Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 3 by Johann Wolfgang von Goethe

Association / Carnegie-Mellon University”. *END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END* This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 3 oder die Entsagenden Drittes Buch Erstes Kapitel Nach allem diesem, und was daraus erfolgen mochte, war nun Wilhelms erstes Anliegen, sich den Verb¸ndeten wieder zu n‰hern und mit irgendeiner Abteilung derselben irgendwo
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Association / Carnegie-Mellon University”.

*END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END*

This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.

Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 3
oder die Entsagenden

Drittes Buch

Erstes Kapitel

Nach allem diesem, und was daraus erfolgen mochte, war nun Wilhelms erstes Anliegen, sich den Verb¸ndeten wieder zu n‰hern und mit irgendeiner Abteilung derselben irgendwo zusammenzutreffen. Er zog daher sein T‰felchen zu Rat und begab sich auf den Weg, der ihn vor andern ans Ziel zu f¸hren versprach. Weil er aber, den g¸nstigsten Punkt zu erreichen, quer durchs Land gehen muflte, so sah er sich genˆtigt, die Reise zu Fufle zu machen und das Gep‰ck hinter sich her tragen zu lassen. F¸r seinen Gang aber ward er auf jedem Schritte reichlich belohnt, indem er unerwartet ganz allerliebste Gegenden antraf; es waren solche, wie sie das letzte Gebirg gegen die Fl‰che zu bildet, bebuschte H¸gel, die sanften Abh‰nge haush‰lterisch benutzt, alle Fl‰chen gr¸n, nirgends etwas Steiles, Unfruchtbares und Ungepfl¸gtes zu sehen. Nun gelangte er zum Haupttale, worein die Seitenwasser sich ergossen; auch dieses war sorgf‰ltig bebaut, anmutig ¸bersehbar, schlanke B‰ume bezeichneten die Kr¸mmung des durchziehenden Flusses und einstrˆmender B‰che, und als er die Karte, seinen Wegweiser, vornahm, sah er zu seiner Verwunderung, dafl die gezogene Linie dieses Tal gerade durchschnitt und er sich also vorerst wenigstens auf rechtem Weg befinde.

Ein altes, wohlerhaltenes, zu verschiedenen Zeiten erneuertes Schlofl zeigte sich auf einem bebuschten H¸gel; am Fufle desselben zog ein heiterer Flecken sich hin mit vorstehendem, in die Augen fallendem Wirtshaus; auf letzteres ging er zu und ward zwar freundlich von dem Wirt empfangen, jedoch mit Entschuldigung, dafl man ihn ohne Erlaubnis einer Gesellschaft nicht aufnehmen kˆnne, die den ganzen Gasthof auf einige Zeit gemietet habe; deswegen er alle G‰ste in die ‰ltere, weiter hinauf liegende Herberge verweisen m¸sse. Nach einer kurzen Unterredung schien der Mann sich zu bedenken und sagte: “Zwar findet sich jetzt niemand im Hause, doch es ist eben Sonnabend, und der Vogt kann nicht lange ausbleiben, der wˆchentlich alle Rechnungen berichtigt und seine Bestellungen f¸r das N‰chste macht. Wahrlich, es ist eine schickliche Ordnung unter diesen M‰nnern und eine Lust, mit ihnen zu verkehren, ob sie gleich genau sind, denn man hat zwar keinen groflen, aber einen sichern Gewinn.” Er hiefl darauf den neuen Gast in dem obern groflen Vorsaal sich gedulden und, was ferner sich ereignen mˆchte, abwarten.

Hier fand nun der Herantretende einen weiten, saubern Raum, aufler B‰nken und Tischen vˆllig leer; desto mehr verwunderte er sich, eine grofle Tafel ¸ber einer T¸r angebracht zu sehen, worauf die Worte in goldnen Buchstaben zu lesen waren: “Ubi homines sunt modi sunt”; welches wir deutsch erkl‰ren, dafl da, wo Menschen in Gesellschaft zusammentreten, sogleich die Art und Weise, wie sie zusammen sein und bleiben mˆgen, sich ausbilde. Dieser Spruch gab unserm Wanderer zu denken, er nahm ihn als gute Vorbedeutung, indem er das hier bekr‰ftigt fand, was er mehrmals in seinem Leben als vern¸nftig und fˆrdersam erkannt hatte. Es dauerte nicht lange, so erschien der Vogt, welcher, von dem Wirte vorbereitet, nach einer kurzen Unterredung und keinem sonderlichen Ausforschen ihn unter folgenden Bedingungen aufnahm: drei Tage zu bleiben, an allem, was vorgehen mˆchte, ruhig teilzunehmen und, es geschehe, was wolle, nicht nach der Ursache zu fragen, so wenig als beim Abschied nach der Zeche. Das alles muflte der Reisende sich gefallen lassen, weil der Beauftragte in keinem Punkte nachgeben konnte.

Eben wollte der Vogt sich entfernen, als ein Gesang die Treppe herauf scholl; zwei h¸bsche junge M‰nner kamen singend heran, denen jener durch ein einfaches Zeichen zu verstehen gab, der Gast sei aufgenommen. Ihren Gesang nicht unterbrechend, begr¸flten sie ihn freundlich, duettierten gar anmutig, und man konnte sehr leicht bemerken, dafl sie vˆllig einge¸bt und ihrer Kunst Meister seien. Als Wilhelm die aufmerksamste Teilnahme bewies, schlossen sie und fragten: ob ihm nicht auch manchmal ein Lied bei seinen Fuflwanderungen einfalle und das er so vor sich hin singe? “Mir ist zwar von der Natur”, versetzte Wilhelm, “eine gl¸ckliche Stimme versagt, aber innerlich scheint mir oft ein geheimer Genius etwas Rhythmisches vorzufl¸stern, so dafl ich mich beim Wandern jedesmal im Takt bewege und zugleich leise Tˆne zu vernehmen glaube, wodurch denn irgendein Lied begleitet wird, das sich mir auf eine oder die andere Weise gef‰llig vergegenw‰rtigt.”

“Erinnert Ihr Euch eines solchen, so schreibt es uns auf”, sagten jene; “wir wollen sehen, ob wir Euren singenden D‰mon zu begleiten wissen.” Er nahm hierauf ein Blatt aus seiner Schreibtafel und ¸bergab ihnen folgendes:

“Von dem Berge zu den H¸geln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Fl¸geln,
Da bewegt sich’s wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei’s in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat.”

Nach kurzem Bedenken ertˆnte sogleich ein freudiger, dem Wanderschritt angemessener Zweigesang, der, bei Wiederholung und Verschr‰nkung immer fortschreitend, den Hˆrenden mit hinrifl; er war im Zweifel, ob dies seine eigne Melodie, sein fr¸heres Thema, oder ob sie jetzt erst so angepaflt sei, dafl keine andere Bewegung denkbar w‰re. Die S‰nger hatten sich eine Zeitlang auf diese Weise vergn¸glich ergangen, als zwei t¸chtige Burschen herantreten, die man an ihren Attributen sogleich f¸r Maurer anerkannte, zwei aber, die ihnen folgten, f¸r Zimmerleute halten muflte. Diese viere, ihr Handwerkszeug sachte niederlegend, horchten dem Gesang und fielen gar bald sicher und entschieden in denselben mit ein, so dafl eine vollst‰ndige Wandergesellschaft ¸ber Berg und Tal dem Gef¸hl dahinzuschreiten schien und Wilhelm glaubte, nie etwas so Anmutiges, Herz und Sinn Erhebendes vernommen zu haben. Dieser Genufl jedoch sollte noch erhˆht und bis zum Letzten gesteigert werden, als eine riesenhafte Figur, die Treppe heraufsteigend, einen starken, festen Schritt mit dem besten Willen kaum zu m‰fligen imstande war. Ein schwer bepacktes Reff setzte er sogleich in die Ecke, sich aber auf eine Bank nieder, die zu krachen anfing, wor¸ber die andern lachten, ohne jedoch aus ihrem Gesang zu fallen. Sehr ¸berrascht aber fand sich Wilhelm, als mit einer ungeheuren Baflstimme dieses Enakskind gleichfalls einzufallen begann. Der Saal sch¸tterte, und bedeutend war es, dafl er den Refrain an seinem Teile sogleich ver‰ndert und zwar dergestalt sang:

“Du im Leben nichts verschiebe;
Sei dein Leben Tat um Tat!”

Ferner konnte man denn auch gar bald bemerken, dafl er das Tempo zu einem langsameren Schritt herniederziehe und die ¸brigen nˆtige, sich ihm zu f¸gen. Als man zuletzt geschlossen und sich genugsam befriedigt hatte, warfen ihm die andern vor, als wenn er getrachtet habe, sie irrezumachen. “Keineswegs”, rief er aus, “ihr seid es, die ihr mich irrezumachen gedenkt; aus meinem Schritt wollt ihr mich bringen, der gem‰fligt und sicher sein mufl, wenn ich mit meiner B¸rde bergauf, bergab schreite und doch zuletzt zur bestimmten Stunde eintreffen und euch befriedigen soll.”

Einer nach dem andern ging nunmehr zu dem Vogt hinein, und Wilhelm konnte wohl bemerken, dafl es auf eine Abrechnung angesehen sei, wornach er sich nun nicht weiter erkundigen durfte. In der Zwischenzeit kamen ein Paar muntere, schˆne Knaben, eine Tafel in der Geschwindigkeit zu bereiten, m‰flig mit Speise und Wein zu besetzen, worauf der heraustretende Vogt sie nunmehr alle sich mit ihm niederzulassen einlud. Die Knaben warteten auf, vergaflen sich aber auch nicht und nahmen stehend ihren Anteil dahin. Wilhelm erinnerte sich ‰hnlicher Szenen, da er noch unter den Schauspielern hauste, doch schien ihm die gegenw‰rtige Gesellschaft viel ernster, nicht zum Scherz auf Schein, sondern auf bedeutende Lebenszwecke gerichtet.

Das Gespr‰ch der Handwerker mit dem Vogt belehrte den Gast hier¸ber aufs klarste. Die vier t¸chtigen jungen Leute waren in der N‰he t‰tig, wo ein gewaltsamer Brand die anmutigste Landstadt in Asche gelegt hatte; nicht weniger hˆrte man, dafl der wackere Vogt mit Anschaffung des Holzes und sonstiger Baumaterialien besch‰ftigt sei, welches dem Gast um so r‰tselhafter vorkam, als s‰mtliche M‰nner hier nicht wie Einheimische, sondern wie Vor¸berwandernde sich in allem ¸brigen ank¸ndigten. Zum Schlusse der Tafel holte St. Christoph, so nannten sie den Riesen, ein beseitigtes gutes Glas Wein zum Schlaftrunk, und ein heiterer Gesang hielt noch einige Zeit die Gesellschaft f¸r das Ohr zusammen, die dem Blick bereits auseinandergegangen war; worauf denn Wilhelm in ein Zimmer gef¸hrt wurde von der anmutigsten Lage. Der Vollmond, eine reiche Flur beleuchtend, war schon herauf und weckte ‰hnliche und gleiche Erinnerungen in dem Busen unseres Wanderers. Die Geister aller lieben Freunde zogen bei ihm vor¸ber, besonders aber war ihm Lenardos Bild so lebendig, dafl er ihn unmittelbar vor sich zu sehen glaubte. Dies alles gab ihm ein inniges Behagen zur n‰chtlichen Ruhe, als er durch den wunderlichsten Laut beinahe erschreckt worden w‰re. Es klang aus der Ferne her, und doch schien es im Hause selbst zu sein, denn das Haus zitterte manchmal, und die Balken drˆhnten, wenn der Ton zu seiner grˆflten Kraft stieg. Wilhelm, der sonst ein zartes Ohr hatte, alle Tˆne zu unterscheiden, konnte doch sich f¸r nichts bestimmen; er verglich es dem Schnarren einer groflen Orgelpfeife, die vor lauter Umfang keinen entschiedenen Ton von sich gibt. Ob dieses Nachtschrecken gegen Morgen nachliefl, oder ob Wilhelm, nach und nach daran gewˆhnt, nicht mehr daf¸r empfindlich war, ist schwer auszumitteln; genug, er schlief ein und ward von der aufgehenden Sonne anmutig erweckt.

Kaum hatte ihm einer der dienenden Knaben das Fr¸hst¸ck gebracht, als eine Figur hereintrat, die er am Abendtische bemerkt hatte, ohne ¸ber deren Eigenschaften klar zu werden. Es war ein wohlgebauter, breitschultriger, auch behender Mann, der sich durch ausgekramtes Ger‰t als Barbier ank¸ndigte und sich bereitete, Wilhelmen diesen so erw¸nschten Dienst zu leisten. ¸brigens schwieg er still, und das Gesch‰ft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne dafl er irgendeinen Laut von sich gegeben h‰tte. Wilhelm begann daher und sprach: “Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich w¸flte nicht, dafl ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gef¸hlt h‰tte, zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu beobachten.”

Schalkhaft l‰chelnd, den Finger auf den Mund legend, schlich der Schweigsame zur T¸re hinaus. “Wahrlich!” rief ihm Wilhelm nach: “Ihr seid jener Rotmantel, wo nicht selbst, doch wenigstens gewifl ein Abkˆmmling; es ist Euer Gl¸ck, dafl Ihr den Gegendienst von mir nicht verlangen wollt, Ihr w¸rdet Euch dabei schlecht befunden haben.”

Kaum hatte dieser wunderliche Mann sich entfernt, als der bekannte Vogt hereintrat, zur Tafel f¸r diesen Mittag eine Einladung ausrichtend, welche gleichfalls ziemlich seltsam klang: das Band, so sagte der Einladende ausdr¸cklich, heifle den Fremden willkommen, berufe denselben zum Mittagsmahle und freue sich der Hoffnung, mit ihm in ein n‰heres Verh‰ltnis zu treten. Man erkundigte sich ferner nach dem Befinden des Gastes, und wie er mit der Bewirtung zufrieden sei; der denn von allem, was ihm begegnet war, nur mit Lob sprechen konnte. Freilich h‰tte er sich gern bei diesem Manne, wie vorher bei dem schweigsamen Barbier, nach dem entsetzlichen Ton erkundigt, der ihn diese Nacht, wo nicht ge‰ngstigt, doch beunruhigt hatte; seines Angelˆbnisses jedoch eingedenk, enthielt er sich jeder Frage und hoffte, ohne zudringlich zu sein, aus Neigung der Gesellschaft oder zuf‰llig nach seinen W¸nschen belehrt zu werden.

Als der Freund sich allein befand, dachte er ¸ber die wunderliche Person erst nach, die ihn hatte einladen lassen, und wuflte nicht recht, was er daraus machen sollte. Einen oder mehrere Vorgesetzte durch ein Neutrum anzuk¸ndigen, kam ihm allzu bedenklich vor. ¸brigens war es so still um ihn her, dafl er nie einen stilleren Sonntag erlebt zu haben glaubte; er verliefl das Haus, vernahm aber ein Glockengel‰ute und ging nach dem St‰dtchen zu. Die Messe war eben geendigt, und unter den sich herausdr‰ngenden Einwohnern und Landleuten erblickte er drei Bekannte von gestern, einen Zimmergesellen, einen Maurer und einen Knaben. Sp‰ter bemerkte er unter den protestantischen Gottesverehrern gerade die drei andern. Wie die ¸brigen ihrer Andacht pflegen mochten, ward nicht bekannt, so viel aber getraute er sich zu schlieflen, dafl in dieser Gesellschaft eine entschiedene Religionsfreiheit obwalte.

Zu Mittag kam demselben am Schlofltore der Vogt entgegen, ihn durch mancherlei Hallen in einen groflen Vorsaal zu f¸hren, wo er ihn niedersetzen hiefl. Viele Personen gingen vorbei, in einen anstoflenden Saalraum hinein. Die schon bekannten waren darunter zu sehen, selbst St. Christoph schritt vor¸ber; alle gr¸flten den Vogt und den Ankˆmmling. Was dem Freund dabei am meisten auffiel, war, dafl er nur Handwerker zu sehen glaubte, alle nach gewohnter Weise, aber hˆchst reinlich gekleidet; wenige, die er allenfalls f¸r Kanzleiverwandte gehalten h‰tte.

Als nun keine neuen G‰ste weiter zudrangen, f¸hrte der Vogt unsern Freund durch die stattliche Pforte in einen weitl‰ufigen Saal; dort war eine un¸bersehbare Tafel gedeckt, an deren unterem Ende er vorbeigef¸hrt wurde, nach oben zu, wo er drei Personen quer vorstehen sah. Aber von welchem Erstaunen ward er ergriffen, als er in die N‰he trat und Lenardo, kaum noch erkannt, ihm um den Hals fiel. Von dieser ¸berraschung hatte man sich noch nicht erholt, als ein Zweiter Wilhelmen gleichfalls feurig und lebhaft umarmte und sich als den wunderlichen Friedrich, Nataliens Bruder, zu erkennen gab. Das Entz¸cken der Freunde verbreitete sich ¸ber alle Gegenw‰rtigen; ein Freud–und Segensruf erscholl die ganze Tafel her. Auf einmal aber, als man sich gesetzt, ward alles still und das Gastmahl mit einer gewissen Feierlichkeit aufgetragen und eingenommen.

Gegen Ende der Tafel gab Lenardo ein Zeichen, zwei S‰nger standen auf, und Wilhelm verwunderte sich sehr, sein gestriges Lied wiederholt zu hˆren, das wir, der n‰chsten Folge wegen, hier wieder einzur¸cken f¸r nˆtig finden.

“Von dem Berge zu den H¸geln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Fl¸geln,
Da bewegt sich’s wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei’s in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat.”

Kaum hatte dieser Zwiegesang, von einem gef‰llig m‰fligen Chor begleitet, sich zum Ende geneigt, als gegen¸ber sich zwei andere S‰nger ungest¸m erhuben, welche mit ernster Heftigkeit das Lied mehr umkehrten als fortsetzten, zur Verwunderung des Ankˆmmlings aber sich also vernehmen lieflen:

“Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe trauervoll,
Statt dem einen mit dem andern
Fort und fort mich wenden soll!”

Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer m‰chtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph, vom untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden. Beinahe furchtbar schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte, bei Gewandtheit der S‰nger, etwas Fugenhaftes in das Ganze, dafl es unserm Freunde wie schauderhaft auffiel. Wirklich schienen alle vˆllig gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem Aufbruche zu betrauern. Die wundersamsten Wiederholungen, das ˆftere Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem Bande selbst gef‰hrlich; Lenardo stand auf, und alle setzten sich sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend. Jener begann mit freundlichen Worten: “Zwar kann ich euch nicht tadeln, dafl ihr euch das Schicksal, das uns allen bevorsteht, immer vergegenw‰rtigt, um zu demselben jede Stunde bereit zu sein. Haben doch lebensm¸de, bejahrte M‰nner den Ihrigen zugerufen: “Gedenke zu sterben!”, so d¸rfen wir lebenslustige j¸ngere wohl uns immerfort ermuntern und ermahnen mit den heitern Worten: “Gedenke zu wandern!”; dabei ist aber wohlgetan, mit Mafl und Heiterkeit dessen zu erw‰hnen, was man entweder willig unternimmt, oder wozu man sich genˆtigt glaubt. Ihr wiflt am besten, was unter uns fest steht und was beweglich ist; gebt uns dies auch in erfreulichen, aufmunternden Tˆnen zu genieflen, worauf denn dieses Abschiedsglas f¸r diesmal gebracht sei!” Er leerte sodann seinen Becher und setzte sich nieder; die vier S‰nger standen sogleich auf und begannen in abgeleiteten, sich anschlieflenden Tˆnen:

“Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kr‰ften, ¸berall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los:
Dafl wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so grofl.”

Bei dem wiederholenden Chorgesange stand Lenardo auf und mit ihm alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende Bewegung; die unteren zogen, St. Christoph voran, paarweis zum Saale hinaus, und der angestimmte Wandergesang ward immer heiterer und freier; besonders aber nahm er sich sehr gut aus, als die Gesellschaft, in den terrassierten Schloflg‰rten versammelt, von hier aus das ger‰umige Tal ¸bersah, in dessen F¸lle und Anmut man sich wohl gern verloren h‰tte. Indessen die Menge sich nach Belieben hier–und dorthin zerstreute, machte man Wilhelmen mit dem dritten Vorsitzenden bekannt. Es war der Amtmann, der das gr‰fliche, zwischen mehreren Standesherrschaften liegende Schlofl dieser Gesellschaft, so lange sie hier zu verweilen f¸r gut f‰nde, einzur‰umen und ihr vielfache Vorteile zu verschaffen gewuflt, dagegen aber auch, als ein kluger Mann, die Anwesenheit so seltener G‰ste zu nutzen verstand. Denn indem er f¸r billige Preise seine Fruchtbˆden auftat und, was sonst noch zu Nahrung und Notdurft erforderlich w‰re, zu verschaffen wuflte, so wurden bei solcher Gelegenheit l‰ngst vernachl‰ssigte Dachreihen umgelegt, Dachst¸hle hergestellt, Mauern unterfahren, Planken gerichtet und andere M‰ngel auf den Grad gehoben, dafl ein l‰ngst vernachl‰ssigtes, in Verfall geratenes Besitztum verbl¸hender Familien den frohen Anblick einer lebendig benutzten Wohnlichkeit gew‰hrte und das Zeugnis gab: Leben schaffe Leben, und, wer andern n¸tzlich sei, auch sie ihm zu nutzen in die Notwendigkeit versetze.

Zweites Kapitel

Hersilie an Wilhelm

Mein Zustand kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri; da die Vertrauten vˆllig ermangeln, so mufl zuletzt alles in Monologen verhandelt werden, und f¸rwahr, eine Korrespondenz mit Ihnen ist einem Monolog vollkommen gleich; denn Ihre Antworten nehmen eigentlich wie ein Echo unsre Silben nur oberfl‰chlich auf, um sie verhallen zu lassen. Haben Sie auch nur ein einzigmal etwas erwidert, worauf man wieder h‰tte erwidern kˆnnen? Parierend, ablehnend sind Ihre Briefe! Indem ich aufstehe, Ihnen entgegenzutreten, so weisen Sie mich wieder auf den Sessel zur¸ck.

Vorstehendes war schon einige Tage geschrieben; nun findet sich ein neuer Drang und Gelegenheit, Gegenw‰rtiges an Lenardo zu bringen; dort findet Sie’s, oder man weifl Sie zu finden. Wo es Sie aber auch antreffen mag, lautet meine Rede dahin, dafl, wenn Sie, nach gelesenem diesem Blatt, nicht gleich vom Sitze aufspringen und als frommer Wanderer sich eilig bei mir einstellen, so erkl‰r’ ich Sie f¸r den m‰nnlichsten aller M‰nner, d. h dem die liebensw¸rdigste aller Eigenschaften unsers Geschlechts vˆllig abgeht; ich verstehe darunter die Neugierde, die mich eben in dem Augenblick auf das entschiedenste qu‰lt.

Kurz und gut! Zu Ihrem Prachtk‰stchen ist das Schl¸sselchen gefunden; das darf aber niemand wissen als ich und Sie. Wie es in meine H‰nde gekommen, vernehmen Sie nun.

Vor einigen Tagen empf‰ngt unser Gerichtshalter eine Ausfertigung von fremder Behˆrde, worin gefragt wird, ob nicht ein Knabe sich zu der und der Zeit in der Nachbarschaft aufgehalten, allerlei Streiche ver¸bt und endlich bei einem verwegenen Unternehmen seine Jacke eingeb¸flt habe.

Wie dieser Schelm nun bezeichnet war, blieb kein Zweifel ¸brig, es sei jener Fitz, von dem Felix so viel zu erz‰hlen wuflte und den er sich oft als Spielkameraden zur¸ckw¸nschte.

Nun erbat sich jene Stelle die benannte Kleidung, wenn sie noch vorhanden w‰re, weil der in Untersuchung geratene Knabe sich darauf berufe. Von dieser Zumutung spricht nun unser Gerichtshalter gelegentlich und zeigt das Kittelchen vor, eh’ er es absendet.

Mich treibt ein guter oder bˆser Geist, in die Brusttasche zu greifen; ein winzig kleines, stachlichtes Etwas kommt mir in die Hand; ich, die ich sonst so apprehensiv, kitzlich und schreckhaft bin, schliefle die Hand, schliefle sie, schweige, und das Kleid wird fortgeschickt. Sogleich ergreift mich von allen Empfindungen die wunderlichste. Beim ersten verstohlenen Blick seh’ ich, errat’ ich, zu Ihrem K‰stchen sei es der Schl¸ssel. Nun gab es wunderliche Gewissenszweifel, mancherlei Skrupel stiegen bei mir auf. Den Fund zu offenbaren, herzugeben, war mir unmˆglich: was soll es jenen Gerichten, da es dem Freunde so n¸tzlich sein kann! Dann wollte sich mancherlei von Recht und Pflicht wieder auftun, welche mich aber nicht ¸berstimmen konnten.

Da sehen Sie nun, in was f¸r einen Zustand mich die Freundschaft versetzt; ein famoses Organ entwickelt sich plˆtzlich, Ihnen zuliebe; welch ein wunderlich Ereignis! Mˆchte das nicht mehr als Freundschaft sein, was meinem Gewissen dergestalt die Waage h‰lt! Wundersam bin ich beunruhigt, zwischen Schuld und Neugier; ich mache mir hundert Grillen und M‰rchen, was alles daraus erfolgen kˆnnte: mit Recht und Gericht ist nicht zu spaflen. Hersilie, das unbefangene, gelegentlich ¸berm¸tige Wesen, in einen Kriminalprozefl verwickelt, denn darauf geht’s doch hinaus, und was bleibt mir da ¸brig, als an den Freund zu denken, um dessentwillen ich das alles leide! Ich habe sonst auch an Sie gedacht, aber mit Pausen, jetzt aber unaufhˆrlich; jetzt, wenn mir das Herz schl‰gt und ich ans siebente Gebot denke, so mufl ich mich an Sie wenden als den Heiligen, der das Verbrechen veranlaflt und mich auch wohl wieder entbinden kann; und so wird allein die Erˆffnung des K‰stchens mich beruhigen. Die Neugierde wird doppelt m‰chtig. Kommen Sie eiligst und bringen das K‰stchen mit. F¸r welchen Richterstuhl eigentlich das Geheimnis gehˆre, das wollen wir unter uns ausmachen; bis dahin bleibt es unter uns; niemand wisse darum, es sei auch, wer es sei.

Hier aber, mein Freund, nun schliefllich zu dieser Abbildung des R‰tsels was sagen Sie? Erinnert es nicht an Pfeile mit Widerhaken? Gott sei uns gn‰dig! Aber das K‰stchen mufl zwischen mir und Ihnen erst unerˆffnet stehen und dann erˆffnet das Weitere selbst befehlen. Ich wollte, es f‰nde sich gar nichts drinnen, und was ich sonst noch wollte und was ich sonst noch alles erz‰hlen kˆnnte doch sei Ihnen das vorenthalten, damit Sie desto eiliger sich auf den Weg machen.

Und nun m‰dchenhaft genug noch eine Nachschrift! Was geht aber mich und Sie eigentlich das K‰stchen an? Es gehˆrt Felix, der hat’s entdeckt, hat sich’s zugeeignet, den m¸ssen wir herbeiholen, ohne seine Gegenwart sollen wir’s nicht ˆffnen.

Und was das wieder f¸r Umst‰nde sind! das schiebt sich und verschiebt sich.

Was ziehen Sie so in der Welt herum? Kommen Sie! bringen Sie den holden Knaben mit, den ich auch einmal wieder sehen mˆchte.

Und nun geht’s da wieder an, der Vater und der Sohn! tun Sie, was Sie kˆnnen, aber kommen Sie beide.

Drittes Kapitel

Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange geschrieben und hin und wider getragen worden, bis er endlich, der Aufschrift gem‰fl, diesmal abgegeben werden konnte. Wilhelm nahm sich vor, mit dem ersten Boten, dessen Absendung bevorstand, freundlich, aber ablehnend zu antworten. Hersilie schien die Entfernung nicht zu berechnen, und er war gegenw‰rtig zu ernstlich besch‰ftigt, als dafl ihn auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem K‰stchen befindlich sein mˆchte, h‰tte reizen d¸rfen.

Auch gaben ihm einige Unf‰lle, die den derbsten Gliedern dieser t¸chtigen Gesellschaft begegneten, Gelegenheit, sich meisterhaft in der von ihm ergriffenen Kunst zu beweisen. Und wie ein Wort das andere gibt, so folgt noch gl¸cklicher eine Tat aus der andern, und wenn dadurch zuletzt auch wieder Worte veranlaflt werden, so sind diese um so fruchtbarer und geisterhebender. Die Unterhaltungen waren daher so belehrend als ergˆtzlich, denn die Freunde gaben sich wechselseitig Rechenschaft vom Gange des bisherigen Lernens und Tuns, woraus eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen machte, dergestalt, dafl sie sich untereinander erst selbst wieder muflten kennen lernen.

Eines Abends also fing Wilhelm seine Erz‰hlung an: “Meine Studien als Wundarzt suchte ich sogleich in einer groflen Anstalt der grˆflten Stadt, wo sie nur allein mˆglich wird, zu fˆrdern; zur Anatomie als Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.

Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten w¸rde, war ich schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und zwar w‰hrend meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen, spielt denn doch der kˆrperliche Mensch da die Hauptrolle, ein schˆner Mann, eine schˆne Frau! Ist der Direktor gl¸cklich genug, ihrer habhaft zu werden, so sind Komˆdien–und Tragˆdiendichter geborgen. Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt, macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Schˆnheit der unverh¸llten Glieder bekannt als irgendein anderes Verh‰ltnis; selbst verschiedene Kost¸ms nˆtigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst herkˆmmlich verh¸llt wird. Hievon h‰tt’ ich viel zu sagen, so auch von kˆrperlichen M‰ngeln, welche der kluge Schauspieler an sich und andern kennen mufl, um sie, wo nicht zu verbessern, wenigstens zu verbergen, und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem anatomischen Vortrag, der die ‰uflern Teile n‰her kennen lehrte, eine folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken; so wie mir denn auch die innern Teile nicht fremd waren, indem ein gewisses Vorgef¸hl davon mir immer gegenw‰rtig geblieben war. Unangenehm hindernd war bei dem Studium die immer wiederholte Klage vom Mangel der Gegenst‰nde, ¸ber die nicht hinreichende Anzahl der verbliebenen Kˆrper, die man zu so hohen Zwecken unter das Messer w¸nschte. Solche, wo nicht hinreichend, doch in mˆglichstes Zahl zu verschaffen, hatte man harte Gesetze ergehen lassen, nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum in jedem Sinne verwirkt, sondern auch andere kˆrperlich, geistig verwahrloste Umgekommene wurden in Anspruch genommen.

Mit dem Bed¸rfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille des Volks, das in sittlicher und religioser Ansicht seine Persˆnlichkeit und die Persˆnlichkeit geliebter Personen nicht aufgeben kann.

Immer weiter aber stieg das ¸bel, indem die verwirrende Sorge hervortrat, dafl man auch sogar f¸r die friedlichen Gr‰ber geliebter Abgeschiedener zu f¸rchten habe. Kein Alter, keine W¸rde, weder Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhest‰tte mehr sicher; der H¸gel, den man mit Blumen geschm¸ckt, die Inschriften, mit denen man das Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die eintr‰gliche Raubsucht sch¸tzen; der schmerzlichste Abschied schien aufs grausamste gestˆrt, und indem man sich vom Grabe wegwendete, muflte schon die Furcht empfunden werden, die geschm¸ckten, beruhigten Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und entw¸rdigt zu wissen.

Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache, ohne dafl irgend jemand an ein H¸lfsmittel gedacht h‰tte oder daran h‰tte denken kˆnnen, und immer allgemeiner wurden die Beschwerden, als junge M‰nner, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag gehˆrt, sich auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und Vernommenen ¸berzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer tiefer und lebendiger der Einbildungskraft ¸berliefern wollten.

In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnat¸rlichem wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerw‰rtigsten Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu begehren aufregt.

Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die Wissens–und Tatlustigen besch‰ftigt und unterhalten, als endlich ein Fall, ¸ber den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das F¸r und Wider f¸r einige Stunden heftig hervorrief. Ein sehr schˆnes M‰dchen, verwirrt durch ungl¸ckliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht und gefunden; die Anatomie bem‰chtigte sich derselbigen; vergebens war die Bem¸hung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers selbst, der nur durch falschen Argwohn verd‰chtig geworden. Die obern Behˆrden, die soeben das Gesetz gesch‰rft hatten, durften keine Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als mˆglich die Beute zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen.”

Wilhelm, der als n‰chster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Breite, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die H¸lle wegnahm, lag der schˆnste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines J¸nglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht, es zu erˆffnen; er stand und getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille, dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher s‰mtliche Umhersitzende Gen¸ge leisteten.

In diesen Augenblicken trat ein ansehnlicher Mann zu ihm, den er zwar als einen seltenen, aber immer als einen sehr aufmerksamen Zuhˆrer und Zuschauer bemerkt und demselben schon nachgefragt hatte; niemand aber konnte n‰here Auskunft geben; dafl es ein Bildhauer sei, darin war man einig; man hielt ihn aber auch f¸r einen Goldmacher, der in einem groflen, alten Hause wohne, dessen erste Flur allein den Besuchenden oder bei ihm Besch‰ftigten zug‰nglich, die ¸brigen s‰mtlichen R‰ume jedoch verschlossen seien. Dieser Mann hatte sich Wilhelmen verschiedentlich gen‰hert, war mit ihm aus der Stunde gegangen, wobei er jedoch alle weitere Verbindung und Erkl‰rung zu vermeiden schien.

Diesmal jedoch sprach er mit einer gewissen Offenheit: “Ich sehe, Sie zaudern, Sie staunen das schˆne Gebild an, ohne es zerstˆren zu kˆnnen; setzen Sie sich ¸ber das Gildegef¸hl hinaus und folgen Sie mir.” Hiermit deckte er den Arm wieder zu, gab dem Saaldiener einen Wink, und beide verlieflen den Ort. Schweigend gingen sie nebeneinander her, als der Halbbekannte vor einem groflen Tore stillestand, dessen Pfˆrtchen er aufschlofl und unsern Freund hineinnˆtigte, der sich sodann auf einer Tenne befand, grofl, ger‰umig, wie wir sie in alten Kaufh‰usern sehen, wo die ankommenden Kisten und Ballen sogleich untergefahren werden. Hier standen Gipsabg¸sse von Statuen und B¸sten, auch Bohlenverschl‰ge gepackt und leer. “Es sieht hier kaufm‰nnisch aus”, sagte der Mann; “der von hier aus mˆgliche Wassertransport ist f¸r mich unsch‰tzbar.” Dieses alles paflte nun ganz gut zu dem Gewerb eines Bildhauers; ebenso konnte Wilhelm nichts anders finden, als der freundliche Wirt ihn wenige Stufen hinauf in ein ger‰umiges Zimmer f¸hrte, das ringsumher mit Hoch–und Flachgebilden, mit grˆfleren und kleineren Figuren, B¸sten und wohl auch einzelnen Gliedern der schˆnsten Gestalten geziert war. Mit Vergn¸gen betrachtete unser Freund dies alles und horchte gern den belehrenden Worten seines Wirtes, ob er gleich noch eine grofle Kluft zwischen diesen k¸nstlerischen Arbeiten und den wissenschaftlichen Bestrebungen, von denen sie herkamen, gewahren muflte. Endlich sagte der Hausbesitzer mit einigem Ernst: “Warum ich Sie hierher f¸hre, werden Sie leicht einsehen; diese T¸re”, fuhr er fort, indem er sich nach der Seite wandte, “liegt n‰her an der Saalt¸re, woher wir kommen, als Sie denken mˆgen.” Wilhelm trat hinein und hatte freilich zu erstaunen, als er, statt wie in den vorigen Nachbildung lebender Gestalten zu sehen, hier die W‰nde durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestattet fand; sie mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein, genug, sie hatten durchaus das frische, farbige Ansehen erst fertig gewordener Pr‰parate. “Hier, mein Freund”, sagte der K¸nstler, “hier sehen Sie sch‰tzenswerte Surrogate f¸r jene Bem¸hungen, die wir, mit dem Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und grofler Sorgfalt dem Verderben oder einem widerw‰rtigen Aufbewahren vorbereiten. Ich mufl dieses Gesch‰ft im tiefsten Geheimnis betreiben, denn Sie haben gewifl oft schon M‰nner vom Fach mit Geringsch‰tzung davon reden hˆren. Ich lasse mich nicht irremachen und bereite etwas vor, welches in der Folge gewifl von grofler Einwirkung sein wird. Der Chirurg besonders, wenn er sich zum plastischen Begriff erhebt, wird der ewig fortbildenden Natur bei jeder Verletzung gewifl am besten zu H¸lfe kommen; den Arzt selbst w¸rde ein solcher Begriff bei seinen Funktionen erheben. Doch lassen Sie uns nicht viel Worte machen! Sie sollen in kurzem erfahren, dafl Aufbauen mehr belehrt als Einreiflen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getˆtete noch weiter tˆten; kurz also, wollen Sie mein Sch¸ler sein?” Und auf Bejahung legte der Wissende dem Gaste das Knochenskelett eines weiblichen Armes vor, in der Stellung, wie sie jenen vor kurzem vor sich gesehen hatten. “Ich habe”, fuhr der Meister fort, “zu bemerken gehabt, wie Sie der B‰nderlehre durchaus Aufmerksamkeit schenkten und mit Recht, denn mit ihnen beginnt sich f¸r uns das tote Knochengerassel erst wieder zu beleben; Hesekiel muflte sein Gebeinfeld sich erst auf diese Weise wieder sammeln und f¸gen sehen, ehe die Glieder sich regen, die Arme tasten und die F¸fle sich aufrichten konnten. Hier ist biegsam Masse, St‰bchen und was sonst nˆtig sein mˆchte; nun versuchen Sie Ihr Gl¸ck.”

Der neue Sch¸ler nahm seine Gedanken zusammen, und als er die Knochenteile n‰her zu betrachten anfing, sah er, dafl diese k¸nstlich von Holz geschnitzt seien. “Ich habe”, versetzte der Lehrer, “einen geschickten Mann, dessen Kunst nach Brote ging, indem die Heiligen und M‰rtyrer, die er zu schnitzen gewohnt war, keinen Abgang mehr fanden, ihn hab’ ich darauf geleitet, sich der Skelettbildung zu bem‰chtigen und solche im groflen wie im kleinen naturgem‰fl zu befˆrdern.”

Nun tat unser Freund sein Bestes und erwarb sich den Beifall des Anleitenden. Dabei war es ihm angenehm, sich zu erproben, wie stark oder schwach die Erinnerung sei, und er fand zu vergn¸glicher ¸berraschung, dafl sie durch die Tat wieder hervorgerufen werde; er gewann Leidenschaft f¸r diese Arbeit und ersuchte den Meister, in seine Wohnung aufgenommen zu werden. Hier nun arbeitete er unabl‰ssig; auch waren die Knochen und Knˆchelchen des Armes in kurzer Zeit gar schicklich verbunden. Von hier aber sollten die Sehnen und Muskeln ausgehen, und es schien eine vˆllige Unmˆglichkeit, den ganzen Kˆrper auf diese Weise nach allen seinen Teilen gleichm‰flig herzustellen. Hiebei trˆstete ihn der Lehrer, indem er die Vervielf‰ltigung durch Abformung sehen liefl, da denn das Nacharbeiten, das Reinbilden der Exemplare eben wieder neue Anstrengung, neue Aufmerksamkeit verlangte.

Alles, worein der Mensch sich ernstlich einl‰flt, ist ein Unendliches; nur durch wetteifernde T‰tigkeit weifl er sich dagegen zu helfen; auch kam Wilhelm bald ¸ber den Zustand von Gef¸hl seines Unvermˆgens, welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich behaglich bei der Arbeit. “Es freut mich”, sagte der Meister, “dafl Sie sich in diese Verfahrungsart zu schicken wissen und dafl Sie mir ein Zeugnis geben, wie fruchtbar eine solche Methode sei, wenn sie auch von den Meistern des Fachs nicht anerkannt wird. Es mufl eine Schule geben, und diese wird sich vorz¸glich mit ¸berlieferung besch‰ftigen; was bisher geschehen ist, soll auch k¸nftig geschehen, das ist gut und mag und soll so sein. Wo aber die Schule stockt, das mufl man bemerken und wissen; das Lebendige mufl man ergreifen und ¸ben, aber im stillen, sonst wird man gehindert und hindert andere. Sie haben lebendig gef¸hlt und zeigen es durch Tat, Verbinden heiflt mehr als Trennen, Nachbilden mehr als Ansehen.”

Wilhelm erfuhr nun, dafl solche Modelle im stillen schon weit verbreitet seien, aber zu grˆflter Verwunderung vernahm er, dafl das Vorr‰tige eingepackt und ¸ber See gehen solle. Dieser wackere K¸nstler hatte sich schon mit Lothario und jenen Befreundeten in Verh‰ltnis gesetzt; man fand die Gr¸ndung einer solchen Schule in jenen sich heranbildenden Provinzen ganz besonders am Platze, ja hˆchst notwendig, besonders unter nat¸rlich gesitteten, wohldenkenden Menschen, f¸r welche die wirkliche Zergliederung immer etwas Kannibalisches hat. “Geben Sie zu, dafl der grˆflte Teil von ‰rzten und Wund‰rzten nur einen allgemeinen Eindruck des zergliederten menschlichen Kˆrpers in Gedanken beh‰lt und damit auszukommen glaubt, so werden gewifl solche Modelle hinreichen, die in seinem Geiste nach und nach erlˆschenden Bilder wieder anzufrischen und ihm gerade das Nˆtige lebendig zu erhalten. Ja es kommt auf Neigung und Liebhaberei an, so werden sich die zartesten Resultate der Zergliederungskunst nachbilden lassen. Leistet dies ja schon Zeichenfeder, Pinsel und Grabstichel.”

Hier ˆffnete er ein Seitenschr‰nkchen und liefl die Gesichtsnerven auf die wundersamste Weise nachgebildet erblicken. “Dies ist leider”, sprach er, “das letzte Kunstst¸ck eines abgeschiedenen jungen Geh¸lfen, der mir die beste Hoffnung gab, meine Gedanken durchzuf¸hren und meine W¸nsche n¸tzlich auszubreiten.”

¸ber die Einwirkung dieser Behandlungsweise nach manchen Seiten hin wurde gar viel zwischen beiden gesprochen, auch war das Verh‰ltnis zur bildenden Kunst ein Gegenstand merkw¸rdiger Unterhaltung. Ein auffallendes, schˆnes Beispiel, wie auf diese Weise vorw‰rts und r¸ckw‰rts zu arbeiten sei, ergab sich aus diesen Mitteilungen. Der Meister hatte einen schˆnen Sturz eines antiken J¸nglings in eine bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle Gestalt von der Epiderm zu entblˆflen und das schˆne Lebendige in ein reales Muskelpr‰parat zu verwandeln. “Auch hier finden sich Mittel und Zweck so nahe beisammen, und ich will gern gestehen, dafl ich ¸ber den Mitteln den Zweck vernachl‰ssigt habe, doch nicht ganz mit eigener Schuld; der Mensch ohne H¸lle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unfˆrmlichen, widerw‰rtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wuflten; solche gˆttliche Gedanken mufl er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne Feigenbl‰tter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel zu wenig. Kaum hatte ich etwas gelernt, so verlangten sie von mir w¸rdige M‰nner in Schlafrˆcken und weiten ‰rmeln und zahllosen Falten; da wendete ich mich r¸ckw‰rts, und da ich das, was ich verstand, nicht einmal zum Ausdruck des Schˆnen anwenden durfte, so w‰hlte ich, n¸tzlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung. Wird mein Wunsch erf¸llt, wird es als brauchbar anerkannt, dafl, wie in so viel andern Dingen, Nachbildung und das Nachgebildete der Einbildungskraft und dem Ged‰chtnis zu H¸lfe kommen, da, wo den Menschengeist eine gewisse Frische verl‰flt, so wird gewifl mancher bildende K¸nstler sich, wie ich es getan, herumwenden und lieber euch in die Hand arbeiten, als dafl er gegen ¸berzeugung und Gef¸hl ein widerw‰rtiges Handwerk treibe.”

Hieran schlofl sich die Betrachtung, dafl es eben schˆn sei zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so dafl die Kunst nicht sinken kann, ohne in lˆbliches Handwerk ¸berzugehen, das Handwerk sich nicht steigern, ohne kunstreich zu werden.

Beide Personen f¸gten und gewˆhnten sich so vollkommen aneinander, dafl sie sich nur ungern trennten, als es nˆtig ward, um ihren eigentlichen groflen Zwecken entgegenzusehen.

“Damit man aber nicht glaube”, sagte der Meister, “dafl wir uns von der Natur ausschlieflen und sie verleugnen wollen, so erˆffnen wir eine frische Aussicht. Dr¸ben ¸ber dem Meere, wo gewisse menschenw¸rdige Gesinnungen sich immerfort steigern, mufl man endlich bei Abschaffung der Todesstrafe weitl‰ufige Kastelle, ummauerte Bezirke bauen, um den ruhigen B¸rger gegen Verbrechen zu sch¸tzen und das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen. Dort, mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem ‰skulap eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst, werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenst‰nden erfrischt, deren Zerst¸ckelung unser menschliches Gef¸hl nicht verletze, bei deren Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schˆnen, unschuldigen Arm erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wiflbegierde vor dem Gef¸hl der Menschlichkeit ausgelˆscht werde.”

“Dieses”, sagte Wilhelm, “waren unsre letzten Gespr‰che, ich sah die wohlgepackten Kisten den Flufl hinabschwimmen, ihnen die gl¸cklichste Fahrt und uns eine gemeinsame frohe Gegenwart beim Auspacken w¸nschend.”

Unser Freund hatte diesen Vortrag mit Geist und Enthusiasmus wie gef¸hrt so geendigt, besonders aber mit einer gewissen Lebhaftigkeit der Stimme und Sprache, die man in der neuem Zeit nicht an ihm gewohnt war. Da er jedoch am Schlufl seiner Rede zu bemerken glaubte, dafl Lenardo, wie zerstreut und abwesend, das Vorgetragene nicht zu verfolgen schien, Friedrich hingegen gel‰chelt, einigemal beinahe den Kopf gesch¸ttelt habe, so fiel dem zart empfindenden Mienenkenner eine so geringe Zustimmung bei der Sache, die ihm hˆchst wichtig schien, dergestalt auf, dafl er nicht unterlassen konnte, seine Freunde deshalb zu berufen.

Friedrich erkl‰rte sich hier¸ber ganz einfach und aufrichtig, er kˆnne das Vornehmen zwar lˆblich und gut, keineswegs aber f¸r so bedeutend, am wenigsten aber f¸r ausf¸hrbar halten. Diese Meinung suchte er durch Gr¸nde zu unterst¸tzen, von der Art, wie sie demjenigen, der f¸r eine Sache eingenommen ist und sie durchzusetzen gedenkt, mehr, als man sich vorstellen mag, beleidigend auff‰llt. Deshalb denn auch unser plastischer Anatom, nachdem er einige Zeit geduldig zuzuhˆren schien, lebhaft erwiderte:

“Du hast Vorz¸ge, mein guter Friedrich, die dir niemand leugnen wird, ich am wenigsten, aber hier sprichst du wie gewˆhnliche Menschen gewˆhnlich; am Neuen sehen sie nur das Seltsame, im Seltenen jedoch alsobald das Bedeutende zu erblicken, dazu gehˆrt schon mehr. F¸r euch mufl erst alles in Tat ¸bergehen, es mufl geschehen, als mˆglich, als wirklich vor Augen treten, und dann laflt ihr es auch gut sein wie etwas anderes. Was du vorbringst, hˆr’ ich schon zum voraus von Unterrichteten und Laien wiederholen; von jenen aus Vorurteil und Bequemlichkeit, von diesen aus Gleichg¸ltigkeit. Ein Vorhaben wie das ausgesprochene kann vielleicht nur in einer neuen Welt durchgef¸hrt werden, wo der Geist Mut fassen mufl, zu einem unerl‰fllichen Bed¸rfnis neue Mittel auszuforschen, weil es an den herkˆmmlichen durchaus ermangelt. Da regt sich die Erfindung, da gesellt sich die K¸hnheit, die Beharrlichkeit der Notwendigkeit hinzu.

Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werke gehen, ist nichts ohne die genauste Kenntnis der ‰uflern und innern Glieder des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen fl¸chtige Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage, Zusammenhang der mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen oberfl‰chlichen Begriff gemacht zu haben. T‰glich soll der Arzt, dem es Ernst ist, in der Wiederholung dieses Wissens, dieses Anschauens sich zu ¸ben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen. Kennte er seinen Vorteil, er w¸rde, da ihm die Zeit zu solchen Arbeiten ermangelt, einen Anatomen in Sold nehmen, der, nach seiner Anleitung, f¸r ihn im stillen besch‰ftigt, gleichsam in Gegenwart aller Verwicklungen des verflochtensten Lebens, auf die schwierigsten Fragen sogleich zu antworten verst‰nde.

Je mehr man dies einsehen wird, je lebhafter, heftiger, leidenschaftlicher wird das Studium der Zergliederung getrieben werden. Aber in eben dem Mafle werden sich die Mittel vermindern; die Gegenst‰nde, die Kˆrper, auf die solche Studien zu gr¸nden sind, sie werden fehlen, seltener, teurer werden, und ein wahrhafter Konflikt zwischen Lebendigen und Toten wird entstehen.

In der alten Weit ist alles Schlendrian, wo man das Neue immer auf die alte, das Wachsende nach starrer Weise behandeln will. Dieser Konflikt, den ich ank¸ndige zwischen Toten und Lebendigen, er wird auf Leben und Tod gehen, man wird erschrecken, man wird untersuchen, Gesetze geben und nichts ausrichten. Vorsicht und Verbot helfen in solchen F‰llen nichts; man mufl von vorn anfangen. Und das ist’s, was mein Meister und ich in den neuen Zust‰nden zu leisten hoffen, und zwar nichts Neues, es ist schon da; aber das, was jetzo Kunst ist, mufl Handwerk werden, was im Besondern geschieht, mufl im Allgemeinen mˆglich werden, und nichts kann sich verbreiten, als was anerkannt ist. Unter Tun und Leisten mufl anerkannt werden als das einzige Mittel in einer entschiedenen Bedr‰ngnis, welche besonders grofle St‰dte bedroht. Ich will die Worte meines Meisters anf¸hren, aber merkt auf! Er sprach eines Tages im grˆflten Vertrauen:

“Der Zeitungsleser findet Artikel interessant und lustig beinah, wenn er von Auferstehungsm‰nnern erz‰hlen hˆrt. Erst stahlen sie die Kˆrper in tiefem Geheimnis; dagegen stellt man W‰chter auf: sie kommen mit gewaffneter Schar, um sich ihrer Beute gewaltsam zu bem‰chtigen. Und das Schlimmste zum Schlimmen wird sich ereignen, ich darf es nicht laut sagen, denn ich w¸rde, zwar nicht als Mitschuldiger, aber doch als zuf‰lliger Mitwisser, in die gef‰hrlichste Untersuchung verwickelt werden, wo man mich in jedem Fall bestrafen m¸flte, weil ich die Untat, sobald ich sie entdeckt hatte, den Gerichten nicht anzeigte. Ihnen gesteh’ ich’s, mein Freund, in dieser Stadt hat man gemordet, um den dringenden, gut bezahlenden Anatomen einen Gegenstand zu verschaffen. Der entseelte Kˆrper lag vor uns. Ich darf die Szene nicht ausmalen. Er entdeckte die Untat, ich aber auch, wir sahen einander an und schwiegen beide; wir sahen vor uns hin und schwiegen und gingen ans Gesch‰ft. –Und dies ist’s, mein Freund, was mich zwischen Wachs und Gips gebannt hat; dies ist’s, was gewifl auch Sie bei der Kunst festhalten wird, welche fr¸her oder sp‰ter vor allen ¸brigen wird gepriesen werden.””

Friedrich sprang auf, schlug in die H‰nde und wollte des Bravorufens kein Ende machen, so dafl Wilhelm zuletzt im Ernst bˆse wurde. “Bravo!” rief jener aus, “nun erkenne ich dich wieder! Das erstemal seit langer Zeit hast du wieder gesprochen wie einer, dem etwas wahrhaft am Herzen liegt; zum erstenmal hat der Flufl der Rede dich wieder fortgerissen, du hast dich als einen solchen erwiesen, der etwas zu tun und es anzupreisen imstande ist.”

Lenardo nahm hierauf das Wort und vermittelte diese kleine Miflhelligkeit vollkommen. “Ich schien abwesend”, sprach er, “aber nur deshalb, weil ich mehr als gegenw‰rtig war. Ich erinnerte mich n‰mlich des groflen Kabinetts dieser Art, das ich auf meinen Reisen gesehen und welches mich dergestalt interessierte, dafl der Kustode, der, um nach Gewohnheit fertig zu werden, die auswendig gelernte Schnurre herzubeten anfing, gar bald, da er der K¸nstler selber war, aus der Rolle fiel und sich als einen kenntnisreichen Demonstrator bewies.

Der merkw¸rdige Gegensatz, im hohen Sommer in k¸hlen Zimmern, bei schw¸ler W‰rme drauflen, diejenigen Gegenst‰nde vor mir zu sehen, denen man im strengsten Winter sich kaum zu n‰hern getraut. Hier diente bequem alles der Wiflbegierde. In grˆflter Gelassenheit und schˆnster Ordnung zeigte er mir die Wunder des menschlichen Baues und freute sich, mich ¸berzeugen zu kˆnnen, dafl zum ersten Anfang und zu sp‰ter Erinnerung eine solche Anstalt vollkommen hinreichend sei; wobei denn einem jeden frei bleibe, in der mittlern Zeit sich an die Natur zu wenden und bei schicklicher Gelegenheit sich um diesen oder jenen besondern Teil zu erkundigen. Er bat mich, ihn zu empfehlen. Denn nur einem einzigen, groflen, ausw‰rtigen Museum habe er eine solche Sammlung gearbeitet, die Universit‰ten aber widerst‰nden durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren, aber keine Proplastiker zu bilden w¸flten.

Hiernach hielt ich denn diesen geschickten Mann f¸r den einzigen in der Welt, und nun hˆren wir, dafl ein anderer auf dieselbe Weise bem¸ht ist; wer weifl, wo noch ein Dritter und Vierter an das Tageslicht hervortritt. Wir wollen von unsrer Seite dieser Angelegenheit einen Anstofl geben. Die Empfehlung mufl von auflen herkommen, und in unsern neuen Verh‰ltnissen soll das n¸tzliche Unternehmen gewifl gefˆrdert werden.”

Viertes Kapitel

Des andern Morgens beizeiten trat Friedrich mit einem Hefte in der Hand in Wilhelms Zimmer, und ihm solches ¸berreichend, sprach er: “Gestern abend hatte ich vor allen Euren Tugenden, welche herzuerz‰hlen Ihr umst‰ndlich genug wart, nicht Raum, von mir und meinen Vorz¸gen zu reden, deren ich mich wohl auch zu r¸hmen habe und die mich zu einem w¸rdigen Mitglied dieser groflen Karawane stempeln. Beschaut hier dieses Heft, und Ihr werdet ein Probest¸ck anerkennen.”

Wilhelm ¸berlief die Bl‰tter mit schnellen Blicken und sah, leserlich angenehm, obschon fl¸chtig geschrieben, die gestrige Relation seiner anatomischen Studien, fast Wort vor Wort, wie er sie abgestattet hatte, weshalb er denn seine Verwunderung nicht bergen konnte.

“Ihr wiflt”, erwiderte Friedrich, “das Grundgesetz unserer Verbindung; in irgendeinem Fache mufl einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf Mitgenossenschaft machen will. Nun zerbrach ich mir den Kopf, worin mir’s denn gelingen kˆnnte, und wuflte nichts aufzufinden, so nahe mir es auch lag, dafl mich niemand an Ged‰chtnis ¸bertreffe, niemand an einer schnellen, leichten, leserlichen Hand. Dieser angenehmen Eigenschaften erinnert Ihr Euch wohl von unsrer theatralischen Laufbahn her, wo wir unser Pulver nach Sperlingen verschossen, ohne daran zu denken, dafl ein Schufl, vern¸nftiger angebracht, auch wohl einen Hasen in die K¸che schaffe. Wie oft hab’ ich nicht ohne Buch souffliert, wie oft in wenigen Stunden die Rollen aus dem Ged‰chtnis geschrieben! Das war Euch damals recht, Ihr dachtet, es m¸flte so sein; ich auch, und es w‰re mir nicht eingefallen, wie sehr es mir zustatten kommen kˆnne. Der AbbÈ machte zuerst die Entdeckung; er fand, dafl das Wasser auf seine M¸hle sei, er versuchte, mich zu ¸ben, und mir gefiel, was mir so leicht ward und einen ernsten Mann befriedigte. Und nun bin ich, wo’s not tut, gleich eine ganze Kanzlei, auflerdem f¸hren wir noch so eine zweibeinige Rechenmaschine bei uns, und kein F¸rst mit noch so viel Beamten ist besser versehen als unsre Vorgesetzten.”

Heiteres Gespr‰ch ¸ber dergleichen T‰tigkeiten f¸hrte die Gedanken auf andere Glieder der Gesellschaft. “Solltet Ihr wohl denken”, sagte Friedrich, “dafl das unn¸tzeste Geschˆpf von der Welt, wie es schien, meine Philine, das n¸tzlichste Glied der groflen Kette werden wird? Legt ihr ein St¸ck Tuch hin, stellt M‰nner, stellt Frauen ihr vors Gesicht: ohne Mafl zu nehmen, schneidet sie aus dem Ganzen und weifl dabei alle Flecken und Gehren dergestalt zu nutzen, dafl grofler Vorteil daraus entsteht, und das alles ohne Papiermafl. Ein gl¸cklicher geistiger Blick lehrt sie das alles, sie sieht den Menschen an und schneidet, dann mag er hingehen, wohin er will, sie schneidet fort und schafft ihm einen Rock auf den Leib wie angegossen. Doch das w‰re nicht mˆglich, h‰tte sie nicht auch eine N‰hterin herangezogen, Montans Lydie, die nun einmal still geworden ist und still bleibt, aber auch reinlich n‰ht wie keine, Stich f¸r Stich wie Perlen, wie gestickt. Das ist nun, was aus den Menschen werden kann; eigentlich h‰ngt so viel Unn¸tzes um uns herum, aus Gewohnheit, Neigung, Zerstreuung und Willk¸r, ein Lumpenmantel zusammengespettelt. Was die Natur mit uns gewollt, das Vorz¸glichste, was sie in uns gelegt, kˆnnen wir deshalb weder auffinden noch aus¸ben.”

Allgemeine Betrachtungen ¸ber die Vorteile der geselligen Verbindung, die sich so gl¸cklich zusammengefunden, erˆffneten die schˆnsten Aussichten.

Als nun Lenardo sich hierauf zu ihnen gesellte, ward er von Wilhelmen ersucht, auch von sich zu sprechen, von dem Lebensgange, den er bisher gef¸hrt, von der Art, wie er sich und andere gefˆrdert, freundliche Nachricht zu erteilen.

“Sie erinnern sich gar wohl, mein Bester”, versetzte Lenardo, “in welchem wundersamen, leidenschaftlichen Zustande Sie mich den ersten Augenblick unserer neuen Bekanntschaft getroffen; ich war versunken, verschlungen in das wunderlichste Verlangen, in eine unwiderstehliche Begierde, es konnte damals nur von der n‰chsten Stunde die Rede sein, vom schweren Leiden, das mir bereitet war, das mir selbst zu sch‰rfen ich mich so emsig erwies. Ich konnte Sie nicht bekannt machen mit meinen fr¸heren Jugendzust‰nden, wie ich jetzt tun mufl, um Sie auf den Weg zu f¸hren, der mich hierher gebracht hat.

Unter den fr¸hsten meiner F‰higkeiten, die sich nach und nach durch Umst‰nde entwickelten, tat sich ein gewisser Trieb zum Technischen hervor, welcher jeden Tag durch die Ungeduld gen‰hrt wurde, die man auf dem Lande f¸hlt, wenn man bei grˆfleren Bauten, besonders aber bei kleinen Ver‰nderungen, Anlagen und Grillen ein Handwerk ums andere entbehren mufl und lieber ungeschickt und pfuscherhaft eingreift, als dafl man sich meisterm‰flig versp‰ten liefle. Zum Gl¸ck wanderte in unserer Gegend ein Tausendk¸nstler auf und ab, der, weil er bei mir seine Rechnung fand, mich lieber als irgendeinen Nachbar unterst¸tzte; er richtete mir eine Drechselbank ein, deren er sich bei jedem Besuch mehr zu seinem Zwecke als zu meinem Unterricht zu bedienen wuflte. So auch schaffte ich Tischlerwerkzeug an, und meine Neigung zu dergleichen ward erhˆht und belebt durch die damals laut ausgesprochene ¸berzeugung: es kˆnne niemand sich ins Leben wagen, als wenn er es im Notfall durch Handwerkst‰tigkeit zu fristen verstehe. Mein Eifer ward von den Erziehern nach ihren eigenen Grunds‰tzen gebilligt; ich erinnere mich kaum, dafl ich je gespielt habe, denn alle freien Stunden wurden verwendet, etwas zu wirken und zu schaffen. Ja ich darf mich r¸hmen, schon als Knabe einen geschickten Schmied durch meine Anforderungen zum Schlˆsser, Feilenhauer und Uhrmacher gesteigert zu haben.

Das alles zu leisten muflten denn freilich auch erst die Werkzeuge erschaffen werden, und wir litten nicht wenig an der Krankheit jener Techniker, welche Mittel und Zweck verwechseln, lieber Zeit auf Vorbereitungen und Anlagen verwenden, als dafl sie sich recht ernstlich an die Ausf¸hrung hielten. Wo wird uns jedoch praktisch t‰tig erweisen konnten, war bei Auszierung der Parkanlagen, deren kein Gutsbesitzer mehr entbehren durfte; manche Moos–und Rindenh¸tte, Knittelbr¸cken und B‰nke zeugten von unserer Emsigkeit, womit wir eine Urbaukunst in ihrer ganzen Roheit mitten in der gebildeten Welt darzustellen eifrig bem¸ht gewesen.

Dieser Trieb f¸hrte mich bei zunehmenden Jahren auf ernstere Teilnahme an allem, was der Welt so n¸tze und in ihrer gegenw‰rtigen Lage so unentbehrlich ist, und gab meinen mehrj‰hrigen Reisen ein eigentlichstes Interesse.

Da jedoch der Mensch gewˆhnlich auf dem Wege, der ihn herangebracht, fortzuwandern pflegt, so war ich dem Maschinenwesen weniger g¸nstig als der unmittelbaren Handarbeit, wo wir Kraft und Gef¸hl in Verbindung aus¸ben; deswegen ich mich auch besonders in solchen abgeschlossenen Kreisen gern aufhielt, wo nach Umst‰nden diese oder jene Arbeit zu Hause war. Dergleichen gibt jeder Vereinigung eine besondere Eigent¸mlichkeit, jeder Familie, einer kleinen, aus mehreren Familien bestehenden Vˆlkerschaft den entschiedensten Charakter; man lebt in dem reinsten Gef¸hl eines lebendigen Ganzen.

Dabei hatte ich mir angewˆhnt, alles aufzuzeichnen, es mit Figuren auszustatten und so, nicht ohne Aussicht auf k¸nftige Anwendung, meine Zeit lˆblich und erfreulich zuzubringen.

Diese Neigung, diese ausgebildete Gabe benutzt’ ich nun aufs beste bei dem wichtigen Auftrag, den mir die Gesellschaft gab, den Zustand der Gebirgsbewohner zu untersuchen und die brauchbaren Wanderlustigen mit in unsern Zug aufzunehmen. Mˆgen Sie nun den schˆnen Abend, wo mich mannigfaltige Gesch‰fte dr‰ngen, mit Durchlesung eines Teils meines Tagebuchs zubringen? Ich will nicht behaupten, dafl es gerade angenehm zu lesen sei; mir schien es immer unterhaltend und gewissermaflen unterrichtend. Doch wir bespiegeln ja uns immer selbst in allem, was wir hervorbrachten.”

F¸nftes Kapitel

Lenardos Tagebuch

Montag, den 15.

Tief in der Nacht war ich nach m¸hsam erstiegener halber Gebirgshˆhe eingetroffen in einer leidlichen Herberge und ward schon vor Tagesanbruch aus erquicklichem Schlaf durch ein andauerndes Schellen–und Glockengel‰ute zu meinem groflen Verdrufl aufgeweckt. Eine grofle Reihe Saumrosse zog vorbei, eh’ ich mich h‰tte ankleiden und ihnen zuvoreilen kˆnnen. Nun erfuhr ich auch, meinen Weg antretend, gar bald, wie unangenehm und verdriefllich solche Gesellschaft sei. Das monotone Gel‰ute bet‰ubt die Ohren; das zu beiden Seiten weit ¸ber die Tiere hinausreichende Gep‰ck (sie trugen diesmal grofle S‰cke Baumwolle) streift bald einerseits an die Felsen, und wenn das Tier, um dieses zu vermeiden, sich gegen die andere Seite zieht, so schwebt die Last ¸ber dem Abgrund, dem Zuschauer Sorge und Schwindel erregend, und, was das Schlimmste ist, in beiden F‰llen bleibt man gehindert, an ihnen vorbeizuschleichen und den Vortritt zu gewinnen.

Endlich gelangt’ ich an der Seite auf einen freien Felsen, wo St. Christoph, der mein Gep‰ck kr‰ftig einhertrug, einen Mann begr¸flte, welcher stille dastehend den vorbeiziehenden Zug zu mustern schien. Es war auch wirklich der Anf¸hrer; nicht nur gehˆrte ihm eine betr‰chtliche Zahl der lasttragenden Tiere, andere hatte er nebst ihren Treibern gemietet, sondern er war auch Eigent¸mer eines geringern Teils der Ware; vornehmlich aber bestand sein Gesch‰ft darin, f¸r grˆflere Kaufleute den Transport der ihrigen treulich zu besorgen. Im Gespr‰ch erfuhr ich von ihm, dafl dieses Baumwolle sei, welche aus Mazedonien und Cypern ¸ber Triest komme und vom Fufle des Berges auf Maultieren und Saumrossen zu diesen Hˆhen und weiter bis jenseits des Gebirgs gebracht werde, wo Spinner und Weber in Unzahl durch T‰ler und Schluchten einen groflen Vertrieb gesuchter Waren ins Ausland vorbereiteten. Die Ballen waren bequemeren Ladens wegen teils anderthalb, teils drei Zentner schwer, welches letztere die volle Last eines Saumtiers ausmacht. Der Mann lobte die Qualit‰t der auf diesem Wege ankommenden Baumwolle, verglich sie mit der von Ost–und Westindien, besonders mit der von Cayenne, als der bekanntesten; er schien von seinem Gesch‰ft sehr gut unterrichtet, und da es mir auch nicht ganz unbekannt geblieben war, so gab es eine angenehme und n¸tzliche Unterhaltung. Indessen war der ganze Zug vor uns vor¸ber, und ich erblickte nur mit Widerwillen auf dem in die Hˆhe sich schl‰ngelnden Felsweg die unabsehliche Reihe dieser bepackten Geschˆpfe, hinter denen her man schleichen und in der herankommenden Sonne zwischen Felsen braten sollte. Indem ich mich nun gegen meinen Boten dar¸ber beschwerte, trat ein untersetzter, munterer Mann zu uns heran, der auf einem ziemlich groflen Reff eine verh‰ltnism‰flig leichte B¸rde zu tragen schien. Man begr¸flte sich, und es war gar bald am derben H‰ndesch¸tteln zu sehen, dafl St. Christoph und dieser Ankˆmmling einander wohl bekannt seien; da erfuhr ich denn sogleich ¸ber ihn folgendes. F¸r die entfernteren Gegenden im Gebirge, woher zu Markte zu gehen f¸r jeden einzelnen Arbeiter zu weit w‰re, gibt es eine Art von untergeordnetem Handelsmann oder Sammler, welcher Garntr‰ger genannt wird. Dieser steigt n‰mlich durch alle T‰ler und Winkel, betritt Haus f¸r Haus, bringt den Spinnern Baumwolle in kleinen Partien, tauscht dagegen Garn ein oder kauft es, von welcher Qualit‰t es auch sein mˆge, und ¸berl‰flt es dann wieder mit einigem Profit im grˆflern an die unterhalb ans‰ssigen Fabrikanten.

Als nun die Unbequemlichkeit, hinter den Maultieren herzuschlendern, abermals zur Sprache kam, lud mich der Mann sogleich ein, mit ihm ein Seitental hinabzusteigen, das gerade hier von dem Haupttale sich trennte, um die Wasser nach einer andern Himmelsgegend hinzuf¸hren. Der Entschlufl war bald gefaflt, und nachdem wir mit einiger Anstrengung einen etwas steilen Gebirgskamm ¸berstiegen hatten, sahen wir die jenseitigen Abh‰nge vor uns, zuerst hˆchst unerfreulich; das Gestein hatte sich ver‰ndert und eine schiefrige Lage genommen; keine Vegetation belebte Fels und Gerˆlle, und man sah sich von einem schroffen Niederstieg bedroht. Quellen rieselten von mehreren Seiten zusammen; man kam sogar an einem mit schroffen Felsen umgebenen kleinen See vorbei. Endlich traten einzeln und dann mehr gesellig Fichten, L‰rchen und Birken hervor, dazwischen sodann zerstreute l‰ndliche Wohnungen, freilich von der k‰rglichsten Sorte, jede von ihren Bewohnern selbst zusammengezimmert aus verschr‰nkten Balken, die groflen, schwarzen Schindeln der D‰cher mit Steinen beschwert, damit sie der Wind nicht wegf¸hre. Unerachtet dieser ‰uflern traurigen Ansicht war der beschr‰nkte innere Raum doch nicht unangenehm; warm und trocken, auch reichlich gehalten, paflte er gar gut zu dem frohen Aussehen der Bewohner, bei denen man sich alsobald l‰ndlich gesellig f¸hlte.

Der Bote schien erwartet, auch hatte man ihm aus dem kleinen Schiebefenster entgegengesehen, denn er war gewohnt, wo mˆglich immer an demselben Wochentage zu kommen; er handelte das Gespinst ein, teilte frische Baumwolle aus; dann ging es rasch hinabw‰rts, wo mehrere H‰user in geringer Entfernung nahe stehen. Kaum erblickt man uns, so laufen die Bewohner begr¸flend zusammen, Kinder dr‰ngen sich hinzu und werden mit einem Eierbrot, auch einer Semmel hoch erfreut. Das Behagen war ¸berall grofl und vermehrt, als sich zeigte, dafl St. Christoph auch dergleichen aufgepackt und also gleichfalls die Freude hatte, den kindlichsten Dank einzuernten; um so angenehmer f¸r ihn, als er sich, wie sein Geselle, mit dem kleinen Volke gar wohl zu betun wuflte.

Die Alten dagegen hielten gar mancherlei Fragen bereit; vom Krieg wollte jedermann wissen, der gl¸cklicherweise sehr entfernt gef¸hrt wurde und auch n‰her solchen Gegenden kaum gef‰hrlich gewesen w‰re. Sie freuten sich jedoch des Friedens, obgleich in Sorge wegen einer andern drohenden Gefahr; denn es war nicht zu leugnen, das Maschinenwesen vermehre sich immer im Lande und bedrohe die arbeitsamen H‰nde nach und nach mit Unt‰tigkeit. Doch lieflen sich allerlei Trost–und Hoffnungsgr¸nde beibringen.

Unser Mann wurde dazwischen wegen manches Lebensfalles um Rat gefragt, ja sogar muflte er sich nicht allein als Hausfreund, sondern auch als Hausarzt zeigen; Wundertropfen, Salze, Balsame f¸hrte er jederzeit bei sich.

In die verschiedenen H‰user eintretend fand ich Gelegenheit, meiner alten Liebhaberei nachzuh‰ngen und mich von der Spinnertechnik zu unterrichten. Ich ward aufmerksam auf Kinder, welche sich sorgf‰ltig und emsig besch‰ftigten, die Flocken der Baumwolle auseinanderzuzupfen und die Samenkˆrner, Splitter von den Schalen der N¸sse nebst andern Unreinigkeiten wegzunehmen; sie nennen es erlesen. Ich fragte, ob das nur das Gesch‰ft der Kinder sei, erfuhr aber, dafl es in Winterabenden auch von M‰nnern und Br¸dern unternommen werde.

R¸stige Spinnerinnen zogen sodann, wie billig, meine Aufmerksamkeit auf sich; die Vorbereitung geschieht folgendermaflen: Es wird die erlesene oder gereinigte Baumwolle auf die Karden, welche in Deutschland Krempel heiflen, gleich ausgeteilt, gekardet, wodurch der Staub davongeht und die Haare der Baumwolle einerlei Richtung erhalten, dann abgenommen, zu Locken festgewickelt und so zum Spinnen am Rad zubereitet.

Man zeigte mir dabei den Unterschied zwischen links und rechts gedrehtem Garn; jenes ist gewˆhnlich feiner und wird dadurch bewirkt, dafl man die Saite, welche die Spindel dreht, um den Wirtel verschr‰nkt, wie die Zeichnung nebenbei deutlich macht (die wir leider wie die ¸brigen nicht mitgeben kˆnnen).

Die Spinnende sitzt vor dem Rade, nicht zu hoch; mehrere hielten dasselbe mit ¸bereinandergelegten F¸flen in festem Stande, andere nur mit dem rechten Fufl, den linken zur¸cksetzend. Mit der rechten Hand dreht sie die Scheibe und langt aus, so weit und so hoch sie nur reichen kann, wodurch schˆne Bewegungen entstehen und eine schlanke Gestalt sich durch zierliche Wendung des Kˆrpers und runde F¸lle der Arme gar vorteilhaft auszeichnet; die Richtung besonders der letzten Spinnweise gew‰hrt einen sehr malerischen Kontrast, so dafl unsere schˆnsten Damen an wahrem Reiz und Anmut zu verlieren nicht f¸rchten d¸rften, wenn sie einmal anstatt der Gitarre das Spinnrad handhaben wollten.

In einer solchen Umgebung dr‰ngten sich neue, eigene Gef¸hle mir auf, die schnurrenden R‰der haben eine gewisse Beredsamkeit, die M‰dchen singen Psalmen, auch, obwohl seltener, andere Lieder.

Zeisige und Stieglitze, in K‰figen aufgehangen, zwitschern dazwischen, und nicht leicht mˆchte ein Bild regeren Lebens gefunden werden als in einer Stube, wo mehrere Spinnerinnen arbeiten.

Dem beschriebenen R‰dligarn ist jedoch das Briefgarn vorzuziehen; hiezu wird die beste Baumwolle genommen, welche l‰ngere Haare hat als die andere. Ist sie rein gelesen, so bringt man sie, anstatt zu krempeln, auf K‰mme, welche aus einfachen Reihen langer, st‰hlerner Nadeln bestehen, und k‰mmt sie; alsdann wird das l‰ngere und feinere Teil derselben mit einem stumpfen Messer b‰nderweise (das Kunstwort heiflt ein Schnitz) abgenommen, zusammengewickelt und in eine Papierd¸te getan und diese nachher an der Kunkel befestigt. Aus einer solchen D¸te nun wird mit der Spindel von der Hand gesponnen, daher heiflt es aus dem Brief spinnen und das gewonnene Garn Briefgarn.

Dieses Gesch‰ft, welches nur von ruhigen, bed‰chtigen Personen getrieben wird, gibt der Spinnerin ein sanfteres Ansehen als das am Rade; kleidet dies letzte eine grofle, schlanke Figur zum besten, so wird durch jenes eine ruhige, zarte Gestalt gar sehr beg¸nstigt. Dergleichen verschiedene Charaktere, verschiedenen Arbeiten zugetan, erblickte ich mehrere in einer Stube und wuflte zuletzt nicht recht, ob ich meine Aufmerksamkeit der Arbeit oder den Arbeiterinnen zu widmen h‰tte.

Leugnen aber d¸rft’ ich nicht sodann, dafl die Bergbewohnerinnen, durch die seltenen G‰ste aufgeregt, sich freundlich und gef‰llig erwiesen. Besonders freuten sie sich, dafl ich mich nach allem so genau erkundigte, was sie mir vorsprachen, bemerkte, ihre Ger‰tschaften und einfaches Maschinenwerk zeichnete, ja selbst ihre Arme, H‰nde und h¸bschen Glieder mit Zierlichkeit fl¸chtig abschilderte, wie hier neben zu sehen sein sollte. Auch ward, als der Abend hereintrat, die vollbrachte Arbeit vorgewiesen, die vollen Spindeln in dazu bestimmten K‰stchen beiseitegelegt und das ganze Tagewerk sorgf‰ltig aufgehoben. Nun war man schon bekannter geworden, die Arbeit jedoch ging ihren Gang; nun besch‰ftigte man sich mit dem Haspeln und zeigte schon viel freier teils die Maschine, teils die Behandlung vor, und ich schrieb sorgf‰ltig auf.

Der Haspel hat Rad und Zeiger, so dafl sich bei jedesmaligem Umdrehen eine Feder hebt, welche niederschl‰gt, sooft hundert Umg‰nge auf den Haspel gekommen sind. Man nennt nun die Zahl von tausend Umg‰ngen einen Schneller, nach deren Gewicht die verschiedene Feine des Garns gerechnet wird.

Rechts gedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, links gedreht 60 bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungef‰hr sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke, fleiflige Spinnerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das w‰ren 5 000 Umg‰nge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, t‰glich am Rad zu spinnen; sie erbot sich zur Wette, wenn wir noch einen Tag bleiben wollten.

Darauf konnte denn doch die stille und bescheidene Briefspinnerin es nicht ganz lassen und versicherte: dafl sie aus dem Pfund 120 Schneller spinne in verh‰ltnism‰fliger Zeit. (Briefgarnspinnen geht n‰mlich langsamer als das Spinnen am Rade, wird auch besser bezahlt. Vielleicht spinnt man am Rade wohl das Doppelte.) Sie hatte eben die Zahl der Umg‰nge auf dem Haspel voll und zeigte mir, wie nun das Ende des Fadens ein paarmal umgeschlagen und gekn¸pft werde; sie nahm den Schneller ab, drehte ihn so, dafl er in sich zusammenlief, zog das eine Ende durch und konnte das Gesch‰ft der ge¸bten Spinnerin als vollbracht mit unschuldiger Selbstgef‰lligkeit vorzeigen.

Da nun hier weiter nichts zu bemerken war, stand die Mutter auf und sagte: da der junge Herr doch alles zu sehen w¸nsche, so wolle sie ihm nun auch die Trockenweberei zeigen. Sie erkl‰rte mir mit gleicher Gutm¸tigkeit, indem sie sich an den Webstuhl setzte, wie sie nur diese Art handhabten, weil sie eigentlich allein f¸r grobe Kattune gelte, wo der Einschlag trocken eingetragen und nicht sehr dicht geschlagen wird; sie zeigte mir denn auch solche trockene Ware; diese ist immer glatt, ohne Streifen und Quadrate oder sonst irgendein Abzeichen, und nur f¸nf bis f¸nfeinhalbes Viertel Elle breit.

Der Mond leuchtete hell vom Himmel, und unser Garntr‰ger bestand auf einer weitern Wallfahrt, weil er Tag und Stunde halten und ¸berall richtig eintreffen m¸sse; die Fuflpfade seien gut und klar, besonders bei solcher Nachtfackel. Wir von unserer Seite erheiterten den Abschied durch seidene B‰nder und Halst¸cher, dergleichen Ware St. Christoph ein ziemliches Paket mit sich trug; das Geschenk wurde der Mutter gegeben, um es an die Ihrigen zu verteilen.

Dienstags, den 16. Fr¸h.

Die Wanderung durch eine herrliche klare Nacht war voll Anmut und Erfreulichkeit; wir gelangten zu einer etwas grˆflern H¸ttenversammlung, die man vielleicht h‰tte ein Dorf nennen d¸rfen; in einiger Entfernung davon auf einem freien H¸gel stand eine Kapelle, und es fing schon an, wohnlicher und menschlicher auszusehen. Wir kamen an Umz‰unungen vorbei, die zwar auf keine G‰rten, aber doch auf sp‰rlichen, sorgf‰ltig geh¸teten Wieswachs hindeuteten. Wir waren an einen Ort gelangt, wo neben dem Spinnen das Weben ernstlicher getrieben wird.

Unsere gestrige Tagereise, bis in die Nacht hinein verl‰ngert, hatte die r¸stigen und jugendlichen Kr‰fte aufgezehrt; der Garnbote bestieg den Heuboden, und ich war eben im Begriff, ihm zu folgen, als St. Christoph mir sein Reff befahl und zur T¸re hinausging. Ich kannte seine lˆbliche Absicht und liefl ihn gew‰hren.

Des andern Morgens jedoch war das erste, dafl die Familie zusammenlief und den Kindern streng verboten ward, nicht aus der T¸re zu gehen, indem ein greulicher B‰r oder sonst ein Unget¸m in der N‰he sich aufhalten m¸sse, denn es habe die Nacht ¸ber von der Kapelle her dergestalt gestˆhnt und gebrummt, dafl Felsen und H‰user hier h¸ben h‰tten erzittern mˆgen, und man riet, bei unserer heutigen l‰ngeren Wanderung wohl auf der Hut zu sein. Wir suchten die guten Leute mˆglichst zu beruhigen, welches in dieser Einˆde jedoch schwer erschien.

Der Garnbote erkl‰rte nunmehr, dafl er eiligst sein Gesch‰ft abtun und alsdann kommen wolle, uns abzuholen, denn wir h‰tten heute einen langen und beschwerlichen Weg vor uns, weil wir nicht mehr so im Tale nur hinabschlendern, sondern einen vorgeschobenen Gebirgsriegel m¸hsam ¸berklettern w¸rden. Ich entschlofl mich daher, die Zeit so gut als mˆglich zu nutzen und mich von unsern guten Wirtsleuten in die Vorhalle des Webens einf¸hren zu lassen.

Beide waren ‰ltliche Leute, in sp‰teren Tagen noch mit zwei, drei Kindern gesegnet; religiˆse Gef¸hle und ahnungsvolle Vorstellungen ward man an ihrer Umgebung, Tun und Reden gar bald gewahr. Ich kam gerade zum Anfang einer solchen Arbeit, dem ¸bergang vom Spinnen zum Weben, und da ich zu keiner weitern Zerstreuung Anlafl fand, so liefl ich mir das Gesch‰ft, wie es eben gerade im Gange war, in meine Schreibtafel gleichsam diktieren.

Die erste Arbeit, das Garn zu leimen, war gestern verrichtet. Man siedet solches zu einem d¸nnen Leimwasser, welches aus St‰rkemehl und etwas Tischlerleim besteht, wodurch die F‰den mehr Halt bekommen. Fr¸h waren die Garnstr‰nge schon trocken, und man bereitete sich zu spulen, n‰mlich das Garn am Rade auf Rohrspulen zu winden. Der alte Groflvater, am Ofen sitzend, verrichtete diese leichte Arbeit, ein Enkel stand neben ihm und schien begierig, das Spulrad selbst zu handhaben. Indessen steckte der Vater die Spulen, um zu zetteln, auf einen mit Querst‰ben abgeteilten Rahmen, so dafl sie sich frei um perpendikul‰r stehende starke Dr‰hte bewegten und den Faden ablaufen lieflen. Sie werden mit grˆberm und feinerm Garn in der Ordnung aufgesteckt, wie das Muster oder vielmehr die Striche im Gewebe es erfordern. Ein Instrument (das Brittli), ungef‰hr wie ein Sistrum gestaltet, hat Lˆcher auf beiden Seiten, durch welche die F‰den gezogen sind; dieses befindet sich in der Rechten des Zettlers, mit der Linken faflt er die F‰den zusammen und legt sie, hin und wider gehend, auf den Zettelrahmen. Einmal von oben herunter und von unten herauf heiflt ein Gang, und nach Verh‰ltnis der Dichtigkeit und Breite des Gewebes macht man viele G‰nge. Die L‰nge betr‰gt entweder 64 oder nur 32 Ellen. Beim Anfang eines jeden Ganges legt man mit den Fingern der linken Hand immer einen oder zwei F‰den herauf und ebensoviel herunter und nennt solches die Rispe; so werden die verschr‰nkten F‰den ¸ber die zwei oben an dem Zettelrahmen angebrachten N‰gel gelegt. Dieses geschieht, damit der Weber die F‰den in gehˆrig gleicher Ordnung erhalten kann. Ist man mit dem Zetteln fertig, so wird das Gerispe unterbunden und dabei ein jeder Gang besonders abgeteilt, damit sich nichts verwirren kann; sodann werden mit aufgelˆstem Gr¸nspan am letzten Gang Male gemacht, damit der Weber das gehˆrige Mafl wieder bringe; endlich wird abgenommen, das Ganze in Gestalt eines groflen Kn‰uels aufgewunden, welcher die Werfte genannt wird.

Mittwoch, den 17.

Wir waren fr¸h vor Tage aufgebrochen und genossen eines herrlichen versp‰teten Mondscheins. Die hervorbrechende Helle, die aufgehende Sonne liefl uns ein besser bewohntes und bebautes Land sehen. Hatten wir oben, um ¸ber B‰che zu kommen, Schrittsteine oder zuweilen einen schmalen Steg, nur an der einen Seite mit Lehne versehen, angetroffen, so waren hier schon steinerne Br¸cken ¸ber das immer breiter werdende Wasser geschlagen; das Anmutige wollte sich nach und nach mit dem Wilden gatten, und ein erfreulicher Eindruck ward von den s‰mtlichen Wanderern empfunden.

¸ber den Berg her¸ber, aus einer andern Fluflregion, kam ein schlanker, schwarzlockiger Mann hergeschritten und rief schon von weitem, als einer, der gute Augen und eine t¸chtige Stimme hat: “Gr¸fl’ Euch Gott, Gevatter Garntr‰ger!” Dieser liefl ihn n‰her herankommen, dann rief auch er mit Verwunderung: “Dank’ Euch Gott, Gevatter Geschirrfasser! Woher des Landes? welche unerwartete Begegnung!” Jener antwortete herantretend: “Schon zwei Monate schreit’ ich im Gebirg herum, allen guten Leuten ihr Geschirr zurechtzumachen und ihre St¸hle so einzurichten, dafl sie wieder eine Zeitlang ungestˆrt fortarbeiten kˆnnen.” Hierauf sprach der Garnbote, sich zu mir wendend: “Da Ihr, junger Herr, so viel Lust und Liebe zu dem Gesch‰ft beweist und Euch sorgf‰ltig drum bek¸mmert, so kommt dieser Mann gerade zur rechten Zeit, den ich Euch in diesen Tagen schon still herbeigew¸nscht hatte, er w¸rde Euch alles besser erkl‰rt haben als die M‰dchen mit allem guten Willen; er ist Meister in seinem Gesch‰ft und versteht, was zur Spinnerei und dergleichen gehˆrt, vollkommen anzugeben, auszuf¸hren, zu erhalten, wiederherzustellen, wie es not tut und es jeder nur w¸nschen mag.”

Ich besprach mich mit ihm und fand einen sehr verst‰ndigen, in gewissem Sinne gebildeten, seiner Sache vˆllig gewachsenen Mann, indem ich einiges, was ich dieser Tage gelernt hatte, mit ihm wiederholte und einige Zweifel zu lˆsen bat; auch sagt’ ich ihm, was ich gestern schon von den Anf‰ngen der Weberei gesehen. Jener rief dagegen freudig aus: “Das ist recht erw¸nscht, da komm’ ich gerade zur rechten Zeit, um einem so werten, lieben Herrn ¸ber die ‰lteste und herrlichste Kunst, die den Menschen eigentlich zuerst vom Tiere unterscheidet, die nˆtige Auskunft zu geben. Wir gelangen heute gerade zu guten und geschickten Leuten, und ich will nicht Geschirrfasser heiflen, wenn Ihr nicht sogleich das Handwerk so gut fassen sollt wie ich selbst.”

Ihm wurde freundlicher Dank gezollt, das Gespr‰ch mannigfaltig fortgesetzt, und wir gelangten, nach einigem Rasten und Fr¸hst¸ck, zu einer zwar auch unter–und ¸bereinander, doch besser gebauten H‰usergruppe. Er wies uns an das beste. Der Garnbote ging mit mir und St. Christoph nach Abrede zuerst hinein, sodann aber, nach den ersten Begr¸flungen und einigen Scherzen, folgte der Schirrfasser, und es war auffallend, dafl sein Hereintreten eine freudige ¸berraschung in der Familie hervorbrachte. Vater, Mutter, Tˆchter und Kinder versammelten sich um ihn; einem am Weberstuhl sitzenden, wohlgebildeten M‰dchen stockte das Schiffchen in der Hand, das just durch den Zettel durchfahren sollte, ebenso hielt sie auch den Tritt an, stand auf und kam sp‰ter, mit langsamer Verlegenheit ihm die Hand zu reichen. Beide, der Garnbote sowohl als der Schirrfasser, setzten sich bald durch Scherz und Erz‰hlung wieder in das alte Recht, welches Hausfreunden geb¸hrt, und nachdem man sich eine Zeitlang gelabt, wendete sich der wackere Mann zu mir und sagte: “Sie, mein guter Herr, d¸rfen wir ¸ber diese Freude des Wiedersehens nicht hintansetzen: wir kˆnnen noch tagelang miteinander schnacken; Sie m¸ssen morgen fort. Lassen wir den Herrn in das Geheimnis unserer Kunst sehen; Leimen und Zetteln kennt er, zeigen wir ihm das ¸brige vor, die Jungfrauen da sind mir ja wohl beh¸lflich. Ich sehe, an diesem Stuhl ist man beim Aufwinden.” Das Gesch‰ft war der j¸ngeren, zu der sie traten. Die ‰ltere setzte sich wieder an ihren Webstuhl und verfolgte mit stiller, liebevoller Miene ihre lebhafte Arbeit.

Ich betrachtete nun sorgf‰ltig das Aufwinden. Zu diesem Zweck l‰flt man die G‰nge des Zettels nach der Ordnung durch einen groflen Kamm laufen, der eben die Breite des Weberbaums hat, auf welchen aufgewunden werden soll; dieser ist mit einem Einschnitt versehen, worin ein rundes St‰bchen liegt, welches durch das Ende des Zettels durchgesteckt und in dem Einschnitt befestigt wird. Ein kleiner Junge oder M‰dchen sitzt unter dem Weberstuhle und h‰lt den Strang des Zettels stark an, w‰hrend die Weberin den Weberbaurn an einem Hebel gewaltsam umdreht und zugleich achtgibt, dafl alles in der Ordnung zu liegen komme. Wenn alles aufgewunden ist, so werden durch die Rispe ein runder und zwei flache St‰be, Schienen, gestoflen, damit sie sich halte, und nun beginnt das Eindrehen.

Vom alten Gewebe ist noch etwa eine Viertelelle am zweiten Weberbaum ¸briggeblieben, und von diesem laufen etwa drei Viertelellen lang die F‰den durch das Blatt in der Lade sowohl als durch die Fl¸gel des Geschirrs. An diese F‰den nun dreht die Weberin die F‰den des neuen Zettels, einen um den andern, sorgf‰ltig an, und wenn sie fertig ist, wird alles Angedrehte auf einmal durchgezogen, so dafl die neuen F‰den bis an den noch leeren vordern Weberbaum reichen; die abgerissenen F‰den werden angekn¸pft, der Eintrag auf kleine Spulen gewunden, wie sie ins Weberschiffchen passen, und die letzte Vorbereitung zum Weben gemacht, n‰mlich geschlichtet.

So lang der Weberstuhl ist, wird der Zettel mit einem Leimwasser, aus Handschuhleder bereitet, vermittelst eingetauchter B¸rsten durch und durch angefeuchtet, sodann werden die obengedachten Schienen, die das Gerispe halten, zur¸ckgezogen, alle F‰den aufs genaueste in Ordnung gelegt und alles so lange mit einem an einen Stab gebundenen G‰nsefl¸gel gef‰chelt, bis es trocken ist, und nun kann das Weben begonnen und fortgesetzt werden, bis es wieder nˆtig wird zu schlichten.

Das Schlichten und F‰cheln ist gewˆhnlich jungen Leuten ¸berlassen, welche zu dem Webergesch‰ft herangezogen werden, oder in der Mufle der Winterabende leistet ein Bruder oder ein Liebhaber der h¸bschen Weberin diesen Dienst, oder diese machen wenigstens die kleinen Sp¸lchen mit dem Eintragsgarn.

Feine Musseline werden nafl gewebt, n‰mlich der Strang des Einschlagegarns wird in Leimwasser getaucht, noch nafl auf die kleinen Spulen gewunden und sogleich verarbeitet, wodurch sich das Gewebe gleicher schlagen l‰flt und klarer erscheint.

Donnerstag, den 18. September.

Ich fand ¸berhaupt etwas Gesch‰ftiges, unbeschreiblich Belebtes, H‰usliches, Friedliches in dem ganzen Zustand einer solchen Weberstube; mehrere St¸hle waren in Bewegung, da gingen noch Spinn–und Spulr‰der, und am Ofen die Alten mit den besuchenden Nachbarn oder Bekannten sitzend und trauliche Gespr‰che f¸hrend. Zwischendurch liefl sich wohl auch Gesang hˆren, meistens Ambrosius Lobwassers vierstimmige Psalmen, seltener weltliche Lieder; dann bricht auch wohl ein frˆhlich schallendes Gel‰chter der M‰dchen aus, wenn Vetter Jakob einen witzigen Einfall gesagt hat.

Eine recht flinke und zugleich fleiflige Weberin kann, wenn sie H¸lfe hat, allenfalls in einer Woche ein St¸ck von 32 Ellen nicht gar zu feine Musseline zustande bringen; es ist aber sehr selten, und bei einigen Hausgesch‰ften ist solches gewˆhnlich die Arbeit von vierzehn Tagen.

Die Schˆnheit des Gewebes h‰ngt vom gleichen Auftreten des Webegeschirres ab, vom gleichen Schlag der Lade, wie auch davon, ob der Eintrag nafl oder trocken geschieht. Vˆllig egale und zugleich kr‰ftige Anspannung tr‰gt ebenfalls bei, zu welchem Ende die Weberin feiner baumwollener T¸cher einen schweren Stein an den Nagel des vordern Weberbaums h‰ngt. Wenn w‰hrend der Arbeit das Gewebe kr‰ftig angespannt wird (das Kunstwort heiflt d‰mmen), so verl‰ngert es sich merklich, auf 32 Ellen 3/4 und auf 64 etwa 1 1/2 Elle; dieser ¸berschufl nun gehˆrt der Weberin, wird ihr extra bezahlt, oder sie hebt sich’s zu Halst¸chern, Sch¸rzen usw. auf.

In der klarsten, sanftesten Mondnacht, wie sie nur in hohen Gebirgsz¸gen obwaltet, safl die Familie mit ihren G‰sten vor der Haust¸re im lebhaftesten Gespr‰ch, Lenardo in tiefen Gedanken. Schon unter allem dem Weben und Wirken und so manchen handwerklichen Betrachtungen und Bemerkungen war ihm jener von Freund Wilhelm zu seiner Beruhigung geschriebene Brief wieder ins Ged‰chtnis gekommen. Die Worte, die er so oft gelesen, die Zeilen, die er mehrmals angeschaut, stellten sich wieder seinem innern Sinne dar. Und wie eine Lieblingsmelodie, ehe wir uns versehen, auf einmal dem tiefsten Gehˆr leise hervortritt, so wiederholte sich jene zarte Mitteilung in der stillen, sich selbst angehˆrigen Seele.

“H‰uslicher Zustand, auf Frˆmmigkeit gegr¸ndet, durch Fleifl und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im gl¸cklichsten Verh‰ltnis der Pflichten zu den F‰higkeiten und Kr‰ften. Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten, anf‰nglichsten Sinne; hier ist Beschr‰nktheit und Wirkung in die Ferne, Umsicht und M‰fligung, Unschuld und T‰tigkeit.”

Aber diesmal mehr aufregend als beschwichtigend war die Erinnerung. “Paflt doch”, sprach er zu sich selbst, “diese allgemein lakonische Beschreibung ganz und gar auf den Zustand, der mich hier umgibt. Ist nicht auch hier Friede, Frˆmmigkeit, ununterbrochene T‰tigkeit? Nur eine Wirkung in die Ferne will mir nicht gleichermaflen deutlich scheinen. Mag doch die Gute einen ‰hnlichen Kreis beleben, aber einen weitern, einen bessern; sie mag sich behaglich wie diese hier, vielleicht noch behaglicher, finden, mit mehr Heiterkeit und Freiheit umherschauen.”

Nun aber durch ein lebhaftes, sich steigerndes Gespr‰ch der ¸brigen aufgeregt, mehr Acht habend auf das, was verhandelt wurde, ward ihm ein Gedanke, den er diese Stunden her gehegt, vollkommen lebendig. Sollte nicht eben dieser Mann, dieser mit Werkzeug und Geschirr so meisterhaft umgehende, f¸r unsre Gesellschaft das n¸tzlichste Mitglied werden kˆnnen? Er ¸berlegte das und alles, wie ihm die Vorz¸ge dieses gewandten Arbeiters schon stark in die Augen geleuchtet. Er lenkte daher das Gespr‰ch dahin und machte, zwar wie im Scherze, aber desto unbewundender, jenem den Antrag, ob er sich nicht mit einer bedeutenden Gesellschaft verbinden und den Versuch machen wolle, ¸bers Meer auszuwandern.

Jener entschuldigte sich, gleichfalls heiter beteuernd, dafl es ihm hier wohl gehe, dafl er noch Besseres erwarte; in dieser Landesart sei er geboren, darin gewˆhnt, weit und breit bekannt und ¸berall vertraulich aufgenommen. ¸berhaupt werde man in diesen T‰lern keine Neigung zur Auswanderung finden, keine Not ‰ngstige sie und ein Gebirg halte seine Leute fest.

“Deswegen wundert’s mich”, sagte der Garnbote, “dafl es heiflen will, Frau Susanne werde den Faktor heiraten, ihr Besitztum verkaufen und mit schˆnem Geld ¸bers Meer ziehen.” Auf Befragen erfuhr unser Freund, es sei eine junge Witwe, die in guten Umst‰nden ein reichliches Gewerbe mit den Erzeugnissen des Gebirges betreibe, wovon sich der wandernd Reisende morgen gleich selbst ¸berzeugen kˆnne, indem man auf dem eingeschlagenen Wege zeitig bei ihr eintreffen werde. “Ich habe sie schon verschiedentlich nennen hˆren”, versetzte Lenardo, “als belebend und wohlt‰tig in diesem Tale, und vers‰umte, nach ihr zu fragen.”

“Gehen wir aber zur Ruh”, sagte der Garnbote, “um den morgenden Tag, der heiter zu werden verspricht, von fr¸h auf zu nutzen.”

Hier endigte das Manuskript, und als Wilhelm nach der Fortsetzung verlangte, hatte er zu erfahren, dafl sie gegenw‰rtig nicht in den H‰nden der Freunde sei. Sie ward, sagte man, an Makarien gesendet, welche gewisse Verwicklungen, deren darin gedacht worden, durch Geist und Liebe schlichten und bedenkliche Verkn¸pfungen auflˆsen solle. –Der Freund muflte sich diese Unterbrechung gefallen lassen und sich bereiten, an einem geselligen Abend, in heiterer Unterhaltung, Vergn¸gen zu finden.

Sechstes Kapitel

Als der Abend herbeikam und die Freunde in einer weit umherschauenden Laube saflen, trat eine ansehnliche Figur auf die Schwelle, welche unser Freund sogleich f¸r den Barbier von heute fr¸h erkannte. Auf einen tiefen, stummen B¸ckling des Mannes erwiderte Lenardo: “Ihr kommt, wie immer, sehr gelegen und werdet nicht s‰umen, uns mit Eurem Talent zu erfreuen. Ich kann Ihnen wohl”, fuhr er zu Wilhelmen gewendet fort, “einiges von der Gesellschaft erz‰hlen, deren Band zu sein ich mich r¸hmen darf. Niemand tritt in unsern Kreis, als wer gewisse Talente aufzuweisen hat, die zum Nutzen oder Vergn¸gen einer jeden Gesellschaft dienen w¸rden. Dieser Mann ist ein derber Wundarzt, der in bedenklichen F‰llen, wo Entschlufl und kˆrperliche Kraft gefordert wird, seinem Meister trefflich an der Seite zu stehen bereit ist. Was er als Bartk¸nstler leistet, davon kˆnnen Sie ihm selbst ein Zeugnis geben. Hiedurch ist er uns ebenso nˆtig als willkommen. Da nun aber diese Besch‰ftigung gewˆhnlich eine grofle und oft l‰stige Geschw‰tzigkeit mit sich f¸hrt, so hat er sich zu eigner Bildung eine Bedingung gefallen lassen; wie denn jeder, der unter uns leben will, sich von einer gewissen Seite bedingen mufl, wenn ihm nach anderen Seiten hin die grˆflere Freiheit gew‰hrt ist. Dieser also hat nun auf die Sprache Verzicht getan, insofern etwas Gewˆhnliches oder Zuf‰lliges durch sie ausgedr¸ckt wird; daraus aber hat sich ihm ein anderes Redetalent entwickelt, welches absichtlich, klug und erfreulich wirkt, die Gabe des Erz‰hlens n‰mlich.

Sein Leben ist reich an wunderlichen Erfahrungen, die er sonst zu ungelegener Zeit schw‰tzend zersplitterte, nun aber, durch Schweigen genˆtigt, im stillen Sinne wiederholt und ordnet. Hiermit verbindet sich denn die Einbildungskraft und verleiht dem Geschehenen Leben und Bewegung. Mit besonderer Kunst und Geschicklichkeit weifl er wahrhafte M‰rchen und m‰rchenhafte Geschichten zu erz‰hlen, wodurch er oft zur schicklichen Stunde uns gar sehr ergˆtzt, wenn ihm die Zunge durch mich gelˆst wird; wie ich denn gegenw‰rtig tue und ihm zugleich das Lob erteile, dafl er sich in geraumer Zeit, seitdem ich ihn kenne, noch niemals wiederholt hat. Nun hoff’ ich, dafl er auch diesmal, unserm teuren Gast zu Lieb’ und Ehren, sich besonders hervortun werde.”

¸ber das Gesicht des Rotmantels verbreitete sich eine geistreiche Heiterkeit, und er fing unges‰umt folgendermaflen zu sprechen an. Die neue Melusine

Hochverehrte Herren! Da mir bekannt ist, dafl Sie vorl‰ufige Reden und Einleitungen nicht besonders lieben, so will ich ohne weiteres versichern, dafl ich diesmal vorz¸glich gut zu bestehen hoffe. Von mir sind zwar schon gar manche wahrhafte Geschichten zu hoher und allseitiger Zufriedenheit ausgegangen, heute aber darf ich sagen, dafl ich eine zu erz‰hlen habe, welche die bisherigen weit ¸bertrifft und die, wiewohl sie mir schon vor einigen Jahren begegnet ist, mich noch immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche Entwicklung hoffen l‰flt. Sie mˆchte schwerlich ihresgleichen finden.

Vorerst sei gestanden, dafl ich meinen Lebenswandel nicht immer so eingerichtet, um der n‰chsten Zeit, ja des n‰chsten Tages ganz sicher zu sein. Ich war in meiner Jugend kein guter Wirt und fand mich oft in mancherlei Verlegenheit. Einst nahm ich mir eine Reise vor, die mir guten Gewinn verschaffen sollte; aber ich machte meinen Zuschnitt ein wenig zu grofl, und nachdem ich sie mit Extrapost angefangen und sodann auf der ordin‰ren eine Zeitlang fortgesetzt hatte, fand ich mich zuletzt genˆtigt, dem Ende derselben zu Fufle entgegenzugehen.

Als ein lebhafter Bursche hatte ich von jeher die Gewohnheit, sobald ich in ein Wirtshaus kam, mich nach der Wirtin oder auch nach der Kˆchin umzusehen und mich schmeichlerisch gegen sie zu bezeigen, wodurch denn meine Zeche meistens vermindert wurde.

Eines Abends, als ich in das Posthaus eines kleinen St‰dtchens trat und eben nach meiner hergebrachten Weise verfahren wollte, rasselte gleich hinter mir ein schˆner zweisitziger Wagen, mit vier Pferden bespannt, an der T¸re vor. Ich wendete mich um und sah ein Frauenzimmer allein, ohne Kammerfrau, ohne Bedienten. Ich eilte sogleich, ihr den Schlag zu erˆffnen und zu fragen, ob sie etwas zu befehlen habe. Beim Aussteigen zeigte sich eine schˆne Gestalt, und ihr liebensw¸rdiges Gesicht war, wenn man es n‰her betrachtete, mit einem kleinen Zug von Traurigkeit geschm¸ckt. Ich fragte nochmals, ob ich ihr in etwas dienen kˆnne.–“O ja!” sagte sie, “wenn Sie mir mit Sorgfalt das K‰stchen, das auf dem Sitze steht, herausheben und hinauftragen wollen; aber ich bitte gar sehr, es recht st‰t zu tragen und im mindesten nicht zu bewegen oder zu r¸tteln.” Ich nahm das K‰stchen mit Sorgfalt, sie verschlofl den Kutschenschlag, wir stiegen zusammen die Treppe hinauf, und sie sagte dem Gesinde, dafl sie diese Nacht hier bleiben w¸rde.

Nun waren wir allein in dem Zimmer, sie hiefl mich das K‰stchen auf den Tisch setzen, der an der Wand stand, und als ich an einigen ihrer Bewegungen merkte, dafl sie allein zu sein w¸nschte, empfahl ich mich, indem ich ihr ehrerbietig, aber feurig die Hand k¸flte.

“Bestellen Sie das Abendessen f¸r uns beide”, sagte sie darauf; und es l‰flt sich denken, mit welchem Vergn¸gen ich diesen Auftrag ausrichtete, wobei ich denn zugleich in meinem ¸bermut Wirt, Wirtin und Gesinde kaum ¸ber die Achsel ansah. Mit Ungeduld erwartete ich den Augenblick, der mich endlich wieder zu ihr f¸hren sollte. Es war aufgetragen, wir setzten uns gegen einander ¸ber, ich labte mich zum erstenmal seit geraumer Zeit an einem guten Essen und zugleich an einem so erw¸nschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit jeder Minute schˆner w¸rde.

Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen, was sich auf Neigung und Liebe bezog. Es ward abger‰umt; ich zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu n‰hern, aber vergebens: sie hielt mich durch eine gewisse W¸rde zur¸ck, der ich nicht widerstehen konnte, ja ich muflte wider meinen Willen zeitig genug von ihr scheiden.

Nach einer meist durchwachten und unruhig durchtr‰umten Nacht war ich fr¸h auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hˆrte nein und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen und eilte zu ihr hinauf. Als sie mir so schˆn und schˆner als gestern entgegenkam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit und Verwegenheit; ich st¸rzte auf sie zu und faflte sie in meine Arme. “Englisches, unwiderstehliches Wesen!” rief ich aus: “verzeih, aber es ist unmˆglich!” Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kufl auf die Wange dr¸cken kˆnnen. “Halten Sie solche Ausbr¸che einer plˆtzlichen leidenschaftlichen Neigung zur¸ck, wenn Sie ein Gl¸ck nicht verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach einigen Pr¸fungen ergriffen werden kann.”

“Fordere, was du willst, englischer Geist!” rief ich aus, “aber bringe mich nicht zur Verzweiflung.” Sie versetzte l‰chelnd: “Wollen Sie sich meinem Dienste widmen, so hˆren Sie die Bedingungen! Ich komme hierher, eine Freundin zu besuchen, bei der ich einige Tage zu verweilen gedenke; indessen w¸nsche ich, dafl mein Wagen und dies K‰stchen weitergebracht werden. Wollen Sie es ¸bernehmen? Sie haben dabei nichts zu tun, als das K‰stchen mit Behutsamkeit in und aus dem Wagen zu heben; wenn es darin steht, sich daneben zu setzen und jede Sorge daf¸r zu tragen. Kommen Sie in ein Wirtshaus, so wird es auf einen Tisch gestellt, in eine besondere Stube, in der Sie weder wohnen noch schlafen d¸rfen. Sie verschlieflen die Zimmer jedesmal mit diesem Schl¸ssel, der alle Schlˆsser auf–und zuschlieflt und dem Schlosse die besondere Eigenschaft gibt, dafl es niemand in der Zwischenzeit zu erˆffnen imstande ist.”

Ich sah sie an, mir ward sonderbar zumute; ich versprach, alles zu tun, wenn ich hoffen kˆnnte, sie bald wieder zu sehen, und wenn sie mir diese Hoffnung mit einem Kufl besiegelte. Sie tat es, und von dem Augenblick an war ich ihr ganz leibeigen geworden. Ich sollte nun die Pferde bestellen, sagte sie. Wir besprachen den Weg, den ich nehmen, die Orte, wo ich mich aufhalten und sie erwarten sollte. Sie dr¸ckte mir zuletzt einen Beutel mit Gold in die Hand, und ich meine Lippen auf ihre H‰nde. Sie schien ger¸hrt beim Abschied, und ich wuflte schon nicht mehr, was ich tat oder tun sollte.

Als ich von meiner Bestellung zur¸ckkam, fand ich die Stubent¸r verschlossen. Ich versuchte gleich meinen Hauptschl¸ssel, und er machte sein Probest¸ck vollkommen. Die T¸re sprang auf, ich fand das Zimmer leer, nur das K‰stchen stand auf dem Tische, wo ich es hingestellt hatte.

Der Wagen war vorgefahren, ich trug das K‰stchen sorgf‰ltig hinunter und setzte es neben mich. Die Wirtin fragte: “Wo ist denn die Dame?” Ein Kind antwortete: “Sie ist in die Stadt gegangen.” Ich begr¸flte die Leute und fuhr wie im Triumph von hinnen, der ich gestern abend mit bestaubten Gamaschen hier angekommen war. Dafl ich nun bei guter Mufle diese Geschichte hin und her ¸berlegte, das Geld z‰hlte, mancherlei Entw¸rfe machte und immer gelegentlich nach dem K‰stchen schielte, kˆnnen Sie leicht denken. Ich fuhr nun stracks vor mich hin, stieg mehrere Stationen nicht aus und rastete nicht, bis ich zu einer ansehnlichen Stadt gelangt war, wohin sie mich beschieden hatte. Ihre Befehle wurden sorgf‰ltig beobachtet, das K‰stchen in ein besonderes Zimmer gestellt und ein paar Wachslichter daneben, unangez¸ndet, wie sie auch verordnet hatte. Ich verschlofl das Zimmer, richtete mich in dem meinigen ein und tat mir etwas zugute.

Eine Weile konnte ich mich mit dem Andenken an sie besch‰ftigen, aber gar bald wurde mir die Zeit lang. Ich war nicht gewohnt, ohne Gesellschaft zu leben; diese fand ich bald an Wirtstafeln und an ˆffentlichen Orten nach meinem Sinne. Mein Geld fing bei dieser Gelegenheit an zu schmelzen und verlor sich eines Abends vˆllig aus meinem Beutel, als ich mich unvorsichtig einem leidenschaftlichen Spiel ¸berlassen hatte. Auf meinem Zimmer angekommen, war ich aufler mir. Von Geld entblˆflt, mit dem Ansehen eines reichen Mannes eine t¸chtige Zeche erwartend, ungewifl, ob und wann meine Schˆne sich wieder zeigen w¸rde, war ich in der grˆflten Verlegenheit. Doppelt sehnte ich mich nach ihr und glaubte nun gar nicht mehr ohne sie und ohne ihr Geld leben zu kˆnnen.

Nach dem Abendessen, das mir gar nicht geschmeckt hatte, weil ich es diesmal einsam zu genieflen genˆtigt worden, ging ich in dem Zimmer lebhaft auf und ab, sprach mit mir selbst, verw¸nschte mich, warf mich auf den Boden, zerraufte mir die Haare und erzeigte mich ganz ungeb‰rdig. Auf einmal hˆre ich in dem verschlossenen Zimmer nebenan eine leise Bewegung und kurz nachher an der wohlverwahrten T¸re pochen. Ich raffe mich zusammen, greife nach dem Hauptschl¸ssel, aber die Fl¸gelt¸ren springen von selbst auf, und im Schein jener brennenden Wachslichter kommt mir meine Schˆne entgegen. Ich werfe mich ihr zu F¸flen, k¸sse ihr Kleid, ihre H‰nde, sie hebt mich auf, ich wage nicht, sie zu umarmen, kaum sie anzusehen; doch gestehe ich ihr aufrichtig und reuig meinen Fehler. “Er ist zu verzeihen”, sagte sie, “nur versp‰tet Ihr leider Euer Gl¸ck und meines. Ihr m¸flt nun abermals eine Strecke in die Welt hineinfahren, ehe wir uns wieder sehen. Hier ist noch mehr Gold”, sagte sie, “und hinreichend, wenn Ihr einigermaflen haushalten wollt. Hat Euch aber diesmal Wein und Spiel in Verlegenheit gesetzt, so h¸tet Euch nun vor Wein und Weibern und laflt mich auf ein frˆhlicheres Wiedersehen hoffen.”

Sie trat ¸ber die Schwelle zur¸ck, die Fl¸gel schlugen zusammen, ich pochte, ich bat, aber nichts liefl sich weiter hˆren. Als ich den andern Morgen die Zeche verlangte, l‰chelte der Kellner und sagte: “So wissen wir doch, warum Ihr Eure T¸ren auf eine so k¸nstliche und unbegreifliche Weise verschlieflt, dafl kein Hauptschl¸ssel sie ˆffnen kann. Wir vermuteten bei Euch viel Geld und Kostbarkeiten; nun aber haben wir den Schatz die Treppe hinuntergehen sehn, und auf alle Weise schien er w¸rdig, wohl verwahrt zu werden.”

Ich erwiderte nichts dagegen, zahlte meine Rechnung und stieg mit meinem K‰stchen in den Wagen. Ich fuhr nun wieder in die Welt hinein mit dem festesten Vorsatz, auf die Warnung meiner geheimnisvollen Freundin k¸nftig zu achten. Doch war ich kaum abermals in einer groflen Stadt angelangt, so ward ich bald mit liebensw¸rdigen Frauenzimmern bekannt, von denen ich mich durchaus nicht losreiflen konnte. Sie schienen mir ihre Gunst teuer anrechnen zu wollen; denn indem sie mich immer in einiger Entfernung hielten, verleiteten sie mich zu einer Ausgabe nach der andern, und da ich nur suchte, ihr Vergn¸gen zu befˆrdern, dachte ich abermals nicht an meinen Beutel, sondern zahlte und spendete immerfort, so wie es eben vorkam. Wie grofl war daher meine Verwunderung und mein Vergn¸gen, als ich nach einigen Wochen bemerkte, dafl die F¸lle des Beutels noch nicht abgenommen hatte, sondern dafl er noch so rund und strotzend war wie anfangs. Ich wollte mich dieser schˆnen Eigenschaft n‰her versichern, setzte mich hin zu z‰hlen, merkte mir die Summe genau und fing nun an, mit meiner Gesellschaft lustig zu leben wie vorher. Da fehlte es nicht an Land–und Wasserfahrten, an Tanz, Gesang und andern Vergn¸gungen. Nun bedurfte es aber keiner groflen Aufmerksamkeit, um gewahr zu werden, dafl der Beutel wirklich abnahm, eben als wenn ich ihm durch mein verw¸nschtes Z‰hlen die Tugend, unz‰hlbar zu sein, entwendet h‰tte. Indessen war das Freudenleben einmal im Gange, ich konnte nicht zur¸ck, und doch war ich mit meiner Barschaft bald am Ende. Ich verw¸nschte meine Lage, schalt auf meine Freundin, die mich so in Versuchung gef¸hrt hatte, nahm es ihr ¸bel auf, dafl sie sich nicht wieder sehen lassen, sagte mich im ‰rger von allen Pflichten gegen sie los und nahm mir vor, das K‰stchen zu ˆffnen, ob vielleicht in demselben einige H¸lfe zu finden sei. Denn war es gleich nicht schwer genug, um Geld zu enthalten, so konnten doch Juwelen darin sein, und auch diese w‰ren mir sehr willkommen gewesen. Ich war im Begriff, den Vorsatz auszuf¸hren, doch verschob ich ihn auf die Nacht, um die Operation recht ruhig vorzunehmen, und eilte zu einem Bankett, das eben angesagt war. Da ging es denn wieder hoch her, und wir waren durch Wein und Trompetenschall m‰chtig aufgeregt, als mir der unangenehme Streich passierte, dafl beim Nachtische ein ‰lterer Freund meiner liebsten Schˆnheit, von Reisen kommend, unvermutet hereintrat, sich zu ihr setzte und ohne grofle Umst‰nde seine alten Rechte geltend zu machen suchte. Daraus entstand nun bald Unwille, Hader und Streit; wir zogen vom Leder, und ich ward mit mehreren Wunden halbtot nach Hause getragen.

Der Chirurgus hatte mich verbunden und verlassen, es war schon tief in der Nacht, mein W‰rter eingeschlafen; die T¸r des Seitenzimmers ging auf, meine geheimnisvolle Freundin trat herein und setzte sich zu mir ans Bette. Sie fragte nach meinem Befinden; ich antwortete nicht, denn ich war matt und verdriefllich. Sie fuhr fort, mit vielem Anteil zu sprechen, rieb mir die Schl‰fe mit einem gewissen Balsam, so dafl ich mich geschwind und entschieden gest‰rkt f¸hlte, so gest‰rkt, dafl ich mich erz¸rnen und sie ausschelten konnte. In einer heftigen Rede warf ich alle Schuld meines Ungl¸cks auf sie, auf die Leidenschaft, die sie mir eingeflˆflt, auf ihr Erscheinen, ihr Verschwinden, auf die Langeweile, auf die Sehnsucht, die ich empfinden muflte. Ich ward immer heftiger und heftiger, als wenn mich ein Fieber anfiele, und ich schwur ihr zuletzt, dafl, wenn sie nicht die Meinige sein, mir diesmal nicht angehˆren und sich mit mir verbinden wolle, so verlange ich nicht l‰nger zu leben; worauf ich entschiedene Antwort forderte. Als sie zaudernd mit einer Erkl‰rung zur¸ckhielt, geriet ich ganz aufler mir, rifl den doppelten und dreifachen Verband von den Wunden, mit der entschiedenen Absicht, mich zu verbluten. Aber wie erstaunte ich, als ich meine Wunden alle geheilt, meinen Kˆrper schmuck und gl‰nzend und sie in meinen Armen fand.

Nun waren wir das gl¸cklichste Paar von der Welt. Wir baten einander wechselseitig um Verzeihung und wuflten selbst nicht recht warum. Sie versprach nun, mit mir weiterzureisen, und bald saflen wir nebeneinander im Wagen, das K‰stchen gegen uns ¸ber, am Platze der dritten Person. Ich hatte desselben niemals gegen sie erw‰hnt; auch jetzt fiel mir’s nicht ein, davon zu reden, ob es uns gleich vor den Augen stand und wir durch eine stillschweigende ¸bereinkunft beide daf¸r sorgten, wie es etwa die Gelegenheit geben mochte; nur dafl ich es immer in und aus dem Wagen hob und mich wie vormals mit dem Verschlufl der T¸ren besch‰ftigte.

Solange noch etwas im Beutel war, hatte ich immer fortbezahlt; als es mit meiner Barschaft zu Ende ging, liefl ich sie es merken.–“Daf¸r ist leicht Rat geschafft”, sagte sie und deutete auf ein Paar kleine Taschen, oben an der Seite des Wagens angebracht, die ich fr¸her wohl bemerkt, aber nicht gebraucht hatte. Sie griff in die eine und zog einige Goldst¸cke heraus, sowie aus der andern einige Silberm¸nzen, und zeigte mir dadurch die Mˆglichkeit, jeden Aufwand, wie es uns beliebte, fortzusetzen. So reisten wir von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, waren unter uns und mit andern froh, und ich dachte nicht daran, dafl sie mich wieder verlassen kˆnnte, um so weniger, als sie sich seit einiger Zeit entschieden guter Hoffnung befand, wodurch unsere Heiterkeit und unsere Liebe nur noch vermehrt wurde. Aber eines Morgens fand ich sie leider nicht mehr, und weil mir der Aufenthalt ohne sie verdriefllich war, machte ich mich mit meinem K‰stchen wieder auf den Weg, versuchte die Kraft der beiden Taschen und fand sie noch immer bew‰hrt.

Die Reise ging gl¸cklich vonstatten, und wenn ich bisher ¸ber mein Abenteuer weiter nicht nachdenken mˆgen, weil ich eine ganz nat¸rliche Entwicklung der wundersamen Begebenheiten erwartete, so ereignete sich doch gegenw‰rtig etwas, wodurch ich in Erstaunen, in Sorgen, ja in Furcht gesetzt wurde. Weil ich, um von der Stelle zu kommen, Tag und Nacht zu reisen gewohnt war, so geschah es, dafl ich oft im Finstern fuhr und es in meinem Wagen, wenn die Laternen zuf‰llig ausgingen, ganz dunkel war. Einmal bei so finsterer Nacht war ich eingeschlafen, und als ich erwachte, sah ich den Schein eines Lichtes an der Decke meines Wagens. Ich beobachtete denselben und fand, dafl er aus dem K‰stchen hervorbrach, das einen Rifl zu haben schien, eben als w‰re es durch die heifle und trockene Witterung der eingetretenen Sommerzeit gesprungen. Meine Gedanken an die Juwelen wurden wieder rege, ich vermutete, dafl ein Karfunkel im K‰stchen liege, und w¸nschte dar¸ber Gewiflheit zu haben. Ich r¸ckte mich, so gut ich konnte, zurecht, so dafl ich mit dem Auge unmittelbar den Rifl ber¸hrte. Aber wie grofl war mein Erstaunen, als ich in ein von Lichtern wohl erhelltes, mit viel Geschmack, ja Kostbarkeit mˆbliertes Zimmer hineinsah, gerade so als h‰tte ich durch die ˆffnung eines Gewˆlbes in einen kˆniglichen Saal hinabgesehn. Zwar konnte ich nur einen Teil des Raums beobachten, der mich auf das ¸brige schlieflen liefl. Ein Kaminfeuer schien zu brennen, neben welchem ein Lehnsessel stand. Ich hielt den Atem an mich und fuhr fort zu beobachten. Indem kam von der andern Seite des Saals ein Frauenzimmer mit einem Buch in den H‰nden, die ich sogleich f¸r meine Frau erkannte, obschon ihr Bild nach dem allerkleinsten Maflstabe zusammengezogen war. Die Schˆne setzte sich in den Sessel ans Kamin, um zu lesen, legte die Br‰nde mit der niedlichsten Feuerzange zurecht, wobei ich deutlich bemerken konnte, das allerliebste kleine Wesen sei ebenfalls guter Hoffnung. Nun fand ich mich aber genˆtigt, meine unbequeme Stellung einigermaflen zu verr¸cken, und bald darauf, als ich wieder hineingehen und mich ¸berzeugen wollte, dafl es kein Traum gewesen, war das Licht verschwunden, und ich blickte in eine leere Finsternis.

Wie erstaunt, ja erschrocken ich war, l‰flt sich begreifen. Ich machte mir tausend Gedanken ¸ber diese Entdeckung und konnte doch eigentlich nichts denken. Dar¸ber schlief ich ein, und als ich erwachte, glaubte ich eben nur getr‰umt zu haben; doch f¸hlte ich mich von meiner Schˆnen einigermaflen entfremdet, und indem ich das K‰stchen nur desto sorgf‰ltiger trug, wuflte ich nicht, ob ich ihre Wiedererscheinung in vˆlliger Menschengrˆfle w¸nschen oder f¸rchten sollte.

Nach einiger Zeit trat denn wirklich meine Schˆne gegen Abend in weiflem Kleide herein, und da es eben im Zimmer d‰mmerte, so kam sie mir l‰nger vor, als ich sie sonst zu sehen gewohnt war, und ich erinnerte mich, gehˆrt zu haben, dafl alle vom Geschlecht der Nixen und Gnomen bei einbrechender Nacht an L‰nge gar merklich zun‰hmen. Sie flog wie gewˆhnlich in meine Arme, aber ich konnte sie nicht recht frohm¸tig an meine beklemmte Brust dr¸cken.

“Mein Liebster”, sagte sie, “ich f¸hle nun wohl an deinem Empfang, was ich leider schon weifl. Du hast mich in der Zwischenzeit gesehn; du bist von dem Zustand unterrichtet, in dem ich mich zu gewissen Zeiten befinde; dein Gl¸ck und das meinige ist hiedurch unterbrochen, ja es steht auf dem Punkte, ganz vernichtet zu werden. Ich mufl dich verlassen und weifl nicht, ob ich dich jemals wiedersehen werde.” Ihre Gegenwart, die Anmut, mit der sie sprach, entfernte sogleich fast jede Erinnerung jenes Gesichtes, das mir schon bisher nur als ein Traum vorgeschwebt hatte. Ich umfing sie mit Lebhaftigkeit, ¸berzeugte sie von meiner Leidenschaft, versicherte ihr meine Unschuld, erz‰hlte ihr das Zuf‰llige der Entdeckung, genug, ich tat so viel, dafl sie selbst beruhigt schien und mich zu beruhigen suchte.

“Pr¸fe dich genau”, sagte sie, “ob diese Entdeckung deiner Liebe nicht geschadet habe, ob du vergessen kannst, dafl ich in zweierlei Gestalten mich neben dir befinde, ob die Verringerung meines Wesens nicht auch deine Neigung vermindern werde.”

Ich sah sie an; schˆner war sie als jemals, und ich dachte bei mir selbst: “Ist es denn ein so grofles Ungl¸ck, eine Frau zu besitzen, die von Zeit zu Zeit eine Zwergin wird, so dafl man sie im K‰stchen herumtragen kann? W‰re es nicht viel schlimmer, wenn sie zur Riesin w¸rde und ihren Mann in den Kasten steckte?” Meine Heiterkeit war zur¸ckgekehrt. Ich h‰tte sie um alles in der Welt nicht fahren lassen. — “Bestes Herz”, versetzte ich, “lafl uns bleiben und sein, wie wir gewesen sind. Kˆnnten wir’s beide denn herrlicher finden! Bediene dich deiner Bequemlichkeit, und ich verspreche dir, das K‰stchen nur desto sorgf‰ltiger zu tragen. Wie sollte das Niedlichste, was ich in meinem Leben gesehn, einen schlimmen Eindruck auf mich machen? Wie gl¸cklich w¸rden die Liebhaber sein, wenn sie solche Miniaturbilder besitzen kˆnnten! Und am Ende war es auch nur ein solches Bild, eine kleine Taschenspielerei. Du pr¸fst und neckst mich; du sollst aber sehen, wie ich mich halten werde.”