich redete sie an und fragte, wie sie lebe. Sie antwortete mir mit halber Stimme: “Ganz wohl”. Indes bemerkte ich, dafl ein Kind hinter dem Zaune besch‰ftigt war, Blumen auszureiflen, und nahm die Gelegenheit, sie zu fragen, wo denn ihre ¸brigen Kinder seien. “Es ist nicht mein Kind”, sagte sie, “das w‰re fr¸h!” und in diesem Augenblick schickte sich’s, dafl ich durch die Zweige ihr Gesicht genau sehen konnte, und ich wuflte nicht, was ich zu der Erscheinung sagen sollte. Es war meine Geliebte und war es nicht. Fast j¸nger, fast schˆner, als ich sie vor zehen Jahren gekannt hatte. “Sind Sie denn nicht die Tochter des Pachters?” fragte ich halb verwirrt. “Nein”, sagte sie, “ich bin ihre Muhme.”

“Aber Sie gleichen einander so auflerordentlich”, versetzte ich.

“Das sagt jedermann, der sie vor zehen Jahren gekannt hat.”

Ich fuhr fort, sie verschiedenes zu fragen; mein Irrtum war mir angenehm, ob ich ihn gleich schon entdeckt hatte. Ich konnte mich von dem lebendigen Bilde voriger Gl¸ckseligkeit, das vor mir stand, nicht losreiflen. Das Kind hatte sich indessen von ihr entfernt und war, Blumen zu suchen, nach dem Teiche gegangen. Sie nahm Abschied und eilte dem Kinde nach.

Indessen hatte ich doch erfahren, dafl meine alte Geliebte noch wirklich in dem Hause ihres Vaters sei, und indem ich ritt, besch‰ftigte ich mich mit Mutmaflungen, ob sie selbst oder die Muhme das Kind vor den Pferden gesichert habe. Ich wiederholte mir die ganze Geschichte mehrmals im Sinne, und ich w¸flte nicht leicht, dafl irgend etwas angenehmer auf mich gewirkt h‰tte. Aber ich f¸hle wohl, ich bin noch krank, und wir wollen den Doktor bitten, dafl er uns von dem ¸berreste dieser Stimmung erlˆse.”

Es pflegt in vertraulichen Bekenntnissen anmutiger Liebesbegebenheiten wie mit Gespenstergeschichten zu gehen: ist nur erst eine erz‰hlt, so flieflen die ¸brigen von selbst zu.

Unsere kleine Gesellschaft fand in der R¸ckerinnerung vergangener Zeiten manchen Stoff dieser Art. Lothario hatte am meisten zu erz‰hlen. Jarnos Geschichten trugen alle einen eigenen Charakter, und was Wilhelm zu gestehen hatte, wissen wir schon. Indessen war ihm bange, dafl man ihn an die Geschichte mit der Gr‰fin erinnern mˆchte; allein niemand dachte derselben auch nur auf die entfernteste Weise.

“Es ist wahr”, sagte Lothario, “angenehmer kann keine Empfindung in der Welt sein, als wenn das Herz nach einer gleichg¸ltigen Pause sich der Liebe zu einem neuen Gegenstande wieder ˆffnet, und doch wollt ich diesem Gl¸ck f¸r mein Leben entsagt haben, wenn mich das Schicksal mit Theresen h‰tte verbinden wollen. Man ist nicht immer J¸ngling, und man sollte nicht immer Kind sein. Dem Manne, der die Welt kennt, der weifl, was er darin zu tun, was er von ihr zu hoffen hat, was kann ihm erw¸nschter sein, als eine Gattin zu finden, die ¸berall mit ihm wirkt und die ihm alles vorzubereiten weifl, deren T‰tigkeit dasjenige aufnimmt, was die seinige liegenlassen mufl, deren Gesch‰ftigkeit sich nach allen Seiten verbreitet, wenn die seinige nur einen geraden Weg fortgehen darf. Welchen Himmel hatte ich mir mit Theresen getr‰umt! nicht den Himmel eines schw‰rmerischen Gl¸cks, sondern eines sichern Lebens auf der Erde: Ordnung im Gl¸ck, Mut im Ungl¸ck, Sorge f¸r das Geringste, und eine Seele, f‰hig, das Grˆflte zu fassen und wieder fahrenzulassen. Oh! ich sah in ihr gar wohl die Anlagen, deren Entwickelung wir bewundern, wenn wir in der Geschichte Frauen sehen, die uns weit vorz¸glicher als alle M‰nner erscheinen: diese Klarheit ¸ber die Umst‰nde, diese Gewandtheit in allen F‰llen, diese Sicherheit im einzelnen, wodurch das Ganze sich immer so gut befindet, ohne dafl sie jemals daran zu denken scheinen. Sie kˆnnen wohl”, fuhr er fort, indem er sich l‰chelnd gegen Wilhelmen wendete, “mir verzeihen, wenn Therese mich Aurelien entf¸hrte: mit jener konnte ich ein heitres Leben hoffen, da bei dieser auch nicht an eine gl¸ckliche Stunde zu denken war.”

“Ich leugne nicht”, versetzte Wilhelm, “dafl ich mit grofler Bitterkeit im Herzen gegen Sie hierhergekommen hin und dafl ich mir vorgenommen hatte, Ihr Betragen gegen Aurelien sehr streng zu tadeln.”

“Auch verdient es Tadel”, sagte Lothario; “ich h‰tte meine Freundschaft zu ihr nicht mit dem Gef¸hl der Liebe verwechseln sollen, ich h‰tte nicht an die Stelle der Achtung, die sie verdiente, eine Neigung eindr‰ngen sollen, die sie weder erregen noch erhalten konnte. Ach! sie war nicht liebensw¸rdig, wenn sie liebte, und das ist das grˆflte Ungl¸ck, das einem Weibe begegnen kann.”

“Es sei drum”, erwiderte Wilhelm, “wir kˆnnen nicht immer das Tadelnswerte vermeiden, nicht vermeiden, dafl unsere Gesinnungen und Handlungen auf eine sonderbare Weise von ihrer nat¸rlichen und guten Richtung abgelenkt werden; aber gewisse Pflichten sollten wir niemals aus den Augen setzen. Die Asche der Freundin ruhe sanft; wir wollen, ohne uns zu schelten und sie zu tadeln, mitleidig Blumen auf ihr Grab streuen. Aber bei dem Grabe, in welchem die ungl¸ckliche Mutter ruht, lassen Sie mich fragen, warum Sie sich des Kindes nicht annehmen? eines Sohnes, dessen sich jedermann erfreuen w¸rde und den Sie ganz und gar zu vernachl‰ssigen scheinen. Wie kˆnnen Sie bei Ihren reinen und zarten Gef¸hlen das Herz eines Vaters g‰nzlich verleugnen? Sie haben diese ganze Zeit noch mit keiner Silbe an das kˆstliche Geschˆpf gedacht, von dessen Anmut so viel zu erz‰hlen w‰re.”

“Von wem reden Sie?” versetzte Lothario, “ich verstehe Sie nicht.”

“Von wem anders als von Ihrem Sohne, dem Sohne Aureliens, dem schˆnen Kinde, dem zu seinem Gl¸cke nichts fehlt, als dafl ein z‰rtlicher Vater sich seiner annimmt?”

“Sie irren sehr, mein Freund”, rief Lothario; “Aurelie hatte keinen Sohn, am wenigsten von mir, ich weifl von keinem Kinde, sonst w¸rde ich mich dessen mit Freuden annehmen; aber auch im gegenw‰rtigen Falle will ich gern das kleine Geschˆpf als eine Verlassenschaft von ihr ansehen und f¸r seine Erziehung sorgen. Hat sie sich denn irgend etwas merken lassen, dafl der Knabe ihr, dafl er mir zugehˆre?”

“Nicht dafl ich mich erinnere, ein ausdr¸ckliches Wort von ihr gehˆrt zu haben, es war aber einmal so angenommen, und ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt.”

“Ich kann”, fiel Jarno ein, “einigen Aufschlufl hier¸ber geben. Ein altes Weib, das Sie oft m¸ssen gesehen haben, brachte das Kind zu Aurelien, sie nahm es mit Leidenschaft auf und hoffte ihre Leiden durch seine Gegenwart zu lindern: auch hat es ihr manchen vergn¸gten Augenblick gemacht.”

Wilhelm war durch diese Entdeckung sehr unruhig geworden, er gedachte der guten Mignon neben dem schˆnen Felix auf das lebhafteste, er zeigte seinen Wunsch, die beiden Kinder aus der Lage, in der sie sich befanden, herauszuziehen.

“Wir wollen damit bald fertig sein”, versetzte Lothario. “Das wunderliche M‰dchen ¸bergeben wir Theresen, sie kann unmˆglich in bessere H‰nde geraten, und was den Knaben betrifft, den, d‰cht ich, n‰hmen Sie selbst zu sich: denn was sogar die Frauen an uns ungebildet zur¸cklassen, das bilden die Kinder aus, wenn wir uns mit ihnen abgeben.”

“¸berhaupt d‰chte ich”, versetzte Jarno, “Sie entsagten kurz und gut dem Theater, zu dem Sie doch einmal kein Talent haben.”

Wilhelm war betroffen; er muflte sich zusammennehmen, denn Jarnos harte Worte hatten seine Eigenliebe nicht wenig verletzt. “Wenn Sie mich davon ¸berzeugen”, versetzte er mit gezwungenem L‰cheln, “so werden Sie mir einen Dienst erweisen, ob es gleich nur ein trauriger Dienst ist, wenn man uns aus einem Lieblingstraume aufsch¸ttelt.”

“Ohne viel weiter dar¸ber zu reden”, versetzte Jarno, “mˆchte ich Sie nur antreiben, erst die Kinder zu holen; das ¸brige wird sich schon geben.”

“Ich bin bereit dazu”, versetzte Wilhelm, “ich bin unruhig und neugierig, ob ich nicht von dem Schicksal des Knaben etwas N‰heres entdecken kann; ich verlange das M‰dchen wiederzusehen, das sich mit so vieler Eigenheit an mich angeschlossen hat.”

Man ward einig, dafl er bald abreisen sollte.

Den andern Tag hatte er sich dazu vorbereitet, das Pferd war gesattelt, nur wollte er noch von Lothario Abschied nehmen. Als die Eflzeit herbeikam, setzte man sich wie gewˆhnlich zu Tische, ohne auf den Hausherrn zu warten; er kam erst sp‰t und setzte sich zu ihnen.

“Ich wollte wetten”, sagte Jarno, “Sie haben heute Ihr z‰rtliches Herz wieder auf die Probe gestellt, Sie haben der Begierde nicht widerstehen kˆnnen, Ihre ehemalige Geliebte wiederzusehen.”

“Erraten!” versetzte Lothario.

“Lassen Sie uns hˆren”, sagte Jarno, “wie ist es abgelaufen? Ich bin ‰uflerst neugierig.”

“Ich leugne nicht”, versetzte Lothario, “dafl mir das Abenteuer mehr als billig auf dem Herzen lag; ich faflte daher den Entschlufl, nochmals hinzureiten und die Person wirklich zu sehen, deren verj¸ngtes Bild mir eine so angenehme Illusion gemacht hatte. Ich stieg schon in einiger Entfernung vom Hause ab und liefl die Pferde beiseite f¸hren, um die Kinder nicht zu stˆren, die vor dem Tore spielten. Ich ging in das Haus, und von ungef‰hr kam sie mir entgegen, denn sie war es selbst, und ich erkannte sie ungeachtet der groflen Ver‰nderung wieder. Sie war st‰rker geworden und schien grˆfler zu sein; ihre Anmut blickte durch ein gesetztes Wesen hindurch, und ihre Munterkeit war in ein stilles Nachdenken ¸bergegangen. Ihr Kopf, den sie sonst so leicht und frei trug, hing ein wenig gesenkt, und leise Falten waren ¸ber ihre Stirne gezogen.

Sie schlug die Augen nieder, als sie mich sah, aber keine Rˆte verk¸ndigte eine innere Bewegung des Herzens. Ich reichte ihr die Hand, sie gab mir die ihrige; ich fragte nach ihrem Manne, er war abwesend; nach ihren Kindern, sie trat an die T¸re und rief sie herbei, alle kamen und versammelten sich um sie. Es ist nichts reizender, als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme, und nichts ehrw¸rdiger als eine Mutter unter vielen Kindern. Ich fragte nach den Namen der Kleinen, um doch nur etwas zu sagen; sie bat mich, hineinzutreten und auf ihren Vater zu warten. Ich nahm es an; sie f¸hrte mich in die Stube, wo ich beinahe noch alles auf dem alten Platze fand, und–sonderbar! die schˆne Muhme, ihr Ebenbild, safl auf ebendem Schemel hinter dem Spinnrocken, wo ich meine Geliebte in ebender Gestalt so oft gefunden hatte. Ein kleines M‰dchen, das seiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und so stand ich in der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der Vergangenheit und Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Bl¸ten und Fr¸chte stufenweis nebeneinander leben. Die Muhme ging hinaus, einige Erfrischung zu holen, ich gab dem ehemals so geliebten Geschˆpfe die Hand und sagte zu ihr: “Ich habe eine rechte Freude, Sie wiederzusehen. “–“Sie sind sehr gut, mir das zu sagen”, versetzte sie; “aber auch ich kann Ihnen versichern, dafl ich eine unaussprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gew¸nscht, Sie nur noch einmal in meinem Leben wiederzusehen; ich habe es in Augenblicken gew¸nscht, die ich f¸r meine letzten hielt.” Sie sagte das mit einer gesetzten Stimme, ohne R¸hrung, mit jener Nat¸rlichkeit, die mich ehemals so sehr an ihr entz¸ckte. Die Muhme kam wieder, ihr Vater dazu–und ich ¸berlasse euch zu denken, mit welchem Herzen ich blieb und mit welchem ich mich entfernte.”

VII. Buch, 8. Kapitel–1

Achtes Kapitel

Wilhelm hatte auf seinem Wege nach der Stadt die edlen weiblichen Geschˆpfe, die er kannte und von denen er gehˆrt hatte, im Sinne; ihre sonderbaren Schicksale, die wenig Erfreuliches enthielten, waren ihm schmerzlich gegenw‰rtig. “Ach!” rief er aus, “arme Mariane! was werde ich noch von dir erfahren m¸ssen? Und dich, herrliche Amazone, edler Schutzgeist, dem ich so viel schuldig bin, dem ich ¸berall zu begegnen hoffe und den ich leider nirgends finde, in welchen traurigen Umst‰nden treff ich dich vielleicht, wenn du mir einst wieder begegnest!”

In der Stadt war niemand von seinen Bekannten zu Hause; er eilte auf das Theater, er glaubte sie in der Probe zu finden; alles war still, das Haus schien leer, doch sah er einen Laden offen. Als er auf die B¸hne kam, fand er Aureliens alte Dienerin besch‰ftigt, Leinwand zu einer neuen Dekoration zusammenzun‰hen; es fiel nur so viel Licht herein, als nˆtig war, ihre Arbeit zu erhellen. Felix und Mignon saflen neben ihr auf der Erde; beide hielten ein Buch, und indem Mignon laut las, sagte ihr Felix alle Worte nach, als wenn er die Buchstaben kennte, als wenn er auch zu lesen verst¸nde.

Die Kinder sprangen auf und begr¸flten den Ankommenden: er umarmte sie aufs z‰rtlichste und f¸hrte sie n‰her zu der Alten. “Bist du es”, sagte er zu ihr mit Ernst, “die dieses Kind Aurelien zugef¸hrt hatte?” Sie sah von ihrer Arbeit auf und wendete ihr Gesicht zu ihm; er sah sie in vollem Lichte, erschrak, trat einige Schritte zur¸ck; es war die alte Barbara.

“Wo ist Mariane?” rief er aus. “Weit von hier”, versetzte die Alte.

“Und Felix?”

“Ist der Sohn dieses ungl¸cklichen, nur allzu z‰rtlich liebenden M‰dchens. Mˆchten Sie niemals empfinden, was Sie uns gekostet haben! Mˆchte der Schatz, den ich Ihnen ¸berliefere, Sie so gl¸cklich machen, als er uns ungl¸cklich gemacht hat!”

Sie stand auf, um wegzugehen. Wilhelm hielt sie fest. “Ich denke Ihnen nicht zu entlaufen”, sagte sie, “lassen Sie mich ein Dokument holen, das Sie erfreuen und schmerzen wird.” Sie entfernte sich, und Wilhelm sah den Knaben mit einer ‰ngstlichen Freude an; er durfte sich das Kind noch nicht zueignen. “Er ist dein”, rief Mignon, “er ist dein!” und dr¸ckte das Kind an Wilhelms Knie.

Die Alte kam und ¸berreichte ihm einen Brief. “Hier sind Marianens letzte Worte”, sagte sie.

“Sie ist tot!” rief er aus.

“Tot!” sagte die Alte; “mˆchte ich Ihnen doch alle Vorw¸rfe ersparen kˆnnen.”

¸berrascht und verwirrt erbrach Wilhelm den Brief; er hatte aber kaum die ersten Worte gelesen, als ihn ein bittrer Schmerz ergriff; er liefl den Brief fallen, st¸rzte auf eine Rasenbank und blieb eine Zeitlang liegen. Mignon bem¸hte sich um ihn. Indessen hatte Felix den Brief aufgehoben und zerrte seine Gespielin so lange, bis diese nachgab und zu ihm kniete und ihm vorlas. Felix wiederholte die Worte, und Wilhelm war genˆtigt, sie zweimal zu hˆren. “Wenn dieses Blatt jemals zu dir kommt, so bedaure deine ungl¸ckliche Geliebte, deine Liebe hat ihr den Tod gegeben. Der Knabe, dessen Geburt ich nur wenige Tage ¸berlebe, ist dein; ich sterbe dir treu, sosehr der Schein auch gegen mich sprechen mag; mit dir verlor ich alles, was mich an das Leben fesselte. Ich sterbe zufrieden, da man mir versichert, das Kind sei gesund und werde leben. Hˆre die alte Barbara, verzeih ihr, leb wohl und vergifl mich nicht!”

Welch ein schmerzlicher und noch zu seinem Troste halb r‰tselhafter Brief! dessen Inhalt ihm erst recht f¸hlbar ward, da ihn die Kinder stockend und stammelnd vortrugen und wiederholten.

“Da haben Sie es nun!” rief die Alte, ohne abzuwarten, bis er sich erholt hatte; “danken Sie dem Himmel, dafl nach dem Verluste eines so guten M‰dchens Ihnen noch so ein vortreffliches Kind ¸brigbleibt. Nichts wird Ihrem Schmerze gleichen, wenn Sie vernehmen, wie das gute M‰dchen Ihnen bis ans Ende treu geblieben, wie ungl¸cklich sie geworden ist und was sie Ihnen alles aufgeopfert hat.”

“Lafl mich den Becher des Jammers und der Freuden”, rief Wilhelm aus, “auf einmal trinken! ¸berzeuge mich, ja ¸berrede mich nur, dafl sie ein gutes M‰dchen war, dafl sie meine Achtung wie meine Liebe verdiente, und ¸berlafl mich dann meinen Schmerzen ¸ber ihren unersetzlichen Verlust.”

“Es ist jetzt nicht Zeit”, versetzte die Alte, “ich habe zu tun und w¸nschte nicht, dafl man uns beisammen f‰nde. Lassen Sie es ein Geheimnis sein, dafl Felix Ihnen angehˆrt; ich h‰tte ¸ber meine bisherige Verstellung zuviel Vorw¸rfe von der Gesellschaft zu erwarten. Mignon verr‰t uns nicht, sie ist gut und verschwiegen.”

“Ich wuflte es lange und sagte nichts”, versetzte Mignon. “Wie ist es mˆglich?” rief die Alte. “Woher?” fiel Wilhelm ein.

“Der Geist hat mir’s gesagt.”

“Wie? wo?”

“Im Gewˆlbe, da der Alte das Messer zog, rief mir’s zu: “Rufe seinen Vater!” und da fielst du mir ein.”

“Wer rief denn?”

“Ich weifl nicht, im Herzen, im Kopfe, ich war so angst, ich zitterte, ich betete, da rief’s, und ich verstand’s.”

Wilhelm dr¸ckte sie an sein Herz, empfahl ihr Felix und entfernte sich. Er bemerkte erst zuletzt, dafl sie viel bl‰sser und magerer geworden war, als er sie verlassen hatte. Madame Melina fand er von seinen Bekannten zuerst; sie begr¸flte ihn aufs freundlichste. “Oh! dafl Sie doch alles”, rief sie aus, “bei uns finden mˆchten, wie Sie w¸nschten!”

“Ich zweifle daran”, sagte Wilhelm, “und erwartete es nicht. Gestehen Sie es nur, man hat alle Anstalten gemacht, mich entbehren zu kˆnnen.”

“Warum sind Sie auch weggegangen?” versetzte die Freundin.

“Man kann die Erfahrung nicht fr¸h genug machen, wie entbehrlich man in der Welt ist. Welche wichtige Personen glauben wir zu sein! Wir denken allein den Kreis zu beleben, in welchem wir wirken; in unserer Abwesenheit mufl, bilden wir uns ein, Leben, Nahrung und Atem stocken, und die L¸cke, die entsteht, wird kaum bemerkt, sie f¸llt sich so geschwind wieder aus, ja sie wird oft nur der Platz, wo nicht f¸r etwas Besseres, doch f¸r etwas Angenehmeres.”

“Und die Leiden unserer Freunde bringen wir nicht in Anschlag?”

“Auch unsere Freunde tun wohl, wenn sie sich bald finden, wenn sie sich sagen: “Da, wo du bist, da, wo du bleibst, wirke, was du kannst, sei t‰tig und gef‰llig, und lafl dir die Gegenwart heiter sein”.”

Bei n‰herer Erkundigung fand Wilhelm, was er vermutet hatte: die Oper war eingerichtet und zog die ganze Aufmerksamkeit des Publikums an sich. Seine Rollen waren inzwischen durch Laertes und Horatio besetzt worden, und beide lockten den Zuschauern einen weit lebhaftern Beifall ab, als er jemals hatte erlangen kˆnnen.

Laertes trat herein, und Madame Melina rief aus: “Sehn Sie hier diesen gl¸cklichen Menschen, der bald ein Kapitalist oder Gott weifl was werden wird!” Wilhelm umarmte ihn und f¸hlte ein vortrefflich feines Tuch an seinem Rocke; seine ¸brige Kleidung war einfach, aber alles vom besten Zeuge.

“Lˆsen Sie mir das R‰tsel!” rief Wilhelm aus.

“Es ist noch Zeit genug”, versetzte Laertes, “um zu erfahren, dafl mir mein Hin- und Herlaufen nunmehr bezahlt wird, dafl ein Patron eines groflen Handelshauses von meiner Unruhe, meinen Kenntnissen und Bekanntschaften Vorteil zieht und mir einen Teil davon abl‰flt; ich wollte viel drum geben, wenn ich mir dabei auch Zutrauen gegen die Weiber erm‰keln kˆnnte: denn es ist eine h¸bsche Nichte im Hause, und ich merke wohl, wenn ich wollte, kˆnnte ich bald ein gemachter Mann sein.”

“Sie wissen wohl noch nicht”, sagte Madame Melina, “dafl sich indessen auch unter uns eine Heirat gemacht hat? Serlo ist wirklich mit der schˆnen Elmire ˆffentlich getraut, da der Vater ihre heimliche Vertraulichkeit nicht gutheiflen wollte.”

So unterhielten sie sich ¸ber manches, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und er konnte gar wohl bemerken, dafl er, dem Geist und dem Sinne der Gesellschaft nach, wirklich l‰ngst verabschiedet war.

Mit Ungeduld erwartete er die Alte, die ihm tief in der Nacht ihren sonderbaren Besuch angek¸ndigt hatte. Sie wollte kommen, wenn alles schlief, und verlangte solche Vorbereitungen, eben als wenn das j¸ngste M‰dchen sich zu einem Geliebten schleichen wollte. Er las indes Marianens Brief wohl hundertmal durch, las mit unaussprechlichem Entz¸cken das Wort Treue von ihrer geliebten Hand und mit Entsetzen die Ank¸ndigung ihres Todes, dessen Ann‰herung sie nicht zu f¸rchten schien.

Mitternacht war vorbei, als etwas an der halboffnen T¸re rauschte und die Alte mit einem Kˆrbchen hereintrat. “Ich soll Euch”, sagte sie, “die Geschichte unserer Leiden erz‰hlen, und ich mufl erwarten, dafl Ihr unger¸hrt dabeisitzt, dafl Ihr nur, um Eure Neugierde zu befriedigen, mich so sorgsam erwartet und dafl Ihr Euch jetzt wie damals in Eure kalte Eigenliebe h¸llet, wenn uns das Herz bricht. Aber seht her! so brachte ich an jenem gl¸cklichen Abend die Champagnerflasche hervor, so stellte ich drei Gl‰ser auf den Tisch, und so fingt Ihr an, uns mit gutm¸tigen Kindergeschichten zu t‰uschen und einzuschl‰fern, wie ich Euch jetzt mit traurigen Wahrheiten aufkl‰ren und wach erhalten mufl.”

Wilhelm wuflte nicht, was er sagen sollte, als die Alte wirklich den Stˆpsel springen liefl und die drei Gl‰ser vollschenkte.

“Trinkt!” rief sie, nachdem sie ihr sch‰umendes Glas schnell ausgeleert hatte, “trinkt, eh der Geist verraucht! Dieses dritte Glas soll zum Andenken meiner ungl¸cklichen Freundin ungenossen versch‰umen. Wie rot waren ihre Lippen, als sie Euch damals Bescheid tat! Ach! und nun auf ewig verblaflt und erstarrt!”

“Sibylle! Furie!” rief Wilhelm aus, indem er aufsprang und mit der Faust auf den Tisch schlug, “welch ein bˆser Geist besitzt und treibt dich? F¸r wen h‰ltst du mich, dafl du denkst, die einfachste Geschichte von Marianens Tod und Leiden werde mich nicht empfindlich genug kr‰nken, dafl du noch solche hˆllische Kunstgriffe brauchst, um meine Marter zu sch‰rfen? Geht deine uners‰ttliche Vˆllerei so weit, dafl du beim Totenmahle schwelgen muflt, so trink und rede! Ich habe dich von jeher verabscheut, und noch kann ich mir Marianen nicht unschuldig denken, wenn ich dich, ihre Gesellschafterin, nur ansehe.”

“Gemach, mein Herr!” versetzte die Alte, “Sie werden mich nicht aus meiner Fassung bringen. Sie sind uns noch sehr verschuldet, und von einem Schuldner l‰flt man sich nicht ¸bel begegnen. Aber Sie haben recht, auch meine einfachste Erz‰hlung ist Strafe genug f¸r Sie. So hˆren Sie denn den Kampf und den Sieg Marianens, um die Ihrige zu bleiben.”

“Die Meinige?” rief Wilhelm aus, “welch ein M‰rchen willst du beginnen?”

“Unterbrechen Sie mich nicht”, fiel sie ein, “hˆren Sie mich, und dann glauben Sie, was Sie wollen, es ist ohnedies jetzt ganz einerlei. Haben Sie nicht am letzten Abend, als Sie bei uns waren, ein Billett gefunden und mitgenommen?”

“Ich fand das Blatt erst, als ich es mitgenommen hatte; es war in das Halstuch verwickelt, das ich aus inbr¸nstiger Liebe ergriff und zu mir steckte.”

“Was enthielt das Papier?”

“Die Aussichten eines verdriefllichen Liebhabers, in der n‰chsten Nacht besser als gestern aufgenommen zu werden. Und dafl man ihm Wort gehalten hat, habe ich mit eignen Augen gesehen, denn er schlich fr¸h vor Tage aus eurem Hause hinweg.”

“Sie kˆnnen ihn gesehen haben; aber was bei uns vorging, wie traurig Mariane diese Nacht, wie verdriefllich ich sie zubrachte, das werden Sie erst jetzt erfahren. Ich will ganz aufrichtig sein, weder leugnen noch beschˆnigen, dafl ich Marianen beredete, sich einem gewissen Norberg zu ergeben; sie folgte, ja ich kann sagen, sie gehorchte mir mit Widerwillen. Er war reich, er schien verliebt, und ich hoffte, er werde best‰ndig sein. Gleich darauf muflte er eine Reise machen, und Mariane lernte Sie kennen. Was hatte ich da nicht auszustehen! was zu hindern! was zu erdulden! “Oh!” rief sie manchmal, “h‰ttest du meiner Jugend, meiner Unschuld nur noch vier Wochen geschont, so h‰tte ich einen w¸rdigen Gegenstand meiner Liebe gefunden, ich w‰re seiner w¸rdig gewesen, und die Liebe h‰tte das mit einem ruhigen Bewufltsein geben d¸rfen, was ich jetzt wider Willen verkauft habe.” Sie ¸berliefl sich ganz ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen, ob Sie gl¸cklich waren. Ich hatte eine uneingeschr‰nkte Gewalt ¸ber ihren Verstand, denn ich kannte alle Mittel, ihre kleinen Neigungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht ¸ber ihr Herz, denn niemals billigte sie, was ich f¸r sie tat, wozu ich sie bewegte, wenn ihr Herz widersprach: nur der unbezwinglichen Not gab sie nach, und die Not erschien ihr bald sehr dr¸ckend. In den ersten Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts gemangelt; ihre Familie verlor durch eine Verwickelung von Umst‰nden ihr Vermˆgen, das arme M‰dchen war an mancherlei Bed¸rfnisse gewˆhnt, und ihrem kleinen Gem¸t waren gewisse gute Grunds‰tze eingepr‰gt, die sie unruhig machten, ohne ihr viel zu helfen. Sie hatte nicht die mindeste Gewandtheit in weltlichen Dingen, sie war unschuldig im eigentlichen Sinne; sie hatte keinen Begriff, dafl man kaufen kˆnne, ohne zu bezahlen; vor nichts war ihr mehr bange, als wenn sie schuldig war; sie h‰tte immer lieber gegeben als genommen, und nur eine solche Lage machte es mˆglich, dafl sie genˆtigt ward, sich selbst hinzugeben, um eine Menge kleiner Schulden loszuwerden.”

VII. Buch, 8. Kapitel–2

“Und h‰ttest du”, fuhr Wilhelm auf, “sie nicht retten kˆnnen?”

“O ja”, versetzte die Alte, “mit Hunger und Not, mit Kummer und Entbehrung, und darauf war ich niemals eingerichtet.”

“Abscheuliche, niedertr‰chtige Kupplerin! so hast du das ungl¸ckliche Geschˆpf geopfert? so hast du sie deiner Kehle, deinem uners‰ttlichen Heiflhunger hingegeben?”

“Ihr t‰tet besser, Euch zu m‰fligen und mit Schimpfreden innezuhalten”, versetzte die Alte. “Wenn Ihr schimpfen wollt, so geht in Eure groflen, vornehmen H‰user, da werdet Ihr M¸tter finden, die recht ‰ngstlich besorgt sind, wie sie f¸r ein liebensw¸rdiges, himmlisches M‰dchen den allerabscheulichsten Menschen auffinden wollen, wenn er nur zugleich der reichste ist. Seht das arme Geschˆpf vor seinem Schicksale zittern und beben und nirgends Trost finden, als bis ihr irgendeine erfahrne Freundin begreiflich macht, dafl sie durch den Ehestand das Recht erwerbe, ¸ber ihr Herz und ihre Person nach Gefallen disponieren zu kˆnnen.”

“Schweig!” rief Wilhelm, “glaubst du denn, dafl ein Verbrechen durch das andere entschuldigt werden kˆnne? Erz‰hle, ohne weitere Anmerkungen zu machen!”

“So hˆren Sie, ohne mich zu tadeln! Mariane ward wider meinen Willen die Ihre. Bei diesem Abenteuer habe ich mir wenigstens nichts vorzuwerfen. Norberg kam zur¸ck, er eilte, Marianen zu sehen, die ihn kalt und verdriefllich aufnahm und ihm nicht einen Kufl erlaubte. Ich brauchte meine ganze Kunst, um ihr Betragen zu entschuldigen; ich liefl ihn merken, dafl ein Beichtvater ihr das Gewissen gesch‰rft habe und dafl man ein Gewissen, solange es spricht, respektieren m¸sse. Ich brachte ihn dahin, dafl er ging, und versprach ihm, mein Bestes zu tun. Er war reich und roh, aber er hatte einen Grund von Gutm¸tigkeit und liebte Marianen auf das ‰uflerste. Er versprach mir Geduld, und ich arbeitete desto lebhafter, um ihn nicht zu sehr zu pr¸fen. Ich hatte mit Marianen einen harten Stand; ich ¸berredete sie, ja ich kann sagen, ich zwang sie endlich durch die Drohung, dafl ich sie verlassen w¸rde, an ihren Liebhaber zu schreiben und ihn auf die Nacht einzuladen. Sie kamen und rafften zuf‰lligerweise seine Antwort in dem Halstuch auf. Ihre unvermutete Gegenwart hatte mir ein bˆses Spiel gemacht. Kaum waren Sie weg, so ging die Qual von neuem an; sie schwur, dafl sie Ihnen nicht untreu werden kˆnne, und war so leidenschaftlich, so aufler sich, dafl sie mir ein herzliches Mitleid ablockte. Ich versprach ihr endlich, dafl ich auch diese Nacht Norbergen beruhigen und ihn unter allerlei Vorw‰nden entfernen wollte; ich bat sie, zu Bette zu gehen, allein sie schien mir nicht zu trauen: sie blieb angezogen und schlief zuletzt, bewegt und ausgeweint, wie sie war, in ihren Kleidern ein.

Norberg kam; ich suchte ihn abzuhalten, ich stellte ihm ihre Gewissensbisse, ihre Reue mit den schw‰rzesten Farben vor; er w¸nschte sie nur zu sehen, und ich ging in das Zimmer, um sie vorzubereiten; er schritt mir nach, und wir traten beide zu gleicher Zeit vor ihr Bette. Sie erwachte, sprang mit Wut auf und entrifl sich unsern Armen; sie beschwur und bat, sie flehte, drohte und versicherte, dafl sie nicht nachgeben w¸rde. Sie war unvorsichtig genug, ¸ber ihre wahre Leidenschaft einige Worte fallenzulassen, die der arme Norberg im geistlichen Sinne deuten muflte. Endlich verliefl er sie, und sie schlofl sich ein. Ich behielt ihn noch lange bei mir und sprach mit ihm ¸ber ihren Zustand, dafl sie guter Hoffnung sei und dafl man das arme M‰dchen schonen m¸sse. Er f¸hlte sich so stolz auf seine Vaterschaft, er freute sich so sehr auf einen Knaben, dafl er alles einging, was sie von ihm verlangte, und dafl er versprach, lieber einige Zeit zu verreisen, als seine Geliebte zu ‰ngstigen und ihr durch diese Gem¸tsbewegungen zu schaden. Mit diesen Gesinnungen schlich er morgens fr¸h von mir weg, und Sie, mein Herr, wenn Sie Schildwache gestanden haben, so h‰tte es zu Ihrer Gl¸ckseligkeit nichts weiter bedurft, als in den Busen Ihres Nebenbuhlers zu sehen, den Sie so beg¸nstigt, so gl¸cklich hielten und dessen Erscheinung Sie zur Verzweiflung brachte.”

“Redest du wahr?” sagte Wilhelm.

“So wahr”, sagte die Alte, “als ich noch hoffe, Sie zur Verzweiflung zu bringen.

Ja gewifl, Sie w¸rden verzweifeln, wenn ich Ihnen das Bild unsers n‰chsten Morgens recht lebhaft darstellen kˆnnte. Wie heiter wachte sie auf! wie freundlich rief sie mich herein! wie lebhaft dankte sie mir! wie herzlich dr¸ckte sie mich an ihren Busen! “Nun”, sagte sie, indem sie l‰chelnd vor den Spiegel trat, “darf ich mich wieder an mir selbst, mich an meiner Gestalt freuen, da ich wieder mir, da ich meinem einzig geliebten Freund angehˆre. Wie ist es so s¸fl, ¸berwunden zu haben! welch eine himmlische Empfindung ist es, seinem Herzen zu folgen! Wie dank ich dir, dafl du dich meiner angenommen, dafl du deine Klugheit, deinen Verstand auch einmal zu meinem Vorteil angewendet hast! Steh mir bei, und ersinne, was mich ganz gl¸cklich machen kann!”

Ich gab ihr nach, ich wollte sie nicht reizen, ich schmeichelte ihrer Hoffnung, und sie liebkoste mich auf das anmutigste. Entfernte sie sich einen Augenblick vom Fenster, so muflte ich Wache stehen: denn Sie sollten nun ein f¸r allemal vorbeigehen, man wollte Sie wenigstens sehen; so ging der ganze Tag unruhig hin. Nachts zur gewˆhnlichen Stunde erwarteten wir Sie ganz gewifl. Ich paflte schon an der Treppe, die Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr hinein. Ich fand sie zu meiner Verwunderung in ihrer Offizierstracht, sie sah unglaublich heiter und reizend aus. “Verdien ich nicht”, sagte sie, “heute in Mannstracht zu erscheinen? Habe ich mich nicht brav gehalten? Mein Geliebter soll mich heute wie das erstemal sehen, ich will ihn so z‰rtlich und mit mehr Freiheit an mein Herz dr¸cken als damals: denn bin ich jetzt nicht viel mehr die Seine als damals, da mich ein edler Entschlufl noch nicht frei gemacht hatte? Aber”, f¸gte sie nach einigem Nachdenken hinzu, “noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch mufl ich erst das ‰uflerste wagen, um seiner wert, um seines Besitzes gewifl zu sein; ich mufl ihm alles entdecken, meinen ganzen Zustand offenbaren und ihm alsdann ¸berlassen, ob er mich behalten oder verstoflen will. Diese Szene bereite ich ihm, bereite ich mir zu; und w‰re sein Gef¸hl mich zu verstoflen f‰hig, so w¸rde ich alsdann ganz wieder mir selbst angehˆren, ich w¸rde in meiner Strafe meinen Trost finden und alles erdulden, was das Schicksal mir auferlegen wollte.”

Mit diesen Gesinnungen, mit diesen Hoffnungen, mein Herr, erwartete Sie das liebensw¸rdige M‰dchen; Sie kamen nicht. Oh! wie soll ich den Zustand des Wartens und Hoffens beschreiben? Ich sehe dich noch vor mir, mit welcher Liebe, mit welcher Inbrunst du von dem Manne sprachst, dessen Grausamkeit du noch nicht erfahren hattest!”

“Gute, liebe Barbara!” rief Wilhelm, indem er aufsprang und die Alte bei der Hand faflte, “es ist nun genug der Verstellung, genug der Vorbereitung! Dein gleichg¸ltiger, dein ruhiger, dein zufriedner Ton hat dich verraten. Gib mir Marianen wieder! Sie lebt, sie ist in der N‰he. Nicht umsonst hast du diese sp‰te, einsame Stunde zu deinem Besuche gew‰hlt, nicht umsonst hast du mich durch diese entz¸ckende Erz‰hlung vorbereitet. Wo hast du sie? Wo verbirgst du sie? Ich glaube dir alles, ich verspreche dir alles zu glauben, wenn du mir sie zeigst, wenn du sie meinen Armen wiedergibst. Ihren Schatten habe ich schon im Fluge gesehen, lafl mich sie wieder in meine Arme fassen! Ich will vor ihr auf den Knien liegen, ich will sie um Vergebung bitten, ich will ihr zu ihrem Kampfe, zu ihrem Siege ¸ber sich und dich Gl¸ck w¸nschen, ich will ihr meinen Felix zuf¸hren. Komm! Wo hast du sie versteckt? Lafl sie, lafl mich nicht l‰nger in Ungewiflheit! Dein Endzweck ist erreicht. Wo hast du sie verborgen? Komm, dafl ich sie mit diesem Licht beleuchte! dafl ich wieder ihr holdes Angesicht sehe!”

Er hatte die Alte vom Stuhl aufgezogen, sie sah ihn starr an, die Tr‰nen st¸rzten ihr aus den Augen, und ein ungeheurer Schmerz ergriff sie. “Welch ein ungl¸cklicher Irrtum”, rief sie aus, “l‰flt Sie noch einen Augenblick hoffen!–Ja, ich habe sie verborgen, aber unter die Erde; weder das Licht der Sonne noch eine vertrauliche Kerze wird ihr holdes Angesicht jemals wieder erleuchten. F¸hren Sie den guten Felix an ihr Grab, und sagen Sie ihm: “Da liegt deine Mutter, die dein Vater ungehˆrt verdammt hat.” Das liebe Herz schl‰gt nicht mehr vor Ungeduld, Sie zu sehen, nicht etwa in einer benachbarten Kammer wartet sie auf den Ausgang meiner Erz‰hlung oder meines M‰rchens; die dunkle Kammer hat sie aufgenommen, wohin kein Br‰utigam folgt, woraus man keinem Geliebten entgegengeht.”

Sie warf sich auf die Erde an einem Stuhle nieder und weinte bitterlich; Wilhelm war zum erstenmal vˆllig ¸berzeugt, dafl Mariane tot sei; er befand sich in einem traurigen Zustande. Die Alte richtete sich auf. “Ich habe Ihnen weiter nichts zu sagen”, rief sie und warf ein Paket auf den Tisch. “Hier diese Briefschaften mˆgen vˆllig Ihre Grausamkeit besch‰men; lesen Sie diese Bl‰tter mit trocknen Augen durch, wenn es Ihnen mˆglich ist.” Sie schlich leise fort, und Wilhelm hatte diese Nacht das Herz nicht, die Brieftasche zu ˆffnen, er hatte sie selbst Marianen geschenkt, er wuflte, dafl sie jedes Bl‰ttchen, das sie von ihm erhalten hatte, sorgf‰ltig darin aufhob. Den andern Morgen vermochte er es ¸ber sich; er lˆste das Band, und es fielen ihm kleine Zettelchen, mit Bleistift von seiner eigenen Hand geschrieben, entgegen und riefen ihm jede Situation von dem ersten Tage ihrer anmutigen Bekanntschaft bis zu dem letzten ihrer grausamen Trennung wieder herbei. Allein nicht ohne die lebhaftesten Schmerzen durchlas er eine kleine Sammlung von Billetten, die an ihn geschrieben waren und die, wie er aus dem Inhalt sah, von Wernern waren zur¸ckgewiesen worden.

“Keines meiner Bl‰tter hat bis zu dir durchdringen kˆnnen, mein Bitten und Flehen hat dich nicht erreicht; hast du selbst diese grausamen Befehle gegeben? Soll ich dich nie wiedersehen? Noch einmal versuch ich es, ich bitte dich: komm, o komm! ich verlange dich nicht zu behalten, wenn ich dich nur noch einmal an mein Herz dr¸cken kann.”

“Wenn ich sonst bei dir safl, deine H‰nde hielt, dir in die Augen sah und mit vollem Herzen der Liebe und des Zutrauens zu dir sagte: “Lieber, lieber, guter Mann!” das hˆrtest du so gern, ich muflt es dir so oft wiederholen, ich wiederhole es noch einmal–Lieber, lieber, guter Mann! sei gut, wie du warst, komm und lafl mich nicht in meinem Elende verderben!”

“Du h‰ltst mich f¸r schuldig, ich bin es auch, aber nicht, wie du denkst. Komm, damit ich nur den einzigen Trost habe, von dir ganz gekannt zu sein, es gehe mir nachher, wie es wolle.”

“Nicht um meinetwillen allein, auch um dein selbst willen fleh ich dich an zu kommen. Ich f¸hle die unertr‰glichen Schmerzen, die du leidest, indem du mich fliehst; komm, dafl unsere Trennung weniger grausam werde! Ich war vielleicht nie deiner w¸rdig als eben in dem Augenblick, da du mich in ein grenzenloses Elend zur¸ckstˆflest.”

“Bei allem, was heilig ist, bei allem, was ein menschliches Herz r¸hren kann, ruf ich dich an! Es ist um eine Seele, es ist um ein Leben zu tun, um zwei Leben, von denen dir eins ewig teuer sein mufl. Dein Argwohn wird auch das nicht glauben, und doch werde ich es in der Stunde des Todes aussprechen: das Kind, das ich unter dem Herzen trage, ist dein. Seitdem ich dich liebe, hat kein anderer mir auch nur die Hand gedr¸ckt; o dafl deine Liebe, dafl deine Rechtschaffenheit die Gef‰hrten meiner Jugend gewesen w‰ren!”

“Du willst mich nicht hˆren? So mufl ich denn zuletzt wohl verstummen, aber diese Bl‰tter sollen nicht untergehen, vielleicht kˆnnen sie noch zu dir sprechen, wenn das Leichentuch schon meine Lippe bedeckt und wenn die Stimme deiner Reue nicht mehr zu meinem Ohre reichen kann. Durch mein trauriges Leben bis an den letzten Augenblick wird das mein einziger Trost sein: dafl ich ohne Schuld gegen dich war, wenn ich mich auch nicht unschuldig nennen durfte.”

Wilhelm konnte nicht weiter; er ¸berliefl sich ganz seinem Schmerz, aber noch mehr war er bedr‰ngt, als Laertes hereintrat, dem er seine Empfindungen zu verbergen suchte. Dieser brachte einen Beutel mit Dukaten hervor, z‰hlte und rechnete und versicherte Wilhelmen: es sei nichts Schˆneres in der Welt, als wenn man eben auf dem Wege sei, reich zu werden; es kˆnne uns auch alsdann nichts stˆren oder abhalten. Wilhelm erinnerte sich seines Traums und l‰chelte; aber zugleich gedachte er auch mit Schaudern: dafl in jenem Traumgesichte Mariane ihn verlassen, um seinem verstorbenen Vater zu folgen, und dafl beide zuletzt wie Geister schwebend sich um den Garten bewegt hatten.

Laertes rifl ihn aus seinem Nachdenken und f¸hrte ihn auf ein Kaffeehaus, wo sich sogleich mehrere Personen um ihn versammelten, die ihn sonst gern auf dem Theater gesehen hatten; sie freuten sich seiner Gegenwart, bedauerten aber, dafl er, wie sie hˆrten, die B¸hne verlassen wolle; sie sprachen so bestimmt und vern¸nftig von ihm und seinem Spiele, von dem Grade seines Talents, von ihren Hoffnungen, dafl Wilhelm nicht ohne R¸hrung zuletzt ausrief: “O wie unendlich wert w‰re mir diese Teilnahme vor wenig Monaten gewesen! Wie belehrend und wie erfreuend! Niemals h‰tte ich mein Gem¸t so ganz von der B¸hne abgewendet, und niemals w‰re ich so weit gekommen, am Publiko zu verzweifeln.”

“Dazu sollte es ¸berhaupt nicht kommen”, sagte ein ‰ltlicher Mann, der hervortrat; “das Publikum ist grofl, wahrer Verstand und wahres Gef¸hl sind nicht so selten, als man glaubt; nur mufl der K¸nstler niemals einen unbedingten Beifall f¸r das, was er hervorbringt, verlangen: denn eben der unbedingte ist am wenigsten wert, und den bedingten wollen die Herren nicht gerne. Ich weifl wohl, im Leben wie in der Kunst mufl man mit sich zu Rate gehen, wenn man etwas tun und hervorbringen soll; wenn es aber getan und vollendet ist, so darf man mit Aufmerksamkeit nur viele hˆren, und man kann sich mit einiger ¸bung aus diesen vielen Stimmen gar bald ein ganzes Urteil zusammensetzen: denn diejenigen, die uns diese M¸he ersparen kˆnnten, halten sich meist stille genug.”

“Das sollten sie eben nicht”, sagte Wilhelm. “Ich habe so oft gehˆrt, dafl Menschen, die selbst ¸ber gute Werke schwiegen, doch beklagten und bedauerten, dafl geschwiegen wird.”

“So wollen wir heute laut werden”, rief ein junger Mann, “Sie m¸ssen mit uns speisen, und wir wollen alles einholen, was wir Ihnen und manchmal der guten Aurelie schuldig geblieben sind.”

Wilhelm lehnte die Einladung ab und begab sich zu Madame Melina, die er wegen der Kinder sprechen wollte, indem er sie von ihr wegzunehmen gedachte.

VII. Buch, 8. Kapitel–3

Das Geheimnis der Alten war nicht zum besten bei ihm verwahrt. Er verriet sich, als er den schˆnen Felix wieder ansichtig ward. “O mein Kind!” rief er aus, “mein liebes Kind!” Er hub ihn auf und dr¸ckte ihn an sein Herz. “Vater! was hast du mir mitgebracht?” rief das Kind. Mignon sah beide an, als wenn sie warnen wollte, sich nicht zu verraten.

“Was ist das f¸r eine neue Erscheinung?” sagte Madame Melina. Man suchte die Kinder beiseite zu bringen, und Wilhelm, der der Alten das strengste Geheimnis nicht schuldig zu sein glaubte, entdeckte seiner Freundin das ganze Verh‰ltnis. Madame Melina sah ihn l‰chelnd an. “O ¸ber die leichtgl‰ubigen M‰nner!” rief sie aus, “wenn nur etwas auf ihrem Wege ist, so kann man es ihnen sehr leicht aufb¸rden; aber daf¸r sehen sie sich auch ein andermal weder rechts noch links um und wissen nichts zu sch‰tzen, als was sie vorher mit dem Stempel einer willk¸rlichen Leidenschaft bezeichnet haben.” Sie konnte einen Seufzer nicht unterdr¸cken, und wenn Wilhelm nicht ganz blind gewesen w‰re, so h‰tte er eine nie ganz besiegte Neigung in ihrem Betragen erkennen m¸ssen.

Er sprach nunmehr mit ihr von den Kindern, wie er Felix bei sich zu behalten und Mignon auf das Land zu tun ged‰chte. Frau Melina, ob sie sich gleich ungerne von beiden zugleich trennte, fand doch den Vorschlag gut, ja notwendig. Felix verwilderte bei ihr, und Mignon schien einer freien Luft und anderer Verh‰ltnisse zu bed¸rfen; das gute Kind war kr‰nklich und konnte sich nicht erholen.

“Lassen Sie sich nicht irren”, fuhr Madame Melina fort, “dafl ich einige Zweifel, ob Ihnen der Knabe wirklich zugehˆre, leichtsinnig ge‰uflert habe. Der Alten ist freilich wenig zu trauen, doch wer Unwahrheit zu seinem Nutzen ersinnt, kann auch einmal wahr reden, wenn ihm die Wahrheiten n¸tzlich scheinen. Aurelien hatte die Alte vorgespiegelt, Felix sei ein Sohn Lotharios, und die Eigenheit haben wir Weiber, dafl wir die Kinder unserer Liebhaber recht herzlich lieben, wenn wir schon die Mutter nicht kennen oder sie von Herzen hassen.” Felix kam hereingesprungen, sie dr¸ckte ihn an sich, mit einer Lebhaftigkeit, die ihr sonst nicht gewˆhnlich war.

Wilhelm eilte nach Hause und bestellte die Alte, die ihn, jedoch nicht eher als in der D‰mmerung, zu besuchen versprach; er empfing sie verdriefllich und sagte zu ihr: “Es ist nichts Sch‰ndlichers in der Welt, als sich auf L¸gen und M‰rchen einzurichten! Schon hast du viel Bˆses damit gestiftet, und jetzt, da dein Wort das Gl¸ck meines Lebens entscheiden kˆnnte, jetzt steh ich zweifelhaft und wage nicht, das Kind in meine Arme zu schlieflen, dessen ungetr¸bter Besitz mich ‰uflerst gl¸cklich machen w¸rde. Ich kann dich, sch‰ndliche Kreatur, nicht ohne Hafl und Verachtung ansehen.”

“Euer Betragen kommt mir, wenn ich aufrichtig reden soll”, versetzte die Alte, “ganz unertr‰glich vor. Und wenn’s nun Euer Sohn nicht w‰re, so ist es das schˆnste, angenehmste Kind von der Welt, das man gern f¸r jeden Preis kaufen mˆchte, um es nur immer um sich zu haben. Ist es nicht wert, dafl Ihr Euch seiner annehmt? Verdiene ich f¸r meine Sorgfalt, f¸r meine M¸he mit ihm nicht einen kleinen Unterhalt f¸r mein k¸nftiges Leben? Oh! ihr Herren, denen nichts abgeht, ihr habt gut von Wahrheit und Geradheit reden; aber wie eine arme Kreatur, deren geringstem Bed¸rfnis nichts entgegenkommt, die in ihren Verlegenheiten keinen Freund, keinen Rat, keine H¸lfe sieht, wie die sich durch die selbstischen Menschen durchdr¸cken und im stillen darben mufl–davon w¸rde manches zu sagen sein, wenn ihr hˆren wolltet und kˆnntet. Haben Sie Marianens Briefe gelesen? Es sind dieselben, die sie zu jener ungl¸cklichen Zeit schrieb. Vergebens suchte ich mich Ihnen zu n‰hern, vergebens Ihnen diese Bl‰tter zuzustellen; Ihr grausamer Schwager hatte Sie so umlagert, dafl alle List und Klugheit vergebens war, und zuletzt, als er mir und Marianen mit dem Gef‰ngnis drohte, muflte ich wohl alle Hoffnung aufgeben. Trifft nicht alles mit dem ¸berein, was ich erz‰hlt habe? Und setzt nicht Norbergs Brief die ganze Geschichte aufler allen Zweifel?”

“Was f¸r ein Brief?” fragte Wilhelm.

“Haben Sie ihn nicht in der Brieftasche gefunden?” versetzte die Alte.

“Ich habe noch nicht alles durchlesen.”

“Geben Sie nur die Brieftasche her; auf dieses Dokument kommt alles an. Norbergs ungl¸ckliches Billett hat die traurige Verwirrung gemacht, ein anderes von seiner Hand mag auch den Knoten lˆsen, insofern am Faden noch etwas gelegen ist.” Sie nahm ein Blatt aus der Brieftasche, Wilhelm erkannte jene verhaflte Hand, er nahm sich zusammen und las:

“Sag mir nur, M‰dchen, wie vermagst du das ¸ber mich? H‰tt ich doch nicht geglaubt, dafl eine Gˆttin selbst mich zum seufzenden Liebhaber umschaffen kˆnnte. Anstatt mir mit offenen Armen entgegenzueilen, ziehst du dich zur¸ck; man h‰tte es wahrhaftig f¸r Abscheu nehmen kˆnnen, wie du dich betrugst. Ist’s erlaubt, dafl ich die Nacht mit der alten Barbara auf einem Koffer in einer Kammer zubringen muflte? Und mein geliebtes M‰dchen war nur zwei T¸ren davon. Es ist zu toll, sag ich dir! Ich habe versprochen, dir einige Bedenkzeit zu lassen, nicht gleich in dich zu dringen, und ich mˆchte rasend werden ¸ber jede verlorne Viertelstunde. Habe ich dir nicht geschenkt, was ich wuflte und konnte? Zweifelst du noch an meiner Liebe? Was willst du haben? sag es mir! Es soll dir an nichts fehlen. Ich wollte, der Pfaffe m¸flte verstummen und verblinden, der dir solches Zeug in den Kopf gesetzt hat. Mufltest du auch gerade an so einen kommen! Es gibt so viele, die jungen Leuten etwas nachzusehen wissen. Genug, ich sage dir, es mufl anders werden, in ein paar Tagen mufl ich Antwort wissen, denn ich gehe bald wieder weg, und wenn du nicht wieder freundlich und gef‰llig bist, so sollst du mich nicht wiedersehen…”

In dieser Art ging der Brief noch lange fort, drehte sich zu Wilhelms schmerzlicher Zufriedenheit immer um denselben Punkt herum und zeugte f¸r die Wahrheit der Geschichte, die er von Barbara vernommen hatte. Ein zweites Blatt bewies deutlich, dafl Mariane auch in der Folge nicht nachgegeben hatte, und Wilhelm vernahm aus diesen und mehreren Papieren nicht ohne tiefen Schmerz die Geschichte des ungl¸cklichen M‰dchens bis zur Stunde ihres Todes.

Die Alte hatte den rohen Menschen nach und nach zahm gemacht, indem sie ihm den Tod Marianens meldete und ihm den Glauben liefl, als wenn Felix sein Sohn sei; er hatte ihr einigemal Geld geschickt, das sie aber f¸r sich behielt, da sie Aurelien die Sorge f¸r des Kindes Erziehung aufgeschwatzt hatte. Aber leider dauerte dieser heimliche Erwerb nicht lange. Norberg hatte durch ein wildes Leben den grˆflten Teil seines Vermˆgens verzehrt und wiederholte Liebesgeschichten sein Herz gegen seinen ersten, eingebildeten Sohn verh‰rtet.

So wahrscheinlich das alles lautete und so schˆn es zusammentraf, traute Wilhelm doch noch nicht, sich der Freude zu ¸berlassen; er schien sich vor einem Geschenke zu f¸rchten, das ihm ein bˆser Genius darreichte.

“Ihre Zweifelsucht”, sagte die Alte, die seine Gem¸tsstimmung erriet, “kann nur die Zeit heilen. Sehen Sie das Kind als ein fremdes an, und geben Sie desto genauer auf ihn acht, bemerken Sie seine Gaben, seine Natur, seine F‰higkeiten, und wenn Sie nicht nach und nach sich selbst wiedererkennen, so m¸ssen Sie schlechte Augen haben. Denn das versichre ich Sie, wenn ich ein Mann w‰re, mir sollte niemand ein Kind unterschieben; aber es ist ein Gl¸ck f¸r die Weiber, dafl die M‰nner in diesen F‰llen nicht so scharfsichtig sind.”

Nach allem diesen setzte sich Wilhelm mit der Alten auseinander; er wollte den Felix mit sich nehmen, sie sollte Mignon zu Theresen bringen und hernach eine kleine Pension, die er ihr versprach, wo sie wollte, verzehren.

Er liefl Mignon rufen, um sie auf diese Ver‰nderung vorzubereiten. “Meister!” sagte sie, “behalte mich bei dir, es wird mir wohltun und weh.”

Er stellte ihr vor, dafl sie nun herangewachsen sei und dafl doch etwas f¸r ihre weitere Bildung getan werden m¸sse. “Ich bin gebildet genug”, versetzte sie, “um zu lieben und zu trauern.”

Er machte sie auf ihre Gesundheit aufmerksam, dafl sie eine anhaltende Sorgfalt und die Leitung eines geschickten Arztes bed¸rfe. “Warum soll man f¸r mich sorgen”, sagte sie, “da so viel zu sorgen ist?”

Nachdem er sich viele M¸he gegeben, sie zu ¸berzeugen, dafl er sie jetzt nicht mit sich nehmen kˆnne, dafl er sie zu Personen bringen wolle, wo er sie ˆfters sehen werde, schien sie von alledem nichts gehˆrt zu haben. “Du willst mich nicht bei dir?” sagte sie. “Vielleicht ist es besser, schicke mich zum alten Harfenspieler, der arme Mann ist so allein.”

Wilhelm suchte ihr begreiflich zu machen, dafl der Alte gut aufgehoben sei. “Ich sehne mich jede Stunde nach ihm”, versetzte das Kind.

“Ich habe aber nicht bemerkt”, sagte Wilhelm, “dafl du ihm so geneigt seist, als er noch mit uns lebte.”

“Ich f¸rchtete mich vor ihm, wenn er wachte; ich konnte nur seine Augen nicht sehen, aber wenn er schlief, setzte ich mich gern zu ihm, ich wehrte ihm die Fliegen und konnte mich nicht satt an ihm sehen. Oh! er hat mir in schrecklichen Augenblicken beigestanden, es weifl niemand, was ich ihm schuldig bin. H‰tt ich nur den Weg gewuflt, ich w‰re schon zu ihm gelaufen.”

Wilhelm stellte ihr die Umst‰nde weitl‰ufig vor und sagte: sie sei so ein vern¸nftiges Kind, sie mˆchte doch auch diesmal seinen W¸nschen folgen. “Die Vernunft ist grausam”, versetzte sie, “das Herz ist besser. Ich will hingehen, wohin du willst, aber lafl mir deinen Felix!”

Nach vielem Hin- und Widerreden war sie immer auf ihrem Sinne geblieben, und Wilhelm muflte sich zuletzt entschlieflen, die beiden Kinder der Alten zu ¸bergeben und sie zusammen an Fr‰ulein Therese zu schicken. Es ward ihm das um so leichter, als er sich noch immer f¸rchtete, den schˆnen Felix sich als seinen Sohn zuzueignen. Er nahm ihn auf den Arm und trug ihn herum; das Kind mochte gern vor den Spiegel gehoben sein, und ohne sich es zu gestehen, trug Wilhelm ihn gern vor den Spiegel und suchte dort ‰hnlichkeiten zwischen sich und dem Kinde auszusp‰hen. Ward es ihm dann einen Augenblick recht wahrscheinlich, so dr¸ckte er den Knaben an seine Brust, aber auf einmal, erschreckt durch den Gedanken, dafl er sich betriegen kˆnne, setzte er das Kind nieder und liefl es hinlaufen. “Oh!” rief er aus, “wenn ich mir dieses unsch‰tzbare Gut zueignen kˆnnte und es w¸rde mir dann entrissen, so w‰re ich der ungl¸cklichste aller Menschen!”

Die Kinder waren weggefahren, und Wilhelm wollte nun seinen fˆrmlichen Abschied vom Theater nehmen, als er f¸hlte, dafl er schon abgeschieden sei und nur zu gehen brauchte. Mariane war nicht mehr, seine zwei Schutzgeister hatten sich entfernt, und seine Gedanken eilten ihnen nach. Der schˆne Knabe schwebte wie eine reizende ungewisse Erscheinung vor seiner Einbildungskraft, er sah ihn an Theresens Hand durch Felder und W‰lder laufen, in der freien Luft und neben einer freien und heitern Begleiterin sich bilden; Therese war ihm noch viel werter geworden, seitdem er das Kind in ihrer Gesellschaft dachte. Selbst als Zuschauer im Theater erinnerte er sich ihrer mit L‰cheln; beinahe war er in ihrem Falle, die Vorstellungen machten ihm keine Illusion mehr.

Serlo und Melina waren ‰uflerst hˆflich gegen ihn, sobald sie merkten, dafl er an seinen vorigen Platz keinen weitern Anspruch machte. Ein Teil des Publikums w¸nschte ihn nochmals auftreten zu sehen; es w‰re ihm unmˆglich gewesen, und bei der Gesellschaft w¸nschte es niemand als allenfalls Frau Melina.

Er nahm nun wirklich Abschied von dieser Freundin, er war ger¸hrt und sagte: “Wenn doch der Mensch sich nicht vermessen wollte, irgend etwas f¸r die Zukunft zu versprechen! Das Geringste vermag er nicht zu halten, geschweige wenn sein Vorsatz von Bedeutung ist. Wie sch‰me ich mich, wenn ich denke, was ich Ihnen allen zusammen in jener ungl¸cklichen Nacht versprach, da wir beraubt, krank, verletzt und verwundet in eine elende Schenke zusammengedr‰ngt waren. Wie erhˆhte damals das Ungl¸ck meinen Mut, und welchen Schatz glaubte ich in meinem guten Willen zu finden; nun ist aus allem dem nichts, gar nichts geworden! Ich verlasse Sie als Ihr Schuldner, und mein Gl¸ck ist, dafl man mein Versprechen nicht mehr achtete, als es wert war, und dafl niemand mich jemals deshalb gemahnt hat.”

“Sein Sie nicht ungerecht gegen sich selbst”, versetzte Frau Melina; “wenn niemand erkennt, was Sie f¸r uns getan hatten, so werde ich es nicht verkennen: denn unser ganzer Zustand w‰re vˆllig anders, wenn wir Sie nicht besessen h‰tten. Geht es doch unsern Vors‰tzen wie unsern W¸nschen. Sie sehen sich gar nicht mehr ‰hnlich, wenn sie ausgef¸hrt, wenn sie erf¸llt sind, und wir glauben nichts getan, nichts erlangt zu haben.”

“Sie werden”, versetzte Wilhelm, “durch Ihre freundschaftliche Auslegung mein Gewissen nicht beruhigen, und ich werde mir immer als Ihr Schuldner vorkommen.”

“Es ist auch wohl mˆglich, dafl Sie es sind”, versetzte Madame Melina, “nur nicht auf die Art, wie Sie es denken. Wir rechnen uns zur Schande, ein Versprechen nicht zu erf¸llen, das wir mit dem Munde getan haben. Oh, mein Freund, ein guter Mensch verspricht durch seine Gegenwart nur immer zuviel! Das Vertrauen, das er hervorlockt, die Neigung, die er einflˆflt, die Hoffnungen, die er erregt, sind unendlich; er wird und bleibt ein Schuldner, ohne es zu wissen. Leben Sie wohl! Wenn unsere ‰ufleren Umst‰nde sich unter Ihrer Leitung recht gl¸cklich hergestellt haben, so entsteht in meinem Innern durch Ihren Abschied eine L¸cke, die sich so leicht nicht wieder ausf¸llen wird.”

Wilhelm schrieb vor seiner Abreise aus der Stadt noch einen weitl‰ufigen Brief an Wernern. Sie hatten zwar einige Briefe gewechselt, aber weil sie nicht einig werden konnten, hˆrten sie zuletzt auf zu schreiben. Nun hatte sich Wilhelm wieder gen‰hert, er war im Begriff, dasjenige zu tun, was jener so sehr w¸nschte, er konnte sagen: “Ich verlasse das Theater und verbinde mich mit M‰nnern, deren Umgang mich in jedem Sinne zu einer reinen und sichern T‰tigkeit f¸hren mufl.” Er erkundigte sich nach seinem Vermˆgen, und es schien ihm nunmehr sonderbar, dafl er so lange sich nicht darum bek¸mmert hatte. Er wuflte nicht, dafl es die Art aller der Menschen sei, denen an ihrer innern Bildung viel gelegen ist, dafl sie die ‰ufleren Verh‰ltnisse ganz und gar vernachl‰ssigen. Wilhelm hatte sich in diesem Falle befunden; er schien nunmehr zum erstenmal zu merken, dafl er ‰uflerer H¸lfsmittel bed¸rfe, um nachhaltig zu wirken. Er reiste fort mit einem ganz andern Sinn als das erstemal; die Aussichten, die sich ihm zeigten, waren reizend, und er hoffte auf seinem Wege etwas Frohes zu erleben.

VII. Buch, 9. Kapitel

Neuntes Kapitel

Als er nach Lotharios Gut zur¸ckkam, fand er eine grofle Ver‰nderung. Jarno kam ihm entgegen mit der Nachricht, dafl der Oheim gestorben, dafl Lothario hingegangen sei, die hinterlassenen G¸ter in Besitz zu nehmen. “Sie kommen eben zur rechten Zeit”, sagte er, “um mir und dem Abbe beizustehn. Lothario hat uns den Handel um wichtige G¸ter in unserer Nachbarschaft aufgetragen; es war schon lange vorbereitet, und nun finden wir Geld und Kredit eben zur rechten Stunde. Das einzige war dabei bedenklich, dafl ein ausw‰rtiges Handelshaus auch schon auf dieselben G¸ter Absicht hatte; nun sind wir kurz und gut entschlossen, mit jenem gemeine Sache zu machen, denn sonst h‰tten wir uns ohne Not und Vernunft hinaufgetrieben. Wir haben, so scheint es, mit einem klugen Manne zu tun. Nun machen wir Kalk¸ls und Anschl‰ge; auch mufl ˆkonomisch ¸berlegt werden, wie wir die G¸ter teilen kˆnnen, so dafl jeder ein schˆnes Besitztum erh‰lt.” Es wurden Wilhelmen die Papiere vorgelegt, man besah die Felder, Wiesen, Schlˆsser, und obgleich Jarno und der Abbe die Sache sehr gut zu verstehen schienen, so w¸nschte Wilhelm doch, dafl Fr‰ulein Therese von der Gesellschaft sein mˆchte.

Sie brachten mehrere Tage mit diesen Arbeiten zu, und Wilhelm hatte kaum Zeit, seine Abenteuer und seine zweifelhafte Vaterschaft den Freunden zu erz‰hlen, die eine ihm so wichtige Begebenheit gleichg¸ltig und leichtsinnig behandelten.

Er hatte bemerkt, dafl sie manchmal in vertrauten Gespr‰chen, bei Tische und auf Spazierg‰ngen, auf einmal innehielten, ihren Worten eine andere Wendung gaben und dadurch wenigstens anzeigten, dafl sie unter sich manches abzutun hatten, das ihm verborgen sei. Er erinnerte sich an das, was Lydie gesagt hatte, und glaubte um so mehr daran, als eine ganze Seite des Schlosses vor ihm immer unzug‰nglich gewesen war. Zu gewissen Galerien und besonders zu dem alten Turm, den er von auflen recht gut kannte, hatte er bisher vergebens Weg und Eingang gesucht.

Eines Abends sagte Jarno zu ihm: “Wir kˆnnen Sie nun so sicher als den Unsern ansehen, dafl es unbillig w‰re, wenn wir Sie nicht tiefer in unsere Geheimnisse einf¸hrten. Es ist gut, dafl der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, dafl er sich viele Vorz¸ge zu erwerben denke, dafl er alles mˆglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer grˆflern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtm‰fligen T‰tigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern. Sie sollen bald erfahren, welch eine kleine Welt sich in Ihrer N‰he befindet und wie gut Sie in dieser kleinen Welt gekannt sind; morgen fr¸h vor Sonnenaufgang sein Sie angezogen und bereit.”

Jarno kam zur bestimmten Stunde und f¸hrte ihn durch bekannte und unbekannte Zimmer des Schlosses, dann durch einige Galerien, und sie gelangten endlich vor eine grofle, alte T¸re, die stark mit Eisen beschlagen war. Jarno pochte, die T¸re tat sich ein wenig auf, so dafl eben ein Mensch hineinschl¸pfen konnte. Jarno schob Wilhelmen hinein, ohne ihm zu folgen. Dieser fand sich in einem dunkeln und engen Beh‰ltnisse, es war finster um ihn, und als er einen Schritt vorw‰rts gehen wollte, stiefl er schon wider. Eine nicht ganz unbekannte Stimme rief ihm zu: “Tritt herein!”, und nun bemerkte er erst, dafl die Seiten des Raums, in dem er sich befand, nur mit Teppichen behangen waren, durch welche ein schwaches Licht hindurchschimmerte. “Tritt herein!” rief es nochmals; er hob den Teppich auf und trat hinein.

Der Saal, in dem er sich nunmehr befand, schien ehemals eine Kapelle gewesen zu sein; anstatt des Altars stand ein grofler Tisch auf einigen Stufen, mit einem gr¸nen Teppich behangen, dar¸ber schien ein zugezogener Vorhang ein Gem‰lde zu bedecken; an den Seiten waren schˆn gearbeitete Schr‰nke, mit feinen Drahtgittern verschlossen, wie man sie in Bibliotheken zu sehen pflegt, nur sah er anstatt der B¸cher viele Rollen aufgestellt. Niemand befand sich in dem Saal; die aufgehende Sonne fiel durch die farbigen Fenster Wilhelmen grade entgegen und begr¸flte ihn freundlich.

“Setze dich!” rief eine Stimme, die von dem Altar her zu tˆnen schien. Wilhelm setzte sich auf einen kleinen Armstuhl, der wider den Verschlag des Eingangs stand; es war kein anderer Sitz im ganzen Zimmer, er muflte sich darein ergeben, ob ihn schon die Morgensonne blendete; der Sessel stand fest, er konnte nur die Hand vor die Augen halten.

Indem erˆffnete sich mit einem kleinen Ger‰usche der Vorhang ¸ber dem Altar und zeigte innerhalb eines Rahmens eine leere, dunkle ˆffnung. Es trat ein Mann hervor in gewˆhnlicher Kleidung, der ihn begr¸flte und zu ihm sagte: “Sollten Sie mich nicht wiedererkennen? Sollten Sie unter andern Dingen, die Sie wissen mˆchten, nicht auch zu erfahren w¸nschen, wo die Kunstsammlung Ihres Groflvaters sich gegenw‰rtig befindet? Erinnern Sie sich des Gem‰ldes nicht mehr, das Ihnen so reizend war? Wo mag der kranke Kˆnigssohn wohl jetzo schmachten?” Wilhelm erkannte leicht den Fremden, der in jener bedeutenden Nacht sich mit ihm im Gasthause unterhalten hatte. “Vielleicht”, fuhr dieser fort, “kˆnnen wir jetzt ¸ber Schicksal und Charakter eher einig werden.”

Wilhelm wollte eben antworten, als der Vorhang sich wieder rasch zusammenzog. “Sonderbar!” sagte er bei sich selbst, “sollten zuf‰llige Ereignisse einen Zusammenhang haben? Und das, was wir Schicksal nennen, sollte es blofl Zufall sein? Wo mag sich meines Groflvaters Sammlung befinden? Und warum erinnert man mich in diesen feierlichen Augenblicken daran?”

Er hatte nicht Zeit, weiterzudenken, denn der Vorhang ˆffnete sich wieder, und ein Mann stand vor seinen Augen, den er sogleich f¸r den Landgeistlichen erkannte, der mit ihm und der lustigen Gesellschaft jene Wasserfahrt gemacht hatte; er glich dem Abbe, ob er gleich nicht dieselbe Person schien. Mit einem heitern Gesichte und einem w¸rdigen Ausdruck fing der Mann an: “Nicht vor Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschl¸rfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, h‰lt lange damit haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Gl¸cks, aber wer ihn ganz erschˆpft, der mufl ihn kennenlernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.” Der Vorhang schlofl sich abermals, und Wilhelm hatte Zeit nachzudenken. “Von welchem Irrtum kann der Mann sprechen?” sagte er zu sich selbst, “als von dem, der mich mein ganzes Leben verfolgt hat, dafl ich da Bildung suchte, wo keine zu finden war, dafl ich mir einbildete, ein Talent erwerben zu kˆnnen, zu dem ich nicht die geringste Anlage hatte.”

Der Vorhang rifl sich schneller auf, ein Offizier trat hervor und sagte nur im Vorbeigehen: “Lernen Sie die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen haben kann!” Der Vorhang schlofl sich, und Wilhelm brauchte sich nicht lange zu besinnen, um diesen Offizier f¸r denjenigen zu erkennen, der ihn in des Grafen Park umarmt hatte und schuld gewesen war, dafl er Jarno f¸r einen Werber hielt. Wie dieser hierhergekommen und wer er sei, war Wilhelmen vˆllig ein R‰tsel. “Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten und wuflten, was darauf zu tun sei, warum f¸hrten sie dich nicht strenger? warum nicht ernster? warum beg¸nstigten sie deine Spiele, anstatt dich davon wegzuf¸hren?”

“Rechte nicht mit uns!” rief eine Stimme. “Du bist gerettet und auf dem Wege zum Ziel. Du wirst keine deiner Torheiten bereuen und keine zur¸ckw¸nschen, kein gl¸cklicheres Schicksal kann einem Menschen werden.” Der Vorhang rifl sich voneinander, und in voller R¸stung stand der alte Kˆnig von D‰nemark in dem Raume. “Ich bin der Geist deines Vaters”, sagte das Bildnis, “und scheide getrost, da meine W¸nsche f¸r dich, mehr als ich sie selbst begriff, erf¸llt sind. Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene f¸hren gerade Wege von einem Ort zum andern. Lebe wohl, und gedenke mein, wenn du genieflest, was ich dir vorbereitet habe.”

Wilhelm war ‰uflerst betroffen, er glaubte die Stimme seines Vaters zu hˆren, und doch war sie es auch nicht; er befand sich durch die Gegenwart und die Erinnerung in der verworrensten Lage.

Nicht lange konnte er nachdenken, als der Abbe hervortrat und sich hinter den gr¸nen Tisch stellte. “Treten Sie herbei!” rief er seinem verwunderten Freunde zu. Er trat herbei und stieg die Stufen hinan. Auf dem Teppiche lag eine kleine Rolle. “Hier ist Ihr Lehrbrief”, sagte der Abbe, “beherzigen Sie ihn, er ist von wichtigem Inhalt.” Wilhelm nahm ihn auf, ˆffnete ihn und las:

Lehrbrief

Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit fl¸chtig. Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem. Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er lernt spielend, der Ernst ¸berrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner gesch‰tzt. Die Hˆhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge, wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der K¸nstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet viel; wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder sp‰t. Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft, ihre Lehre ist wie gebackenes Brot schmackhaft und s‰ttigend f¸r einen Tag; aber Mehl kann man nicht s‰en, und die Saatfr¸chte sollen nicht vermahlen werden. Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Hˆchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. Niemand weifl, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewuflt. Wer blofl mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder ein Pfuscher. Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschw‰tz h‰lt den Sch¸ler zur¸ck, und ihre beharrliche Mittelm‰fligkeit ‰ngstigt die Besten. Des echten K¸nstlers Lehre schlieflt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Der echte Sch¸ler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und n‰hert sich dem Meister.

“Genug!” rief der Abbe, “das ¸brige zu seiner Zeit. Jetzt sehen Sie sich in jenen Schr‰nken um!”

Wilhelm ging hin und las die Aufschriften der Rollen. Er fand mit Verwunderung Lotharios Lehrjahre, Jarnos Lehrjahre und seine eignen Lehrjahre daselbst aufgestellt, unter vielen andern, deren Namen ihm unbekannt waren.

“Darf ich hoffen, in diese Rollen einen Blick zu werfen?”

“Es ist f¸r Sie nunmehr in diesem Zimmer nichts verschlossen.”

“Darf ich eine Frage tun?”

“Ohne Bedenken! und Sie kˆnnen entscheidende Antwort erwarten, wenn es eine Angelegenheit betrifft, die Ihnen zun‰chst am Herzen liegt und am Herzen liegen soll.”

“Gut denn! Ihr sonderbaren und weisen Menschen, deren Blick in so viel Geheimnisse dringt, kˆnnt ihr mir sagen, ob Felix wirklich mein Sohn sei?”

“Heil Ihnen ¸ber diese Frage!” rief der Abbe, indem er vor Freuden die H‰nde zusammenschlug, “Felix ist Ihr Sohn! Bei dem Heiligsten, was unter uns verborgen liegt, schwˆr ich Ihnen: Felix ist Ihr Sohn! und der Gesinnung nach war seine abgeschiedne Mutter Ihrer nicht unwert. Empfangen Sie das liebliche Kind aus unserer Hand, kehren Sie sich um, und wagen Sie es, gl¸cklich zu sein!”

Wilhelm hˆrte ein Ger‰usch hinter sich, er kehrte sich um und sah ein Kindergesicht schalkhaft durch die Teppiche des Eingangs hervorgucken: es war Felix. Der Knabe versteckte sich sogleich scherzend, als er gesehen wurde. “Komm hervor!” rief der Abbe. Er kam gelaufen, sein Vater st¸rzte ihm entgegen, nahm ihn in die Arme und dr¸ckte ihn an sein Herz. “Ja, ich f¸hl’s”, rief er aus, “du bist mein! Welche Gabe des Himmels habe ich meinen Freunden zu verdanken! Wo kommst du her, mein Kind, gerade in diesem Augenblick?”

“Fragen Sie nicht”, sagte der Abbe. “Heil dir, junger Mann! deine Lehrjahre sind vor¸ber; die Natur hat dich losgesprochen.”