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Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 8
Johann Wolfgang von Goethe
Achtes Buch
Erstes Kapitel
Felix war in den Garten gesprungen, Wilhelm folgte ihm mit Entz¸cken, der schËnste Morgen zeigte jeden Gegenstand mit neuen Reizen, und Wilhelm genoï¬ den heitersten Augenblick. Felix war neu in der freien und herrlichen Welt, und sein Vater nicht viel bekannter mit den Gegenstâ°nden, nach denen der Kleine wiederholt und unerm¸det fragte. Sie gesellten sich endlich zum Gâ°rtner, der die Namen und den Gebrauch mancher Pflanzen hererzâ°hlen muï¬te; Wilhelm sah die Natur durch ein neues Organ, und die Neugierde, die Wiï¬begierde des Kindes lieï¬en ihn erst f¸hlen, welch ein schwaches Interesse er an den Dingen auï¬er sich genommen hatte, wie wenig er kannte und wuï¬te. An diesem Tage, dem vergn¸gtesten seines Lebens, schien auch seine eigne Bildung erst anzufangen; er f¸hlte die Notwendigkeit, sich zu belehren, indem er zu lehren aufgefordert ward.
Jarno und der Abbe hatten sich nicht wieder sehen lassen; abends kamen sie und brachten einen Fremden mit. Wilhelm ging ihm mit Erstaunen entgegen, er traute seinen Augen nicht: es war Werner, der gleichfalls einen Augenblick anstand, ihn anzuerkennen. Beide umarmten sich aufs zâ°rtlichste, und beide konnten nicht verbergen, daï¬ sie sich wechselsweise verâ°ndert fanden. Werner behauptete, sein Freund sei grËï¬er, stâ°rker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem Betragen angenehmer geworden. “Etwas von seiner alten Treuherzigkeit vermiï¬ ich”, setzte er hinzu. “Sie wird sich auch schon wieder zeigen, wenn wir uns nur von der ersten Verwunderung erholt haben”, sagte Wilhelm.
Es fehlte viel, daï¬ Werner einen gleich vorteilhaften Eindruck auf Wilhelmen gemacht hâ°tte. Der gute Mann schien eher zur¸ck- als vorwâ°rtsgegangen zu sein. Er war viel magerer als ehemals, sein spitzes Gesicht schien feiner, seine Nase lâ°nger zu sein, seine Stirn und sein Scheitel waren von Haaren entblËï¬t, seine Stimme hell, heftig und schreiend, und seine eingedr¸ckte Brust, seine verfallenden Schultern, seine farblosen Wangen lieï¬en keinen Zweifel ¸brig, daï¬ ein arbeitsamer Hypochondrist gegenwâ°rtig sei.
Wilhelm war bescheiden genug, um sich ¸ber diese groï¬e Verâ°nderung sehr mâ°ï¬ig zu erklâ°ren, da der andere hingegen seiner freundschaftlichen Freude vËlligen Lauf lieï¬. “Wahrhaftig!” rief er aus, “wenn du deine Zeit schlecht angewendet und, wie ich vermute, nichts gewonnen hast, so bist du doch indessen ein PersËnchen geworden, das sein Gl¸ck machen kann und muï¬; verschleudere und verschleudere nur auch das nicht wieder: du sollst mir mit dieser Figur eine reiche und schËne Erbin erkaufen.”–“Du wirst doch”, versetzte Wilhelm lâ°chelnd, “deinen Charakter nicht verleugnen! Kaum findest du nach langer Zeit deinen Freund wieder, so siehst du ihn schon als eine Ware, als einen Gegenstand deiner Spekulation an, mit dem sich etwas gewinnen lâ°ï¬t.”
Jarno und der Abbe schienen ¸ber diese Erkennung keinesweges verwundert und lieï¬en beide Freunde sich nach Belieben ¸ber das Vergangene und Gegenwâ°rtige ausbreiten. Werner ging um seinen Freund herum, drehte ihn hin und her, so daï¬ er ihn fast verlegen machte. “Nein! nein!” rief er aus, “so was ist mir noch nicht vorgekommen, und doch weiï¬ ich wohl, daï¬ ich mich nicht betriege. Deine Augen sind tiefer, deine Stirn ist breiter, deine Nase feiner und dein Mund liebreicher geworden. Seht nur einmal, wie er steht! wie das alles paï¬t und zusammenhâ°ngt! Wie doch das Faulenzen gedeihet! Ich armer Teufel dagegen”–er besah sich im Spiegel–“wenn ich diese Zeit her nicht recht viel Geld gewonnen hâ°tte, so wâ°re doch auch gar nichts an mir.”
Werner hatte Wilhelms letzten Brief nicht empfangen; ihre Handlung war das fremde Haus, mit welchem Lothario die G¸ter in Gemeinschaft zu kaufen die Absicht hatte. Dieses Geschâ°ft f¸hrte Wernern hierher; er hatte keine Gedanken, Wilhelmen auf seinem Wege zu finden. Der Gerichtshalter kam, die Papiere wurden vorgelegt, und Werner fand die Vorschlâ°ge billig. “Wenn Sie es mit diesem jungen Manne, wie es scheint, gut meinen”, sagte er, “so sorgen Sie selbst daf¸r, daï¬ unser Teil nicht verk¸rzt werde; es soll von meinem Freunde abhâ°ngen, ob er das Gut annehmen und einen Teil seines VermËgens daran wenden will.” Jarno und der Abbe versicherten, daï¬ es dieser Erinnerung nicht bed¸rfe. Man hatte die Sache kaum im allgemeinen verhandelt, als Werner sich nach einer Partie L’hombre sehnte, wozu sich denn auch gleich der Abbe und Jarno mit hinsetzten; er war es nun einmal so gewohnt, er konnte des Abends ohne Spiel nicht leben.
Als die beiden Freunde nach Tische allein waren, befragten und besprachen sie sich sehr lebhaft ¸ber alles, was sie sich mitzuteilen w¸nschten. Wilhelm r¸hmte seine Lage und das Gl¸ck seiner Aufnahme unter so trefflichen Menschen. Werner dagegen sch¸ttelte den Kopf und sagte: “Man sollte doch auch nichts glauben, als was man mit Augen sieht! Mehr als ein dienstfertiger Freund hat mir versichert, du lebtest mit einem liederlichen jungen Edelmann, f¸hrtest ihm Schauspielerinnen zu, hâ°lfest ihm sein Geld durchbringen und seiest schuld, daï¬ er mit seinen sâ°mtlichen Anverwandten gespannt sei.”–“Es w¸rde mich um meinet- und um der guten Menschen willen verdrieï¬en, daï¬ wir so verkannt werden”, versetzte Wilhelm, “wenn mich nicht meine theatralische Laufbahn mit jeder ¸beln Nachrede versËhnt hâ°tte. Wie sollten die Menschen unsere Handlungen beurteilen, die ihnen nur einzeln und abgerissen erscheinen, wovon sie das wenigste sehen, weil Gutes und BËses im verborgenen geschieht und eine gleichg¸ltige Erscheinung meistens nur an den Tag kommt. Bringt man ihnen doch Schauspieler und Schauspielerinnen auf erhËhte Bretter, z¸ndet von allen Seiten Licht an, das ganze Werk ist in wenig Stunden abgeschlossen, und doch weiï¬ selten jemand eigentlich, was er daraus machen soll.”
Nun ging es an ein Fragen nach der Familie, nach den Jugendfreunden und der Vaterstadt. Werner erzâ°hlte mit groï¬er Hast alles, was sich verâ°ndert hatte und was noch bestand und geschah. “Die Frauen im Hause”, sagte er, “Sind vergn¸gt und gl¸cklich, es fehlt nie an Geld. Die eine Hâ°lfte der Zeit bringen sie zu, sich zu putzen, und die andere Hâ°lfte, sich geputzt sehen zu lassen. Haushâ°lterisch sind sie soviel, als billig ist. Meine Kinder lassen sich zu gescheiten Jungen an. Ich sehe sie im Geiste schon sitzen und schreiben und rechnen, laufen, handeln und trËdeln; einem jeden soll so bald als mËglich ein eignes Gewerbe eingerichtet werden, und was unser VermËgen betrifft, daran sollst du deine Lust sehen. Wenn wir mit den G¸tern in Ordnung sind, muï¬t du gleich mit nach Hause: denn es sieht doch aus, als wenn du mit einiger Vernunft in die menschlichen Unternehmungen eingreifen kËnntest. Deine neuen Freunde sollen gepriesen sein, da sie dich auf den rechten Weg gebracht haben. Ich bin ein nâ°rrischer Teufel und merke erst, wie lieb ich dich habe, da ich mich nicht satt an dir sehen kann, daï¬ du so wohl und so gut aussiehst. Das ist doch noch eine andere Gestalt als das Portrâ°t, das du einmal an die Schwester schicktest und wor¸ber im Hause groï¬er Streit war. Mutter und Tochter fanden den jungen Herrn allerliebst mit offnem Halse, halbfreier Brust, groï¬er Krause, herumhâ°ngendem Haar, rundem Hut, kurzem Westchen und schlotternden langen Hosen, indessen ich behauptete, das Kost¸m sei nur noch zwei Finger breit vom Hanswurst. Nun siehst du doch aus wie ein Mensch, nur fehlt der Zopf, in den ich deine Haare einzubinden bitte, sonst hâ°lt man dich denn doch einmal unterwegs als Juden an und fordert Zoll und Geleite von dir.”
Felix war indessen in die Stube gekommen und hatte sich, als man auf ihn nicht achtete, aufs Kanapee gelegt und war eingeschlafen. “Was ist das f¸r ein Wurm?” fragte Werner. Wilhelm hatte in dem Augenblicke den Mut nicht, die Wahrheit zu sagen, noch Lust, eine doch immer zweideutige Geschichte einem Manne zu erzâ°hlen, der von Natur nichts weniger als glâ°ubig war.
Die ganze Gesellschaft begab sich nunmehr auf die G¸ter, um sie zu besehen und den Handel abzuschlieï¬en. Wilhelm lieï¬ seinen Felix nicht von der Seite und freute sich um des Knaben willen recht lebhaft des Besitzes, dem man entgegensah. Die L¸sternheit des Kindes nach den Kirschen und Beeren, die bald reif werden sollten, erinnerte ihn an die Zeit seiner Jugend und an die vielfache Pflicht des Vaters, den Seinigen den Genuï¬ vorzubereiten, zu verschaffen und zu erhalten. Mit welchem Interesse betrachtete er die Baumschulen und die Gebâ°ude! Wie lebhaft sann er darauf, das Vernachlâ°ssigte wiederherzustellen und das Verfallene zu erneuern! Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel an, ein Gebâ°ude nicht mehr f¸r eine geschwind zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verlâ°ï¬t. Alles, was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegenwachsen, und alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben. In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gef¸hl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines B¸rgers erworben. Er f¸hlte es, und seiner Freude konnte nichts gleichen. “O der unnËtigen Strenge der Moral!” rief er aus, “da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen. O der seltsamen Anforderungen der b¸rgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und miï¬leitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert! Wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstËrt und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege selbst zu begl¸cken!”
So manches er auch in seinem Leben schon gesehen hatte, so schien ihm doch die menschliche Natur erst durch die Beobachtung des Kindes deutlich zu werden. Das Theater war ihm, wie die Welt, nur als eine Menge ausgesch¸tteter W¸rfel vorgekommen, deren jeder einzeln auf seiner Oberflâ°che bald mehr, bald weniger bedeutet und die allenfalls zusammengezâ°hlt eine Summe machen. Hier im Kinde lag ihm, konnte man sagen, ein einzelner W¸rfel vor, auf dessen vielfachen Seiten der Wert und der Unwert der menschlichen Natur so deutlich eingegraben war.
Das Verlangen des Kindes nach Unterscheidung wuchs mit jedem Tage. Da es einmal erfahren hatte, daï¬ die Dinge Namen haben, so wollte es auch den Namen von allem hËren; es glaubte nicht anders, sein Vater m¸sse alles wissen, quâ°lte ihn oft mit Fragen und gab ihm Anlaï¬, sich nach Gegenstâ°nden zu erkundigen, denen er sonst wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Auch der eingeborne Trieb, die Herkunft und das Ende der Dinge zu erfahren, zeigte sich fr¸he bei dem Knaben. Wenn er fragte, wo der Wind herkomme und wo die Flamme hinkomme, war dem Vater seine eigene Beschrâ°nkung erst recht lebendig; er w¸nschte zu erfahren, wie weit sich der Mensch mit seinen Gedanken wagen und wovon er hoffen d¸rfe sich und andern jemals Rechenschaft zu geben. Die Heftigkeit des Kindes, wenn es irgendeinem lebendigen Wesen Unrecht geschehen sah, erfreute den Vater hËchlich als das Zeichen eines trefflichen Gem¸ts. Das Kind schlug heftig nach dem K¸chenmâ°dchen, das einige Tauben abgeschnitten hatte. Dieser schËne Begriff wurde denn freilich bald wieder zerstËrt, als er den Knaben fand, der ohne Barmherzigkeit FrËsche totschlug und Schmetterlinge zerrupfte. Es erinnerte ihn dieser Zug an so viele Menschen, die hËchst gerecht erscheinen, wenn sie ohne Leidenschaft sind und die Handlungen anderer beobachten.
Dieses angenehme Gef¸hl, daï¬ der Knabe so einen schËnen und wahren Einfluï¬ auf sein Dasein habe, ward einen Augenblick gestËrt, als Wilhelm in kurzem bemerkte, daï¬ wirklich der Knabe mehr ihn als er den Knaben erziehe. Er hatte an dem Kinde nichts auszusetzen, er war nicht imstande, ihm eine Richtung zu geben, die es nicht selbst nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte, waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre alten Rechte getreten. Noch machte das Kind die T¸re niemals hinter sich zu, noch wollte er seinen Teller nicht abessen, und sein Behagen war niemals grËï¬er, als wenn man ihm nachsah, daï¬ er den Bissen unmittelbar aus der Sch¸ssel nehmen, das volle Glas stehenlassen und aus der Flasche trinken konnte. So war er auch ganz allerliebst, wenn er sich mit einem Buche in die Ecke setzte und sehr ernsthaft sagte: “Ich muï¬ das gelehrte Zeug studieren!”, ob er gleich die Buchstaben noch lange weder unterscheiden konnte noch wollte.
Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher f¸r das Kind getan hatte, wie wenig er zu tun fâ°hig sei, so entstand eine Unruhe in ihm, die sein ganzes Gl¸ck aufzuwiegen imstande war. “Sind wir Mâ°nner denn”, sagte er zu sich, “so selbstisch geboren, daï¬ wir unmËglich f¸r ein Wesen auï¬er uns Sorge tragen kËnnen? Bin ich mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? Ich zog das liebe Kind an, seine Gegenwart ergËtzte mich, und dabei hab ich es aufs grausamste vernachlâ°ssigt. Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es so sehr strebte? Nichts! Ich ¸berlieï¬ es sich selbst und allen Zufâ°lligkeiten, denen es in einer ungebildeten Gesellschaft nur ausgesetzt sein konnte; und dann f¸r diesen Knaben, der dir so merkw¸rdig war, ehe er dir so wert sein konnte, hat dich denn dein Herz geheiï¬en, auch nur jemals das geringste f¸r ihn zu tun? Es ist nicht mehr Zeit, daï¬ du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer vergeudest; nimm dich zusammen, und denke, was du f¸r dich und die guten GeschËpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich kn¸pfte.”
Eigentlich war dieses Selbstgesprâ°ch nur eine Einleitung, sich zu bekennen, daï¬ er schon gedacht, gesorgt, gesucht und gewâ°hlt hatte; er konnte nicht lâ°nger zËgern, sich es selbst zu gestehen. Nach oft vergebens wiederholtem Schmerz ¸ber den Verlust Marianens f¸hlte er nur zu deutlich, daï¬ er eine Mutter f¸r den Knaben suchen m¸sse und daï¬ er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde. Er kannte dieses vortreffliche Frauenzimmer ganz. Eine solche Gattin und Geh¸lfin schien die einzige zu sein, der man sich und die Seinen anvertrauen kËnnte. Ihre edle Neigung zu Lothario machte ihm keine Bedenklichkeit. Sie waren durch ein sonderbares Schicksal auf ewig getrennt, Therese hielt sich f¸r frei und hatte von einer Heirat zwar mit Gleichg¸ltigkeit, doch als von einer Sache gesprochen, die sich von selbst versteht.
Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, nahm er sich vor, ihr von sich zu sagen, soviel er nur wuï¬te. Sie sollte ihn kennenlernen, wie er sie kannte, und er fing nun an, seine eigene Geschichte durchzudenken; sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im ganzen jedes Bekenntnis so wenig zu seinem Vorteil, daï¬ er mehr als einmal von dem Vorsatz abzustehn im Begriff war. Endlich entschloï¬ er sich, die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Turme von Jarno zu verlangen; dieser sagte: “Es ist eben zur rechten Zeit”, und Wilhelm erhielt sie.
Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch mit Bewuï¬tsein auf dem Punkte steht, wo er ¸ber sich selbst aufgeklâ°rt werden soll. Alle ¸bergâ°nge sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel! Die Besserung f¸hlt man, und man sieht nur die Wirkung des vergangenen ¸bels. Wilhelm war indessen vorbereitet genug, die Umstâ°nde hatten schon lebhaft zu ihm gesprochen, seine Freunde hatten ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit einiger Hast aufrollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand die umstâ°ndliche Geschichte seines Lebens in groï¬en, scharfen Z¸gen geschildert; weder einzelne Begebenheiten noch beschrâ°nkte Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine liebevolle Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschâ°men, und er sah zum erstenmal sein Bild auï¬er sich, zwar nicht wie im Spiegel ein zweites Selbst, sondern wie im Portrâ°t ein anderes Selbst: man bekennt sich zwar nicht zu allen Z¸gen, aber man freut sich, daï¬ ein denkender Geist uns so hat fassen, ein groï¬es Talent uns so hat darstellen wollen, daï¬ ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht und daï¬ es lâ°nger als wir selbst dauern kann.
Wilhelm beschâ°ftigte sich nunmehr, indem alle Umstâ°nde durch dies Manuskript in sein Gedâ°chtnis zur¸ckkamen, die Geschichte seines Lebens f¸r Theresen aufzusetzen, und er schâ°mte sich fast, daï¬ er gegen ihre groï¬en Tugenden nichts aufzustellen hatte, was eine zweckmâ°ï¬ige Tâ°tigkeit beweisen konnte. So umstâ°ndlich er in dem Aufsatze war, so kurz faï¬te er sich in dem Briefe, den er an sie schrieb; er bat sie um ihre Freundschaft, um ihre Liebe, wenn’s mËglich wâ°re; er bot ihr seine Hand an und bat sie um baldige Entscheidung.
Nach einigem innerlichen Streit, ob er diese wichtige Sache noch erst mit seinen Freunden, mit Jarno und dem Abbe, beraten solle, entschied er sich zu schweigen. Er war zu fest entschlossen, die Sache war f¸r ihn zu wichtig, als daï¬ er sie noch hâ°tte dem Urteil des vern¸nftigsten und besten Mannes unterwerfen mËgen; ja sogar brauchte er die Vorsicht, seinen Brief auf der nâ°chsten Post selbst zu bestellen. Vielleicht hatte ihm der Gedanke, daï¬ er in so vielen Umstâ°nden seines Lebens, in denen er frei und im verborgenen zu handeln glaubte, beobachtet, ja sogar geleitet worden war, wie ihm aus der geschriebenen Rolle nicht undeutlich erschien, eine Art von unangenehmer Empfindung gegeben, und nun wollte er wenigstens zu Theresens Herzen rein vom Herzen reden und ihrer Entschlieï¬ung und Entscheidung sein Schicksal schuldig sein, und so machte er sich kein Gewissen, seine Wâ°chter und Aufseher in diesem wichtigen Punkte wenigstens zu umgehen.
VIII. Buch, 2. Kapitel–1
Zweites Kapitel
Kaum war der Brief abgesendet, als Lothario zur¸ckkam. Jedermann freuete sich, die vorbereiteten wichtigen Geschâ°fte abgeschlossen und bald geendigt zu sehen, und Wilhelm erwartete mit Verlangen, wie so viele Fâ°den teils neu gekn¸pft, teils aufgelËst und nun sein eignes Verhâ°ltnis auf die Zukunft bestimmt werden sollte. Lothario begr¸ï¬te sie alle aufs beste; er war vËllig wiederhergestellt und heiter, er hatte das Ansehen eines Mannes, der weiï¬, was er tun soll, und dem in allem, was er tun will, nichts im Wege steht.
Wilhelm konnte ihm seinen herzlichen Gruï¬ nicht zur¸ckgeben. “Dies ist”, muï¬te er zu sich selbst sagen, “der Freund, der Geliebte, der Brâ°utigam Theresens, an dessen Statt du dich einzudrâ°ngen denkst. Glaubst du denn jemals einen solchen Eindruck auszulËschen oder zu verbannen?” Wâ°re der Brief noch nicht fort gewesen, er hâ°tte vielleicht nicht gewagt, ihn abzusenden. Gl¸cklicherweise war der Wurf schon getan, vielleicht war Therese schon entschieden, nur die Entfernung deckte noch eine gl¸ckliche Vollendung mit ihrem Schleier. Gewinn und Verlust muï¬ten sich bald entscheiden. Er suchte sich durch alle diese Betrachtungen zu beruhigen, und doch waren die Bewegungen seines Herzens beinahe fieberhaft. Nur wenig Aufmerksamkeit konnte er auf das wichtige Geschâ°ft wenden, woran gewissermaï¬en das Schicksal seines ganzen VermËgens hing. Ach! wie unbedeutend erscheint dem Menschen in leidenschaftlichen Augenblicken alles, was ihn umgibt, alles, was ihm angehËrt!
Zu seinem Gl¸cke behandelte Lothario die Sache groï¬, und Werner mit Leichtigkeit. Dieser hatte bei seiner heftigen Begierde zum Erwerb eine lebhafte Freude ¸ber den schËnen Besitz, der ihm oder vielmehr seinem Freunde werden sollte. Lothario von seiner Seite schien ganz andere Betrachtungen zu machen. “Ich kann mich nicht sowohl ¸ber einen Besitz freuen”, sagte er, “als ¸ber die Rechtmâ°ï¬igkeit desselben.”
“Nun, beim Himmel!” rief Werner, “wird denn dieser unser Besitz nicht rechtmâ°ï¬ig genug?”
“Nicht ganz!” versetzte Lothario.
“Geben wir denn nicht unser bares Geld daf¸r?”
“Recht gut!” sagte Lothario, “auch werden Sie dasjenige, was ich zu erinnern habe, vielleicht f¸r einen leeren Skrupel halten. Mir kommt kein Besitz ganz rechtmâ°ï¬ig, ganz rein vor, als der dem Staate seinen schuldigen Teil abtrâ°gt.”
“Wie?” sagte Werner, “so wollten Sie also lieber, daï¬ unsere frei gekauften G¸ter steuerbar wâ°ren?”
“Ja”, versetzte Lothario, “bis auf einen gewissen Grad: denn durch diese Gleichheit mit allen ¸brigen Besitzungen entsteht ganz allein die Sicherheit des Besitzes. Was hat der Bauer in den neuern Zeiten, wo so viele Begriffe schwankend werden, f¸r einen Hauptanlaï¬, den Besitz des Edelmanns f¸r weniger gegr¸ndet anzusehen als den seinigen? Nur den, daï¬ jener nicht belastet ist und auf ihn lastet.”
“Wie wird es aber mit den Zinsen unseres Kapitals aussehen?” versetzte Werner.
“Um nichts schlimmer!” sagte Lothario, “wenn uns der Staat gegen eine billige, regelmâ°ï¬ige Abgabe das Lehns-Hokuspokus erlassen und uns mit unsern G¸tern nach Belieben zu schalten erlauben wollte, daï¬ wir sie nicht in so groï¬en Massen zusammenhalten m¸ï¬ten, daï¬ wir sie unter unsere Kinder gleicher verteilen kËnnten, um alle in eine lebhafte, freie Tâ°tigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschrâ°nkten und beschrâ°nkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genieï¬en wir immer die Geister unserer Vorfahren hervorrufen m¸ssen. Wieviel gl¸cklicher wâ°ren Mâ°nner und Frauen, wenn sie mit freien Augen umhergehen und bald ein w¸rdiges Mâ°dchen, bald einen trefflichen J¸ngling ohne andere R¸cksichten durch ihre Wahl erheben kËnnten. Der Staat w¸rde mehr, vielleicht bessere B¸rger haben und nicht so oft um KËpfe und Hâ°nde verlegen sein.”
“Ich kann Sie versichern”, sagte Werner, “daï¬ ich in meinem Leben nie an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, ZËlle und Geleite habe ich nur so bezahlt, weil es einmal hergebracht ist.”
“Nun”, sagte Lothario, “ich hoffe Sie noch zum guten Patrioten zu machen: denn wie der nur ein guter Vater ist, der bei Tische erst seinen Kindern vorlegt, so ist der nur ein guter B¸rger, der vor allen andern Ausgaben das, was er dem Staate zu entrichten hat, zur¸cklegt.”
Durch solche allgemeine Betrachtungen wurden ihre besondern Geschâ°fte nicht aufgehalten, vielmehr beschleunigt. Als sie ziemlich damit zustande waren, sagte Lothario zu Wilhelmen: “Ich muï¬ Sie nun an einen Ort schicken, wo Sie nËtiger sind als hier: meine Schwester lâ°ï¬t Sie ersuchen, so bald als mËglich zu ihr zu kommen; die arme Mignon scheint sich zu verzehren, und man glaubt, Ihre Gegenwart kËnnte vielleicht noch dem ¸bel Einhalt tun. Meine Schwester schickte mir dieses Billett noch nach, woraus Sie sehen kËnnen, wieviel ihr daran gelegen ist.” Lothario ¸berreichte ihm ein Blâ°ttchen. Wilhelm, der schon in der grËï¬ten Verlegenheit zugehËrt hatte, erkannte sogleich an diesen fl¸chtigen Bleistiftz¸gen die Hand der Grâ°fin und wuï¬te nicht, was er antworten sollte.
“Nehmen Sie Felix mit”, sagte Lothario, “damit die Kinder sich untereinander aufheitern. Sie m¸ï¬ten morgen fr¸h beizeiten weg; der Wagen meiner Schwester, in welchem meine Leute hergefahren sind, ist noch hier, ich gebe Ihnen Pferde bis auf halben Weg, dann nehmen Sie Post. Leben Sie recht wohl und richten viele Gr¸ï¬e von mir aus. Sagen Sie dabei meiner Schwester, ich werde sie bald wiedersehen, und sie soll sich ¸berhaupt auf einige Gâ°ste vorbereiten. Der Freund unseres Groï¬oheims, der Marchese Cipriani, ist auf dem Wege, hierherzukommen; er hoffte, den alten Mann noch am Leben anzutreffen, und sie wollten sich zusammen an der Erinnerung fr¸herer Verhâ°ltnisse ergËtzen und sich ihrer gemeinsamen Kunstliebhaberei erfreuen. Der Marchese war viel j¸nger als mein Oheim und verdankte ihm den besten Teil seiner Bildung; wir m¸ssen alles aufbieten, um einigermaï¬en die L¸cke auszuf¸llen, die er finden wird, und das wird am besten durch eine grËï¬ere Gesellschaft geschehen.”
Lothario ging darauf mit dem Abbe in sein Zimmer, Jarno war vorher weggeritten; Wilhelm eilte auf seine Stube; er hatte niemand, dem er sich vertrauen, niemand, durch den er einen Schritt, vor dem er sich so sehr f¸rchtete, hâ°tte abwenden kËnnen. Der kleine Diener kam und ersuchte ihn einzupacken, weil sie noch diese Nacht aufbinden wollten, um mit Anbruch des Tages wegzufahren. Wilhelm wuï¬te nicht, was er tun sollte; endlich rief er aus: “Du willst nur machen, daï¬ du aus diesem Hause kommst; unterweges ¸berlegst du, was zu tun ist, und bleibst allenfalls auf der Hâ°lfte des Weges liegen, schickst einen Boten zur¸ck, schreibst, was du dir nicht zu sagen getraust, und dann mag werden, was will.” Ungeachtet dieses Entschlusses brachte er eine schlaflose Nacht zu; nur ein Blick auf den so schËn ruhenden Felix gab ihm einige Erquickung. “Oh!” rief er aus, “wer weiï¬, was noch f¸r Pr¸fungen auf mich warten, wer weiï¬, wie sehr mich begangene Fehler noch quâ°len, wie oft mir gute und vern¸nftige Plane f¸r die Zukunft miï¬lingen sollen; aber diesen Schatz, den ich einmal besitze, erhalte mir, du erbittliches oder unerbittliches Schicksal! Wâ°re es mËglich, daï¬ dieser beste Teil von mir selbst vor mir zerstËrt, daï¬ dieses Herz von meinem Herzen gerissen werden kËnnte, so lebe wohl, Verstand und Vernunft, lebe wohl, jede Sorgfalt und Vorsicht, verschwinde, du Trieb zur Erhaltung! Alles, was uns vom Tiere unterscheidet, verliere sich! Und wenn es nicht erlaubt ist, seine traurigen Tage freiwillig zu endigen, so hebe ein fr¸hzeitiger Wahnsinn das Bewuï¬tsein auf, ehe der Tod, der es auf immer zerstËrt, die lange Nacht herbeif¸hrt!”
Er faï¬te den Knaben in seine Arme, k¸ï¬te ihn, dr¸ckte ihn an sich und benetzte ihn mit reichlichen Trâ°nen. Das Kind wachte auf; sein helles Auge, sein freundlicher Blick r¸hrten den Vater aufs innigste. “Welche Szene steht mir bevor”, rief er aus, “wenn ich dich der schËnen, ungl¸cklichen Grâ°fin vorstellen soll, wenn sie dich an ihren Busen dr¸ckt, den dein Vater so tief verletzt hat! Muï¬ ich nicht f¸rchten, sie stËï¬t dich wieder von sich mit einem Schrei, sobald deine Ber¸hrung ihren wahren oder eingebildeten Schmerz erneuert!”
Der Kutscher lieï¬ ihm nicht Zeit, weiter zu denken oder zu wâ°hlen, er nËtigte ihn vor Tage in den Wagen; nun wickelte er seinen Felix wohl ein, der Morgen war kalt, aber heiter, das Kind sah zum erstenmal in seinem Leben die Sonne aufgehn. Sein Erstaunen ¸ber den ersten feurigen Blick, ¸ber die wachsende Gewalt des Lichts, seine Freude und seine wunderlichen Bemerkungen erfreuten den Vater und lieï¬en ihn einen Blick in das Herz tun, vor welchem die Sonne wie ¸ber einem reinen, stillen See emporsteigt und schwebt.
In einer kleinen Stadt spannte der Kutscher aus und ritt zur¸ck. Wilhelm nahm sogleich ein Zimmer in Besitz und fragte sich nun, ob er bleiben oder vorwâ°rts gehen solle. In dieser Unentschlossenheit wagte er das Blâ°ttchen wieder hervorzunehmen, das er bisher nochmals anzusehen nicht getraut hatte; es enthielt folgende Worte: “Schicke mir deinen jungen Freund ja bald; Mignon hat sich diese beiden letzten Tage eher verschlimmert. So traurig diese Gelegenheit ist, so soll mich’s doch freuen, ihn kennenzulernen.”
Die letzten Worte hatte Wilhelm beim ersten Blick nicht bemerkt. Er erschrak dar¸ber und war sogleich entschieden, daï¬ er nicht gehen wollte. “Wie?” rief er aus, “Lothario, der das Verhâ°ltnis weiï¬, hat ihr nicht erËffnet, wer ich bin? Sie erwartet nicht mit gesetztem Gem¸t einen Bekannten, den sie lieber nicht wiedersâ°he, sie erwartet einen Fremden, und ich trete hinein! Ich sehe sie zur¸ckschaudern, ich sehe sie errËten! Nein, es ist mir unmËglich, dieser Szene entgegenzusehen.” Soeben wurden die Pferde herausgef¸hrt und eingespannt; Wilhelm war entschlossen, abzupacken und hierzubleiben. Er war in der grËï¬ten Bewegung. Als er ein Mâ°dchen zur Treppe heraufkommen hËrte, die ihm anzeigen wollte, daï¬ alles fertig sei, sann er geschwind auf eine Ursache, die ihn hierzubleiben nËtigte, und seine Augen ruhten ohne Aufmerksamkeit auf dem Billett, das er in der Hand hielt. “Um Gottes willen!” rief er aus, “was ist das? Das ist nicht die Hand der Grâ°fin, es ist die Hand der Amazone!”
VIII. Buch, 2. Kapitel–2
Das Mâ°dchen trat herein, bat ihn herunterzukommen und f¸hrte Felix mit sich fort. “Ist es mËglich?” rief er aus, “ist es wahr? Was soll ich tun? Bleiben und abwarten und aufklâ°ren? oder eilen? eilen und mich einer Entwicklung entgegenst¸rzen? Du bist auf dem Wege zu ihr und kannst zaudern? Diesen Abend sollst du sie sehen und willst dich freiwillig ins Gefâ°ngnis einsperren? Es ist ihre Hand, ja sie ist’s! Diese Hand beruft dich, ihr Wagen ist angespannt, dich zu ihr zu f¸hren; nun lËst sich das Râ°tsel: Lothario hat zwei Schwestern. Er weiï¬ mein Verhâ°ltnis zu der einen; wieviel ich der andern schuldig bin, ist ihm unbekannt. Auch sie weiï¬ nicht, daï¬ der verwundete Vagabund, der ihr, wo nicht sein Leben, doch seine Gesundheit verdankt, in dem Hause ihres Bruders so unverdient g¸tig aufgenommen worden ist.”
Felix, der sich unten im Wagen schaukelte, rief: “Vater, komm! o komm! sieh die schËnen Wolken, die schËnen Farben!”–“Ja, ich komme”, rief Wilhelm, indem er die Treppe hinuntersprang, “und alle Erscheinungen des Himmels, die du gutes Kind noch sehr bewunderst, sind nichts gegen den Anblick, den ich erwarte.”
Im Wagen sitzend, rief er nun alle Verhâ°ltnisse in sein Gedâ°chtnis zur¸ck. “So ist also auch diese Natalie die Freundin Theresens! welch eine Entdeckung, welche Hoffnung und welche Aussichten! Wie seltsam, daï¬ die Furcht, von der einen Schwester reden zu hËren, mir das Dasein der andern ganz und gar verbergen konnte!” Mit welcher Freude sah er seinen Felix an; er hoffte f¸r den Knaben wie f¸r sich die beste Aufnahme.
Der Abend kam heran, die Sonne war untergegangen, der Weg nicht der beste, der Postillon fuhr langsam, Felix war eingeschlafen, und neue Sorgen und Zweifel stiegen in dem Busen unseres Freundes auf. “Von welchem Wahn, von welchen Einfâ°llen wirst du beherrscht!” sagte er zu sich selbst, “eine ungewisse â°hnlichkeit der Handschrift macht dich auf einmal sicher und gibt dir Gelegenheit, das wunderbarste Mâ°rchen auszudenken.” Er nahm das Billett wieder vor, und bei dem abgehenden Tageslicht glaubte er wieder die Handschrift der Grâ°fin zu erkennen; seine Augen wollten im einzelnen nicht wiederfinden, was ihm sein Herz im ganzen auf einmal gesagt hatte. “So ziehen dich denn doch diese Pferde zu einer schrecklichen Szene! Wer weiï¬, ob sie dich nicht in wenig Stunden schon wieder zur¸ckf¸hren werden? Und wenn du sie nur noch allein antrâ°fest; aber vielleicht ist ihr Gemahl gegenwâ°rtig, vielleicht die Baronesse! Wie verâ°ndert werde ich sie finden! Werde ich vor ihr auf den F¸ï¬en stehen kËnnen?”
Nur eine schwache Hoffnung, daï¬ er seiner Amazone entgegengehe, konnte manchmal durch die tr¸ben Vorstellungen durchblicken. Es war Nacht geworden, der Wagen rasselte in einen Hof hinein und hielt still; ein Bedienter mit einer Wachsfackel trat aus einem prâ°chtigen Portal hervor und kam die breiten Stufen hinunter bis an den Wagen. “Sie werden schon lange erwartet”, sagte er, indem er das Leder aufschlug. Wilhelm, nachdem er ausgestiegen war, nahm den schlafenden Felix auf den Arm, und der erste Bediente rief zu einem zweiten, der mit einem Lichte in der T¸re stand: “F¸hre den Herrn gleich zur Baronesse.”
Blitzschnell fuhr Wilhelmen durch die Seele: “Welch ein Gl¸ck! Es sei vorsâ°tzlich oder zufâ°llig, die Baronesse ist hier! Ich soll sie zuerst sehen! Wahrscheinlich schlâ°ft die Grâ°fin schon! Ihr guten Geister, helft, daï¬ der Augenblick der grËï¬ten Verlegenheit leidlich vor¸bergehe!”
Er trat in das Haus und fand sich an dem ernsthaftesten, seinem Gef¸hle nach dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte. Eine herabhâ°ngende blendende Laterne erleuchtete eine breite, sanfte Treppe, die ihm entgegenstand und sich oben beim Umwenden in zwei Teile teilte. Marmorne Statuen und B¸sten standen auf Piedestalen und in Nischen geordnet; einige schienen ihm bekannt. Jugendeindr¸cke verlËschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen. Er erkannte eine Muse, die seinem Groï¬vater gehËrt hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt und an ihrem Wert, doch an einem restaurierten Arme und an den neueingesetzten St¸cken des Gewandes. Es war, als wenn er ein Mâ°rchen erlebte. Das Kind ward ihm schwer; er zauderte auf den Stufen und kniete nieder, als ob er es bequemer fassen wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer augenblicklichen Erholung. Er konnte kaum sich wieder aufheben. Der vorleuchtende Bediente wollte ihm das Kind abnehmen, er konnte es nicht von sich lassen. Darauf trat er in den Vorsaal, und zu seinem noch grËï¬ern Erstaunen erblickte er das wohlbekannte Bild vom kranken KËnigssohn an der Wand. Er hatte kaum Zeit, einen Blick darauf zu werfen, der Bediente nËtigte ihn durch ein paar Zimmer in ein Kabinett. Dort, hinter einem Lichtschirme, der sie beschattete, saï¬ ein Frauenzimmer und las. “O daï¬ sie es wâ°re!” sagte er zu sich selbst in diesem entscheidenden Augenblick. Er setzte das Kind nieder, das aufzuwachen schien, und dachte sich der Dame zu nâ°hern, aber das Kind sank schlaftrunken zusammen, das Frauenzimmer stand auf und kam ihm entgegen. Die Amazone war’s! Er konnte sich nicht halten, st¸rzte auf seine Knie und rief aus: “Sie ist’s!” Er faï¬te ihre Hand und k¸ï¬te sie mit unendlichem Entz¸cken. Das Kind lag zwischen ihnen beiden auf dem Teppich und schlief sanft.
Felix ward auf das Kanapee gebracht, Natalie setzte sich zu ihm, sie hieï¬ Wilhelmen auf den Sessel sitzen, der zunâ°chst dabeistand. Sie bot ihm einige Erfrischungen an, die er ausschlug, indem er nur beschâ°ftigt war, sich zu versichern, daï¬ sie es sei, und ihre durch den Lichtschirm beschatteten Z¸ge genau wiederzusehen und sicher wiederzuerkennen. Sie erzâ°hlte ihm von Mignons Krankheit im allgemeinen, daï¬ das Kind von wenigen tiefen Empfindungen nach und nach aufgezehrt werde, daï¬ es bei seiner groï¬en Reizbarkeit, die es verberge, von einem Krampf an seinem armen Herzen oft heftig und gefâ°hrlich leide, daï¬ dieses erste Organ des Lebens bei unvermuteten Gem¸tsbewegungen manchmal plËtzlich stillestehe und keine Spur der heilsamen Lebensregung in dem Busen des guten Kindes gef¸hlt werden kËnne. Sei dieser â°ngstliche Krampf vorbei, so â°uï¬ere sich die Kraft der Natur wieder in gewaltsamen Pulsen und â°ngstige das Kind nunmehr durch ¸bermaï¬, wie es vorher durch Mangel gelitten habe.
Wilhelm erinnerte sich einer solchen krampfhaften Szene, und Natalie bezog sich auf den Arzt, der weiter mit ihm ¸ber die Sache sprechen und die Ursache, warum man den Freund und Wohltâ°ter des Kindes gegenwâ°rtig herbeigerufen, umstâ°ndlicher vorlegen w¸rde. “Eine sonderbare Verâ°nderung”, fuhr Natalie fort, “werden Sie an ihr finden; sie geht nunmehr in Frauenkleidern, vor denen sie sonst einen so groï¬en Abscheu zu haben schien.”
“Wie haben Sie das erreicht?” fragte Wilhelm.
“Wenn es w¸nschenswert war, so sind wir es nur dem Zufall schuldig. HËren Sie, wie es zugegangen ist. Sie wissen vielleicht, daï¬ ich immer eine Anzahl junger Mâ°dchen um mich habe, deren Gesinnungen ich, indem sie neben mir aufwachsen, zum Guten und Rechten zu bilden w¸nsche. Aus meinem Munde hËren sie nichts, als was ich selber f¸r wahr halte, doch kann ich und will ich nicht hindern, daï¬ sie nicht auch von andern manches vernehmen, was als Irrtum, als Vorurteil in der Welt gâ°ng und gâ°be ist. Fragen sie mich dar¸ber, so suche ich, soviel nur mËglich ist, jene fremden, ungehËrigen Begriffe irgendwo an einen richtigen anzukn¸pfen, um sie dadurch, wo nicht n¸tzlich, doch unschâ°dlich zu machen. Schon seit einiger Zeit hatten meine Mâ°dchen aus dem Munde der Bauerkinder gar manches von Engeln, vom Knechte Ruprecht, vom Heiligen Christe vernommen, die zu gewissen Zeiten in Person erscheinen, gute Kinder beschenken und unartige bestrafen sollten. Sie hatten eine Vermutung, daï¬ es verkleidete Personen sein m¸ï¬ten, worin ich sie denn auch bestâ°rkte und, ohne mich viel auf Deutungen einzulassen, mir vornahm, ihnen bei der ersten Gelegenheit ein solches Schauspiel zu geben. Es fand sich eben, daï¬ der Geburtstag von Zwillingsschwestern, die sich immer sehr gut betragen hatten, nahe war; ich versprach, daï¬ ihnen diesmal ein Engel die kleinen Geschenke bringen sollte, die sie so wohl verdient hâ°tten. Sie waren â°uï¬erst gespannt auf diese Erscheinung. Ich hatte mir Mignon zu dieser Rolle ausgesucht, und sie ward an dem bestimmten Tage in ein langes, leichtes, weiï¬es Gewand anstâ°ndig gekleidet. Es fehlte nicht an einem goldenen G¸rtel um die Brust und an einem gleichen Diadem in den Haaren. Anfangs wollte ich die Fl¸gel weglassen, doch bestanden die Frauenzimmer, die sie anputzten, auf ein Paar groï¬er goldner Schwingen, an denen sie recht ihre Kunst zeigen wollten. So trat, mit einer Lilie in der einen Hand und mit einem KËrbchen in der andern, die wundersame Erscheinung in die Mitte der Mâ°dchen und ¸berraschte mich selbst. “Da kommt der Engel!” sagte ich. Die Kinder traten alle wie zur¸ck; endlich riefen sie aus: “Es ist Mignon!” und getrauten sich doch nicht, dem wundersamen Bilde nâ°her zu treten.
“Hier sind eure Gaben”, sagte sie und reichte das KËrbchen hin. Man versammelte sich um sie, man betrachtete, man bef¸hlte, man befragte sie.
“Bist du ein Engel?” fragte das eine Kind.
“Ich wollte, ich wâ°r es”, versetzte Mignon.
“Warum trâ°gst du eine Lilie?”
“So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wâ°r ich gl¸cklich.”
“Wie ist’s mit den Fl¸geln? Laï¬ sie sehen!”
“Sie stellen schËnere vor, die noch nicht entfaltet sind.”
Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage. Als die Neugierde der kleinen Gesellschaft befriedigt war und der Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie wieder auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zither, setzte sich hier auf diesen hohen Schreibtisch hinauf und sang ein Lied mit unglaublicher Anmut:
So laï¬t mich scheinen, bis ich werde; Zieht mir das weiï¬e Kleid nicht aus!
Ich eile von der schËnen Erde
Hinab in jenes feste Haus.
Dort ruh ich eine kleine Stille,
Dann Ëffnet sich der frische Blick, Ich lasse dann die reine H¸lle,
Den G¸rtel und den Kranz zur¸ck.
Und jene himmlischen Gestalten,
Sie fragen nicht nach Mann und Weib, Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklâ°rten Leib.
Zwar lebt ich ohne Sorg und M¸he,
Doch f¸hlt ich tiefen Schmerz genung; Vor Kummer altert ich zu fr¸he;
Macht mich auf ewig wieder jung!
Ich entschloï¬ mich sogleich”, fuhr Natalie fort, “ihr das Kleid zu lassen und ihr noch einige der Art anzuschaffen, in denen sie nun auch geht und in denen, wie es mir scheint, ihr Wesen einen ganz andern Ausdruck hat.”
Da es schon spâ°t war, entlieï¬ Natalie den AnkËmmling, der nicht ohne einige Bangigkeit sich von ihr trennte. “Ist sie verheiratet oder nicht?” dachte er bei sich selbst. Er hatte gef¸rchtet, sooft sich etwas regte, eine T¸re mËchte sich auftun und der Gemahl hereintreten. Der Bediente, der ihn in sein Zimmer einlieï¬, entfernte sich schneller, als er Mut gefaï¬t hatte, nach diesem Verhâ°ltnis zu fragen. Die Unruhe hielt ihn noch eine Zeitlang wach, und er beschâ°ftigte sich, das Bild der Amazone mit dem Bilde seiner neuen, gegenwâ°rtigen Freundin zu vergleichen. Sie wollten noch nicht miteinander zusammenflieï¬en; jenes hatte er sich gleichsam geschaffen, und dieses schien fast ihn umschaffen zu wollen.
VIII. Buch, 3. Kapitel–1
Drittes Kapitel
Den andern Morgen, da noch alles still und ruhig war, ging er, sich im Hause umzusehen. Es war die reinste, schËnste, w¸rdigste Baukunst, die er gesehen hatte. “Ist doch wahre Kunst”, rief er aus, “wie gute Gesellschaft: sie nËtigt uns auf die angenehmste Weise, das Maï¬ zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist.” Unglaublich angenehm war der Eindruck, den die Statuen und B¸sten seines Groï¬vaters auf ihn machten. Mit Verlangen eilte er dem Bilde vom kranken KËnigssohn entgegen, und noch immer fand er es reizend und r¸hrend. Der Bediente Ëffnete ihm verschiedene andere Zimmer; er fand eine Bibliothek, eine Naturaliensammlung, ein physikalisches Kabinett. Er f¸hlte sich so fremd vor allen diesen Gegenstâ°nden. Felix war indessen erwacht und ihm nachgesprungen; der Gedanke, wie und wann er Theresens Brief erhalten werde, machte ihm Sorge; er f¸rchtete sich vor dem Anblick Mignons, gewissermaï¬en vor dem Anblick Nataliens. Wie ungleich war sein gegenwâ°rtiger Zustand mit jenen Augenblicken, als er den Brief an Theresen gesiegelt hatte und mit frohem Mut sich ganz einem so edlen Wesen hingab.
Natalie lieï¬ ihn zum Fr¸hst¸ck einladen. Er trat in ein Zimmer, in welchem verschiedene reinlich gekleidete Mâ°dchen, alle, wie es schien, unter zehn Jahren, einen Tisch zurechtemachten, indem eine â°ltliche Person verschiedene Arten von Getrâ°nken hereinbrachte.
Wilhelm beschaute ein Bild, das ¸ber dem Kanapee hing, mit Aufmerksamkeit, er muï¬te es f¸r das Bild Nataliens erkennen, sowenig es ihm genugtun wollte. Natalie trat herein, und die â°hnlichkeit schien ganz zu verschwinden. Zu seinem Troste hatte es ein Ordenskreuz an der Brust, und er sah ein gleiches an der Brust Nataliens.
“Ich habe das Portrâ°t hier angesehen”, sagte er zu ihr, “und mich verwundert, wie ein Maler zugleich so wahr und so falsch sein kann. Das Bild gleicht Ihnen im allgemeinen recht sehr gut, und doch sind es weder Ihre Z¸ge noch Ihr Charakter.”
“Es ist vielmehr zu verwundern”, versetzte Natalie, “daï¬ es so viel â°hnlichkeit hat; denn es ist gar mein Bild nicht; es ist das Bild einer Tante, die mir noch in ihrem Alter glich, da ich erst ein Kind war. Es ist gemalt, als sie ungefâ°hr meine Jahre hatte, und beim ersten Anblick glaubt jedermann mich zu sehen. Sie hâ°tten diese treffliche Person kennen sollen. Ich bin ihr so viel schuldig. Eine sehr schwache Gesundheit, vielleicht zuviel Beschâ°ftigung mit sich selbst und dabei eine sittliche und religiËse â°ngstlichkeit lieï¬en sie das der Welt nicht sein, was sie unter andern Umstâ°nden hâ°tte werden kËnnen. Sie war ein Licht, das nur wenigen Freunden und mir besonders leuchtete.”
“Wâ°re es mËglich”, versetzte Wilhelm, der sich einen Augenblick besonnen hatte, indem nun auf einmal so vielerlei Umstâ°nde ihm zusammentreffend erschienen, “wâ°re es mËglich, daï¬ jene schËne, herrliche Seele, deren stille Bekenntnisse auch mir mitgeteilt worden sind, Ihre Tante sei?”
“Sie haben das Heft gelesen?” fragte Natalie.
“Ja!” versetzte Wilhelm, “mit der grËï¬ten Teilnahme und nicht ohne Wirkung auf mein ganzes Leben. Was mir am meisten aus dieser Schrift entgegenleuchtete, war, ich mËchte so sagen, die Reinlichkeit des Daseins, nicht allein ihrer selbst, sondern auch alles dessen, was sie umgab, diese Selbstâ°ndigkeit ihrer Natur und die UnmËglichkeit, etwas in sich aufzunehmen, was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht harmonisch war.”
“So sind Sie”, versetzte Natalie, “billiger, ja ich darf wohl sagen, gerechter gegen diese schËne Natur als manche anderen, denen man auch dieses Manuskript mitgeteilt hat. Jeder gebildete Mensch weiï¬, wie sehr er an sich und andern mit einer gewissen Roheit zu kâ°mpfen hat, wieviel ihn seine Bildung kostet und wie sehr er doch in gewissen Fâ°llen nur an sich selbst denkt und vergiï¬t, was er andern schuldig ist. Wie oft macht der gute Mensch sich Vorw¸rfe, daï¬ er nicht zart genug gehandelt habe; und doch, wenn nun eine schËne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will, sich ¸berbildet, f¸r diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein. Dennoch sind die Menschen dieser Art auï¬er uns, was die Ideale im Innern sind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, sondern zum Nachstreben. Man lacht ¸ber die Reinlichkeit der Hollâ°nderinnen, aber wâ°re Freundin Therese, was sie ist, wenn ihr nicht eine â°hnliche Idee in ihrem Hauswesen immer vorschwebte?”
“So finde ich also”, rief Wilhelm aus, “in Theresens Freundin jene Natalie vor mir, an welcher das Herz jener kËstlichen Verwandten hing, jene Natalie, die von Jugend an so teilnehmend, so liebevoll und hilfreich war! Nur aus einem solchen Geschlecht konnte eine solche Natur entstehen! Welch eine Aussicht erËffnet sich vor mir, da ich auf einmal Ihre Voreltern und den ganzen Kreis, dem Sie angehËren, ¸berschaue.”
“Ja!” versetzte Natalie, “Sie kËnnten in einem gewissen Sinne nicht besser von uns unterrichtet sein als durch den Aufsatz unserer Tante; freilich hat ihre Neigung zu mir sie zuviel Gutes von dem Kinde sagen lassen. Wenn man von einem Kinde redet, spricht man niemals den Gegenstand, immer nur seine Hoffnungen aus.”
Wilhelm hatte indessen schnell ¸berdacht, daï¬ er nun auch von Lotharios Herkunft und fr¸her Jugend unterrichtet sei; die schËne Grâ°fin erschien ihm als Kind mit den Perlen ihrer Tante um den Hals; auch er war diesen Perlen so nahe gewesen, als ihre zarten, liebevollen Lippen sich zu den seinigen herunterneigten; er suchte diese schËnen Erinnerungen durch andere Gedanken zu entfernen. Er lief die Bekanntschaften durch, die ihm jene Schrift verschafft hatte. “So bin ich denn”, rief er aus, “in dem Hause des w¸rdigen Oheims! Es ist kein Haus, es ist ein Tempel, und Sie sind die w¸rdige Priesterin, ja der Genius selbst; ich werde mich des Eindrucks von gestern abend zeitlebens erinnern, als ich hereintrat und die alten Kunstbilder der fr¸hsten Jugend wieder vor mir standen. Ich erinnerte mich der mitleidigen Marmorbilder in Mignons Lied; aber diese Bilder hatten ¸ber mich nicht zu trauern, sie sahen mich mit hohem Ernst an und schlossen meine fr¸heste Zeit unmittelbar an diesen Augenblick. Diesen unsern alten Familienschatz, diese Lebensfreude meines Groï¬vaters finde ich hier zwischen so vielen andern w¸rdigen Kunstwerken aufgestellt, und mich, den die Natur zum Liebling dieses guten alten Mannes gemacht hatte, mich Unw¸rdigen finde ich nun auch hier, o Gott! in welchen Verbindungen, in welcher Gesellschaft!”
Die weibliche Jugend hatte nach und nach das Zimmer verlassen, um ihren kleinen Beschâ°ftigungen nachzugehn. Wilhelm, der mit Natalien allein geblieben war, muï¬te ihr seine letzten Worte deutlicher erklâ°ren. Die Entdeckung, daï¬ ein schâ°tzbarer Teil der aufgestellten Kunstwerke seinem Groï¬vater angehËrt hatte, gab eine sehr heitere, gesellige Stimmung. So wie er durch jenes Manuskript mit dem Hause bekannt worden war, so fand er sich nun auch gleichsam in seinem Erbteile wieder. Nun w¸nschte er Mignon zu sehen; die Freundin bat ihn, sich noch so lange zu gedulden, bis der Arzt, der in die Nachbarschaft gerufen worden, wieder zur¸ckkâ°me. Man kann leicht denken, daï¬ es derselbe kleine, tâ°tige Mann war, den wir schon kennen und dessen auch die “Bekenntnisse einer schËnen Seele” erwâ°hnten.
“Da ich mich”, fuhr Wilhelm fort, “mitten in jenem Familienkreis befinde, so ist ja wohl der Abbe, dessen jene Schrift erwâ°hnt, auch der wunderbare, unerklâ°rliche Mann, den ich in dem Hause Ihres Bruders nach den seltsamsten Ereignissen wiedergefunden habe? Vielleicht geben Sie mir einige nâ°here Aufschl¸sse ¸ber ihn?”
Natalie versetzte: “¸ber ihn wâ°re vieles zu sagen; wovon ich am genauesten unterrichtet bin, ist der Einfluï¬, den er auf unsere Erziehung gehabt hat. Er war, wenigstens eine Zeitlang, ¸berzeugt, daï¬ die Erziehung sich nur an die Neigung anschlieï¬en m¸sse; wie er jetzt denkt, kann ich nicht sagen. Er behauptete: das Erste und Letzte am Menschen sei Tâ°tigkeit, und man kËnne nichts tun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der uns dazu treibe. “Man gibt zu”, pflegte er zu sagen, “daï¬ Poeten geboren werden, man gibt es bei allen K¸nsten zu, weil man muï¬ und weil jene Wirkungen der menschlichen Natur kaum scheinbar nachgeâ°fft werden kËnnen; aber wenn man es genau betrachtet, so wird jede, auch nur die geringste Fâ°higkeit uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fâ°higkeit. Nur unsere zweideutige, zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewiï¬; sie erregt W¸nsche, statt Triebe zu beleben, und anstatt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenstâ°nden, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bem¸ht, nicht ¸bereinstimmen. Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irregehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem Wege recht wandeln. Finden jene, entweder durch sich selbst oder durch Anleitung, den rechten Weg, das ist den, der ihrer Natur gemâ°ï¬ ist, so werden sie ihn nie verlassen, anstatt daï¬ diese jeden Augenblick in Gefahr sind, ein fremdes Joch abzusch¸tteln und sich einer unbedingten Freiheit zu ¸bergeben.””
“Es ist sonderbar”, sagte Wilhelm, “daï¬ dieser merkw¸rdige Mann auch an mir teilgenommen und mich, wie es scheint, nach seiner Weise, wo nicht geleitet, doch wenigstens eine Zeitlang in meinen Irrt¸mern gestâ°rkt hat. Wie er es k¸nftig verantworten will, daï¬ er in Verbindung mit mehreren mich gleichsam zum besten hatte, muï¬ ich wohl mit Geduld erwarten.”
“Ich habe mich nicht ¸ber diese Grille, wenn sie eine ist, zu beklagen”, sagte Natalie; “denn ich bin freilich unter meinen Geschwistern am besten dabei gefahren. Auch seh ich nicht, wie mein Bruder Lothario hâ°tte schËner ausgebildet werden kËnnen; nur hâ°tte vielleicht meine gute Schwester, die Grâ°fin, anders behandelt werden sollen, vielleicht hâ°tte man ihrer Natur etwas mehr Ernst und Stâ°rke einflËï¬en kËnnen. Was aus Bruder Friedrich werden soll, lâ°ï¬t sich gar nicht denken; ich f¸rchte, er wird das Opfer dieser pâ°dagogischen Versuche werden.”
“Sie haben noch einen Bruder?” rief Wilhelm.
“Ja!” versetzte Natalie, “und zwar eine sehr lustige, leichtfertige Natur, und da man ihn nicht abgehalten hatte, in der Welt herumzufahren, so weiï¬ ich nicht, was aus diesem losen, lockern Wesen werden soll. Ich habe ihn seit langer Zeit nicht gesehen. Das einzige beruhigt mich, daï¬ der Abbe und ¸berhaupt die Gesellschaft meines Bruders jederzeit unterrichtet sind, wo er sich aufhâ°lt und was er treibt.”
Wilhelm war eben im Begriff, Nataliens Gedanken sowohl ¸ber diese Paradoxen zu erforschen als auch ¸ber die geheimnisvolle Gesellschaft von ihr Aufschl¸sse zu begehren, als der Medikus hereintrat und nach dem ersten Willkommen sogleich von Mignons Zustande zu sprechen anfing.
Natalie, die darauf den Felix bei der Hand nahm, sagte, sie wolle ihn zu Mignon f¸hren und das Kind auf die Erscheinung seines Freundes vorbereiten.
Der Arzt war nunmehr mit Wilhelm allein und fuhr fort: “Ich habe Ihnen wunderbare Dinge zu erzâ°hlen, die Sie kaum vermuten. Natalie lâ°ï¬t uns Raum, damit wir freier von Dingen sprechen kËnnen, die, ob ich sie gleich nur durch sie selbst erfahren konnte, doch in ihrer Gegenwart so frei nicht abgehandelt werden d¸rften. Die sonderbare Natur des guten Kindes, von dem jetzt die Rede ist, besteht beinah nur aus einer tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr Vaterland wiederzusehen, und das Verlangen nach Ihnen, mein Freund, ist, mËchte ich fast sagen, das einzige Irdische an ihr; beides greift nur in eine unendliche Ferne, beide Gegenstâ°nde liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gem¸t. Sie mag in der Gegend von Mailand zu Hause sein und ist in sehr fr¸her Jugend durch eine Gesellschaft Seiltâ°nzer ihren Eltern entf¸hrt worden. Nâ°heres kann man von ihr nicht erfahren, teils weil sie zu jung war, um Ort und Namen genau angeben zu kËnnen, besonders aber weil sie einen Schwur getan hat, keinem lebendigen Menschen ihre Wohnung und Herkunft nâ°her zu bezeichnen. Denn eben jene Leute, die sie in der Irre fanden und denen sie ihre Wohnung so genau beschrieb mit so dringenden Bitten, sie nach Hause zu f¸hren, nahmen sie nur desto eiliger mit sich fort und scherzten nachts in der Herberge, da sie glaubten, das Kind schlafe schon, ¸ber den guten Fang und beteuerten, daï¬ es den Weg zur¸ck nicht wieder finden sollte. Da ¸berfiel das arme GeschËpf eine grâ°ï¬liche Verzweiflung, in der ihm zuletzt die Mutter Gottes erschien und es versicherte, daï¬ sie sich seiner annehmen wolle. Es schwur darauf bei sich selbst einen heiligen Eid, daï¬ sie k¸nftig niemand mehr vertrauen, niemand ihre Geschichte erzâ°hlen und in der Hoffnung einer unmittelbaren gËttlichen H¸lfe leben und sterben wolle. Selbst dieses, was ich Ihnen hier erzâ°hle, hat sie Natalien nicht ausdr¸cklich vertraut; unsere werte Freundin hat es aus einzelnen â°uï¬erungen, aus Liedern und kindlichen Unbesonnenheiten, die gerade das verraten, was sie verschweigen wollen, zusammengereiht.”
Wilhelm konnte sich nunmehr manches Lied, manches Wort dieses guten Kindes erklâ°ren. Er bat seinen Freund aufs dringendste, ihm ja nichts vorzuenthalten, was ihm von den sonderbaren Gesâ°ngen und Bekenntnissen des einzigen Wesens bekannt worden sei.
“Oh!” sagte der Arzt, “bereiten Sie sich auf ein sonderbares Bekenntnis, auf eine Geschichte, an der Sie, ohne sich zu erinnern, viel Anteil haben, die, wie ich f¸rchte, f¸r Tod und Leben dieses guten GeschËpfs entscheidend ist.”
“Lassen Sie mich hËren”, versetzte Wilhelm, “ich bin â°uï¬erst ungeduldig.”
VIII. Buch, 3. Kapitel–2
“Erinnern Sie sich”, sagte der Arzt, “eines geheimen, nâ°chtlichen, weiblichen Besuchs nach der Auff¸hrung des “Hamlets”?”
“Ja, ich erinnere mich dessen wohl!” rief Wilhelm beschâ°mt, “aber ich glaubte nicht, in diesem Augenblick daran erinnert zu werden.”
“Wissen Sie, wer es war?”
“Nein! Sie erschrecken mich! Um’s Himmels willen doch nicht Mignon? Wer war’s? Sagen Sie mir’s!”
“Ich weiï¬ es selbst nicht.”
“Also nicht Mignon?”
“Nein, gewiï¬ nicht! aber Mignon war im Begriff, sich zu Ihnen zu schleichen, und muï¬te aus einem Winkel mit Entsetzen sehen, daï¬ eine Nebenbuhlerin ihr zuvorkam.”
“Eine Nebenbuhlerin!” rief Wilhelm aus. “Reden Sie weiter, Sie verwirren mich ganz und gar.”
“Sein Sie froh”, sagte der Arzt, “daï¬ Sie diese Resultate so schnell von mir erfahren kËnnen. Natalie und ich, die wir doch nur einen entferntern Anteil nehmen, wir waren genug gequâ°lt, bis wir den verworrenen Zustand dieses guten Wesens, dem wir zu helfen w¸nschten, nur so deutlich einsehen konnten. Durch leichtsinnige Reden Philinens und der andern Mâ°dchen, durch ein gewisses Liedchen aufmerksam gemacht, war ihr der Gedanke so reizend geworden, eine Nacht bei dem Geliebten zuzubringen, ohne daï¬ sie dabei etwas weiter als eine vertrauliche, gl¸ckliche Ruhe zu denken wuï¬te. Die Neigung f¸r Sie, mein Freund, war in dem guten Herzen schon lebhaft und gewaltsam, in Ihren Armen hatte das gute Kind schon von manchem Schmerz ausgeruht, sie w¸nschte sich nun dieses Gl¸ck in seiner ganzen F¸lle. Bald nahm sie sich vor, Sie freundlich darum zu bitten, bald hielt sie ein heimlicher Schauder wieder davon zur¸ck. Endlich gab ihr der lustige Abend und die Stimmung des hâ°ufig genossenen Weins den Mut, das Wagest¸ck zu versuchen und sich jene Nacht bei Ihnen einzuschleichen. Schon war sie vorausgelaufen, um sich in der unverschlossenen Stube zu verbergen, allein als sie eben die Treppe hinaufgekommen war, hËrte sie ein Gerâ°usch; sie verbarg sich und sah ein weiï¬es, weibliches Wesen in Ihr Zimmer schleichen. Sie kamen selbst bald darauf, und sie hËrte den groï¬en Riegel zuschieben.
Mignon empfand unerhËrte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer leidenschaftlichen Eifersucht mischten sich zu dem unbekannten Verlangen einer dunkeln Begierde und griffen die halbentwickelte Natur gewaltsam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehnsucht und Erwartung lebhaft geschlagen hatte, fing auf einmal an zu stocken und dr¸ckte wie eine bleierne Last ihren Busen, sie konnte nicht zu Atem kommen, sie wuï¬te sich nicht zu helfen, sie hËrte die Harfe des Alten, eilte zu ihm unter das Dach und brachte die Nacht zu seinen F¸ï¬en unter entsetzlichen Zuckungen hin.”
Der Arzt hielt einen Augenblick inne, und da Wilhelm stilleschwieg, fuhr er fort: “Natalie hat mir versichert, es habe sie in ihrem Leben nichts so erschreckt und angegriffen als der Zustand des Kindes bei dieser Erzâ°hlung; ja unsere edle Freundin machte sich Vorw¸rfe, daï¬ sie durch ihre Fragen und Anleitungen diese Bekenntnisse hervorgelockt und durch die Erinnerung die lebhaften Schmerzen des guten Mâ°dchens so grausam erneuert habe.
“Das gute GeschËpf”, so erzâ°hlte mir Natalie, “war kaum auf diesem Punkte seiner Erzâ°hlung oder vielmehr seiner Antworten auf meine steigenden Fragen, als es auf einmal vor mir niederst¸rzte und, mit der Hand am Busen, ¸ber den wiederkehrenden Schmerz jener schrecklichen Nacht sich beklagte. Es wand sich wie ein Wurm an der Erde, und ich muï¬te alle meine Fassung zusammennehmen, um die Mittel, die mir f¸r Geist und KËrper unter diesen Umstâ°nden bekannt waren, zu denken und anzuwenden.””
“Sie setzen mich in eine bâ°ngliche Lage”, rief Wilhelm, “indem Sie mich eben im Augenblicke, da ich das liebe GeschËpf wiedersehen soll, mein vielfaches Unrecht gegen dasselbe so lebhaft f¸hlen lassen. Soll ich sie sehen, warum nehmen Sie mir den Mut, ihr mit Freiheit entgegenzutreten? Und soll ich Ihnen gestehen: da ihr Gem¸t so gestimmt ist, so seh ich nicht ein, was meine Gegenwart helfen soll? Sind Sie als Arzt ¸berzeugt, daï¬ jene doppelte Sehnsucht ihre Natur so weit untergraben hat, daï¬ sie sich vom Leben abzuscheiden droht, warum soll ich durch meine Gegenwart ihre Schmerzen erneuern und vielleicht ihr Ende beschleunigen?”
“Mein Freund!” versetzte der Arzt, “wo wir nicht helfen kËnnen, sind wir doch schuldig zu lindern, und wie sehr die Gegenwart eines geliebten Gegenstandes der Einbildungskraft ihre zerstËrende Gewalt nimmt und die Sehnsucht in ein ruhiges Schauen verwandelt, davon habe ich die wichtigsten Beispiele. Alles mit Maï¬ und Ziel! Denn ebenso kann die Gegenwart eine verlËschende Leidenschaft wieder anfachen. Sehen Sie das gute Kind, betragen Sie sich freundlich, und lassen Sie uns abwarten, was daraus entsteht.”
Natalie kam eben zur¸ck und verlangte, daï¬ Wilhelm ihr zu Mignon folgen sollte. “Sie scheint mit Felix ganz gl¸cklich zu sein und wird den Freund, hoffe ich, gut empfangen.” Wilhelm folgte nicht ohne einiges Widerstreben; er war tief ger¸hrt von dem, was er vernommen hatte, und f¸rchtete eine leidenschaftliche Szene. Als er hereintrat, ergab sich gerade das Gegenteil.
Mignon im langen weiï¬en Frauengewande, teils mit lockigen, teils aufgebundenen reichen braunen Haaren, saï¬, hatte Felix auf dem Schoï¬e und dr¸ckte ihn an ihr Herz; sie sah vËllig aus wie ein abgeschiedner Geist, und der Knabe wie das Leben selbst; es schien, als wenn Himmel und Erde sich umarmten. Sie reichte Wilhelmen lâ°chelnd die Hand und sagte: “Ich danke dir, daï¬ du mir das Kind wiederbringst; sie hatten ihn, Gott weiï¬ wie, entf¸hrt, und ich konnte nicht leben zeither. Solange mein Herz auf der Erde noch etwas bedarf, soll dieser die L¸cke ausf¸llen.”
Die Ruhe, womit Mignon ihren Freund empfangen hatte, versetzte die Gesellschaft in groï¬e Zufriedenheit. Der Arzt verlangte, daï¬ Wilhelm sie Ëfters sehen und daï¬ man sie sowohl kËrperlich als geistig im Gleichgewicht erhalten sollte. Er selbst entfernte sich und versprach, in kurzer Zeit wiederzukommen.
Wilhelm konnte nun Natalien in ihrem Kreise beobachten: man hâ°tte sich nichts Besseres gew¸nscht, als neben ihr zu leben. Ihre Gegenwart hatte den reinsten Einfluï¬ auf junge Mâ°dchen und Frauenzimmer von verschiedenem Alter, die teils in ihrem Hause wohnten, teils aus der Nachbarschaft sie mehr oder weniger zu besuchen kamen.
“Der Gang Ihres Lebens”, sagte Wilhelm einmal zu ihr, “ist wohl immer sehr gleich gewesen? Denn die Schilderung, die Ihre Tante von Ihnen als Kind macht, scheint, wenn ich nicht irre, noch immer zu passen. Sie haben sich, man f¸hlt es Ihnen wohl an, nie verwirrt. Sie waren nie genËtigt, einen Schritt zur¸ck zu tun.”
“Das bin ich meinem Oheim und dem Abbe schuldig”, versetzte Natalie, “die meine Eigenheiten so gut zu beurteilen wuï¬ten. Ich erinnere mich von Jugend an kaum eines lebhaftern Eindrucks, als daï¬ ich ¸berall die Bed¸rfnisse der Menschen sah und ein un¸berwindliches Verlangen empfand, sie auszugleichen. Das Kind, das noch nicht auf seinen F¸ï¬en stehen konnte, der Alte, der sich nicht mehr auf den seinigen erhielt, das Verlangen einer reichen Familie nach Kindern, die Unfâ°higkeit einer armen, die ihrigen zu erhalten, jedes stille Verlangen nach einem Gewerbe, den Trieb zu einem Talente, die Anlagen zu hundert kleinen, notwendigen Fâ°higkeiten, diese ¸berall zu entdecken, schien mein Auge von der Natur bestimmt. Ich sah, worauf mich niemand aufmerksam gemacht hatte; ich schien aber auch nur geboren, um das zu sehen. Die Reize der leblosen Natur, f¸r die so viele Menschen â°uï¬erst empfâ°nglich sind, hatten keine Wirkung auf mich, beinah noch weniger die Reize der Kunst; meine angenehmste Empfindung war und ist es noch, wenn sich mir ein Mangel, ein Bed¸rfnis in der Welt darstellte, sogleich im Geiste einen Ersatz, ein Mittel, eine H¸lfe aufzufinden.
Sah ich einen Armen in Lumpen, so fielen mir die ¸berfl¸ssigen Kleider ein, die ich in den Schrâ°nken der Meinigen hatte hâ°ngen sehen; sah ich Kinder, die sich ohne Sorgfalt und ohne Pflege verzehrten, so erinnerte ich mich dieser oder jener Frau, der ich, bei Reichtum und Bequemlichkeit, Langeweile abgemerkt hatte; sah ich viele Menschen in einem engen Raume eingesperrt, so dachte ich, sie m¸ï¬ten in die groï¬en Zimmer mancher Hâ°user und Palâ°ste einquartiert werden. Diese Art zu sehen war bei mir ganz nat¸rlich, ohne die mindeste Reflexion, so daï¬ ich dar¸ber als Kind das wunderlichste Zeug von der Welt machte und mehr als einmal durch die sonderbarsten Antrâ°ge die Menschen in Verlegenheit setzte. Noch eine Eigenheit war es, daï¬ ich das Geld nur mit M¸he und spâ°t als ein Mittel, die Bed¸rfnisse zu befriedigen, ansehen konnte; alle meine Wohltaten bestanden in Naturalien, und ich weiï¬, daï¬ oft genug ¸ber mich gelacht worden ist. Nur der Abbe schien mich zu verstehen, er kam mir ¸berall entgegen, er machte mich mit mir selbst, mit diesen W¸nschen und Neigungen bekannt und lehrte mich sie zweckmâ°ï¬ig befriedigen.”
“Haben Sie denn”, fragte Wilhelm, “bei der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt auch die Grundsâ°tze jener sonderbaren Mâ°nner angenommen? lassen Sie denn auch jede Natur sich selbst ausbilden? lassen Sie denn auch die Ihrigen suchen und irren, Miï¬griffe tun, sich gl¸cklich am Ziele finden oder ungl¸cklich in die Irre verlieren?”
“Nein!” sagte Natalie, “diese Art, mit Menschen zu handeln, w¸rde ganz gegen meine Gesinnungen sein. Wer nicht im Augenblick hilft, scheint mir nie zu helfen; wer nicht im Augenblicke Rat gibt, nie zu raten. Ebenso nËtig scheint es mir, gewisse Gesetze auszusprechen und den Kindern einzuschâ°rfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben. Ja, ich mËchte beinah behaupten: es sei besser, nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willk¸r unserer Natur hin und her treibt; und wie ich die Menschen sehe, scheint mir in ihrer Natur immer eine L¸cke zu bleiben, die nur durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz ausgef¸llt werden kann.”
“So ist also Ihre Handlungsweise”, sagte Wilhelm, “vËllig von jener verschieden, welche unsere Freunde beobachten?”
“Ja!” versetzte Natalie, “Sie kËnnen aber hieraus die unglaubliche Toleranz jener Mâ°nner sehen, daï¬ sie eben auch mich auf meinem Wege, gerade deswegen, weil es mein Weg ist, keinesweges stËren, sondern mir in allem, was ich nur w¸nschen kann, entgegenkommen.”
Einen umstâ°ndlichern Bericht, wie Natalie mit ihren Kindern verfuhr, versparen wir auf eine andere Gelegenheit.
Mignon verlangte oft, in der Gesellschaft zu sein, und man vergËnnte es ihr um so lieber, als sie sich nach und nach wieder an Wilhelmen zu gewËhnen, ihr Herz gegen ihn aufzuschlieï¬en und ¸berhaupt heiterer und lebenslustiger zu werden schien. Sie hing sich beim Spazierengehen, da sie leicht m¸de ward, gern an seinen Arm. “Nun”, sagte sie, “Mignon klettert und springt nicht mehr, und doch f¸hlt sie noch immer die Begierde, ¸ber die Gipfel der Berge wegzuspazieren, von einem Hause aufs andere, von einem Baume auf den andern zu schreiten. Wie beneidenswert sind die VËgel, besonders wenn sie so artig und vertraulich ihre Nester bauen.”
Es ward nun bald zur Gewohnheit, daï¬ Mignon ihren Freund mehr als einmal in den Garten lud. War dieser beschâ°ftigt oder nicht zu finden, so muï¬te Felix die Stelle vertreten, und wenn das gute Mâ°dchen in manchen Augenblicken ganz von der Erde los schien, so hielt sie sich in andern gleichsam wieder fest an Vater und Sohn und schien eine Trennung von diesen mehr als alles zu f¸rchten.
Natalie schien nachdenklich. “Wir haben gew¸nscht, durch Ihre Gegenwart”, sagte sie, “das arme gute Herz wieder aufzuschlieï¬en; ob wir wohlgetan haben, weiï¬ ich nicht.” Sie schwieg und schien zu erwarten, daï¬ Wilhelm etwas sagen sollte. Auch fiel ihm ein, daï¬ durch seine Verbindung mit Theresen Mignon unter den gegenwâ°rtigen Umstâ°nden aufs â°uï¬erste gekrâ°nkt werden m¸sse, allein er getraute sich in seiner Ungewiï¬heit nichts von diesem Vorhaben zu sprechen, er vermutete nicht, daï¬ Natalie davon unterrichtet sei.
Ebensowenig konnte er mit Freiheit des Geistes die Unterredung verfolgen, wenn seine edle Freundin von ihrer Schwester sprach, ihre guten Eigenschaften r¸hmte und ihren Zustand bedauerte. Er war nicht wenig verlegen, als Natalie ihm ank¸ndigte, daï¬ er die Grâ°fin bald hier sehen werde. “Ihr Gemahl”, sagte sie, “hat nun keinen andern Sinn, als den abgeschiedenen Grafen in der Gemeinde zu ersetzen, durch Einsicht und Tâ°tigkeit diese groï¬e Anstalt zu unterst¸tzen und weiter aufzubauen. Er kommt mit ihr zu uns, um eine Art von Abschied zu nehmen; er wird nachher die verschiedenen Orte besuchen, wo die Gemeinde sich niedergelassen hat; man scheint ihn nach seinen W¸nschen zu behandeln, und fast glaub ich, er wagt mit meiner armen Schwester eine Reise nach Amerika, um ja seinem Vorgâ°nger recht â°hnlich zu werden; und da er einmal schon beinah ¸berzeugt ist, daï¬ ihm nicht viel fehle, ein Heiliger zu sein, so mag ihm der Wunsch manchmal vor der Seele schweben, womËglich zuletzt auch noch als Mâ°rtyrer zu glâ°nzen.”
VIII. Buch, 4. Kapitel
Viertes Kapitel
Oft genug hatte man bisher von Frâ°ulein Therese gesprochen, oft genug ihrer im Vorbeigehen erwâ°hnt, und fast jedesmal war Wilhelm im Begriff, seiner neuen Freundin zu bekennen, daï¬ er jenem trefflichen Frauenzimmer sein Herz und seine Hand angeboten habe. Ein gewisses Gef¸hl, das er sich nicht erklâ°ren konnte, hielt ihn zur¸ck; er zauderte so lange, bis endlich Natalie selbst mit dem himmlischen, bescheidnen, heitern Lâ°cheln, das man an ihr zu sehen gewohnt war, zu ihm sagte: “So muï¬ ich denn doch zuletzt das Stillschweigen brechen und mich in Ihr Vertrauen gewaltsam eindrâ°ngen! Warum machen Sie mir ein Geheimnis, mein Freund, aus einer Angelegenheit, die Ihnen so wichtig ist und die mich selbst so nahe angeht? Sie haben meiner Freundin Ihre Hand angeboten; ich mische mich nicht ohne Beruf in diese Sache, hier ist meine Legitimation! hier ist der Brief, den sie Ihnen schreibt, den sie durch mich Ihnen sendet.”
“Einen Brief von Theresen!” rief er aus.
“Ja, mein Herr! und Ihr Schicksal ist entschieden, Sie sind gl¸cklich. Lassen Sie mich Ihnen und meiner Freundin Gl¸ck w¸nschen.”
Wilhelm verstummte und sah vor sich hin. Natalie sah ihn an; sie bemerkte, daï¬ er blaï¬ ward. “Ihre Freude ist stark”, fuhr sie fort, “sie nimmt die Gestalt des Schreckens an, sie raubt Ihnen die Sprache. Mein Anteil ist darum nicht weniger herzlich, weil er mich noch zum Worte kommen lâ°ï¬t. Ich hoffe, Sie werden dankbar sein, denn ich darf Ihnen sagen: mein Einfluï¬ auf Theresens Entschlieï¬ung war nicht gering; sie fragte mich um Rat, und sonderbarerweise waren Sie eben hier, ich konnte die wenigen Zweifel, die meine Freundin noch hegte, gl¸cklich besiegen, die Boten gingen lebhaft hin und wider; hier ist ihr Entschluï¬! hier ist die Entwickelung! Und nun sollen Sie alle ihre Briefe lesen, Sie sollen in das schËne Herz Ihrer Braut einen freien, reinen Blick tun.”
Wilhelm entfaltete das Blatt, das sie ihm unversiegelt ¸berreichte; es enthielt die freundlichen Worte:
“Ich bin die Ihre, wie ich bin und wie Sie mich kennen. Ich nenne Sie den Meinen, wie Sie sind und wie ich Sie kenne. Was an uns selbst, was an unsern Verhâ°ltnissen der Ehestand verâ°ndert, werden wir durch Vernunft, frohen Mut und guten Willen zu ¸bertragen wissen. Da uns keine Leidenschaft, sondern Neigung und Zutrauen zusammenf¸hrt, so wagen wir weniger als tausend andere. Sie verzeihen mir gewiï¬, wenn ich mich manchmal meines alten Freundes herzlich erinnere; daf¸r will ich Ihren Sohn als Mutter an meinen Busen dr¸cken. Wollen Sie mein kleines Haus sogleich mit mir teilen, so sind Sie Herr und Meister, indessen wird der Gutskauf abgeschlossen. Ich w¸nschte, daï¬ dort keine neue Einrichtung ohne mich gemacht w¸rde, um sogleich zu zeigen, daï¬ ich das Zutrauen verdiene, das Sie mir schenken. Leben Sie wohl, lieber, lieber Freund! geliebter Brâ°utigam, verehrter Gatte! Therese dr¸ckt Sie an ihre Brust mit Hoffnung und Lebensfreude. Meine Freundin wird Ihnen mehr, wird Ihnen alles sagen.”
Wilhelm, dem dieses Blatt seine Therese wieder vËllig vergegenwâ°rtigt hatte, war auch wieder vËllig zu sich selbst gekommen. Unter dem Lesen wechselten die schnellsten Gedanken in seiner Seele. Mit Entsetzen fand er lebhafte Spuren einer Neigung gegen Natalien in seinem Herzen; er schalt sich, er erklâ°rte jeden Gedanken der Art f¸r Unsinn, er stellte sich Theresen in ihrer ganzen Vollkommenheit vor, er las den Brief wieder, er ward heiter, oder vielmehr er erholte sich so weit, daï¬ er heiter scheinen konnte. Natalie legte ihm die gewechselten Briefe vor, aus denen wir einige Stellen ausziehen wollen.
Nachdem Therese ihren Brâ°utigam nach ihrer Art geschildert hatte, fuhr sie fort:
“So stelle ich mir den Mann vor, der mir jetzt seine Hand anbietet. Wie er von sich selbst denkt, wirst du k¸nftig aus den Papieren sehen, in welchen er sich mir ganz offen beschreibt; ich bin ¸berzeugt, daï¬ ich mit ihm gl¸cklich sein werde.”
“Was den Stand betrifft, so weiï¬t du, wie ich von jeher dr¸ber gedacht habe. Einige Menschen f¸hlen die Miï¬verhâ°ltnisse der â°uï¬ern Zustâ°nde f¸rchterlich und kËnnen sie nicht ¸bertragen. Ich will niemanden ¸berzeugen, so wie ich nach meiner ¸berzeugung handeln will. Ich denke kein Beispiel zu geben, wie ich doch nicht ohne Beispiel handle. Mich â°ngstigen nur die innern Miï¬verhâ°ltnisse, ein Gefâ°ï¬, das sich zu dem, was es enthalten soll, nicht schickt; viel Prunk und wenig Genuï¬, Reichtum und Geiz, Adel und Roheit, Jugend und Pedanterei, Bed¸rfnis und Zeremonien, diese Verhâ°ltnisse wâ°ren’s, die mich vernichten kËnnten, die Welt mag sie stempeln und schâ°tzen, wie sie will.”
“Wenn ich hoffe, daï¬ wir zusammen passen werden, so gr¸nde ich meinen Ausspruch vorz¸glich darauf, daï¬ er dir, liebe Natalie, die ich so unendlich schâ°tze und verehre, daï¬ er dir â°hnlich ist. Ja, er hat von dir das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen. Wie oft habe ich dich nicht im stillen getadelt, daï¬ du diesen oder jenen Menschen anders behandeltest, daï¬ du in diesem oder jenem Fall dich anders betrugst, als ich w¸rde getan haben, und doch zeigte der Ausgang meist, daï¬ du recht hattest. “Wenn wir”, sagtest du, “die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wâ°ren sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.” Ich kann weder so sehen noch handeln, das weiï¬ ich recht gut. Einsicht, Ordnung, Zucht, Befehl, das ist meine Sache. Ich erinnere mich noch wohl, was Jarno sagte: “Therese dressiert ihre ZËglinge, Natalie bildet sie.” Ja, er ging so weit, daï¬ er mir einst die drei schËnen Eigenschaften: Glaube, Liebe und Hoffnung vËllig absprach. “Statt des Glaubens”, sagte er, “hat sie die Einsicht, statt der Liebe die Beharrlichkeit und statt der Hoffnung das Zutrauen.” Auch will ich dir gerne gestehen, eh ich dich kannte, kannte ich nichts HËheres in der Welt als Klarheit und Klugheit; nur deine Gegenwart hat mich ¸berzeugt, belebt, ¸berwunden, und deiner schËnen, hohen Seele tret ich gerne den Rang ab. Auch meinen Freund verehre ich in ebendemselben Sinn; seine Lebensbeschreibung ist ein ewiges Suchen und Nichtfinden; aber nicht das leere Suchen, sondern das wunderbare, gutm¸tige Suchen begabt ihn, er wâ°hnt, man kËnne ihm das geben, was nur von ihm kommen kann. So, meine Liebe, schadet mir auch diesmal meine Klarheit nichts; ich kenne meinen Gatten besser, als er sich selbst kennt, und ich achte ihn nur um desto mehr. Ich sehe ihn, aber ich ¸bersehe ihn nicht, und alle meine Einsicht reicht nicht hin zu ahnen, was er wirken kann. Wenn ich an ihn denke, vermischt sich sein Bild immer mit dem deinigen, und ich weiï¬ nicht, wie ich es wert bin, zwei solchen Menschen anzugehËren. Aber ich will es wert sein dadurch, daï¬ ich meine Pflicht tue, dadurch, daï¬ ich erf¸lle, was man von mir erwarten und hoffen kann.”
“Ob ich Lotharios gedenke? Lebhaft und tâ°glich. Ihn kann ich in der Gesellschaft, die mich im Geiste umgibt, nicht einen Augenblick missen. O wie bedaure ich den trefflichen Mann, der durch einen Jugendfehler mit mir verwandt ist, daï¬ die Natur ihn dir so nahe gewollt hat. Wahrlich, ein Wesen wie du wâ°re seiner mehr wert als ich. Dir kËnnt ich, dir m¸ï¬t ich ihn abtreten. Laï¬ uns ihm sein, was nur mËglich ist, bis er eine w¸rdige Gattin findet, und auch dann laï¬ uns zusammen sein und zusammen bleiben.”
“Was werden nun aber unsre Freunde sagen?” begann Natalie.–“Ihr Bruder weiï¬ nichts davon?”–“Nein! sowenig als die Ihrigen, die Sache ist diesmal nur unter uns Weibern verhandelt worden. Ich weiï¬ nicht, was Lydie Theresen f¸r Grillen in den Kopf gesetzt hat; sie scheint dem Abbe und Jarno zu miï¬trauen. Lydie hat ihr gegen gewisse geheime Verbindungen und Plane, von denen ich wohl im allgemeinen weiï¬, in die ich aber niemals einzudringen gedachte, wenigstens einigen Argwohn eingeflËï¬t, und bei diesem entscheidenden Schritt ihres Lebens wollte sie niemand als mir einigen Einfluï¬ verstatten. Mit meinem Bruder war sie schon fr¸her ¸bereingekommen, daï¬ sie sich wechselsweise ihre Heirat nur melden, sich dar¸ber nicht zu Rate ziehen wollten.”
Natalie schrieb nun einen Brief an ihren Bruder, sie lud Wilhelmen ein, einige Worte dazuzusetzen, Therese hatte sie darum gebeten. Man wollte eben siegeln, als Jarno sich unvermutet anmelden lieï¬. Aufs freundlichste ward er empfangen, auch schien er sehr munter und scherzhaft und konnte endlich nicht unterlassen, zu sagen: “Eigentlich komme ich hieher, um Ihnen eine sehr wunderbare, doch angenehme Nachricht zu bringen; sie betrifft unsere Therese. Sie haben uns manchmal getadelt, schËne Natalie, daï¬ wir uns um so vieles bek¸mmern; nun aber sehen Sie, wie gut es ist, ¸berall seine Spione zu haben. Raten Sie, und lassen Sie uns einmal Ihre Sagazitâ°t sehen!”
Die Selbstgefâ°lligkeit, womit er diese Worte aussprach, die schalkhafte Miene, womit er Wilhelmen und Natalien ansah, ¸berzeugten beide, daï¬ ihr Geheimnis entdeckt sei. Natalie antwortete lâ°chelnd: “Wir sind viel k¸nstlicher, als Sie denken, wir haben die AuflËsung des Râ°tsels, noch ehe es uns aufgegeben wurde, schon zu Papiere gebracht.”
Sie ¸berreichte ihm mit diesen Worten den Brief an Lothario und war zufrieden, der kleinen ¸berraschung und Beschâ°mung, die man ihnen zugedacht hatte, auf diese Weise zu begegnen. Jarno nahm das Blatt mit einiger Verwunderung, ¸berlief es nur, staunte, lieï¬ es aus der Hand sinken und sah sie beide mit groï¬en Augen, mit einem Ausdruck der ¸berraschung, ja des Entsetzens an, den man auf seinem Gesichte nicht gewohnt war. Er sagte kein Wort.
Wilhelm und Natalie waren nicht wenig betroffen, Jarno ging in der Stube auf und ab. “Was soll ich sagen?” rief er aus, “oder soll ich’s sagen? Es kann kein Geheimnis bleiben, die Verwirrung ist nicht zu vermeiden. Also denn Geheimnis gegen Geheimnis! ¸berraschung gegen ¸berraschung! Therese ist nicht die Tochter ihrer Mutter! Das Hindernis ist gehoben: ich komme hierher, Sie zu bitten, das edle Mâ°dchen zu einer Verbindung mit Lothario vorzubereiten.”
Jarno sah die Best¸rzung der beiden Freunde, welche die Augen zur Erde niederschlugen. “Dieser Fall ist einer von denen”, sagte er, “die sich in Gesellschaft am schlechtesten ertragen lassen. Was jedes dabei zu denken hat, denkt es am besten in der Einsamkeit; ich wenigstens erbitte mir auf eine Stunde Urlaub.” Er eilte in den Garten, Wilhelm folgte ihm mechanisch, aber in der Ferne.
Nach Verlauf einer Stunde fanden sie sich wieder zusammen. Wilhelm nahm das Wort und sagte: “Sonst, da ich ohne Zweck und Plan leicht, ja leichtfertig lebte, kamen mir Freundschaft, Liebe, Neigung, Zutrauen mit offenen Armen entgegen, ja sie drâ°ngten sich zu mir; jetzt, da es Ernst wird, scheint das Schicksal mit mir einen andern Weg zu nehmen. Der Entschluï¬, Theresen meine Hand anzubieten, ist vielleicht der erste, der ganz rein aus mir selbst kommt. Mit ¸berlegung machte ich meinen Plan, meine Vernunft war vËllig damit einig, und durch die Zusage des trefflichen Mâ°dchens wurden alle meine Hoffnungen erf¸llt. Nun dr¸ckt das sonderbarste Geschick meine ausgestreckte Hand nieder. Therese reicht mir die ihrige von ferne, wie im Traume, ich kann sie nicht fassen, und das schËne Bild verlâ°ï¬t mich auf ewig. So lebe denn wohl, du schËnes Bild! und ihr Bilder der reichsten Gl¸ckseligkeit, die ihr euch darum her versammelt!”
Er schwieg einen Augenblick still, sah vor sich hin, und Jarno wollte reden. “Lassen Sie mich noch etwas sagen”, fiel Wilhelm ihm ein; “denn um mein ganzes Geschick wird ja doch diesmal das Los geworfen. In diesem Augenblick kommt mir der Eindruck zu H¸lfe, den Lotharios Gegenwart beim ersten Anblick mir einprâ°gte und der mir bestâ°ndig geblieben ist. Dieser Mann verdient jede Art von Neigung und Freundschaft, und ohne Aufopferung lâ°ï¬t sich keine Freundschaft denken. Um seinetwillen war es mir leicht, ein ungl¸ckliches Mâ°dchen zu betËren, um seinetwillen soll mir mËglich werden, der w¸rdigsten Braut zu entsagen. Gehen Sie hin, erzâ°hlen Sie ihm die sonderbare Geschichte, und sagen Sie ihm, wozu ich bereit bin.”
Jarno versetzte hierauf: “In solchen Fâ°llen, halte ich daf¸r ist schon alles getan, wenn man sich nur nicht ¸bereilt. Lassen Sie uns keinen Schritt ohne Lotharios Einwilligung tun! Ich will zu ihm, erwarten Sie meine Zur¸ckkunft oder seine Briefe ruhig.”
Er ritt weg und hinterlieï¬ die beiden Freunde in der grËï¬ten Wehmut. Sie hatten Zeit, sich diese Begebenheit auf mehr als eine Weise zu wiederholen und ihre Bemerkungen dar¸ber zu machen. Nun fiel es ihnen erst auf, daï¬ sie diese wunderbare Erklâ°rung so gerade von Jarno angenommen und sich nicht um die nâ°hern Umstâ°nde erkundigt hatten. Ja Wilhelm wollte sogar einigen Zweifel hegen; aber aufs hËchste stieg ihr Erstaunen, ja ihre Verwirrung, als den andern Tag ein Bote von Theresen ankam, der folgenden sonderbaren Brief an Natalien mitbrachte:
“So seltsam es auch scheinen mag, so muï¬ ich doch meinem vorigen Briefe sogleich noch einen nachsenden und dich ersuchen, mir meinen Brâ°utigam eilig zu schicken. Er soll mein Gatte werden, was man auch f¸r Plane macht, mir ihn zu rauben. Gib ihm inliegenden Brief! Nur vor keinem Zeugen, es mag gegenwâ°rtig sein, wer will.”
Der Brief an Wilhelmen enthielt folgendes: “Was werden Sie von Ihrer Therese denken, wenn sie auf einmal leidenschaftlich auf eine Verbindung dringt, die der ruhigste Verstand nur eingeleitet zu haben schien? Lassen Sie sich durch nichts abhalten, gleich nach dem Empfang des Briefes abzureisen. Kommen Sie, lieber, lieber Freund, nun dreifach Geliebter, da man mir Ihren Besitz rauben oder wenigstens erschweren will.”
“Was ist zu tun?” rief Wilhelm aus, als er diesen Brief gelesen hatte.
“Noch in keinem Fall”, versetzte Natalie nach einigem Nachdenken, “hat mein Herz und mein Verstand so geschwiegen als in diesem; ich w¸ï¬te nichts zu tun, so wie ich nichts zu raten weiï¬.”
“Wâ°re es mËglich?” rief Wilhelm mit Heftigkeit aus, “daï¬ Lothario selbst nichts davon w¸ï¬te, oder wenn er davon weiï¬, daï¬ er mit uns das Spiel versteckter Plane wâ°re? Hat Jarno, indem er unsern Brief gesehen, das Mâ°rchen aus dem Stegreife erfunden? W¸rde er uns was anders gesagt haben, wenn wir nicht zu voreilig gewesen wâ°ren? Was kann man wollen? Was f¸r Absichten kann man haben? Was kann Therese f¸r einen Plan meinen? Ja, es lâ°ï¬t sich nicht leugnen, Lothario ist von geheimen Wirkungen und Verbindungen umgeben, ich habe selbst erfahren, daï¬ man tâ°tig ist, daï¬ man sich in einem gewissen Sinne um die Handlungen, um die Schicksale mehrerer Menschen bek¸mmert und sie zu leiten weiï¬. Von den Endzwecken dieser Geheimnisse verstehe ich nichts, aber diese neueste Absicht, mir Theresen zu entreiï¬en, sehe ich nur allzu deutlich. Auf einer Seite malt man mir das mËgliche Gl¸ck Lotharios, vielleicht nur zum Scheine, vor; auf der andern sehe ich meine Geliebte, meine verehrte Braut, die mich an ihr Herz ruft. Was soll ich tun? Was soll ich unterlassen?”
“Nur ein wenig Geduld!” sagte Natalie, “nur eine kurze Bedenkzeit! In dieser sonderbaren Verkn¸pfung weiï¬ ich nur so viel, daï¬ wir das, was unwiederbringlich ist, nicht ¸bereilen sollen. Gegen ein Mâ°rchen, gegen einen k¸nstlichen Plan stehen Beharrlichkeit und Klugheit uns bei; es muï¬ sich bald aufklâ°ren, ob die Sache wahr oder ob sie erfunden ist. Hat mein Bruder wirklich Hoffnung, sich mit Theresen zu verbinden, so wâ°re es grausam, ihm ein Gl¸ck auf ewig zu entreiï¬en in dem Augenblicke, da es ihm so freundlich erscheint. Lassen Sie uns nur abwarten, ob er etwas davon weiï¬, ob er selbst glaubt, ob er selbst hofft.”
Diesen Gr¸nden ihres Rats kam gl¸cklicherweise ein Brief von Lothario zu H¸lfe: “Ich schicke Jarno nicht wieder zur¸ck”, schrieb er; “von meiner Hand eine Zeile ist dir mehr als die umstâ°ndlichsten Worte eines Boten. Ich bin gewiï¬, daï¬ Therese nicht die Tochter ihrer Mutter ist, und ich kann die Hoffnung, sie zu besitzen, nicht aufgeben, bis sie auch ¸berzeugt ist und alsdann zwischen mir und dem Freunde mit ruhiger ¸berlegung entscheidet. Laï¬ ihn, ich bitte dich, nicht von deiner Seite! Das Gl¸ck, das Leben eines Bruders hâ°ngt davon ab. Ich verspreche dir, diese Ungewiï¬heit soll nicht lange dauern.”
“Sie sehen, wie die Sache steht”, sagte sie freundlich zu Wilhelmen; “geben Sie mir Ihr Ehrenwort, nicht aus dem Hause zu gehen.”
“Ich gebe es!” rief er aus, indem er ihr die Hand reichte, “ich will dieses Haus wider Ihren Willen nicht verlassen. Ich danke Gott und meinem guten Geist, daï¬ ich diesmal geleitet werde, und zwar von Ihnen.”
Natalie schrieb Theresen den ganzen Verlauf und erklâ°rte, daï¬ sie ihren Freund nicht von sich lassen werde; sie schickte zugleich Lotharios Brief mit.
Therese antwortete: “Ich bin nicht wenig verwundert, daï¬ Lothario selbst ¸berzeugt ist, denn gegen seine Schwester wird er sich nicht auf diesen Grad verstellen. Ich bin verdrieï¬lich, sehr verdrieï¬lich. Es ist besser, ich sage nichts weiter. Am besten ist’s, ich komme zu dir, wenn ich nur erst die arme Lydie untergebracht habe, mit der man grausam umgeht. Ich f¸rchte, wir sind alle betrogen und werden so betrogen, um nie ins klare zu kommen. Wenn der Freund meinen Sinn hâ°tte, so entschl¸pfte er dir doch und w¸rfe sich an das Herz seiner Therese, die ihm dann niemand entreiï¬en sollte; aber ich f¸rchte, ich soll ihn verlieren und Lothario nicht wiedergewinnen. Diesem entreiï¬t man Lydien, indem man ihm die Hoffnung, mich besitzen zu kËnnen, von weitem zeigt. Ich will nichts weiter sagen, die Verwirrung wird noch grËï¬er werden. Ob nicht indessen die schËnsten Verhâ°ltnisse so verschoben, so untergraben und so zerr¸ttet werden, daï¬ auch dann, wenn alles im klaren sein wird, doch nicht wieder zu helfen ist, mag die Zeit lehren. Reiï¬t sich mein Freund nicht los, so komme ich in wenigen Tagen, um ihn bei dir aufzusuchen und festzuhalten. Du wunderst dich, wie diese Leidenschaft sich deiner Therese bemâ°chtiget hat. Es ist keine Leidenschaft, es ist ¸berzeugung, daï¬, da Lothario nicht mein werden konnte, dieser neue Freund das Gl¸ck meines Lebens machen wird. Sag ihm das im Namen des kleinen Knaben, der mit ihm unter der Eiche saï¬ und sich seiner Teilnahme freute! Sag ihm das im Namen Theresens, die seinem Antrage mit einer herzlichen Offenheit entgegenkam! Mein erster Traum, wie ich mit Lothario leben w¸rde, ist weit von meiner Seele wegger¸ckt; der Traum, wie ich mit meinem neuen Freund zu leben gedachte, steht noch ganz gegenwâ°rtig vor mir. Achtet man mich so wenig, daï¬ man glaubt, es sei so was Leichtes, diesen mit jenem aus dem Stegreife wieder umzutauschen?”
“Ich verlasse mich auf Sie”, sagte Natalie zu Wilhelmen, indem sie ihm den Brief Theresens gab; “Sie entfliehen mir nicht. Bedenken Sie, daï¬ Sie das Gl¸ck meines Lebens in Ihrer Hand haben! Mein Dasein ist mit dem Dasein meines Bruders so innig verbunden und verwurzelt, daï¬ er keine Schmerzen f¸hlen kann, die ich nicht empfinde, keine Freude, die nicht auch mein Gl¸ck macht. Ja ich kann wohl sagen, daï¬ ich allein durch ihn empfunden habe, daï¬ das Herz ger¸hrt und erhoben, daï¬ auf der Welt Freude, Liebe und ein Gef¸hl sein kann, das ¸ber alles Bed¸rfnis hinaus befriedigt.”
Sie hielt inne, Wilhelm nahm ihre Hand und rief: “O fahren Sie fort! Es ist die rechte Zeit zu einem wahren, wechselseitigen Vertrauen; wir haben nie nËtiger gehabt, uns genauer zu kennen.”
“Ja, mein Freund!” sagte sie lâ°chelnd mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Hoheit, “es ist vielleicht nicht auï¬er der Zeit, wenn ich Ihnen sage, daï¬ alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Mâ°rchen erschienen sei.”
“Sie haben nicht geliebt?” rief Wilhelm aus.
“Nie oder immer!” versetzte Natalie.
VIII. Buch, 5. Kapitel–1
F¸nftes Kapitel
Sie waren unter diesem Gesprâ°ch im Garten auf und ab gegangen, Natalie hatte verschiedene Blumen von seltsamer Gestalt gebrochen, die Wilhelmen vËllig unbekannt waren und nach deren Namen er fragte.
“Sie vermuten wohl nicht”, sagte Natalie, “f¸r wen ich diesen Strauï¬ pfl¸cke? Er ist f¸r meinen Oheim bestimmt, dem wir einen Besuch machen wollen. Die Sonne scheint eben so lebhaft nach dem Saale der Vergangenheit, ich muï¬ Sie diesen Augenblick hineinf¸hren, und ich gehe niemals hin, ohne einige von den Blumen, die mein Oheim besonders beg¸nstigte, mitzubringen. Er war ein sonderbarer Mann und der eigensten Eindr¸cke fâ°hig. F¸r gewisse Pflanzen und Tiere, f¸r gewisse Menschen und Gegenden, ja sogar zu einigen Steinarten hatte er eine entschiedene Neigung, die selten erklâ°rlich war. “Wenn ich nicht”, pflegte er oft zu sagen, “mir von Jugend auf so sehr widerstanden hâ°tte, wenn ich nicht gestrebt hâ°tte, meinen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wâ°re ich der beschrâ°nkteste und unertrâ°glichste Mensch geworden: denn nichts ist unertrâ°glicher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine, gehËrige Tâ°tigkeit fordern kann.” Und doch muï¬te er selbst gestehen, daï¬ ihm gleichsam Leben und Atem ausgehen w¸rde, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit nachsâ°he und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu genieï¬en, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte. “Meine Schuld ist es nicht”, sagte er, “wenn ich meine Triebe und meine Vernunft nicht vËllig habe in Einstimmung bringen kËnnen.” Bei solchen Gelegenheiten pflegte er meist ¸ber mich zu scherzen und zu sagen: Natalien kann man bei Leibesleben seligpreisen, da ihre Natur nichts fordert, als was die Welt w¸nscht und braucht.””
Unter diesen Worten waren sie wieder in das Hauptgebâ°ude gelangt. Sie f¸hrte ihn durch einen gerâ°umigen Gang auf eine T¸re zu, vor der zwei Sphinxe von Granit lagen. Die T¸re selbst war auf â°gyptische Weise oben ein wenig enger als unten, und ihre ehernen Fl¸gel bereiteten zu einem ernsthaften, ja zu einem schauerlichen Anblick vor. Wie angenehm ward man daher ¸berrascht, als diese Erwartung sich in die reinste Heiterkeit auflËste, indem man in einen Saal trat, in welchem Kunst und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab aufhoben. In die Wâ°nde waren verhâ°ltnismâ°ï¬ige Bogen vertieft, in denen grËï¬ere Sarkophagen standen; in den Pfeilern dazwischen sah man kleinere Ëffnungen, mit Aschenkâ°stchen und Gefâ°ï¬en geschm¸ckt; die ¸brigen Flâ°chen der Wâ°nde und des GewËlbes sah man regelmâ°ï¬ig abgeteilt und zwischen heitern und mannigfaltigen Einfassungen, Krâ°nzen und Zieraten heitere und bedeutende Gestalten in Feldern von verschiedener GrËï¬e gemalt. Die architektonischen Glieder waren mit dem schËnen gelben Marmor, der ins RËtliche hin¸berblickt, bekleidet, hellblaue Streifen von einer gl¸cklichen chemischen Komposition ahmten den Lasurstein nach und gaben, indem sie gleichsam in einem Gegensatz das Auge befriedigten, dem Ganzen Einheit und Verbindung. Alle diese Pracht und Zierde stellte sich in reinen architektonischen Verhâ°ltnissen dar, und so schien jeder, der hineintrat, ¸ber sich selbst erhoben zu sein, indem er durch die zusammentreffende Kunst erst erfuhr, was der Mensch sei und was er sein kËnne.
Der T¸re gegen¸ber sah man auf einem prâ°chtigen Sarkophagen das Marmorbild eines w¸rdigen Mannes, an ein Polster gelehnt. Er hielt eine Rolle vor sich und schien mit stiller Aufmerksamkeit daraufzublicken. Sie war so gerichtet, daï¬ man die Worte, die sie enthielt, bequem lesen konnte. Es stand darauf: “Gedenke zu leben!”
Natalie, indem sie einen verwelkten Strauï¬ wegnahm, legte den frischen vor das Bild des Oheims; denn er selbst war in der Figur vorgestellt, und Wilhelm glaubte sich noch der Z¸ge des alten Herrn zu erinnern, den er damals im Walde gesehen hatte. “Hier brachten wir manche Stunde zu”, sagte Natalie, “bis dieser Saal fertig war. In seinen letzten Jahren hatte er einige geschickte K¸nstler an sich gezogen, und seine beste Unterhaltung war, die Zeichnungen und Kartone zu diesen Gemâ°lden aussinnen und bestimmen zu helfen.”
Wilhelm konnte sich nicht genug der Gegenstâ°nde freuen, die ihn umgaben. “Welch ein Leben”, rief er aus, “in diesem Saale der Vergangenheit! Man kËnnte ihn ebensogut den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen. So war alles, und so wird alles sein! Nichts ist vergâ°nglich als der eine, der genieï¬t und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz dr¸ckt, wird viele Generationen gl¸cklicher M¸tter ¸berleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein Vater dieses bâ°rtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem Sohne neckt. So verschâ°mt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei ihren stillen W¸nschen noch bed¸rfen, daï¬ man sie trËste, daï¬ man ihr zurede; so ungeduldig wird der Brâ°utigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten darf.”
Wilhelms Augen schweiften auf unzâ°hlige Bilder umher. Vom ersten frohen Triebe der Kindheit, jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu ¸ben, bis zum ruhigen, abgeschiedenen Ernste des Weisen konnte man in schËner, lebendiger Folge sehen, wie der Mensch keine angeborne Neigung und Fâ°higkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen. Von dem ersten zarten Selbstgef¸hl, wenn das Mâ°dchen verweilt, den Krug aus dem klaren Wasser wieder heraufzuheben, und indessen ihr Bild gefâ°llig betrachtet, bis zu jenen hohen Feierlichkeiten, wenn KËnige und VËlker zu Zeugen ihrer Verbindungen die GËtter am Altare anrufen, zeigte sich alles bedeutend und krâ°ftig.
Es war eine Welt, es war ein Himmel, der den Beschauenden an dieser Stâ°tte umgab, und auï¬er den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten erregten, auï¬er den Empfindungen, welche sie einflËï¬ten, schien noch etwas andres gegenwâ°rtig zu sein, wovon der ganze Mensch sich angegriffen f¸hlte. Auch Wilhelm bemerkte es, ohne sich davon Rechenschaft geben zu kËnnen. “Was ist das”, rief er aus, “das, unabhâ°ngig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgef¸hl, das uns menschliche Begebenheiten und Schicksale einflËï¬en, so stark und zugleich so anmutig auf mich zu wirken vermag? Es spricht aus dem Ganzen, es spricht aus jedem Teile mich an, ohne daï¬ ich jenes begreifen, ohne daï¬ ich diese mir besonders zueignen kËnnte! Welchen Zauber ahn ich in diesen Flâ°chen, diesen Linien, diesen HËhen und Breiten, diesen Massen und Farben! Was ist es, das diese Figuren, auch nur obenhin betrachtet, schon als Zierat so erfreulich macht? Ja, ich f¸hle, man kËnnte hier verweilen, ruhen, alles mit den Augen fassen, sich gl¸cklich finden und ganz etwas andres f¸hlen und denken als das, was vor Augen steht.”
Und gewiï¬, kËnnten wir beschreiben, wie gl¸cklich alles eingeteilt war, wie an Ort und Stelle durch Verbindung oder Gegensatz, durch Einfâ°rbigkeit oder Buntheit alles bestimmt, so und nicht anders erschien, als es erscheinen sollte, und eine so vollkommene als deutliche Wirkung hervorbrachte, so w¸rden wir den Leser an einen Ort versetzen, von dem er sich so bald nicht zu entfernen w¸nschte.
Vier groï¬e marmorne Kandelaber standen in den Ecken des Saals, vier kleinere in der Mitte um einen sehr schËn gearbeiteten Sarkophag, der seiner GrËï¬e nach eine junge Person von mittlerer Gestalt konnte enthalten haben.
Natalie blieb bei diesem Monumente stehen, und indem sie die Hand darauflegte, sagte sie: “Mein guter Oheim hatte groï¬e Vorliebe zu diesem Werke des Altertums. Er sagte manchmal: “Nicht allein die ersten Bl¸ten fallen ab, die ihr da oben in jenen kleinen Râ°umen verwahren kËnnt, sondern auch Fr¸chte, die am Zweige hâ°ngend uns noch lange die schËnste Hoffnung geben, indes ein heimlicher Wurm ihre fr¸here Reife und ihre ZerstËrung vorbereitet.” Ich f¸rchte”, fuhr sie fort, “er hat auf das liebe Mâ°dchen geweissagt, das sich unserer Pflege nach und nach zu entziehen und zu dieser ruhigen Wohnung zu neigen scheint.”
Als sie im Begriff waren wegzugehn, sagte Natalie: “Ich muï¬ Sie noch auf etwas aufmerksam machen. Bemerken Sie diese halbrunden Ëffnungen in der HËhe auf beiden Seiten! Hier kËnnen die ChËre der Sâ°nger verborgen stehen, und diese ehrnen Zieraten unter dem Gesimse dienen, die Teppiche zu befestigen, die nach der Verordnung meines Oheims bei jeder Bestattung aufgehâ°ngt werden sollen. Er konnte nicht ohne Musik, besonders nicht ohne Gesang leben und hatte dabei die Eigenheit, daï¬ er die Sâ°nger nicht sehen wollte. Er pflegte zu sagen: “Das Theater verwËhnt uns gar zu sehr, die Musik dient dort nur gleichsam dem Auge, sie begleitet die Bewegungen, nicht die Empfindungen. Bei Oratorien und Konzerten stËrt uns immer die Gestalt des Musikus; die wahre Musik ist allein f¸rs Ohr; eine schËne Stimme ist das Allgemeinste, was sich denken lâ°ï¬t, und indem das eingeschrâ°nkte Individuum, das sie hervorbringt, sich vors Auge stellt, zerstËrt es den reinen Effekt jener Allgemeinheit. Ich will jeden sehen, mit dem ich reden soll, denn es ist ein einzelner Mensch, dessen Gestalt und Charakter die Rede wert oder unwert macht; hingegen wer mir singt, soll unsichtbar sein; seine Gestalt soll mich nicht bestechen oder irremachen. Hier spricht nur ein Organ zum Organe, nicht der Geist zum Geiste, nicht eine tausendfâ°ltige Welt zum Auge, nicht ein Himmel zum Menschen.” Ebenso wollte er auch bei Instrumentalmusiken die Orchester soviel als mËglich versteckt haben, weil man durch die mechanischen Bem¸hungen und durch die notd¸rftigen, immer seltsamen Gebâ°rden der Instrumentenspieler so sehr zerstreut und verwirrt werde. Er pflegte daher eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen Augen anzuhËren, um sein ganzes Dasein auf den einzigen, reinen Genuï¬ des Ohrs zu konzentrieren.”
Sie wollten eben den Saal verlassen, als sie die Kinder in dem Gange heftig laufen und den Felix rufen hËrten: “Nein ich! nein ich!”
Mignon warf sich zuerst zur geËffneten T¸re herein; sie war auï¬er Atem und konnte kein Wort sagen; Felix, noch in einiger Entfernung, rief: “Mutter Therese ist da!” Die Kinder hatten, so schien es, die Nachricht zu ¸berbringen, einen Wettlauf angestellt. Mignon lag in Nataliens Armen, ihr Herz pochte gewaltsam.
“BËses Kind”, sagte Natalie, “ist dir nicht alle heftige Bewegung untersagt? Sieh, wie dein Herz schlâ°gt!”
“Laï¬ es brechen!” sagte Mignon mit einem tiefen Seufzer, “es schlâ°gt schon zu lange.”
Man hatte sich von dieser Verwirrung, von dieser Art von Best¸rzung kaum erholt, als Therese hereintrat. Sie flog auf Natalien zu, umarmte sie und das gute Kind. Dann wendete sie sich zu Wilhelmen, sah ihn mit ihren klaren Augen an und sagte: “Nun, mein Freund, wie steht es, Sie haben sich doch nicht irremachen lassen?” Er tat einen Schritt gegen sie, sie sprang auf ihn zu und hing an seinem Halse. “O meine Therese!” rief er aus.
“Mein Freund! mein Geliebter! mein Gatte! ja, auf ewig die Deine!” rief sie unter den lebhaftesten K¸ssen.
Felix zog sie am Rocke und rief: “Mutter Therese, ich bin auch da!” Natalie stand und sah vor sich hin; Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens F¸ï¬en f¸r tot nieder.
Der Schrecken war groï¬: keine Bewegung des Herzens noch des Pulses war zu sp¸ren. Wilhelm nahm sie auf seinen Arm und trug sie eilig hinauf, der schlotternde KËrper hing ¸ber seine Schultern. Die Gegenwart des Arztes gab wenig Trost; er und der junge Wundarzt, den wir schon kennen, bem¸hten sich vergebens. Das liebe GeschËpf war nicht ins Leben zur¸ckzurufen.
Natalie winkte Theresen. Diese nahm ihren Freund bei der Hand und f¸hrte ihn aus dem Zimmer. Er war stumm und ohne Sprache und hatte den Mut nicht, ihren Augen zu begegnen. So saï¬ er neben ihr auf dem Kanapee, auf dem er Natalien zuerst angetroffen hatte. Er dachte mit groï¬er Schnelle eine Reihe von Schicksalen durch, oder vielmehr er dachte nicht, er lieï¬ das auf seine Seele wirken, was er nicht entfernen konnte. Es gibt Augenblicke des Lebens, in welchen die Begebenheiten gleich gefl¸gelten Weberschiffchen vor uns sich hin und wider bewegen und unaufhaltsam ein Gewebe vollenden, das wir mehr oder weniger selbst gesponnen und angelegt haben. “Mein Freund!” sagte Therese; “mein Geliebter!” indem sie das Stillschweigen unterbrach und ihn bei der Hand nahm, “laï¬ uns diesen Augenblick fest zusammenhalten, wie wir noch Ëfters, vielleicht in â°hnlichen Fâ°llen, werden zu tun haben. Dies sind die Ereignisse, welche zu ertragen man zu zweien in der Welt sein muï¬. Bedenke, mein Freund, f¸hle, daï¬ du nicht allein bist, zeige, daï¬ du deine Therese liebst, zuerst dadurch, daï¬ du deine Schmerzen ihr mitteilst!” Sie umarmte ihn und schloï¬ ihn sanft an ihren Busen; er faï¬te sie in seine Arme und dr¸ckte sie mit Heftigkeit an sich. “Das arme Kind”, rief er aus, “suchte in traurigen Augenblicken Schutz und Zuflucht an meinem unsichern Busen; laï¬ die Sicherheit des deinigen mir in dieser schrecklichen Stunde zugute kommen.” Sie hielten sich fest umschlossen, er f¸hlte ihr Herz an seinem Busen schlagen, aber in seinem Geiste war es Ëde und leer; nur die Bilder Mignons und Nataliens schwebten wie Schatten vor seiner Einbildungskraft.
Natalie trat herein. “Gib uns deinen Segen!” rief Therese, “laï¬ uns in diesem traurigen Augenblicke von dir verbunden sein.” Wilhelm hatte sein Gesicht an Theresens Halse verborgen; er war gl¸cklich genug, weinen zu kËnnen. Er hËrte Natalien nicht kommen, er sah sie nicht, nur bei dem Klang ihrer Stimme verdoppelten sich seine Trâ°nen. “Was Gott zusammenf¸gt, will ich nicht scheiden”, sagte Natalie lâ°chelnd, “aber verbinden kann ich euch nicht und kann nicht loben, daï¬ Schmerz und Neigung die Erinnerung an meinen Bruder vËllig aus euren Herzen zu verbannen scheint.” Wilhelm riï¬ sich bei diesen Worten aus den Armen Theresens. “Wo wollen Sie hin?” riefen beide Frauen. “Lassen Sie mich das Kind sehen”, rief er aus, “das ich getËtet habe! Das Ungl¸ck, das wir mit Augen sehen, ist geringer, als wenn unsere Einbildungskraft das ¸bel gewaltsam in unser Gem¸t einsenkt; lassen Sie uns den abgeschiedenen Engel sehen! Seine heitere Miene wird uns sagen, daï¬ ihm wohl ist!” Da die Freundinnen den bewegten J¸ngling nicht abhalten konnten, folgten sie ihm; aber der gute Arzt, der mit dem Chirurgus ihnen entgegenkam, hielt sie ab, sich der Verblichenen zu nâ°hern, und sagte: “Halten Sie sich von diesem traurigen Gegenstande entfernt, und erlauben Sie mir, daï¬ ich den Resten dieses sonderbaren Wesens, soviel meine Kunst vermag, einige Dauer gebe. Ich will die schËne Kunst, einen KËrper nicht allein zu balsamieren, sondern ihm auch ein lebendiges Ansehn zu erhalten, bei diesem geliebten GeschËpfe sogleich anwenden. Da ich ihren Tod voraussah, habe ich alle Anstalten gemacht, und mit diesem Geh¸lfen hier soll mir’s gelingen. Erlauben Sie mir nur noch einige Tage Zeit, und verlangen Sie das liebe Kind nicht wieder zu sehen, bis wir es in den Saal der Vergangenheit gebracht haben.”
Der junge Chirurgus hatte jene merkw¸rdige Instrumententasche wieder in Hâ°nden. “Von wem kann er sie wohl haben?” fragte Wilhelm den Arzt. “Ich kenne sie sehr gut”, versetzte Natalie, “er hat sie von seinem Vater, der Sie damals im Walde verband.”
“Oh, so habe ich mich nicht geirrt,” rief Wilhelm, “ich erkannte das Band sogleich! Treten Sie mir es ab! Es brachte mich zuerst wieder auf die Spur von meiner Wohltâ°terin. Wieviel Wohl und Wehe ¸berdauert nicht ein solches lebloses Wesen! Bei wieviel Schmerzen war dies Band nicht schon gegenwâ°rtig, und seine Fâ°den halten noch immer! Wie vieler Menschen letzten Augenblick hat es schon begleitet, und seine Farben sind noch nicht verblichen! Es war gegenwâ°rtig in einem der schËnsten Augenblicke meines Lebens, da ich verwundet auf der Erde lag und Ihre h¸lfreiche Gestalt vor mir erschien, als das Kind mit blutigen Haaren, mit der zâ°rtlichsten Sorgfalt f¸r mein Leben besorgt war, dessen fr¸hzeitigen Tod wir nun beweinen.”
Die Freunde hatten nicht lange Zeit, sich ¸ber diese traurige Begebenheit zu unterhalten und Frâ°ulein Theresen ¸ber das Kind und ¸ber die wahrscheinliche Ursache seines unerwarteten Todes aufzuklâ°ren; denn es wurden Fremde gemeldet, die, als sie sich zeigten, keinesweges fremd waren. Lothario, Jarno, der Abbe traten herein. Natalie ging ihrem Bruder entgegen; unter den ¸brigen entstand ein augenblickliches Stillschweigen. Therese sagte lâ°chelnd zu Lothario: “Sie glaubten wohl kaum, mich hier zu finden; wenigstens ist es eben nicht râ°tlich, daï¬ wir uns in diesem Augenblick aufsuchen; indessen sein Sie mir nach einer so langen Abwesenheit herzlich gegr¸ï¬t.”
Lothario reichte ihr die Hand und versetzte: “Wenn wir einmal leiden und entbehren sollen, so mag es immerhin auch in der Gegenwart des geliebten, w¸nschenswerten Gutes geschehen. Ich verlange keinen Einfluï¬ auf Ihre Entschlieï¬ung, und mein Vertrauen auf Ihr Herz, auf Ihren Verstand und reinen Sinn ist noch immer so groï¬, daï¬ ich Ihnen mein Schicksal und das Schicksal meines Freundes gerne in die Hand lege.”
Das Gesprâ°ch wendete sich sogleich zu allgemeinen, ja man darf sagen, zu unbedeutenden Gegenstâ°nden. Die Gesellschaft trennte sich bald zum Spazierengehen in einzelne Paare. Natalie war mit Lothario, Therese mit dem Abbe gegangen, und Wilhelm war mit Jarno auf dem Schlosse geblieben.
VIII. Buch, 5. Kapitel–2
Die Erscheinung der drei Freunde in dem Augenblick, da Wilhelmen ein schwerer Schmerz auf der Brust lag, hatte, statt ihn zu zerstreuen, seine Laune gereizt und verschlimmert; er war verdrieï¬lich und argwËhnisch und konnte und wollte es nicht verhehlen, als Jarno ihn ¸ber sein m¸rrisches Stillschweigen zur Rede setzte. “Was braucht’s da weiter?” rief Wilhelm aus. “Lothario kommt mit seinen Beistâ°nden, und es wâ°re wunderbar, wenn jene geheimnisvollen Mâ°chte des Turms, die immer so geschâ°ftig sind, jetzt nicht auf uns wirken und ich weiï¬ nicht was f¸r einen seltsamen Zweck mit und an uns ausf¸hren sollten. Soviel ich diese heiligen Mâ°nner kenne, scheint es jederzeit ihre lËbliche Absicht, das Verbundene zu trennen und das Getrennte zu verbinden. Was daraus f¸r ein Gewebe entstehen kann, mag wohl unsern unheiligen Augen ewig ein Râ°tsel bleiben.”
“Sie sind verdrieï¬lich und bitter”, sagte Jarno, “das ist recht schËn und gut. Wenn Sie nur erst einmal recht bËse werden, wird es noch besser sein.”
“Dazu kann auch Rat werden”, versetzte Wilhelm, “und ich f¸rchte sehr, daï¬ man Lust hat, meine angeborne und angebildete Geduld diesmal aufs â°uï¬erste zu reizen.”
“So mËchte ich Ihnen denn doch”, sagte Jarno, “indessen, bis wir sehen, wo unsere Geschichten hinauswollen, etwas von dem Turme erzâ°hlen, gegen den Sie ein so groï¬es Miï¬trauen zu hegen scheinen.”
“Es steht bei Ihnen”, versetzte Wilhelm, “wenn Sie es auf meine Zerstreuung hin wagen wollen. Mein Gem¸t ist so vielfach beschâ°ftigt, daï¬ ich nicht weiï¬, ob es an diesen w¸rdigen Abenteuern den schuldigen Teil nehmen kann.”
“Ich lasse mich”, sagte Jarno, “durch Ihre angenehme Stimmung nicht abschrecken, Sie ¸ber diesen Punkt aufzuklâ°ren. Sie halten mich f¸r einen gescheiten Kerl, und Sie sollen mich auch noch f¸r einen ehrlichen halten, und, was mehr ist, diesmal hab ich Auftrag.”–“Ich w¸nschte”, versetzte Wilhelm, “Sie sprâ°chen aus eigner Bewegung und aus gutem Willen, mich aufzuklâ°ren; und da ich Sie nicht ohne Miï¬trauen hËren kann, warum soll ich Sie anhËren?”–“Wenn ich jetzt nichts Besseres zu tun habe”, sagte Jarno, “als Mâ°rchen zu erzâ°hlen, so haben Sie ja auch wohl Zeit, ihnen einige Aufmerksamkeit zu widmen; vielleicht sind Sie dazu geneigter, wenn ich Ihnen gleich anfangs sage: alles, was Sie im Turme gesehen haben, sind eigentlich nur noch Reliquien von einem jugendlichen Unternehmen, bei dem es anfangs den meisten Eingeweihten groï¬er Ernst war und ¸ber das nun alle gelegentlich nur lâ°cheln.”
“Also mit diesen w¸rdigen Zeichen und Worten spielt man nur!” rief Wilhelm aus, “man f¸hrt uns mit Feierlichkeit an einen Ort, der uns Ehrfurcht einflËï¬t, man lâ°ï¬t uns die wunderlichsten Erscheinungen sehen, man gibt uns Rollen voll herrlicher, geheimnisreicher Spr¸che, davon wir freilich das wenigste verstehn, man erËffnet uns, daï¬ wir bisher Lehrlinge waren, man spricht uns los, und wir sind so klug wie vorher.”–“Haben Sie das Pergament nicht bei der Hand?” fragte Jarno, “es enthâ°lt viel Gutes: denn jene allgemeinen Spr¸che sind nicht aus der Luft gegriffen; freilich scheinen sie demjenigen leer und dunkel, der sich keiner Erfahrung dabei erinnert. Geben Sie mir den sogenannten Lehrbrief doch, wenn er in der Nâ°he ist.”–“Gewiï¬, ganz nah”, versetzte Wilhelm; “so ein Amulett sollte man immer auf der Brust tragen.”–“Nun”, sagte Jarno lâ°chelnd, “wer weiï¬, ob der Inhalt nicht einmal in Ihrem Kopf und Herzen Platz findet.”
Jarno blickte hinein und ¸berlief die erste Hâ°lfte mit den Augen. “Diese”, sagte er, “bezieht sich auf die Ausbildung des Kunstsinnes, wovon andere sprechen mËgen; die zweite handelt vom Leben, und da bin ich besser zu Hause.”
Er fing darauf an, Stellen zu lesen, sprach dazwischen und kn¸pfte Anmerkungen und Erzâ°hlungen mit ein. “Die Neigung der Jugend zum Geheimnis, zu Zeremonien und groï¬en Worten ist auï¬erordentlich, und oft ein Zeichen einer gewissen Tiefe des Charakters. Man will in diesen Jahren sein ganzes Wesen, wenn auch nur dunkel und unbestimmt, ergriffen und ber¸hrt f¸hlen. Der J¸ngling, der vieles ahnet, glaubt in einem Geheimnisse viel zu finden, in ein Geheimnis viel legen und durch dasselbe wirken zu m¸ssen. In diesen Gesinnungen bestâ°rkte der Abbe eine junge Gesellschaft, teils nach seinen Grundsâ°tzen, teils aus Neigung und Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer Gesellschaft in Verbindung stand, die selbst viel im verborgenen gewirkt haben mochte. Ich konnte mich am wenigsten in dieses Wesen finden. Ich war â°lter als die andern, ich hatte von Jugend auf klar gesehen und w¸nschte in allen Dingen nichts als Klarheit; ich hatte kein ander Interesse, als die Welt zu kennen, wie sie war, und steckte mit dieser Liebhaberei die ¸brigen besten Gefâ°hrten an, und fast hâ°tte dar¸ber unsere ganze Bildung eine falsche Richtung genommen: denn wir fingen an, nur die Fehler der andern und ihre Beschrâ°nkung zu sehen und uns selbst f¸r treffliche Wesen zu halten. Der Abbe kam uns zu H¸lfe und lehrte uns, daï¬ man die Menschen nicht beobachten m¸sse, ohne sich f¸r ihre Bildung zu interessieren, und daï¬ man sich selbst eigentlich nur in der Tâ°tigkeit zu beobachten und zu erlauschen imstande sei. Er riet uns, jene ersten Formen der Gesellschaft beizubehalten; es blieb daher etwas Gesetzliches in unsern Zusammenk¸nften, man sah wohl die ersten mystischen Eindr¸cke auf die Einrichtung des Ganzen, nachher nahm es, wie durch ein Gleichnis, die Gestalt eines Handwerks an, das sich bis zur Kunst erhob. Daher kamen die Benennungen von Lehrlingen, Geh¸lfen und Meistern. Wir wollten mit eigenen Augen sehen und uns ein eigenes Archiv unserer Weltkenntnis bilden; daher entstanden die vielen Konfessionen, die wir teils selbst schrieben, teils wozu wir andere veranlaï¬ten und aus denen nachher die “Lehrjahre” zusammengesetzt wurden. Nicht allen Menschen ist es eigentlich um ihre Bildung zu tun; viele w¸nschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden, Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art von Gl¸ckseligkeit. Alle diese, die nicht auf ihre F¸ï¬e gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und anderm Hokuspokus teils aufgehalten, teils beiseite gebracht. Wir sprachen nach unserer Art nur diejenigen los, die lebhaft f¸hlten und deutlich bekannten, wozu sie geboren seien, und die sich genug ge¸bt hatten, um mit einer gewissen FrËhlichkeit und Leichtigkeit ihren Weg zu verfolgen.”
“So haben Sie sich mit mir sehr ¸bereilt”, versetzte Wilhelm; “denn was ich kann, will oder soll, weiï¬ ich gerade seit jenem Augenblick am allerwenigsten.”–“Wir sind ohne Schuld in diese Verwirrung geraten, das gute Gl¸ck mag uns wieder heraushelfen; indessen hËren Sie nur: “Derjenige, an dem viel zu entwickeln ist, wird spâ°ter ¸ber sich und die Welt aufgeklâ°rt. Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fâ°hig sind. Der Sinn erweitert, aber lâ°hmt; die Tat belebt, aber beschrâ°nkt.””
“Ich bitte Sie”, fiel Wilhelm ein, “lesen Sie mir von diesen wunderlichen Worten nichts mehr! Diese Phrasen haben mich schon verwirrt genug gemacht.”–“So will ich bei der Erzâ°hlung bleiben”, sagte Jarno, indem er die Rolle halb zuwickelte und nur manchmal einen