schwebte mir vor, als wenn abermals ein unseliges Verhâ°ltnis mich bedrohe.
Gretchen, ein gesetztes, freundliches Kind, f¸hrte mich ab, mir die k¸nstlichen Gewebe vorzuzeigen; sie tat es verstâ°ndig und ruhig, ich schrieb, um ihr Aufmerksamkeit zu beweisen, was sie mir vorsagte, in meine Schreibtafel, wo es noch steht zum Zeugnis eines bloï¬ mechanischen Verfahrens, denn ich hatte ganz anderes im Sinne; es lautet folgendermaï¬en:
“Der Eintrag von getretener sowohl als gezogener Weberei geschieht, je nachdem das Muster es erfordert, mit weiï¬em, lose gedrehtem sogenannten Muggengarn, mitunter auch mit t¸rkischrot gefâ°rbten, desgleichen mit blauen Garnen, welche ebenfalls zu Streifen und Blumen verbraucht werden.
Beim Scheren ist das Gewebe auf Walzen gewunden, die einen tischfËrmigen Rahmen bilden, um welchen her mehrere arbeitende Personen sitzen.”
Lieschen, die unter den Scherenden gesessen, steht auf, gesellt sich zu uns, ist geschâ°ftig, dreinzureden, und zwar auf eine Weise, um jene durch Widerspruch nur irrezumachen; und als ich Gretchen dessenungeachtet mehr Aufmerksamkeit bewies, so fuhr Lieschen umher, um etwas zu holen, zu bringen, und streifte dabei, ohne durch die Enge des Raums genËtigt zu sein, mit ihrem zarten Ellebogen zweimal merklich bedeutend an meinem Arm hin, welches mir nicht sonderlich gefallen wollte.
Die Gute-SchËne (sie verdient ¸berhaupt, besonders aber alsdann so zu heiï¬en, wenn man sie mit den ¸brigen vergleicht) holte mich in den Garten ab, wo wir der Abendsonne genieï¬en sollten, eh’ sie sich hinter das hohe Gebirg versteckte. Ein Lâ°cheln schwebte um ihre Lippen, wie es wohl erscheint, wenn man etwas Erfreuliches zu sagen zaudert; auch mir war es in dieser Verlegenheit gar lieblich zumute. Wir gingen nebeneinander her, ich getraute mir nicht, ihr die Hand zu reichen, so gern ich’s getan hâ°tte; wir schienen uns beide vor Worten und Zeichen zu f¸rchten, wodurch der gl¸ckliche Fund nur allzubald ins Gemeine offenbar werden kËnnte. Sie zeigte mir einige BlumentËpfe, worin ich aufgekeimte Baumwollenstauden erkannte.–“So nâ°hren und pflegen wir die f¸r unser Geschâ°fte unn¸tzen, ja widerwâ°rtigen SamenkËrner, die mit der Baumwolle einen so weiten Weg zu uns machen. Es geschieht aus Dankbarkeit, und es ist ein eigen Vergn¸gen, dasjenige lebendig zu sehen, dessen abgestorbene Reste unser Dasein beleben. Sie sehen hier den Anfang, die Mitte ist Ihnen bekannt, und heute abend, wenn’s Gl¸ck gut ist, einen erfreulichen Abschluï¬.
Wir als Fabrikanten selbst oder ein Faktor bringen unsre die Woche ¸ber eingegangene Ware Donnerstag abends in das Marktschiff und langen so, in Gesellschaft von andern, die gleiches Geschâ°ft treiben, mit dem fr¸hesten Morgen am Freitag in der Stadt an. Hier trâ°gt nun ein jeder seine Ware zu den Kaufleuten, die im groï¬en handeln, und sucht sie so gut als mËglich abzusetzen, nimmt auch wohl den Bedarf von roher Baumwolle allenfalls an Zahlungs Statt.
Aber nicht allein den Bedarf an rohen Stoffen f¸r die Fabrikation nebst dem baren Verdienst holen die Marktleute in der Stadt, sondern sie versehen sich auch daselbst mit allerlei andern Dingen zum Bed¸rfnis und Vergn¸gen. Wo einer aus der Familie in die Stadt zu Markte gefahren, da sind Erwartungen, Hoffnungen und W¸nsche, ja sogar oft Angst und Furcht rege. Es entsteht Sturm und Gewitter, und man ist besorgt, das Schiff nehme Schaden! Die Gewinns¸chtigen harren und mËchten erfahren, wie der Verkauf der Waren ausgefallen, und berechnen schon im voraus die Summe des reinen Erwerbs; die Neugierigen warten auf die Neuigkeiten aus der Stadt, die Putzliebenden auf die Kleidungsst¸cke oder Modesachen, die der Reisende etwa mitzubringen Auftrag hatte; die Leckern endlich und besonders die Kinder auf die Eï¬waren, und wenn es auch nur Semmeln wâ°ren.
Die Abfahrt aus der Stadt verzieht sich gewËhnlich bis gegen Abend, dann belebt sich der See allmâ°hlich und die Schiffe gleiten segelnd, oder durch die Kraft der Ruder getrieben, ¸ber seine Flâ°che hin; jedes bem¸ht sich, dem andern vorzukommen; und die, denen es gelingt, verhËhnen wohl scherzend die, welche zur¸ckzubleiben sich genËtigt sehen.
Es ist ein erfreuliches, schËnes Schauspiel um die Fahrt auf dem See, wenn der Spiegel desselben mit den anliegenden Gebirgen vom Abendrot erleuchtet sich warm und allmâ°hlich tiefer und tiefer schattiert, die Sterne sichtbar werden, die Abendbetglocken sich hËren lassen, in den DËrfern am Ufer sich Lichter entz¸nden, im Wasser widerscheinend, dann der Mond aufgeht und seinen Schimmer ¸ber die kaum bewegte Flâ°che streut. Das reiche Gelâ°nde flieht vor¸ber, Dorf um Dorf, GehËft um GehËft bleiben zur¸ck, endlich in die Nâ°he der Heimat gekommen, wird in ein Horn gestoï¬en, und sogleich sieht man im Berg hier und dort Lichter erscheinen, die sich nach dem Ufer herab bewegen, ein jedes Haus, das einen AngehËrigen im Schiffe hat, sendet jemanden, um das Gepâ°ck tragen zu helfen.
Wir liegen hËher hinauf, aber jedes von uns hat oft genug diese Fahrt mitbestanden, und was das Geschâ°ft betrifft, so sind wir alle von gleichem Interesse.”
Ich hatte ihr mit Verwunderung zugehËrt, wie gut und schËn sie das alles sprach, und konnte mich der offenen Bemerkung nicht enthalten: wie sie in dieser rauhen Gegend, bei einem so mechanischen Geschâ°ft, zu solcher Bildung habe gelangen kËnnen? Sie versetzte, mit einem allerliebsten, beinahe schalkhaften Lâ°cheln vor sich hingehend: “Ich bin in einer schËnern und freundlichem Gegend geboren, wo vorz¸gliche Menschen herrschen und hausen, und ob ich gleich als Kind mich wild und unbâ°ndig erwies, so war doch der Einfluï¬ geistreicher Besitzer auf ihre Umgebung unverkennbar. Die grËï¬te Wirkung jedoch auf ein junges Wesen tat eine fromme Erziehung, die ein gewisses Gef¸hl des Rechtlichen und Schicklichen, als von Allgegenwart gËttlicher Liebe getragen, in mir entwickelte. Wir wanderten aus”, fuhr sie fort–das feine Lâ°cheln verlieï¬ ihren Mund, eine unterdr¸ckte Trâ°ne f¸llte das Auge–, “wir wanderten weit, weit, von einer Gegend zur andern, durch fromme Fingerzeige und Empfehlungen geleitet; endlich gelangten wir hierher, in diese hËchst tâ°tige Gegend; das Haus, worin Sie mich finden, war von gleichgesinnten Menschen bewohnt, man nahm uns treulich auf, mein Vater sprach dieselbe Sprache, in demselben Sinn, wir schienen bald zur Familie zu gehËren.
In allen Haus–und Handwerksgeschâ°ften griff ich t¸chtig ein, und alles, ¸ber welches Sie mich nun gebieten sehen, habe ich stufenweise gelernt, ge¸bt und vollbracht. Der Sohn des Hauses, wenig Jahre â°lter als ich, wohlgebaut und schËn von Antlitz, gewann mich lieb und machte mich zu seiner Vertrauten. Er war von t¸chtiger und zugleich feiner Natur; die FrËmmigkeit, wie sie im Hause ge¸bt wurde, fand bei ihm keinen Eingang, sie gen¸gte ihm nicht, er las heimlich B¸cher, die er sich in der Stadt zu verschaffen wuï¬te, von der Art, die dem Geist eine allgemeinere, freiere Richtung geben, und da er bei mir gleichen Trieb, gleiches Naturell vermerkte, so war er bem¸ht, nach und nach mir dasjenige mitzuteilen, was ihn so innig beschâ°ftigte. Endlich, da ich in alles einging, hielt er nicht lâ°nger zur¸ck, mir sein ganzes Geheimnis zu erËffnen, und wir waren wirklich ein ganz wunderliches Paar, welches auf einsamen Spaziergâ°ngen sich nur von solchen Grundsâ°tzen unterhielt, welche den Menschen selbststâ°ndig machen, und dessen wahrhaftes Neigungsverhâ°ltnis nur darin zu bestehen schien, einander wechselseitig in solchen Gesinnungen zu bestâ°rken, wodurch die Menschen sonst voneinander vËllig entfernt werden.”
Ob ich gleich sie nicht scharf ansah, sondern nur von Zeit zu Zeit wie zufâ°llig aufblickte, bemerkt’ ich doch mit Verwunderung und Anteil, daï¬ ihre Gesichtsz¸ge durchaus den Sinn ihrer Worte zugleich ausdr¸ckten. Nach einem augenblicklichen Stillschweigen erheiterte sich ihr Gesicht: “Ich muﬔ, sagte sie, “auf Ihre Hauptfrage ein Bekenntnis tun, damit Sie meine Wohlredenheit, die manchmal nicht ganz nat¸rlich scheinen mËchte, sich besser erklâ°ren kËnnen.
Leider muï¬ten wir beide uns vor den ¸brigen verstellen, und ob wir gleich uns sehr h¸teten, nicht zu l¸gen und im groben Sinn falsch zu sein, so waren wir es doch im zartern, indem wir den vielbesuchten Br¸der–und Schwesterversammlungen nicht beizuwohnen nirgends Entschuldigung finden konnten. Weil wir aber dabei gar manches gegen unsere ¸berzeugung hËren muï¬ten, so lieï¬ er mich sehr bald begreifen und einsehen, daï¬ nicht alles vom freien Herzen gehe, sondern daï¬ viel Wortkram, Bilder, Gleichnisse, herkËmmliche Redensarten und wiederholt anklingende Zeilen sich immerfort wie um eine gemeinsame Achse herumdrehten. Ich merkte nun besser auf und machte mir die Sprache so zu eigen, daï¬ ich allenfalls eine Rede so gut als irgendein Vorsteher hâ°tte halten wollen. Erst ergËtzte der Gute sich daran, endlich beim ¸berdruï¬ ward er ungeduldig, daï¬ ich, ihn zu beschwichtigen, den entgegengesetzten Weg einschlug, ihm nur desto aufmerksamer zuhËrte, ihm seinen herzlich treuen Vortrag wohl acht Tage spâ°ter wenigstens mit annâ°hernder Freiheit und nicht ganz unâ°hnlichem geistigem Wesen zu wiederholen wuï¬te.
So wuchs unser Verhâ°ltnis zum innigsten Bande, und eine Leidenschaft zu irgendeinem Wahren, Guten sowie zu mËglicher Aus¸bung desselben war eigentlich, was uns vereinigte.
Indem ich nun bedenke, was Sie veranlaï¬t haben mag, zu einer solchen Erzâ°hlung mich zu bewegen, so war es meine lebhafte Beschreibung vom gl¸cklich vollbrachten Markttage. Verwundern Sie sich dar¸ber nicht; denn gerade war es eine frohe, herzliche Betrachtung holder und erhabener Naturszenen, was mich und meinen Brâ°utigam in ruhigen und geschâ°ftlosen Stunden am schËnsten unterhielt. Treffliche vaterlâ°ndische Dichter hatten das Gef¸hl in uns erregt und genâ°hrt, Hallers “Alpen”, Geï¬ners “Idyllen”, Kleists “Fr¸hling” wurden oft von uns wiederholt, und wir betrachteten die uns umgebende herrliche Welt bald von ihrer anmutigen, bald von ihrer erhabenen Seite
Noch gern erinnere ich mich, wie wir beide, scharf–und weitsichtig, uns um die Wette und oft hastig auf die bedeutenden Erscheinungen der Erde und des Himmels aufmerksam zu machen suchten, einander vorzueilen und zu ¸berbieten trachteten. Dies war die schËnste Erholung, nicht nur vom tâ°glichen Geschâ°ft, sondern auch von jenen ernsten Gesprâ°chen, die uns oft nur zu tief in unser eigenes Innere versenkten und uns dort zu beunruhigen drohten.
In diesen Tagen kehrte ein Reisender bei uns ein, wahrscheinlich unter geborgtem Namen; wir dringen nicht weiter in ihn, da er sogleich durch sein Wesen uns Vertrauen einflËï¬t, da er sich im ganzen hËchst sittlich benimmt, sowie anstâ°ndig aufmerksam in unsern Versammlungen. Von meinem Freund in den Gebirgen umhergef¸hrt, zeigt er sich ernst, einsichtig und kenntnisreich. Auch ich geselle mich zu ihren sittlichen Unterhaltungen, wo alles nach und nach zur Sprache kommt, was einem innern Menschen bedeutend werden kann; da bemerkt er denn gar bald in unserer Denkweise in Absicht auf die gËttlichen Dinge etwas Schwankendes. Die religiËsen Ausdr¸cke waren uns trivial geworden, der Kern, den sie enthalten sollten, war uns entfallen. Da lieï¬ er uns die Gefahr unsres Zustandes bemerken, wie bedenklich die Entfernung vom ¸berlieferten sein m¸sse, an welches von Jugend auf sich so viel angeschlossen; sie sei hËchst gefâ°hrlich bei der Unvollstâ°ndigkeit besonders des eignen Innern. Freilich eine tâ°glich und st¸ndlich durchgef¸hrte FrËmmigkeit werde zuletzt nur Zeitvertreib und wirke wie eine Art von Polizei auf den â°uï¬eren Anstand, aber nicht mehr auf den tiefen Sinn; das einzige Mittel dagegen sei, aus eigener Brust sittlich gleich geltende, gleich wirksame, gleich beruhigende Gesinnungen hervorzurufen.
Die Eltern hatten unsre Verbindung stillschweigend vorausgesetzt, und ich weiï¬ nicht, wie es geschah, die Gegenwart des neuen Freundes beschleunigte die Verlobung, es schien sein Wunsch, diese Bestâ°tigung unsres Gl¸cks in dem stillen Kreise zu feiern, da er denn auch mit anhËren muï¬te, wie der Vorsteher die Gelegenheit ergriff, uns an den Bischof von Laodicea und an die groï¬e Gefahr der Lauheit, die man uns wollte angemerkt haben, zu erinnern. Wir besprachen noch einigemal diese Gegenstâ°nde, und er lieï¬ uns ein hierauf bez¸gliches Blatt zur¸ck, welches ich oft in der Folge wieder anzusehen Ursache fand.
Er schied nunmehr, und es war, als wenn mit ihm alle guten Geister gewichen wâ°ren. Die Bemerkung ist nicht neu, wie die Erscheinung eines vorz¸glichen Menschen in irgendeinem Zirkel Epoche macht und bei seinem Scheiden eine L¸cke sich zeigt, in die sich Ëfters ein zufâ°lliges Unheil hineindrâ°ngt. Und nun lassen Sie mich einen Schleier ¸ber das Nâ°chstfolgende werfen; durch einen Zufall ward meines Verlobten kostbares Leben, seine herrliche Gestalt plËtzlich zerstËrt; er wendete standhaft seine letzten Stunden dazu an, sich mit mir Trostlosen verbunden zu sehen und mir die Rechte an seinem Erbteil zu sichern. Was aber diesen Fall den Eltern um so schmerzlicher machte, war, daï¬ sie kurz vorher eine Tochter verloren hatten und sich nun, im eigentlichen Sinne, verwaist sahen, wor¸ber ihr zartes Gem¸t dergestalt angegriffen wurde, daï¬ sie ihr Leben nicht lange fristeten. Sie gingen den lieben Ihrigen bald nach, und mich ereilte noch ein anderes Unheil, daï¬ mein Vater, vom Schlag ger¸hrt, zwar noch sinnliche Kenntnis von der Welt, aber weder geistige noch kËrperliche Tâ°tigkeit gegen dieselbe behalten hat. Und so bedurfte ich denn freilich in der grËï¬ten Not und Absonderung jener Selbststâ°ndigkeit, in der ich mich, gl¸ckliche Verbindung und frohes Mitleben hoffend, fr¸hzeitig ge¸bt und noch vor kurzem durch die rein belebenden Worte des geheimnisvollen Durchreisenden recht eigentlich gestâ°rkt hatte.
Doch darf ich nicht undankbar sein, da mir in diesem Zustand noch ein t¸chtiger Geh¸lfe geblieben ist, der als Faktor alles das besorgt, was in solchen Geschâ°ften als Pflicht mâ°nnlicher Tâ°tigkeit erscheint. Kommt er heut abend aus der Stadt zur¸ck und Sie haben ihn kennen gelernt, so erfahren Sie mein wunderbares Verhâ°ltnis zu ihm.”
Ich hatte manches dazwischengesprochen und durch beifâ°lligen, vertraulichen Anteil ihr Herz immer mehr aufzuschlieï¬en und ihre Rede im Fluï¬ zu erhalten getrachtet. Ich vermied nicht, dasjenige ganz nahe zu ber¸hren, was noch nicht vËllig ausgesprochen war; auch sie r¸ckte immer nâ°her zu, und wir waren so weit, daï¬ bei der geringsten Veranlassung das offenbare Geheimnis ins Wort getreten wâ°re.
Sie stand auf und sagte: “Lassen Sie uns zum Vater gehen!” Sie eilte voraus, und ich folgte ihr langsam; ich sch¸ttelte den Kopf ¸ber die wundersame Lage, in der ich mich befand. Sie lieï¬ mich in eine hintere, sehr reinliche Stube treten, wo der gute Alte unbeweglich im Sessel saï¬. Er hatte sich wenig verâ°ndert. Ich ging auf ihn zu, er sah mich erst starr, dann mit lebhafteren Augen an; seine Z¸ge erheiterten sich, er versuchte, die Lippen zu bewegen, und als ich die Hand hinreichte, seine ruhende zu fassen, ergriff er die meine von selbst, dr¸ckte sie und sprang auf, die Arme gegen mich ausstreckend. “O Gott!” rief er, “der Junker Lenardo! er ist’s, er ist es selbst!” Ich konnte mich nicht enthalten, ihn an mein Herz zu schlieï¬en; er sank in den Stuhl zur¸ck, die Tochter eilte hinzu, ihm beizustehen; auch sie rief: “Er ist’s! Sie sind es, Lenardo!”
Die j¸ngere Nichte war herbeigekommen, sie f¸hrten den Vater, der auf einmal wieder gehen konnte, der Kammer zu, und gegen mich gewendet, sprach er ganz deutlich: “Wie gl¸cklich, gl¸cklich! bald sehen wir uns wieder!”
Ich stand, vor mich hinschauend und denkend, Mariechen kam zur¸ck und reichte mir ein Blatt, mit dem Vermelden, es sei dasselbige, wovon gesprochen. Ich erkannte sogleich Wilhelms Handschrift, so wie vorhin seine Person aus der Beschreibung mir entgegengetreten war; mancherlei fremde Gesichter schwâ°rmten um mich her, es war eine eigene Bewegung im Vorhause. Und dann ist es ein widerwâ°rtiges Gef¸hl, aus dem Enthusiasmus einer reinen Wiedererkennung, aus der ¸berzeugung dankbaren Erinnerns, der Anerkennung einer wunderbaren Lebensfolge und was alles Warmes und SchËnes dabei in uns entwickelt werden mag, auf einmal zu der schroffen Wirklichkeit einer zerstreuten Alltâ°glichkeit zur¸ckgef¸hrt zu werden.
Diesmal war der Freitagabend ¸berhaupt nicht so heiter und lustig, wie er sonst wohl sein mochte; der Faktor war nicht mit dem Marktschiff aus der Stadt zur¸ckgekehrt, er meldete nur in einem Briefe, daï¬ ihn Geschâ°fte erst morgen oder ¸bermorgen zur¸ckgehen lieï¬en; er werde mit anderer Gelegenheit kommen, auch alles Bestellte und Versprochene mitbringen. Die Nachbarn, welche, jung und alt, in Erwartung wie gewËhnlich zusammengekommen waren, machten verdrieï¬liche Gesichter, Lieschen besonders, die ihm entgegengegangen war, schien sehr ¸bler Laune.
Ich hatte mich in mein Zimmer gefl¸chtet, das Blatt in der Hand haltend, ohne hineinzugehen, denn es hatte mir schon heimlichen Verdruï¬ gemacht, aus jener Erzâ°hlung zu vernehmen, daï¬ Wilhelm die Verbindung beschleunigt habe. “Alle Freunde sind so, alle sind Diplomaten; statt unser Vertrauen redlich zu erwidern, folgen sie ihren Ansichten, durchkreuzen unsre W¸nsche und miï¬leiten unser Schicksal!” So rief ich aus, doch kam ich bald von meiner Ungerechtigkeit zur¸ck, gab dem Freunde recht, besonders die jetzige Stellung bedenkend, und enthielt mich nicht weiter, das folgende zu lesen.
“Jeder Mensch findet sich von den fr¸hsten Momenten seines Lebens an, erst unbewuï¬t, dann halb, endlich ganz bewuï¬t, immerfort bedingt, begrenzt in seiner Stellung; weil aber niemand Zweck und Ziel seines Daseins kennt, vielmehr das Geheimnis desselben von hËchster Hand verborgen wird, so tastet er nur, greift zu, lâ°ï¬t fahren, steht stille, bewegt sich, zaudert und ¸bereilt sich, und auf wie mancherlei Weise denn alle Irrt¸mer entstehen, die uns verwirren.”
“Sogar der Besonnenste ist im tâ°glichen Weltleben genËtigt, klug f¸r den Augenblick zu sein, und gelangt deswegen im allgemeinen zu keiner Klarheit. Selten weiï¬ er sicher, wohin er sich in der Folge zu wenden und was er eigentlich zu tun und zu lassen habe.”
“Gl¸cklicherweise sind alle diese und noch hundert andere wundersame Fragen durch euren unaufhaltsam tâ°tigen Lebensgang beantwortet. Fahrt fort in unmittelbarer Beachtung der Pflicht des Tages und pr¸ft dabei die Reinheit eures Herzens und die Sicherheit eures Geistes. Wenn ihr sodann in freier Stunde aufatmet und euch zu erheben Raum findet, so gewinnt ihr auch gewiï¬ eine richtige Stellung gegen das Erhabene, dem wir uns auf jede Weise verehrend hinzugeben, jedes Ereignis mit Ehrfurcht zu betrachten und eine hËhere Leitung darin zu erkennen haben.”
Sonnabend, den 20.
Vertieft in Gedanken, auf deren wunderlichen Irrgâ°ngen mich eine f¸hlende Seele teilnehmend gern begleiten wird, war ich mit Tagesanbruch am See und auf und ab spaziert; die Hausfrau–ich f¸hlte mich sehr zufrieden, sie nicht als Witwe denken zu d¸rfen –zeigte sich erw¸nscht erst am Fenster, dann an der T¸re; sie erzâ°hlte mir: der Vater habe gut geschlafen, sei heiter aufgewacht und habe mit deutlichen Worten erËffnet, daï¬ er im Bette bleiben, mich heute nicht, morgen aber erst nach dem Gottesdienste zu sehen w¸nsche, wo er sich gewiï¬ recht gestâ°rkt f¸hlen werde. Sie sagte mir darauf, daï¬ sie mich heute viel werde allein lassen; es sei f¸r sie ein sehr beschâ°ftigter Tag, kam herunter und gab mir Rechenschaft davon.
Ich hËrte ihr zu, nur um sie zu hËren, dabei ¸berzeugt’ ich mich, daï¬ sie von der Sache durchdrungen, davon als einer herkËmmlichen Pflicht angezogen und mit Willen beschâ°ftigt schien. Sie fuhr fort: “Es ist gewËhnlich und eingerichtet, daï¬ das Gewebe gegen das Ende der Woche fertig sei und am Sonnabendnachmittag zu dem Verlagsherrn getragen werde, der solches durchsieht, miï¬t und wâ°gt, um zu erforschen, ob die Arbeit ordentlich und fehlerfrei, auch ob ihm an Gewicht und Maï¬ das GehËrige eingeliefert worden, und, wenn alles richtig befunden ist, sodann den verabredeten Weberlohn zahlt. Seinerseits ist nun er bem¸ht, das gewebte St¸ck von allen etwa anhâ°ngenden Fâ°den und Knoten zu reinigen, solches aufs zierlichste zu legen, die schËnste, fehlerfreiste Seite oben vors Auge zu bringen und so die Ware hËchst annehmlich zu machen.”
Indessen kamen aus dem Gebirg viele Weberinnen, ihre Ware ins Haus tragend, worunter ich auch die erblickte, welche unsern Geschirrfasser beschâ°ftigte. Sie dankte mir gar lieblich f¸r das zur¸ckgelassene Geschenk und erzâ°hlte mit Anmut: der Herr Geschirrfasser sei bei ihnen, arbeite heute an ihrem leerstehenden Weberstuhl und habe ihr beim Abschied versichert: was er an ihm tue, solle Frau Susanne gleich der Arbeit ansehen. Darauf ging sie, wie die ¸brigen, ins Haus, und ich konnte mich nicht enthalten, die liebe Wirtin zu fragen: “Um ‘s Himmels willen! wie kommen Sie zu dem wunderlichen Namen?”–“Es ist”, versetzte sie, “der dritte, den man mir aufb¸rdet; ich lieï¬ es gerne zu, weil meine Schwiegereltern es w¸nschten, denn es war der Name ihrer verstorbenen Tochter, an deren Stelle sie mich eintreten lieï¬en, und der Name bleibt doch immer der schËnste, lebendigste Stellvertreter der Person.” Darauf versetzte ich: “Ein vierter ist schon gefunden, ich w¸rde Sie Gute-SchËne nennen, insofern es von mir abhinge.” Sie machte eine gar lieblich dem¸tige Verbeugung und wuï¬te ihr Entz¸cken ¸ber die Genesung des Vaters mit der Freude, mich wiederzusehen, so zu verbinden und zu steigern, daï¬ ich in meinem Leben nichts Schmeichelhafteres und Erfreulicheres glaubte gehËrt und gef¸hlt zu haben.
Die SchËne-Gute, doppelt und dreifach ins Haus zur¸ckgerufen, ¸bergab mich einem verstâ°ndigen, unterrichteten Manne, der mir die Merkw¸rdigkeiten des Gebirgs zeigen sollte. Wir gingen zusammen, bei schËnstem Wetter, durch reich abwechselnde Gegenden. Aber man ¸berzeugt sich wohl, daï¬ weder Fels noch Wald, noch Wassersturz, noch weniger M¸hlen und Schmiedewerkstatt, sogar k¸nstlich genug in Holz arbeitende Familien mir irgendeine Aufmerksamkeit abgewinnen konnten. Indessen war der Wandergang f¸r den ganzen Tag angelegt, der Bote trug ein feines Fr¸hst¸ck im Râ°nzel, zu Mittag fanden wir ein gutes Essen im Zechenhause eines Bergwerks, wo niemand recht aus mir klug werden konnte, indem t¸chtigen Menschen nichts leidiger vorkommt als ein leeres, Teilnahme heuchelndes Unteilnehmen.
Am wenigsten aber begriff mich der Bote, an welchen eigentlich der Garntrâ°ger mich gewiesen hatte, mit groï¬em Lob meiner schËnen technischen Kenntnisse und des besonderen Interesses an solchen Dingen. Auch von meinem vielen Aufschreiben und Bemerken hatte jener gute Mann erzâ°hlt, worauf sich denn der Berggenoï¬ gleichfalls eingerichtet hatte. Lange wartete mein Begleiter, daï¬ ich meine Schreibtafel hervorholen sollte, nach welcher er denn auch endlich, einigermaï¬en ungeduldig, fragte.
Sonntag, den 21.
Mittag kam beinahe herbei, eh’ ich die Freundin wieder ansichtig werden konnte. Der Hausgottesdienst, bei dem sie mich nicht gegenwâ°rtig w¸nschte, war indessen gehalten; der Vater hatte demselben beigewohnt und, die erbaulichsten Worte deutlich und vernehmlich sprechend, alle Anwesenden und sie selbst bis zu den herzlichsten Trâ°nen ger¸hrt. “Es waren”, sagte sie, “bekannte Spr¸che, Reime, Ausdr¸cke und Wendungen, die ich hundertmal gehËrt und als an hohlen Klâ°ngen mich geâ°rgert hatte; diesmal flossen sie aber so herzlich zusammengeschmolzen, ruhig gl¸hend, von Schlacken rein, wie wir das erweichte Metall in der Rinne hinflieï¬en sehen. Es war mir angst und bange, er mËchte sich in diesen Ergieï¬ungen aufzehren, jedoch lieï¬ er sich ganz munter zu Bette f¸hren; er wollte, sagte er, sich sammeln und den Gast, sobald er Kraft genug f¸hle, zu sich rufen lassen.”
Nach Tische ward unser Gesprâ°ch lebhafter und vertraulicher, aber ebendeshalb konnte ich mehr empfinden und bemerken, daï¬ sie etwas zur¸ckhielt, daï¬ sie mit beunruhigenden Gedanken kâ°mpfte, wie es ihr auch nicht ganz gelang, ihr Gesicht zu erheitern. Nachdem ich hin und her versucht, sie zur Sprache zu bringen, so gestand ich aufrichtig, daï¬ ich ihr eine gewisse Schwermut, einen Ausdruck von Sorge anzusehen glaubte, seien es hâ°usliche oder Handelsbedrâ°ngnisse, sie solle sich mir erËffnen; ich wâ°re reich genug, eine alte Schuld ihr auf jede Weise abzutragen.
Sie verneinte lâ°chelnd, daï¬ dies der Fall sei. “Ich habe”, fuhr sie fort, “wie Sie zuerst hereintreten, einen von denen Herren zu sehen geglaubt, die mir in Triest Kredit machen, und war mit mir selbst wohl zufrieden, als ich mein Geld vorrâ°tig wuï¬te, man mochte die ganze Summe oder einen Teil verlangen. Was mich aber dr¸ckt, ist doch eine Handelssorge, leider nicht f¸r den Augenblick, nein! f¸r alle Zukunft. Das ¸berhandnehmende Maschinenwesen quâ°lt und â°ngstigt mich, es wâ°lzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. Schon mein Gatte war von diesem traurigen Gef¸hl durchdrungen. Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann H¸lfe bringen. Und wer mËchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwâ°rtigen! Denken Sie, daï¬ viele Tâ°ler sich durchs Gebirg schlingen, wie das, wodurch Sie herabkamen; noch schwebt Ihnen das h¸bsche, frohe Leben vor, das Sie diese Tage her dort gesehen, wovon Ihnen die geputzte Menge allseits andringend gestern das erfreulichste Zeugnis gab; denken Sie, wie das nach und nach zusammensinken, absterben, die Ëde, durch Jahrhunderte belebt und bevËlkert, wieder in ihre uralte Einsamkeit zur¸ckfallen werde.
Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und W¸rdigsten mit sich fort zu ziehen und ein g¸nstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer hilft uns die Gr¸nde abwâ°gen, die uns bestimmen sollen? Ich weiï¬ recht gut, daï¬ man in der Nâ°he mit dem Gedanken umgeht, selbst Maschinen zu errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reiï¬en. Ich kann niemanden verdenken, daï¬ er sich f¸r seinen eigenen Nâ°chsten hâ°lt; aber ich kâ°me mir verâ°chtlich vor, sollt’ ich diese guten Menschen pl¸ndern und sie zuletzt arm und h¸lflos wandern sehen; und wandern m¸ssen sie fr¸h oder spat. Sie ahnen, sie wissen, sie sagen es, und niemand entschlieï¬t sich zu irgendeinem heilsamen Schritte. Und doch, woher soll der Entschluï¬ kommen? wird er nicht jedermann ebensosehr erschwert als mir?
Mein Brâ°utigam war mit mir entschlossen zum Auswandern; er besprach sich oft ¸ber Mittel und Wege, sich hier loszuwinden. Er sah sich nach den Besseren um, die man um sich versammeln, mit denen man gemeine Sache machen, die man an sich heranziehen, mit sich fortziehen kËnnte; wir sehnten uns, mit vielleicht allzu jugendlicher Hoffnung, in solche Gegenden, wo dasjenige f¸r Pflicht und Recht gelten kËnnte, was hier ein Verbrechen wâ°re. Nun bin ich im entgegengesetzten Falle: der redliche Geh¸lfe, der mir nach meines Gatten Tode geblieben, trefflich in jedem Sinne, mir freundschaftlich liebevoll anhâ°nglich, er ist ganz der entgegengesetzten Meinung.
Ich muï¬ Ihnen von ihm sprechen, eh’ Sie ihn gesehen haben; lieber hâ°tt’ ich es nachher getan, weil die persËnliche Gegenwart gar manches Râ°tsel aufschlieï¬t. Ungefâ°hr von gleichem Alter wie mein Gatte, schloï¬ er sich als kleiner, armer Knabe an den wohlhabenden, wohlwollenden Gespielen, an die Familie, an das Haus, an das Gewerbe; sie wuchsen zusammen heran und hielten zusammen, und doch waren es zwei ganz verschiedene Naturen; der eine frei gesinnt und mitteilend, der andere in fr¸herer Jugend gedr¸ckt, verschlossen, den geringsten ergriffenen Besitz festhaltend, zwar frommer Gesinnung, aber mehr an sich als an andere denkend.
Ich weiï¬ recht gut, daï¬ er von den ersten Zeiten her ein Auge auf mich richtete, er durfte es wohl, denn ich war â°rmer als er; doch hielt er sich zur¸ck, sobald er die Neigung des Freundes zu mir bemerkte. Durch anhaltenden Fleiï¬, Tâ°tigkeit und Treue machte er sich bald zum Mitgenossen des Gewerbes. Mein Gatte hatte heimlich den Gedanken, bei unserer Auswanderung diesen hier einzusetzen und ihm das Zur¸ckgelassene anzuvertrauen. Bald nach dem Tode des Trefflichen nâ°herte er sich mir, und vor einiger Zeit verhielt er nicht, daï¬ er sich um meine Hand bewerbe. Nun tritt aber der doppelt wunderliche Umstand ein, daï¬ er sich von jeher gegen das Auswandern erklâ°rte und dagegen eifrig betreibt, wir sollen auch Maschinen anlegen. Seine Gr¸nde freilich sind dringend, denn in unsern Gebirgen hauset ein Mann, der, wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge vernachlâ°ssigend, zusammengesetztere sich erbauen wollte, uns zugrunde richten kËnnte. Dieser in seinem Fache sehr geschickte Mann–wir nennen ihn den Geschirrfasser–ist einer wohlhabenden Familie in der Nachbarschaft anhâ°nglich, und man darf wohl glauben, daï¬ er im Sinne hat, von jenen steigenden Erfindungen f¸r sich und seine Beg¸nstigten n¸tzlichen Gebrauch zu machen. Gegen die Gr¸nde meines Geh¸lfen ist nichts einzuwenden, denn schon ist gewissermaï¬en zu viel Zeit versâ°umt, und gewinnen jene den Vorrang, so m¸ssen wir, und zwar mit Unstatten, doch das gleiche tun. Dieses ist, was mich â°ngstigt und quâ°lt, das ist’s, was Sie mir, teuerster Mann, als einen Schutzengel erscheinen lâ°ï¬t.”
Ich hatte wenig TrËstliches hierauf zu erwidern, ich muï¬te den Fall so verwickelt finden, daï¬ ich mir Bedenkzeit ausbat. Sie aber fuhr fort: “Ich habe noch manches zu erËffnen, damit meine Lage Ihnen noch mehr wundersam erscheine. Der junge Mann, dem ich persËnlich nicht abgeneigt bin, der mir aber keineswegs meinen Gatten ersetzen noch meine eigentliche Neigung erwerben w¸rde”–sie seufzte, indem sie dies sprach–, “wird seit einiger Zeit entschieden dringender, seine Vortrâ°ge sind so liebevoll als verstâ°ndig. Die Notwendigkeit, meine Hand ihm zu reichen, die Unklugheit, an eine Auswanderung zu denken und dar¸ber das einzige wahre Mittel der Selbsterhaltung zu versâ°umen, sind nicht zu widerlegen, und es scheint ihm mein Widerstreben, meine Grille des Auswanderns so wenig mit meinem ¸brigen haushâ°ltischen Sinn ¸bereinzustimmen, daï¬ ich bei einem letzten, etwas heftigen Gesprâ°ch die Vermutung bemerken konnte, meine Neigung m¸sse wo anders gefesselt sein.” Sie brachte das letzte nur mit einigem Stocken hervor und blickte vor sich nieder.
Was mir bei diesen Worten durch die Seele fuhr, denke jeder, und doch, bei blitzschnell nachfahrender ¸berlegung, muï¬t’ ich f¸hlen, daï¬ jedes Wort die Verwirrung nur vermehren w¸rde. Doch ward ich zugleich, so vor ihr stehend, mir deutlich bewuï¬t, daï¬ ich sie im hËchsten Grade liebgewonnen habe und nun alles, was in mir von vern¸nftiger, verstâ°ndiger Kraft ¸brig war, aufzuwenden hatte, um ihr nicht sogleich meine Hand anzubieten. Mag sie doch, dachte ich, alles hinter sich lassen, wenn sie mir folgt! Doch die Leiden vergangener Jahre hielten mich zur¸ck. Sollst du eine neue falsche Hoffnung hegen, um lebenslâ°nglich daran zu b¸ï¬en?
Wir hatten beide eine Zeitlang geschwiegen, als Lieschen, die ich nicht hatte herankommen sehen, ¸berraschend vor uns trat und die Erlaubnis verlangte, auf dem nâ°chsten Hammerwerke diesen Abend zuzubringen. Ohne Bedenken ward es gewâ°hrt. Ich hatte mich indessen zusammengenommen und fing an, im allgemeinen zu erzâ°hlen: wie ich auf meinen Reisen das alles lâ°ngst herankommen gesehen, wie Trieb und Notwendigkeit des Auswanderns jeden Tag sich vermehre; doch bleibe ein solches Abenteuer immer das Gefâ°hrlichste. Unvorbereitetes Wegeilen bringe ungl¸ckliche Wiederkehr; kein anderes Unternehmen bed¸rfe so viel Vorsicht und Leitung als ein solches. Diese Betrachtung war ihr nicht fremd, sie hatte viel ¸ber alle Verhâ°ltnisse gedacht, aber zuletzt sprach sie mit einem tiefen Seufzer: “Ich habe diese Tage Ihres Hierseins immer gehofft, durch vertrauliche Erzâ°hlung Trost zu gewinnen, aber ich f¸hle mich ¸bler gestellt als vorher, ich f¸hle recht tief, wie ungl¸cklich ich bin.” Sie hob den Blick nach mir, aber die aus den schËnen, guten Augen ausquellenden Trâ°nen zu verbergen, wendete sie sich um und entfernte sich einige Schritte.
Ich will mich nicht entschuldigen, aber der Wunsch, diese herrliche Seele, wo nicht zu trËsten, doch zu zerstreuen, gab mir den Gedanken ein, ihr von der wundersamen Vereinigung mehrerer Wandernden und Scheidenden zu sprechen, in die ich schon seit einiger Zeit getreten war. Unversehens hatte ich schon so weit mich herausgelassen, daï¬ ich kaum hâ°tte zur¸ckhalten kËnnen, als ich gewahrte, wie unvorsichtig mein Vertrauen gewesen sein mochte. Sie beruhigte sich, staunte, erheiterte, entfaltete ihr ganzes Wesen und fragte mit solcher Neigung und Klugheit, daï¬ ich ihr nicht mehr ausweichen, daï¬ ich ihr alles bekennen muï¬te.
Gretchen trat vor uns und sagte: wir mËchten zum Vater kommen! Das Mâ°dchen schien sehr nachdenklich und verdrieï¬lich. Zur Weggehenden sagte die SchËne-Gute: “Lieschen hat Urlaub f¸r heut abend, besorge du die Geschâ°fte.”–“Ihr hâ°ttet ihn nicht geben sollen”, versetzte Gretchen, “sie stiftet nichts Gutes; Ihr seht dem Schalk mehr nach, als billig, vertraut ihr mehr, als recht ist. Eben jetzt erfahr’ ich, sie hat ihm gestern einen Brief geschrieben; Euer Gesprâ°ch hat sie behorcht, jetzt geht sie ihm entgegen.”
Ein Kind, das indessen beim Vater geblieben war, bat mich, zu eilen, der gute Mann sei unruhig. Wir traten hinein; heiter, ja verklâ°rt saï¬ er aufrecht im Bette. “Kinder”, sagte er, “ich habe diese Stunden im anhaltenden Gebet vollbracht, keiner von allen Dank–und Lobgesâ°ngen Davids ist von mir unber¸hrt geblieben, und ich f¸ge hinzu, aus eignem Sinne mit gestâ°rktem Glauben: Warum hofft der Mensch nur in die Nâ°he? da muï¬ er handeln und sich helfen, in die Ferne soll er hoffen und Gott vertrauen.” Er faï¬te Lenardos Hand und so die Hand der Tochter, und beide ineinander legend sprach er: “Das soll kein irdisches, es soll ein himmlisches Band sein; wie Bruder und Schwester liebt, vertraut, n¸tzt und helft einander, so uneigenn¸tzig und rein, wie euch Gott helfe.” Als er dies gesagt, sank er zur¸ck mit himmlischem Lâ°cheln und war heimgegangen. Die Tochter st¸rzte vor dem Bett nieder, Lenardo neben sie, ihre Wangen ber¸hrten sich, ihre Trâ°nen vereinigten sich auf seiner Hand.
Der Geh¸lfe rennt in diesem Augenblick herein, erstarrt ¸ber der Szene. Mit wildem Blick, die schwarzen Locken sch¸ttelnd, ruft der wohlgestaltete J¸ngling: “Er ist tot; in dem Augenblick, da ich seine wiederhergestellte Sprache dringend anrufen wollte, mein Schicksal, das Schicksal seiner Tochter zu entscheiden, des Wesens, das ich nâ°chst Gott am meisten liebe, dem ich ein gesundes Herz w¸nschte, ein Herz, das den Wert meiner Neigung f¸hlen kËnnte. F¸r mich ist sie verloren, sie kniet neben einem andern! Hat er euch eingesegnet? gesteht’s nur!”
Das herrliche Wesen war indessen aufgestanden, Lenardo hatte sich erhoben und erholt; sie sprach: “Ich erkenn’ Euch nicht mehr, den sanften, frommen, auf einmal so verwilderten Mann; wiï¬t Ihr doch, wie ich Euch danke, wie ich von Euch denke.”
“Von Danken und Denken ist hier die Rede nicht”, versetzte jener gefaï¬t, “hier handelt sich’s vom Gl¸ck oder Ungl¸ck meines Lebens. Dieser fremde Mann macht mich besorgt; wie ich ihn ansehe, getrau’ ich mich nicht, ihn aufzuwiegen; fr¸here Rechte zu verdrâ°ngen, fr¸here Verbindungen zu lËsen vermag ich nicht.”
“Sobald du wieder in dich selbst zur¸cktreten kannst”, sagte die Gute, schËner als je, “wenn mit dir zu sprechen ist wie sonst und immer, so will ich dir sagen, dir beteuern bei den irdischen Resten meines verklâ°rten Vaters, daï¬ ich zu diesem Herrn und Freunde kein ander Verstâ°ndnis habe, als das du kennen, billigen und teilen kannst und dessen du dich erfreuen muï¬t.”
Lenardo schauderte bis tief ins Innerste, alle drei standen still, stumm und nachdenkend eine Weile; der J¸ngling nahm zuerst das Wort und sagte: “Der Augenblick ist von zu groï¬er Bedeutung, als daï¬ er nicht entscheidend sein sollte. Es ist nicht aus dem Stegreif, was ich spreche, ich habe Zeit gehabt zu denken, also vernehmt: Die Ursache, deine Hand mir zu verweigern, war meine Weigerung, dir zu folgen, wenn du aus Not oder Grille wandern w¸rdest. Hier also erklâ°r’ ich feierlich vor diesem g¸ltigen Zeugen, daï¬ ich deinem Auswandern kein Hindernis in den Weg legen, vielmehr es befËrdern und dir ¸berallhin folgen will. Gegen diese mir nicht abgenËtigte, sondern nur durch die seltsamsten Umstâ°nde beschleunigte Erklâ°rung verlang’ ich aber im Augenblick deine Hand.” Er reichte sie hin, stand fest und sicher da, die beiden andern wichen ¸berrascht, unwillk¸rlich zur¸ck.
“Es ist ausgesprochen”, sagte der J¸ngling, ruhig mit einer gewissen frommen Hoheit: “das sollte geschehen, es ist zu unser aller Bestem, Gott hat es gewollt; aber damit du nicht denkst, es sei ¸bereilung und Grille, so wisse nur, ich hatte dir zulieb auf Berg und Felsen Verzicht getan und eben jetzt in der Stadt alles eingeleitet, um nach deinem Willen zu leben. Nun aber geh’ ich allein, du wirst mir die Mittel dazu nicht versagen, du behâ°ltst noch immer genug ¸brig, um es hier zu verlieren, wie du f¸rchtest und wie du recht hast zu f¸rchten. Denn ich habe mich endlich auch ¸berzeugt: der k¸nstliche, werktâ°tige Schelm hat sich ins obere Tal gewendet, dort legt er Maschinen an, du wirst ihn alle Nahrung an sich ziehen sehen, vielleicht rufst du, und nur allzubald, einen treuen Freund zur¸ck, den du vertreibst.”
Peinlicher haben nicht leicht drei Menschen sich gegen¸bergestanden, alle zusammen in Furcht, sich einander zu verlieren, und im Augenblick nicht wissend, wie sie sich wechselseitig erhalten sollten.
Leidenschaftlich entschlossen st¸rzte der J¸ngling zur T¸re hinaus. Auf ihres Vaters erkâ°ltete Brust hatte die SchËne-Gute ihre Hand gelegt: “In die Nâ°he soll man nicht hoffen”, rief sie aus, “aber in die Ferne, das war sein letzter Segen. Vertrauen wir Gott, jeder sich selbst und dem andern, so wird sich’s wohl f¸gen.”
Vierzehntes Kapitel
Unser Freund las mit groï¬em Anteil das Vorgelegte, muï¬te aber zugleich gestehen, er habe schon beim Schluï¬ des vorigen Heftes geahnet, ja vermutet, das gute Wesen sei entdeckt worden. Die Beschreibung der schroffen Gebirgsgegend habe ihn zuerst in jene Zustâ°nde versetzt, besonders aber sei er durch die Ahnung Lenardos in jener Mondennacht, so auch durch die Wiederholung der Worte seines Briefes auf die Spur geleitet worden. Friedrich, dem er das alles umstâ°ndlich vortrug, lieï¬ sich es auch ganz wohl gefallen.
Hier aber wird die Pflicht des Mitteilens, Darstellens, Ausf¸hrens und Zusammenziehens immer schwieriger. Wer f¸hlt nicht, daï¬ wir uns diesmal dem Ende nâ°hern, wo die Furcht, in Umstâ°ndlichkeiten zu verweilen, mit dem Wunsche, nichts vËllig unerËrtert zu lassen, uns in Zwiespalt versetzt. Durch die eben angekommene Depesche wurden wir zwar von manchem unterrichtet, die Briefe jedoch und die vielfachen Beilagen enthielten verschiedene Dinge, gerade nicht von allgemeinem Interesse. Wir sind also gesonnen, dasjenige, was wir damals gewuï¬t und erfahren, ferner auch das, was spâ°ter zu unserer Kenntnis kam, zusammenzufassen und in diesem Sinne das ¸bernommene ernste Geschâ°ft eines treuen Referenten getrost abzuschlieï¬en.
Vor allen Dingen haben wir daher zu berichten, daï¬ Lothario mit Theresen, seiner Gemahlin, und Natalien, die ihren Bruder nicht von sich lassen wollte, in Begleitung des AbbÃs schon wirklich zur See gegangen sind. Unter g¸nstigen Vorbedeutungen reisten sie ab, und hoffentlich blâ°ht ein fËrdernder Wind ihre Segel. Die einzige unangenehme Empfindung, eine wahre sittliche Trauer, nehmen sie mit: daï¬ sie Makarien vorher nicht ihren Besuch abstatten konnten. Der Umweg war zu groï¬, das Unternehmen zu bedeutend; schon warf man sich einige ZËgerung vor und muï¬te selbst eine heilige Pflicht der Notwendigkeit aufopfern.
Wir aber, von unserer erzâ°hlenden und darstellenden Seite, sollten diese teuren Personen, die uns fr¸her so viele Neigungen abgewonnen, nicht in so weite Entfernung ziehen lassen, ohne von ihrem bisherigen Vornehmen und Tun nâ°here Nachricht erteilt zu haben, besonders da wir so lange nichts Ausf¸hrliches von ihnen vernommen. Gleichwohl unterlassen wir dieses, weil ihr bisheriges Geschâ°ft sich nur vorbereitend auf das groï¬e Unternehmen bezog, auf welches wir sie lossteuern sehen. Wir leben jedoch in der Hoffnung, sie dereinst in voller geregelter Tâ°tigkeit, den wahren Wert ihrer verschiedenen Charaktere offenbarend, vergn¸glich wiederzufinden.
Juliette, die Sinnige-Gute, deren wir uns wohl noch erinnern, hatte geheiratet, einen Mann nach dem Herzen des Oheims, durchaus in seinem Sinne mit–und fortwirkend. Juliette war in der letzten Zeit viel um die Tante, wo manche derjenigen zusammentrafen, auf die sie wohltâ°tigen Einfluï¬ gehabt; nicht nur solche, die dem festen Lande gewidmet bleiben, auch solche, die ¸ber See zu gehen gedenken. Lenardo hingegen hatte schon fr¸her mit Friedrichen Abschied genommen; die Mitteilung durch Boten war unter diesen desto lebhafter.
Vermiï¬te man also in dem Verzeichnisse der Gâ°ste jene edlen Obengenannten, so waren doch manche bedeutende, uns schon nâ°her bekannte Personen darauf zu finden. Hilarie kam mit ihrem Gatten, der nun als Hauptmann und entschieden reicher Gutsbesitzer auftrat. Sie in ihrer groï¬en Anmut und Liebensw¸rdigkeit gewann sich hier wie ¸berall gar gern Verzeihung einer allzu groï¬en Leichtigkeit, von Interesse zu Interesse ¸bergehend zu wechseln, deren wir sie im Lauf der Erzâ°hlung schuldig gefunden. Besonders die Mâ°nner rechneten es ihr nicht hoch an. Einen dergleichen Fehler, wenn es einer ist, finden sie nicht anstËï¬ig, weil ein jeder w¸nschen und hoffen mag, auch an die Reihe zu kommen.
Flavio, ihr Gemahl, r¸stig, munter und liebensw¸rdig genug, schien vollkommen ihre Neigung zu fesseln; sie mochte sich das Vergangene selbst verziehen haben; auch fand Makarie keinen Anlaï¬, dessen zu erwâ°hnen. Er, der immer leidenschaftliche Dichter, bat sich aus, beim Abschiede ein Gedicht vorlesen zu d¸rfen, welches er zu Ehren ihrer und ihrer Umgebung in den wenigen Tagen seines Hierseins verfaï¬te. Man sah ihn oft im Freien auf und ab gehen, nach einigem Stillstand mit bewegter Gebâ°rde wieder vorwâ°rts schreitend in die Schreibtafel schreiben, sinnen und wieder schreiben. Nun aber schien er es f¸r vollendet zu halten, als er durch Angela jenen Wunsch zu erkennen gab.
Die gute Dame, obgleich ungern, verstand sich hiezu, und es lieï¬ sich allenfalls anhËren, ob man gleich dadurch weiter nichts erfuhr, als was man schon wuï¬te, nichts f¸hlte, als was man schon gef¸hlt hatte. Indessen war denn doch der Vortrag leicht und gefâ°llig, Wendung und Reim mitunter neu, wenn man es auch hâ°tte im ganzen etwas k¸rzer w¸nschen mËgen. Zuletzt ¸bergab er dasselbe, auf gerâ°ndertes Papier sehr schËn geschrieben, und man schied mit vollkommener wechselseitiger Zufriedenheit.
Dieses Paar war von einer bedeutenden, wohlgenutzten Reise nach dem S¸den zur¸ckgekommen, um den Vater, den Major, von Hause abzulËsen, der mit jener Unwiderstehlichen, die nun seine Gemahlin geworden, auch etwas von der paradiesischen Luft zu einiger Erquickung einatmen wollte.
Diese beiden kamen denn auch, im Wechsel, und so wie ¸berall hatte bei Makarien die Merkw¸rdige auch vorz¸gliche Gunst, welche sich besonders darin erwies, daï¬ die Dame in den innern Zimmern und allein empfangen wurde, welche Geneigtheit auch nachher dem Major zuteil ward. Dieser empfahl sich darauf sogleich als gebildeter Militâ°r, guter Haus–und Landwirt, Literaturfreund, sogar als Lehrdichter beifallsw¸rdig und fand bei dem Astronomen und sonstigen Hausgenossen guten Eingang.
Auch von unserm alten Herrn, dem w¸rdigen Oheim, ward er besonders ausgezeichnet, welcher, in mâ°ï¬iger Ferne wohnend, diesmal mehr, als er sonst pflegte, obgleich nur f¸r Stunden, her¸berkam, aber keine Nacht, auch bei angebotener grËï¬ten Bequemlichkeit, zu bleiben bewogen werden konnte.
Bei solchen kurzen Zusammenk¸nften war seine Gegenwart jedoch hËchst erfreulich, weil er sodann, als Welt–und Hofmann, nachgiebig und vermittelnd auftreten wollte; wobei denn sogar ein Zug von aristokratischer Pedanterie nicht unangenehm empfunden wurde. ¸berdem ging diesmal sein Behagen von Grund aus, er war gl¸cklich, wie wir uns alle f¸hlen, wenn wir mit verstâ°ndig-vern¸nftigen Leuten Wichtiges zu verhandeln haben. Das umfassende Geschâ°ft war vËllig im Gange, es bewegte sich stetig nach gepflogener Verabredung.
Hievon nur die Hauptmomente. Er ist dr¸ben ¸ber dem Meere, von seinen Vorfahren her, Eigent¸mer. Was das heiï¬en wolle, mËge der Kenner dortiger Angelegenheiten, da es uns hier zu weit f¸hren m¸ï¬te, seinen Freunden nâ°her erklâ°ren. Diese wichtigen Besitzungen waren bisher verpachtet und trugen, bei mancherlei Unannehmlichkeiten, wenig ein. Die Gesellschaft, die wir genugsam kennen, ist nun berechtigt, dort Besitz zu nehmen, mitten in der vollkommensten b¸rgerlichen Einrichtung, von da sie als einfluï¬reiches Staatsglied ihren Vorteil ersehen und sich in die noch unangebaute W¸ste fern verbreiten kann. Hier nun will sich Friedrich mit Lenardo besonders hervortun, um zu zeigen, wie man eigentlich von vorn beginnen und einen Naturweg einschlagen kËnne.
Kaum hatten sich die Genannten von ihrem Aufenthalte hËchst zufrieden entfernt, so waren dagegen Gâ°ste ganz anderer Art angemeldet und doch auch willkommen. Wir erwarteten wohl kaum, Philinen und Lydien an so heiliger Stâ°tte auftreten zu sehen, und doch kamen sie an. Der zunâ°chst in den Gebirgen noch immer weilende Montan sollte sie hier abholen und auf dem nâ°chsten Wege zur See bringen. Beide wurden von Haushâ°lterinnen, Schaffnerinnen, sonst angestellten und mitwohnenden Frauen sehr gut aufgenommen: Philine brachte ein paar allerliebste Kinder mit und zeichnete sich, bei einer einfachen, sehr reizenden Kleidung, aus durch das Sonderbare, daï¬ sie von blumig gesticktem G¸rtel herab an langer silberner Kette eine mâ°ï¬ig groï¬e englische Schere trug, mit der sie manchmal, gleichsam als wollte sie ihrem Gesprâ°ch einigen Nachdruck geben, in die Luft schnitt und schnappte und durch einen solchen Akt die sâ°mtlichen Anwesenden erheiterte; worauf denn bald die Frage folgte: ob es denn in einer so groï¬en Familie nichts zuzuschneiden gebe? und da fand sich denn, daï¬, erw¸nscht f¸r eine solche Tâ°tigkeit, ein paar Brâ°ute sollten ausgestattet werden. Sie sieht hierauf die Landestracht an, lâ°ï¬t die Mâ°dchen vor sich auf und ab gehen und schneidet immer zu, wobei sie aber, mit Geist und Geschmack verfahrend, ohne dem Charakter einer solchen Tracht etwas zu benehmen, das eigentlich stockende Barbarische derselben mit einer Anmut zu vermitteln weiï¬, so gelind, daï¬ die Bekleideten sich und andern besser gefallen und die Bangigkeit ¸berwinden, man mËge von dem HerkËmmlichen doch abgewichen sein.
Hier kam nun Lydie, die mit gleicher Fertigkeit, Zierlichkeit und Schnelle zu nâ°hen verstand, vollkommen zu H¸lfe, und man durfte hoffen, mit dem ¸brigen weiblichen Beistand die Brâ°ute schneller, als man gedacht hatte, herausgeputzt zu sehen. Dabei durften sich diese Mâ°dchen nicht lange entfernen, Philine beschâ°ftigte sich mit ihnen bis aufs kleinste und behandelte sie wie Puppen oder Theaterstatisten. Gehâ°ufte Bâ°nder und sonstiger in der Nachbarschaft ¸blicher Festschmuck wurde schicklich verteilt, und so erreichte man zuletzt, daï¬ diese t¸chtigen KËrper und h¸bschen Figuren, sonst durch barbarische Pedanterei zugedeckt, nunmehr zu einiger Evidenz gelangten, wobei alle Derbheit doch immer zu einiger Anmut herausgestutzt erschien.
Allzu tâ°tige Personen werden aber doch in einem gleichmâ°ï¬ig geregelten Zustande lâ°stig. Philine war mit ihrer gefrâ°ï¬igen Schere in die Zimmer geraten, wo die Vorrâ°te zu Kleidern f¸r die groï¬e Familie, in Stoffen aller Art, zur Hand lagen. Da fand sie nun in der Aussicht, das alles zu zerschneiden, die grËï¬te Gl¸ckseligkeit; man muï¬te sie wirklich daraus entfernen und die T¸ren fest verschlieï¬en, denn sie kannte weder Maï¬ noch Ziel. Angela wollte wirklich deshalb nicht als Braut behandelt sein, weil sie sich vor einer solchen Zuschneiderin f¸rchtete; ¸berhaupt lieï¬ sich das Verhâ°ltnis zwischen beiden keineswegs gl¸cklich einleiten. Doch hievon kann erst spâ°ter die Rede sein.
Montan, lâ°nger als man gedacht hatte, zauderte zu kommen, und Philine drang darauf, Makarien vorgestellt zu werden. Es geschah, weil man sie alsdann um desto eher loszuwerden hoffte, und es war merkw¸rdig genug, die beiden S¸nderinnen zu den F¸ï¬en der Heiligen zu sehen. Zu beiden Seiten lagen sie ihr an den Knieen, Philine zwischen ihren zwei Kindern, die sie lebhaft anmutig niederdr¸ckte; mit gewohnter Heiterkeit sprach sie: “Ich liebe meinen Mann, meine Kinder, beschâ°ftige mich gern f¸r sie, auch f¸r andere, das ¸brige verzeihst du!” Makarie begr¸ï¬te sie segnend, sie entfernte sich mit anstâ°ndiger Beugung.
Lydie lag von der linken Seite her der Heiligen mit dem Gesicht auf dem Schoï¬e, weinte bitterlich und konnte kein Wort sprechen; Makarie, ihre Trâ°nen auffassend, klopfte ihr auf die Schulter als beschwichtigend, dann k¸ï¬te sie ihr Haupt zwischen den gescheitelten Haaren, wie es vor ihr lag, br¸nstig und wiederholt in frommer Absicht.
Lydie richtete sich auf, erst auf ihre Kniee, dann auf die F¸ï¬e, und schaute zu ihrer Wohltâ°terin mit reiner Heiterkeit. “Wie geschieht mir!” sagte sie, “wie ist mir! Der schwere, lâ°stige Druck, der mir, wo nicht alle Besinnung, doch alles ¸berlegen raubte, er ist auf einmal von meinem Haupte weggehoben, ich kann nun frei in die HËhe sehen, meine Gedanken in die HËhe richten, und”, setzte sie nach tiefem Atemholen hinzu, “ich glaube, mein Herz will nach.”
In diesem Augenblick erËffnete sich die T¸re, und Montan trat herein, wie Ëfters der allzu lang Erwartete plËtzlich und unverhofft erscheint. Lydie schritt munter auf ihn zu, umarmte ihn freudig, und indem sie ihn vor Makarien f¸hrte, rief sie aus: “Er soll erfahren, was er dieser GËttlichen schuldig ist, und sich mit mir dankend niederwerfen.”
Montan, betroffen und, gegen seine Gewohnheit, gewissermaï¬en verlegen, sagte mit edler Verbeugung gegen die w¸rdige Dame: “Es scheint sehr viel zu sein, denn ich werde dich ihr schuldig. Es ist das erstemal, daï¬ du mir offen und liebevoll entgegenkommst, das erstemal, daï¬ du mich ans Herz dr¸ckst, ob ich es gleich lâ°ngst verdiente.”
Hier nun m¸ssen wir vertraulich erËffnen, daï¬ Montan Lydien von ihrer fr¸hen Jugend an geliebt, daï¬ der einnehmendere Lothario sie ihm entf¸hrt, er aber ihr und dem Freunde treu geblieben und sie sich endlich, vielleicht zu nicht geringer Verwunderung unserer fr¸heren Leser, als Gattin zugeeignet habe.
Diese drei zusammen, welche sich in der europâ°ischen Gesellschaft doch nicht ganz behaglich f¸hlen mochten, mâ°ï¬igten kaum den Ausdruck ihrer Freude, wenn von den dort erwarteten Zustâ°nden die Rede war. Die Schere Philinens zuckte schon: denn man gedachte sich das Monopol vorzubehalten, diese neuen Kolonien mit Kleidungsst¸cken zu versorgen. Philine beschrieb den groï¬en Tuch–und Leinwandvorrat sehr artig und schnitt in die Luft, die Ernte f¸r Sichel und Sense, wie sie sagte, schon vor sich sehend.
Lydie dagegen, erst durch jene gl¸cklichen Segnungen zu teilnehmender Liebe wieder auferwacht, sah im Geiste schon ihre Sch¸lerinnen sich ins Hundertfache vermehren und ein ganzes Volk von Hausfrauen zu Genauigkeit und Zierlichkeit eingeleitet und aufgeregt. Auch der ernste Montan hat die dortige Bergf¸lle an Blei, Kupfer, Eisen und Steinkohlen dergestalt vor Augen, daï¬ er alle sein Wissen und KËnnen manchmal nur f¸r â°ngstlich tastendes Versuchen erklâ°ren mËchte, um erst dort in eine reiche, belohnende Ernte mutig einzugreifen.
Daï¬ Montan sich mit unserm Astronomen bald verstehen w¸rde, war vorauszusehen. Die Gesprâ°che, die sie in Gegenwart Makariens f¸hrten, waren hËchst anziehend; wir finden aber nur weniges davon niedergeschrieben, indem Angela seit einiger Zeit beim ZuhËren minder aufmerksam und beim Aufzeichnen nachlâ°ssiger geworden war. Auch mochte ihr manches zu allgemein und f¸r ein Frauenzimmer nicht faï¬lich genug vorkommen. Wir schalten daher nur einige der in jene Tage gehËrigen â°uï¬erungen hier vor¸bergehend ein, die nicht einmal von ihrer Hand geschrieben uns zugekommen sind.
Bei dem Studieren der Wissenschaften, besonders derer, welche die Natur behandeln, ist die Untersuchung so nËtig als schwer: ob das, was uns von alters her ¸berliefert und von unsern Vorfahren f¸r g¸ltig geachtet worden, auch wirklich gegr¸ndet und zuverlâ°ssig sei, in dem Grade, daï¬ man darauf fernerhin sicher fortbauen mËge? oder ob ein herkËmmliches Bekenntnis nur stationâ°r geworden und deshalb mehr einen Stillstand als einen Fortschritt veranlasse? Ein Kennzeichen fËrdert diese Untersuchung, wenn nâ°mlich das Angenommene lebendig und in das tâ°tige Bestreben einwirkend und fËrdernd gewesen und geblieben.
Im Gegensatze steht die Pr¸fung des Neuen, wo man zu fragen hat: ob das Angenommene wirklicher Gewinn oder nur modische ¸bereinstimmung sei? denn eine Meinung, von energischen Mâ°nnern ausgehend, verbreitet sich kontagios ¸ber die Menge, und dann heiï¬t sie herrschend –eine Anmaï¬ung, die f¸r den treuen Forscher gar keinen Sinn ausspricht. Staat und Kirche mËgen allenfalls Ursache finden, sich f¸r herrschend zu erklâ°ren: denn die haben es mit der widerspenstigen Masse zu tun, und wenn nur Ordnung gehalten wird, so ist es ganz einerlei, durch welche Mittel; aber in den Wissenschaften ist die absoluteste Freiheit nËtig: denn da wirkt man nicht f¸r heut und morgen, sondern f¸r eine undenklich vorschreitende Zeitenreihe.
Gewinnt aber auch in der Wissenschaft das Falsche die Oberhand, so wird doch immer eine Minoritâ°t f¸r das Wahre ¸brigbleiben, und wenn sie sich in einen einzigen Geist zur¸ckzËge, so hâ°tte das nichts zu sagen. Er wird im stillen, im verborgenen fortwaltend wirken, und eine Zeit wird kommen, wo man nach ihm und seinen ¸berzeugungen fragt, oder wo diese sich, bei verbreitetem allgemeinem Licht, auch wieder hervorwagen d¸rfen.
Was jedoch weniger allgemein, obgleich unbegreiflich und wunderseltsam, zur Sprache kam, war die gelegentliche ErËffnung Montans, daï¬ ihm bei seinen gebirgischen und bergmâ°nnischen Untersuchungen eine Person zur Seite gehe, welche ganz wundersame Eigenschaften und einen ganz eigenen Bezug auf alles habe, was man Gestein, Mineral, ja sogar was man ¸berhaupt Element nennen kËnne. Sie f¸hle nicht bloï¬ eine gewisse Einwirkung der unterirdisch flieï¬enden Wasser, metallischer Lager und Gâ°nge, sowie der Steinkohlen und was dergleichen in Massen beisammen sein mËchte, sondern, was wunderbarer sei, sie befinde sich anders und wieder anders, sobald sie nur den Boden wechsele. Die verschiedenen Gebirgsarten ¸bten auf sie einen besondern Einfluï¬, wor¸ber er sich mit ihr, seitdem er eine zwar wunderliche, aber doch auslangende Sprache einzuleiten gewuï¬t, recht gut verstâ°ndigen und sie im einzelnen pr¸fen kËnne, da sie denn auf eine merkw¸rdige Weise die Probe bestehe, indem sie sowohl chemische als physische Elemente durchs Gef¸hl gar wohl zu unterscheiden wisse, ja sogar schon durch den Anblick das Schwerere von dem Leichtern unterscheide. Diese Person, ¸ber deren Geschlecht er sich nicht nâ°her erklâ°ren wollte, habe er mit den abreisenden Freunden vorausgeschickt und hoffe zu seinen Zwecken in den ununtersuchten Gegenden sehr viel von ihr.
Dieses Vertrauen Montans erËffnete das strenge Herz des Astronomen, welcher sodann mit Makariens Verg¸nstigung auch ihm das Verhâ°ltnis derselben zum Weltsystem offenbarte. Durch nachherige Mitteilungen des Astronomen sind wir in dem Fall, wo nicht Genugsames, doch das Hauptsâ°chliche ihrer Unterhaltung ¸ber so wichtige Punkte mitzuteilen.
Bewundern wir indessen die â°hnlichkeit der hier eintretenden Fâ°lle bei der grËï¬ten Verschiedenheit. Der eine Freund, um nicht ein Timon zu werden, hatte sich in die tiefsten Kl¸fte der Erde versenkt, und auch dort ward er gewahr, daï¬ in der Menschennatur etwas Analoges zum Starrsten und Rohsten vorhanden sei; dem andern gab von der Gegenseite der Geist Makariens ein Beispiel, daï¬, wie dort das Verbleiben, hier das Entfernen wohlbegabten Naturen eigen sei, daï¬ man weder nËtig habe, bis zum Mittelpunkt der Erde zu dringen, noch sich ¸ber die Grenzen unsres Sonnensystems hinaus zu entfernen, sondern schon gen¸glich beschâ°ftigt und vorz¸glich auf Tat aufmerksam gemacht und zu ihr berufen werde. An und in dem Boden findet man f¸r die hËchsten irdischen Bed¸rfnisse das Material, eine Welt des Stoffes, den hËchsten Fâ°higkeiten des Menschen zur Bearbeitung ¸bergeben; aber auf jenem geistigen Wege werden immer Teilnahme, Liebe, geregelte freie Wirksamkeit gefunden. Diese beiden Welten gegeneinander zu bewegen, ihre beiderseitigen Eigenschaften in der vor¸bergehenden Lebenserscheinung zu manifestieren, das ist die hËchste Gestalt, wozu sich der Mensch auszubilden hat.
Hierauf schlossen beide Freunde einen Bund und nahmen sich vor, ihre Erfahrungen allenfalls auch nicht zu verheimlichen, weil derjenige, der sie als einem Roman wohl ziemende Mâ°rchen belâ°cheln kËnnte, sie doch immer als ein Gleichnis des W¸nschenswertesten betrachten d¸rfte.
Der Abschied Montans und seiner Frauenzimmer folgte bald hierauf, und wenn man ihn mit Lydien wohl noch gern gehalten hâ°tte, so war doch die allzu unruhige Philine mehreren an Ruhe und Sitte gewohnten Frauenzimmern, besonders aber der edlen Angela beschwerlich, wozu sich noch besondere Umstâ°nde hinzuf¸gten, welche die Unbehaglichkeit vermehrten.
Schon oben hatten wir zu bemerken, daï¬ Angela nicht wie sonst die Pflicht des Aufmerkens und Aufzeichnens erf¸llte, sondern anderwâ°rts beschâ°ftigt schien. Um diese Anomalie an einer der Ordnung dergestalt ergebenen und in den reinsten Kreisen sich bewegenden Person zu erklâ°ren, sind wir genËtigt, einen neuen Mitspieler in dieses vielumfassende Drama noch zuletzt einzufahren.
Unser alter, gepr¸fter Handelsfreund Werner muï¬te sich bei zunehmenden, ja gleichsam ins Unendliche sich vermehrenden Geschâ°ften nach frischen Geh¸lfen umsehen, welche er nicht ohne vorlâ°ufige besondere Pr¸fung nâ°her an sich anschloï¬. Einen solchen sendet er nun an Makarien, um wegen Auszahlung der bedeutenden Summen zu unterhandeln, welche diese Dame aus ihrem groï¬en VermËgen dem neuen Unternehmen, besonders in R¸cksicht auf Lenardo, ihren Liebling, zuzuwenden beschloï¬ und erklâ°rte. Gedachter junger Mann, nunmehr Werners Geh¸lfe und Geselle, ein frischer, nat¸rlicher J¸ngling und eine Wundererscheinung, empfiehlt sich durch ein eignes Talent, durch eine grenzenlose Fertigkeit im Kopfrechnen, wie ¸berall, so besonders bei den Unternehmern, wie sie jetzt zusammenwirken, da sie sich durchaus mit Zahlen im mannigfaltigsten Sinne einer Gesellschaftsrechnung beschâ°ftigen und ausgleichen m¸ssen. Sogar in der tâ°glichen Sozietâ°t, wo beim Hin–und Widerreden ¸ber weltliche Dinge von Zahlen, Summen und Ausgleichungen die Rede ist, muï¬ ein solcher hËchst willkommen mit einwirken. ¸berdem spielte er den Fl¸gel hËchst anmutig, wo ihm der Kalk¸l und ein liebensw¸rdiges Naturell verbunden und vereint â°uï¬erst w¸nschenswert zu H¸lfe kommt. Die TËne flieï¬en ihm leicht und harmonisch zusammen, manchmal aber deutet er an, daï¬ er auch wohl in tiefem Regionen zu Hause wâ°re, und so wird er hËchst anziehend, wenn er gleich wenig Worte macht und kaum irgend etwas Gef¸hltes aus seinen Gesprâ°chen durchblickt. Auf alle Fâ°lle ist er j¸nger als seine Jahre, man mËchte beinahe etwas Kindliches an ihm finden. Wie es ¸brigens auch mit ihm sei, er hat Angelas Gunst gewonnen, sie die seinige, zu Makariens grËï¬ter Zufriedenheit: denn sie hatte lâ°ngst gew¸nscht, das edle Mâ°dchen verheiratet zu sehen.
Diese jedoch, immer bedenkend und f¸hlend, wie schwer ihre Stelle zu besetzen sein werde, hatte wohl schon irgendein liebevolles Anerbieten abgelehnt, vielleicht sogar einer stillen Neigung Gewalt angetan; seitdem aber eine Nachfolgerin denkbar, ja gewissermaï¬en schon bestimmt worden, scheint sie, von einem wohlgefâ°lligen Eindruck ¸berrascht, ihm bis zur Leidenschaft nachgegeben zu haben.
Wir aber kommen nunmehr in den Fall, das Wichtigste zu erËffnen, indem ja alles, wor¸ber seit so mancher Zeit die Rede gewesen, sich nach und nach gebildet, aufgelËst und wieder gestaltet hatte.
Entschieden ist also auch nunmehr, daï¬ die SchËne-Gute, sonst das nuï¬braune Mâ°dchen genannt, sich Makarien zur Seite f¸ge. Der im allgemeinen vorgelegte, auch von Lenardo schon gebilligte Plan ist seiner Ausf¸hrung ganz nah; alle Teilnehmenden sind einig; die SchËne-Gute ¸bergibt dem Geh¸lfen ihr ganzes Besitztum. Er heiratet die zweite Tochter jener arbeitsamen Familie und wird Schwager des Schirrfassers. Hiedurch wird die vollkommene Einrichtung einer neuen Fabrikation durch Lokal und Zusammenwirkung mËglich, und die Bewohner des arbeitslustigen Tales werden auf eine andere, lebhaftere Weise beschâ°ftigt.
Dadurch wird die Liebensw¸rdige frei, sie tritt bei Makarien an die Stelle von Angela, welche mit jenem jungen Manne schon verlobt ist. Hiemit wâ°re alles f¸r den Augenblick berichtet; was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben.
Nun aber verlangt die SchËne-Gute, daï¬ Wilhelm sie abhole; gewisse Umstâ°nde sind noch zu berichtigen, und sie legt bloï¬ einen groï¬en Wert darauf, daï¬ er das, was er doch eigentlich angefangen, auch vollende. Er entdeckte sie zuerst, und ein wundersam Geschick trieb Lenardo auf seine Spur; und nun soll er, so w¸nscht sie, ihr den Abschied von dort erleichtern und so die Freude, die Beruhigung empfinden, einen Teil der verschrâ°nkten Schicksalsfâ°den selbst wieder aufgefaï¬t und angekn¸pft zu haben.
Nun aber m¸ssen wir, um das Geistliche, das Gem¸tliche zu einer Art von Vollstâ°ndigkeit zu bringen, auch ein Geheimeres offenbaren, und zwar folgendes: Lenardo hatte ¸ber eine nâ°here Verbindung mit der SchËnen-Guten niemals das mindeste geâ°uï¬ert; im Laufe der Unterhandlungen aber, bei dem vielen Hin–und Widersenden war denn doch auf eine zarte Weise an ihr geforscht worden, wie sie dies Verhâ°ltnis ansehe und was sie, wenn es zur Sprache kâ°me, allenfalls zu tun geneigt wâ°re. Aus ihrem Erwidern konnte man sich so viel zusammensetzen: sie f¸hle sich nicht wert, einer solchen Neigung wie der ihres edlen Freundes durch Hingebung ihres geteilten Selbst zu antworten. Ein Wohlwollen der Art verdiene die ganze Seele, das ganze VermËgen eines weiblichen Wesens; dies aber kËnne sie nicht anbieten. Das Andenken ihres Brâ°utigams, ihres Gatten und der wechselseitigen Einigung beider sei noch so lebhaft in ihr, nehme noch ihr ganzes Wesen dergestalt vËllig ein, daï¬ f¸r Liebe und Leidenschaft kein Raum gedenkbar, auch ihr nur das reinste Wohlwollen und in diesem Falle die vollkommenste Dankbarkeit ¸brig bleibe. Man beruhigte sich hiebei, und da Lenardo die Angelegenheit nicht ber¸hrt hatte, war es auch nicht nËtig, hier¸ber Auskunft und Antwort zu geben.
Einige allgemeine Betrachtungen werden hoffentlich hier am rechten Orte stehen. Das Verhâ°ltnis sâ°mtlicher vor¸bergehenden Personen zu Makarien war vertraulich und ehrfurchtsvoll, alle f¸hlten die Gegenwart eines hËheren Wesens, und doch blieb in solcher Gegenwart einem jeden die Freiheit, ganz in seiner eigenen Natur zu erscheinen. Jeder zeigt sich, wie er ist, mehr als je vor Eltern und Freunden, mit einer gewissen Zuversicht, denn er war gelockt und veranlaï¬t, nur das Gute, das Beste, was an ihm war, an den Tag zu geben, daher beinah eine allgemeine Zufriedenheit entstand.
Verschweigen aber kËnnen wir nicht, daï¬ durch diese gewissermaï¬en zerstreuenden Zustâ°nde Makarie mit der Lage Lenardos beschâ°ftigt blieb; sie â°uï¬erte sich auch dar¸ber gegen ihre Nâ°chsten, gegen Angela und den Astronomen. Lenardos Inneres glaubten sie deutlich vor sich zu sehen, er ist f¸r den Augenblick beruhigt, der Gegenstand seiner Sorge wird hËchst gl¸cklich gesichert; Makarie hatte f¸r die Zukunft auf jeden Fall gesorgt. Nun hatte er das groï¬e Geschâ°ft mutig anzutreten und zu beginnen, das ¸brige dem Folgegang und Schicksal zu ¸berlassen. Dabei konnte man vermuten, daï¬ er in jenen Unternehmungen hauptsâ°chlich gestâ°rkt sei durch den Gedanken, sie dereinst, wenn er Fuï¬ gefaï¬t, hin¸ber zu berufen, wo nicht gar selbst abzuholen.
Allgemeiner Bemerkungen konnte man hiebei sich nicht enthalten. Man beachtete nâ°her den seltenen Fall, der sich hier hervortat: Leidenschaft aus Gewissen. Man gedachte zugleich anderer Beispiele einer wundersamen Umbildung einmal gefaï¬ter Eindr¸cke, der geheimnisvollen Entwickelung angeborner Neigung und Sehnsucht. Man bedauerte, daï¬ in solchen Fâ°llen wenig zu raten sei, w¸rde es aber hËchst râ°tlich finden, sich mËglichst klar zu halten und diesem oder jenem Hang nicht unbedingt nachzugeben.
Zu diesem Punkte aber gelangt, kËnnen wir der Versuchung nicht widerstehen, ein Blatt aus unsern Archiven mitzuteilen, welches Makarien betrifft und die besondere Eigenschaft, die ihrem Geiste erteilt ward. Leider ist dieser Aufsatz erst lange Zeit, nachdem der Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedâ°chtnis geschrieben und nicht, wie es in einem so merkw¸rdigen Fall w¸nschenswert wâ°re, f¸r ganz authentisch anzusehen. Dem sei aber, wie ihm wolle, so wird hier schon so viel mitgeteilt, um Nachdenken zu erregen und Aufmerksamkeit zu empfehlen, ob nicht irgendwo schon etwas â°hnliches oder sich Annâ°herndes bemerkt und verzeichnet worden.
F¸nfzehntes Kapitel
Makarie befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhâ°ltnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den â°uï¬eren Regionen hinkreisend.
Wenn man annehmen darf, daï¬ die Wesen, insofern sie kËrperlich sind, nach dem Zentrum, insofern sie geistig sind, nach der Peripherie streben, so gehËrt unsere Freundin zu den geistigsten; sie scheint nur geboren, um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nâ°chsten und fernsten Râ°ume des Daseins zu durchdringen. Diese Eigenschaft, so herrlich sie ist, ward ihr doch seit den fr¸hsten Jahren als eine schwere Aufgabe verliehen. Sie erinnert sich von klein auf ihr inneres Selbst als von leuchtendem Wesen durchdrungen, von einem Licht erhellt, welchem sogar das hellste Sonnenlicht nichts anhaben konnte. Oft sah sie zwei Sonnen, eine innere nâ°mlich und eine auï¬en am Himmel, zwei Monde, wovon der â°uï¬ere in seiner GrËï¬e bei allen Phasen sich gleich blieb, der innere sich immer mehr und mehr verminderte.
Diese Gabe zog ihren Anteil ab von gewËhnlichen Dingen, aber ihre trefflichen Eltern wendeten alles auf ihre Bildung; alle Fâ°higkeiten wurden an ihr lebendig, alle Tâ°tigkeiten wirksam, dergestalt daï¬ sie allen â°uï¬eren Verhâ°ltnissen zu gen¸gen wuï¬te und, indem ihr Herz, ihr Geist ganz von ¸berirdischen Gesichten erf¸llt war, doch ihr Tun und Handeln immerfort dem edelsten Sittlichen gemâ°ï¬ blieb. Wie sie heranwuchs, ¸berall hilfreich, unaufhaltsam in groï¬en und kleinen Diensten, wandelte sie wie ein Engel Gottes auf Erden, indem ihr geistiges Ganze sich zwar um die Weltsonne, aber nach dem ¸berweltlichen in stetig zunehmenden Kreisen bewegte.
Die ¸berf¸lle dieses Zustandes ward einigermaï¬en dadurch gemildert, daï¬ es auch in ihr zu tagen und zu nachten schien, da sie denn, bei gedâ°mpftem innerem Licht, â°uï¬ere Pflichten auf das treuste zu erf¸llen strebte, bei frisch aufleuchtendem Innerem sich der seligsten Ruhe hingab. Ja sie will bemerkt haben, daï¬ eine Art von Wolken sie von Zeit zu Zeit umschwebten und ihr den Anblick der himmlischen Genossen auf eine Zeitlang umdâ°mmerten, eine Epoche, die sie stets zu Wohl und Freude ihrer Umgebungen zu benutzen wuï¬te.
Solange sie die Anschauungen geheimhielt, gehËrte viel dazu, sie zu ertragen; was sie davon offenbarte, wurde nicht anerkannt oder miï¬deutet, sie lieï¬ es daher in ihrem langen Leben nach auï¬en als Krankheit gelten, und so spricht man in der Familie noch immer davon; zuletzt aber hat ihr das gute Gl¸ck den Mann zugef¸hrt, den ihr bei uns seht, als Arzt, Mathematiker und Astronom gleich schâ°tzbar, durchaus ein edler Mensch, der sich jedoch erst eigentlich aus Neugierde zu ihr heranfand. Als sie aber Vertrauen gegen ihn gewann, ihm nach und nach ihre Zustâ°nde beschrieben, das Gegenwâ°rtige ans Vergangene angeschlossen und in die Ereignisse einen Zusammenhang gebracht hatte, ward er so von der Erscheinung eingenommen, daï¬ er sich nicht mehr von ihr trennen konnte, sondern Tag f¸r Tag stets tiefer in das Geheimnis einzudringen trachtete.
Im Anfange, wie er nicht undeutlich zu verstehen gab, hielt er es f¸r Tâ°uschung; denn sie leugnete nicht, daï¬ von der ersten Jugend an sie sich um die Stern–und Himmelskunde fleiï¬ig bek¸mmert habe, daï¬ sie darin wohl unterrichtet worden und keine Gelegenheit versâ°umt, sich durch Maschinen und B¸cher den Weltbau immer mehr zu versinnlichen. Deshalb er sich denn nicht ausreden lieï¬, es sei angelernt. Die Wirkung einer in hohem Grad geregelten Einbildungskraft, der Einfluï¬ des Gedâ°chtnisses sei zu vermuten, eine Mitwirkung der Urteilskraft, besonders aber eines versteckten Kalk¸ls.
Er ist ein Mathematiker und also hartnâ°ckig, ein heller Geist und also unglâ°ubig; er wehrte sich lange, bemerkte jedoch, was sie angab, genau, suchte der Folge verschiedener Jahre beizukommen, wunderte sich besonders ¸ber die neusten, mit dem gegenseitigem Stande der Himmelslichter ¸bereintreffenden Angaben und rief endlich aus: “Nun warum sollte Gott und die Natur nicht auch eine lebendige Armillarsphâ°re, ein geistiges Râ°derwerk erschaffen und einrichten, daï¬ es, wie ja die Uhren uns tâ°glich und st¸ndlich leisten, dem Gang der Gestirne von selbst auf eigne Weise zu folgen imstande wâ°re?”
Hier aber wagten wir nicht, weiter zu gehen; denn das Unglaubliche verliert seinen Wert, wenn man es nâ°her im einzelnen beschauen will. Doch sagen wir so viel: Dasjenige, was zur Grundlage der anzustellenden Berechnungen diente, war folgendes: Ihr, der Seherin, erschien unsere Sonne in der Vision um vieles kleiner, als sie solche bei Tage erblickte, auch gab eine ungewËhnliche Stellung dieses hËheren Himmelslichtes im Tierkreise Anlaï¬ zu Folgerungen.
Dagegen entstanden Zweifel und Irrungen, weil die Schauende ein und das andere Gestirn andeutete als gleichfalls in dem Zodiak erscheinend, von dem man aber am Himmel nichts gewahr werden konnte. Es mochten die damals noch unentdeckten kleinen Planeten sein. Denn aus andern Angaben lieï¬ sich schlieï¬en, daï¬ sie, lâ°ngst ¸ber die Bahn des Mars hinaus, der Bahn des Jupiter sich nâ°here. Offenbar hatte sie eine Zeitlang diesen Planeten, es wâ°re schwer zu sagen in welcher Entfernung, mit Staunen in seiner ungeheuren Herrlichkeit betrachtet und das Spiel seiner Monde um ihn her geschaut; hernach aber ihn auf die wunderseltsamste Weise als abnehmenden Mond gesehen, und zwar umgewendet, wie uns der wachsende Mond erscheint. Daraus wurde geschlossen, daï¬ sie ihn von der Seite sehe und wirklich im Begriff sei, ¸ber dessen Bahn hinauszuschreiten und in dem unendlichen Raum dem Saturn entgegenzustreben. Dorthin folgt ihr keine Einbildungskraft, aber wir hoffen, daï¬ eine solche Entelechie sich nicht ganz aus unserm Sonnensystem entfernen, sondern, wenn sie an die Grenze desselben gelangt ist, sich wieder zur¸cksehnen werde, um zugunsten unsrer Urenkel in das irdische Leben und Wohltun wieder einzuwirken.
Indem wir nun diese â°therische Dichtung, Verzeihung hoffend, hiemit beschlieï¬en, wenden wir uns wieder zu jenem terrestrischen Mâ°rchen, wovon wir oben eine vor¸bergehende Andeutung gegeben.
Montan hatte mit dem grËï¬ten Anschein von Ehrlichkeit angegeben: jene wunderbare Person, welche mit ihren Gef¸hlen den Unterschied der irdischen Stoffe so wohl zu bezeichnen wisse, sei schon mit den ersten Wanderern in die weite Ferne gezogen, welches jedoch dem aufmerksamen Menschenkenner durchaus hâ°tte sollen unwahrscheinlich d¸nken. Denn wie wollte Montan und seinesgleichen eine so bereite W¸nschelrute von der Seite gelassen haben? Auch ward kurz nach seiner Abreise durch Hin–und Widerreden und sonderbare Erzâ°hlungen der unteren Hausbedienten hier¸ber ein Verdacht allmâ°hlich rege. Philine nâ°mlich und Lydie hatten eine Dritte mitgebracht, unter dem Vorwand, es sei eine Dienerin, wozu sie sich aber gar nicht zu schicken schien; wie sie denn auch beim An–und Auskleiden der Herrinnen niemals gefordert wurde. Ihre einfache Tracht kleidete den derben, wohlgebauten KËrper gar schicklich, deutete aber, so wie die ganze Person, auf etwas Lâ°ndliches. Ihr Betragen, ohne roh zu sein, zeigte keine gesellige Bildung, wovon die Kammermâ°dchen immer die Karikatur darzustellen pflegen. Auch fand sie gar bald unter der Dienerschaft ihren Platz; sie gesellte sich zu den Garten–und Feldgenossen, ergriff den Spaten und arbeitete f¸r zwei bis drei. Nahm sie den Rechen, so flog er auf das geschickteste ¸ber das aufgew¸hlte Erdreich, und die weiteste Flâ°che glich einem wohlgeebneten Beete. ¸brigens hielt sie sich still und gewann gar bald die allgemeine Gunst. Sie erzâ°hlten sich von ihr: man habe sie oft das Werkzeug niederlegen und querfeldein ¸ber Stock und Steine springen sehen, auf eine versteckte Quelle zu, wo sie ihren Durst gelËscht. Diesen Gebrauch habe sie tâ°glich wiederholt, indem sie von irgendeinem Punkte aus, wo sie gestanden, immer ein oder das andere rein ausflieï¬ende Wasser zu finden gewuï¬t, wenn sie dessen bedurfte.
Und so war denn doch f¸r Montans Angeben ein Zeugnis zur¸ckgeblieben, der wahrscheinlich, um lâ°stige Versuche und unzulâ°ngliches Probieren zu vermeiden, die Gegenwart einer so merkw¸rdigen Person vor seinen edlen Wirten, welche sonst wohl ein solches Zutrauen verdient hâ°tten, zu verheimlichen beschloï¬. Wir aber wollten, was uns bekannt geworden, auch unvollstâ°ndig wie es vorliegt, mitgeteilt haben, um forschende Mâ°nner auf â°hnliche Fâ°lle, die sich vielleicht Ëfter, als man glaubt, durch irgendeine Andeutung hervortun, freundlich aufmerksam zu machen.
Sechzehntes Kapitel
Der Amtmann jenes Schlosses, das wir noch vor kurzem durch unsere Wanderer belebt gesehen, von Natur tâ°tig und gewandt, den Vorteil seiner Herrschaft und seinen eignen immer vor Augen habend, saï¬ nunmehr vergn¸gt, Rechnungen und Berichte auszufertigen, wodurch er die seinem Bezirk wâ°hrend der Anwesenheit jener Gâ°ste zugegangenen groï¬en Vorteile mit einiger Selbstgefâ°lligkeit vorzutragen und auseinanderzusetzen sich bem¸hte. Allein dieses war nach seiner eigenen ¸berzeugung nur das Geringste; er hatte bemerkt, was f¸r groï¬e Wirkungen von tâ°tigen, geschickten, freisinnigen und k¸hnen Menschen ausgehen. Die einen hatten Abschied genommen, ¸ber das Meer zu setzen, die andern, um auf dem festen Lande ihr Unterkommen zu finden; nun ward er noch ein drittes heimliches Verhâ°ltnis gewahr, wovon er alsobald Nutzen zu ziehen den Entschluï¬ faï¬te.
Beim Abschied zeigte sich, was man hâ°tte voraussagen und wissen kËnnen, daï¬ von den jungen, r¸stigen Mâ°nnern sich gar mancher mit den h¸bschen Kindern des Dorfs und der Gegend mehr oder weniger befreundet hatte. Nur einige bewiesen Mut genug, als Odoardo mit den Seinigen abging, sich als entschieden Bleibende zu erklâ°ren; von Lenardos Auswanderern war keiner geblieben, aber von diesen letztem beteuerten verschiedene, in kurzer Zeit zur¸ckkehren und sich ansiedeln zu wollen, wenn man ihnen einigermaï¬en ein hinreichendes Auskommen und Sicherheit f¸r die Zukunft gewâ°hren kËnne.
Der Amtmann, welcher die sâ°mtliche PersËnlichkeit und die hâ°uslichen Umstâ°nde seiner ihm untergebenen kleinen VËlkerschaft ganz genau kannte, lachte heimlich als ein wahrer Egoist ¸ber das Ereignis, daï¬ man so groï¬e Anstalten und Aufwand mache, um ¸ber dem Meer und im Mittellande sich frei und tâ°tig zu erweisen, und doch dabei ihm, der auf seiner Hufe ganz ruhig gesessen, gerade die grËï¬ten Vorteile zu Haus und Hof bringe und ihm Gelegenheit gebe, einige der Vorz¸glichsten zur¸ckzuhalten und bei sich zu versammeln. Seine Gedanken, ausgeweitet durch die Gegenwart, fanden nichts nat¸rlicher, als daï¬ Liberalitâ°t, wohl angewendet, gar lËbliche, n¸tzliche Folgen habe. Er faï¬te sogleich den Entschluï¬, in seinem kleinen Bezirk etwas â°hnliches zu unternehmen. Gl¸cklicherweise waren wohlhabende Einwohner diesmal gleichsam genËtigt, ihre TËchter den allzu fr¸hen Gatten gesetzmâ°ï¬ig zu ¸berlassen. Der Amtmann machte ihnen einen solchen b¸rgerlichen Unfall als ein Gl¸ck begreiflich, und da es wirklich ein Gl¸ck war, daï¬ gerade die in diesem Sinne brauchbarsten Handwerker das Los getroffen hatte, so hielt es nicht schwer, die Einleitung zu einer MËbelfabrik zu machen, die ohne weitlâ°ufigen Raum und ohne groï¬e Umstâ°nde nur Geschicklichkeit und hinreichendes Material verlangt. Das letzte versprach der Amtmann; Frauen, Raum und Verlag gaben die Bewohner, und Geschicklichkeit brachten die Einwandernden mit.
Das alles hatte der gewandte Geschâ°ftsmann schon im stillen, bei Anwesenheit und im Tumult der Menge, gar wohl ¸berdacht und konnte daher, sobald es um ihn ruhig ward, gleich zum Werke schreiten.
Ruhe, aber freilich eine Art Totenruhe, war nach Verlauf dieser Flut ¸ber die Straï¬en des Orts, ¸ber den Hof des Schlosses gekommen, als unsern rechnenden und berechnenden Geschâ°ftsmann ein hereinsprengender Reiter aufrief und aus seiner ruhigen Fassung brachte. Des Pferdes Huf klappte freilich nicht, es war nicht beschlagen, aber der Reiter, der von der Decke herabsprang–er ritt ohne Sattel und Steigb¸gel, auch bâ°ndigte er das Pferd nur durch eine Trense–, er rief laut und ungeduldig nach den Bewohnern, nach den Gâ°sten und war leidenschaftlich verwundert, alles so still und tot zu finden.
Der Amtsdiener wuï¬te nicht, was er aus dem AnkËmmling machen sollte; auf einen entstandenen Wortwechsel kam der Amtmann selbst hervor und wuï¬te auch weiter nichts zu sagen, als daï¬ alles weggezogen sei. “Wohin?” war die rasche Frage des jungen, lebendigen AnkËmmlings. –Mit Gelassenheit bezeichnete der Amtmann den Weg Lenardos und Odoards, auch eines dritten problematischen Mannes, den sie teils Wilhelm, teils Meister genannt hâ°tten. Dieser habe sich auf dem einige Meilen entfernten Flusse eingeschifft, er fahre hinab, erst seinen Sohn zu besuchen und alsdann ein wichtiges Geschâ°ft weiter zu verfolgen.
Schon hatte der J¸ngling sich wieder aufs Pferd geschwungen und Kenntnis genommen von dem nâ°chsten Wege zum Flusse hin, als er schon wieder zum Tor hinausst¸rzte und so eilig davonflog, daï¬ dem Amtmann, der oben aus seinen Fenstern nachschaute, kaum ein verfliegender Staub anzudeuten schien, daï¬ der verwirrte Reiter den rechten Weg genommen habe.
Nur eben war der letzte Staub in der Ferne verflogen, und unser Amtmann wollte sich wieder zu seinem Geschâ°ft niedersetzen, als zum oberen Schloï¬tor ein Fuï¬bote hereingesprungen kam und ebenfalls nach der Gesellschaft fragte, der noch etwas Nachtrâ°gliches zu ¸berbringen er eilig abgesendet worden. Er hatte f¸r sie ein grËï¬eres Paket, daneben aber auch einen einzelnen Brief, adressiert an Wilhelm genannt Meister, der dem ¸berbringer von einem jungen Frauenzimmer besonders auf die Seele gebunden und dessen baldige Bestellung eifrigst eingeschâ°rft worden war. Leider konnte auch diesem kein anderer Bescheid werden, als daï¬ er das Nest leer finde und daher seinen Weg eiligst fortsetzen m¸sse, wo er sie entweder sâ°mtlich anzutreffen oder eine weitere Anweisung zu finden hoffen d¸rfte.
Den Brief aber selbst, den wir unter den vielen uns anvertrauten Papieren gleichfalls vorgefunden, d¸rfen wir, als hËchst bedeutend, nicht zur¸ckhalten. Er war von Hersilien, einem so wunderbaren als liebensw¸rdigen Frauenzimmer, welches in unsern Mitteilungen nur selten erscheint, aber bei jedesmaligem Auftreten gewiï¬ jeden Geistreichen, Feinf¸hlenden unwiderstehlich angezogen hat. Auch ist das Schicksal, das sie betrifft, wohl das sonderbarste, das einem zarten Gem¸te widerfahren kann.
Siebzehntes Kapitel
Hersilie an Wilhelm
Ich saï¬ denkend und w¸ï¬te nicht zu sagen, was ich dachte. Ein denkendes Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an, es ist eine Art von empfundener Gleichg¸ltigkeit. Ein Pferd sprengt in den Hof und weckt mich aus meiner Ruhe, die T¸re springt auf, und Felix tritt herein im jugendlichsten Glanze wie ein kleiner Abgott. Er eilt auf mich zu, will mich umarmen, ich weise ihn zur¸ck; er scheint gleichg¸ltig, bleibt in einiger Entfernung, und in ungetr¸bter Heiterkeit preist er mir das Pferd an, das ihn hergetragen, erzâ°hlt von seinen ¸bungen, von seinen Freuden umstâ°ndlich und vertraulich. Die Erinnerung an â°ltere Geschichten bringt uns auf das Prachtkâ°stchen, er weiï¬, daï¬ ich’s habe, und verlangt es zu sehen; ich gebe nach, es war unmËglich zu versagen. Er betrachtet’s, erzâ°hlt umstâ°ndlich, wie er es entdeckt, ich verwirre mich und verrate, daï¬ ich den Schl¸ssel besitze. Nun steigt seine Neugier aufs hËchste, auch den will er sehen, nur von ferne. Dringender und liebensw¸rdiger bitten konnte man niemand sehen; er bittet wie betend, knieet und bittet mit so feurigen, holden Augen, mit so s¸ï¬en, schmeichelnden Worten, und so war ich wieder verf¸hrt. Ich zeigte das Wundergeheimnis von weitem, aber schnell faï¬te er meine Hand und entriï¬ ihn und sprang mutwillig zur Seite um einen Tisch herum.
“Ich habe nichts vom Kâ°stchen noch vom Schl¸ssel!” rief er aus; “dein Herz w¸nscht’ ich zu Ëffnen, daï¬ es sich mir auftâ°te, mir entgegenkâ°me, mich an sich dr¸ckte, mir vergËnnte, es an meine Brust zu dr¸cken.” Er war unendlich schËn und liebensw¸rdig, und wie ich auf ihn zugehen wollte, schob er das Kâ°stchen auf dem Tisch immer vor sich hin; schon stak der Schl¸ssel drinnen; er drohte umzudrehen und drehte wirklich. Das Schl¸sselchen war abgebrochen, die â°uï¬ere Hâ°lfte fiel auf den Tisch.
Ich war verwirrter, als man sein kann und sein sollte. Er ben¸tzt meine Unaufmerksamkeit, lâ°ï¬t das Kâ°stchen stehen, fâ°hrt auf mich los und faï¬t mich in die Arme. Ich rang vergebens, seine Augen nâ°herten sich den meinigen, und es ist was SchËnes, sein eigenes Bild im liebenden Auge zu erblicken. Ich sah’s zum erstenmal, als er seinen Mund lebhaft auf den meinigen dr¸ckte. Ich will’s nur gestehen, ich gab ihm seine K¸sse zur¸ck, es ist doch sehr schËn, einen Gl¸cklichen zu machen. Ich riï¬ mich los, die Kluft, die uns trennt, erschien mir nur zu deutlich; statt mich zu fassen, ¸berschritt ich das Maï¬, ich stieï¬ ihn z¸rnend weg, meine Verwirrung gab mir Mut und Verstand; ich bedrohte, ich schalt ihn, befahl ihm, nie wieder vor mir zu erscheinen; er glaubte meinem wahrhaften Ausdruck. “Gut!” sagte er, “so reit’ ich in die Welt, bis ich umkomme.” Er warf sich auf sein Pferd und sprengte weg. Noch halb trâ°umend will ich das Kâ°stchen verwahren, die Hâ°lfte des Schl¸ssels lag abgebrochen, ich befand mich in doppelter und dreifacher Verlegenheit. O Mâ°nner, o Menschen! Werdet ihr denn niemals die Vernunft fortpflanzen? war es nicht an dem Vater genug, der so viel Unheil anrichtete, bedurft’ es noch des Sohns, um uns unauflËslich zu verwirren?
Diese Bekenntnisse lagen eine Zeitlang bei mir, nun tritt ein sonderbarer Umstand ein, den ich melden muï¬, der obiges aufklâ°rt und verd¸stert.
Ein alter, dem Oheim sehr werter Goldschmied und Juwelenhâ°ndler trifft ein, zeigt seltsame antiquarische Schâ°tze vor; ich werde veranlaï¬t, das Kâ°stchen zu bringen, er betrachtet den abgebrochenen Schl¸ssel und zeigt, was man bisher ¸bersehen hatte, daï¬ der Bruch nicht rauh, sondern glatt sei. Durch Ber¸hrung fassen die beiden Enden einander an, er zieht den Schl¸ssel ergâ°nzt heraus, sie sind magnetisch verbunden, halten einander fest, aber schlieï¬en nur dem Eingeweihten. Der Mann tritt in einige Entfernung, das Kâ°stchen springt auf, das er gleich wieder zudr¸ckt: an solche Geheimnisse sei nicht gut r¸hren, meinte er.
Meinen unerklâ°rlichen Zustand vergegenwâ°rtigen Sie sich, Gott sei Dank, gewiï¬ nicht; denn wie wollte man auï¬erhalb der Verwirrung die Verwirrung erkennen. Das bedeutende Kâ°stchen steht vor mir, den Schl¸ssel, der nicht schlieï¬t, hab’ ich in der Hand, jenes wollt’ ich gern unerËffnet lassen, wenn dieser mir nur die nâ°chste Zukunft aufschlËsse.
Um mich bek¸mmern Sie sich eine Weile ja nicht, aber was ich instâ°ndig bitte, flehe, dringend empfehle: forschen Sie nach Felix; ich habe vergebens umhergesandt, um die Spuren seines Weges aufzufinden. Ich weiï¬ nicht, ob ich den Tag segnen oder f¸rchten soll, der uns wieder zusammenf¸hrt.
Endlich, endlich! verlangt der Bote seine Abfertigung; man hat ihn lange genug hier aufgehalten, er soll die Wanderer mit wichtigen Depeschen ereilen. In dieser Gesellschaft wird er Sie ja auch wohl finden, oder man wird ihn zurecht weisen. Ich unterdes werde nicht beruhigt sein.
Achtzehntes Kapitel
Nun gleitete der Kahn, beschienen von heiï¬er Mittagssonne, den Fluï¬ hinab, gelinde L¸fte k¸hlten den erwâ°rmten â°ther, sanfte Ufer zu beiden Seiten gewâ°hrten einen zwar einfachen, doch behâ°glichen Anblick. Das Kornfeld nâ°herte sich dem Strome, und ein guter Boden trat so nah heran, daï¬ ein rauschendes Wasser, auf irgendeine Stelle sich hinwerfend, das lockere Erdreich gewaltig angegriffen, fortgerissen und steile Abhâ°nge von bedeutender HËhe sich gebildet hatten.
Ganz oben auf dem schroffen Rande einer solchen Steile, wo sonst der Leinpfad mochte hergegangen sein, sah der Freund einen jungen Mann herantraben, gut gebaut, von krâ°ftiger Gestalt. Kaum aber wollte man ihn schâ°rfer ins Auge fassen, als der dort ¸berhangende Rasen losbricht und jener Ungl¸ckliche jâ°hlings, Pferd ¸ber, Mann unter, ins Wasser st¸rzt. Hier war nicht Zeit zu denken, wie und warum, die Schiffer fuhren pfeilschnell dem Strudel zu und hatten im Augenblick die schËne Beute gefaï¬t. Entseelt scheinend lag der holde J¸ngling im Schiffe, und nach kurzer ¸berlegung fuhren die gewandten Mâ°nner einem Kiesweidicht zu, das sich mitten im Fluï¬ gebildet hatte. Landen, den KËrper ans Ufer heben, ausziehen und abtrocknen war eins. Noch aber kein Zeichen des Lebens zu bemerken, die holde Blume hingesenkt in ihren Armen!
Wilhelm griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu Ëffnen; das Blut sprang reichlich hervor, und mit der schlâ°ngelnd anspielenden Welle vermischt, folgte es gekreiseltem Strome nach. Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit, die Binde zu befestigen, als der J¸ngling sich schon mutvoll auf seine F¸ï¬e stellte, Wilhelmen scharf ansah und rief: “Wenn ich leben soll, so sei es mit dir!” Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden und erkannten Rettet um den Hals und weinte bitterlich. So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Br¸der, die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen.
Man bat ihn, sich zu beruhigen. Die wackern Mâ°nner hatten schon ein bequemes Lager, halb sonnig, halb schattig, unter leichten B¸schen und Zweigen bereitet; hier lag er nun auf den vâ°terlichen Mantel hingestreckt, der holdeste J¸ngling; braune Locken, schnell getrocknet, rollten sich schon wieder auf, er lâ°chelte beruhigt und schlief ein. Mit Gefallen sah unser Freund auf ihn herab, indem er ihn zudeckte.–“Wirst du doch immer aufs neue hervorgebracht, herrlich Ebenbild Gottes!” rief er aus, “und wirst sogleich wieder beschâ°digt, verletzt von innen oder von auï¬en.”–Der Mantel fiel ¸ber ihn her, eine gemâ°ï¬igte Sonnenglut durchwâ°rmte die Glieder sanft und innigst, seine Wangen rËteten sich gesund, er schien schon vËllig wiederhergestellt.
Die tâ°tigen Mâ°nner, einer guten gegl¸ckten Handlung und des zu erwartenden reichlichen Lohns zum voraus sich erfreuend, hatten auf dem heiï¬en Kies die Kleider des J¸nglings schon so gut als getrocknet, um ihn beim Erwachen sogleich wieder in den gesellig anstâ°ndigsten Zustand zu versetzen.
Aus Makariens Archiv
Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren; es gibt Steine des Anstoï¬es, ¸ber die ein jeder Wanderer stolpern muï¬. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.
Es wâ°re nicht der M¸he wert, siebzig Jahre alt zu werden, wenn alle Weisheit der Welt Torheit wâ°re vor Gott.
Das Wahre ist gottâ°hnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir m¸ssen es aus seinen Manifestationen erraten.
Der echte Sch¸ler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nâ°hert sich dem Meister.
Aber die Menschen vermËgen nicht leicht aus dem Bekannten das Unbekannte zu entwickeln; denn sie wissen nicht, daï¬ ihr Verstand ebensolche K¸nste wie die Natur treibt.
Denn die GËtter lehren uns ihr eigenstes Werk nachahmen; doch wissen wir nur, was wir tun, erkennen aber nicht, was wir nachahmen.
Alles ist gleich, alles ungleich, alles n¸tzlich und schâ°dlich, sprechend und stumm, vern¸nftig und unvern¸nftig. Und was man von einzelnen Dingen bekennt, widerspricht sich Ëfters.
Denn das Gesetz haben die Menschen sich selbst auferlegt, ohne zu wissen, ¸ber was sie Gesetze gaben; aber die Natur haben alle GËtter geordnet.
Was nun die Menschen gesetzt haben, das will nicht passen, es mag recht oder unrecht sein; was aber die GËtter setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht.
Ich aber will zeigen, daï¬ die bekannten K¸nste der Menschen nat¸rlichen Begebenheiten gleich sind, die offenbar oder geheim vorgehen.
Von der Art ist die Weissagekunst. Sie erkennet aus dem Offenbaren das Verborgene, aus dem Gegenwâ°rtigen das Zuk¸nftige, aus dem Toten das Lebendige, und den Sinn des Sinnlosen.
So erkennt der Unterrichtete immer recht die Natur des Menschen; und der Ununterrichtete sieht sie bald so, bald so an, und jeder ahmt sie nach seiner Weise nach.
Wenn ein Mann mit einem Weibe zusammentrifft und ein Knabe entsteht, so wird aus etwas Bekanntem ein Unbekanntes. Dagegen wenn der dunkle Geist des Knaben die deutlichen Dinge in sich aufnimmt, so wird er zum Mann und lernt aus dem Gegenwâ°rtigen das Zuk¸nftige erkennen.
Das Unsterbliche ist nicht dem sterblichen Lebenden zu vergleichen, und doch ist auch das bloï¬ Lebende verstâ°ndig. So weiï¬ der Magen recht gut, wenn er hungert und durstet.
So verhâ°lt sich die Wahrsagekunst zur menschlichen Natur. Und beide sind dem Einsichtsvollen immer recht; dem Beschrâ°nkten aber erscheinen sie bald so, bald so.
In der Schmiede erweicht man das Eisen, indem man das Feuer anblâ°st und dem Stabe seine ¸berfl¸ssige Nahrung nimmt; ist er aber rein geworden, dann schlâ°gt man ihn und zwingt ihn, und durch die Nahrung eines fremden Wassers wird er wieder stark. Das widerfâ°hrt auch dem Menschen von seinem Lehrer.
Da wir ¸berzeugt sind, daï¬ derjenige, der die intellektuelle Weit beschaut und des wahrhaften Intellekts SchËnheit gewahr wird, auch wohl ihren Vater, der ¸ber allen Sinn erhaben ist, bemerken kËnne, so versuchen wir denn nach Krâ°ften einzusehen und f¸r uns selbst auszudr¸cken–insofern sich dergleichen deutlich machen lâ°ï¬t–, auf welche Weise wir die SchËnheit des Geistes und der Welt anzuschauen vermËgen.
Nehmet an daher: zwei steinerne Massen seien nebeneinandergestellt, deren eine roh und ohne k¸nstliche Bearbeitung geblieben, die andere aber durch die Kunst zur Statue, einer menschlichen oder gËttlichen, ausgebildet worden. Wâ°re es eine gËttliche, so mËchte sie eine Grazie oder Muse vorstellen, wâ°re es eine menschliche, so d¸rfte es nicht ein besonderer Mensch sein, vielmehr irgendeiner, den die Kunst aus allem SchËnen versammelte.
Euch wird aber der Stein, der durch die Kunst zur schËnen Gestalt gebracht worden, alsobald schËn erscheinen; doch nicht weil er Stein ist, denn sonst w¸rde die andere Masse gleichfalls f¸r schËn gelten, sondern daher, daï¬ er eine Gestalt hat, welche die Kunst ihm erteilte.
Die Materie aber hatte eine solche Gestalt nicht, sondern diese war in dem Ersinnenden fr¸her, als sie zum Stein gelangte. Sie war jedoch in dem K¸nstler nicht weil er Augen und Hâ°nde hatte, sondern weil er mit der Kunst begabt war.
Also war in der Kunst noch eine weit grËï¬ere SchËnheit; denn nicht die Gestalt, die in der Kunst ruhet, gelangt in den Stein, sondern dorten bleibt sie und es gehet indessen eine andere, geringere hervor, die nicht rein in sich selbst verharret, noch auch wie sie der K¸nstler w¸nschte, sondern insofern der Stoff der Kunst gehorchte.
Wenn aber die Kunst dasjenige, was sie ist und besitzt, auch hervorbringt und das SchËne nach der Vernunft hervorbringt, nach welcher sie immer handelt, so ist sie f¸rwahr diejenige, die mehr und wahrer eine grËï¬ere und trefflichere SchËnheit der Kunst besitzt, vollkommener als alles, was nach auï¬en hervortritt.
Denn indem die Form, in die Materie hervorschreitend, schon ausgedehnt wird, so wird sie schwâ°cher als jene, welche in Einem verharret. Denn was in sich eine Entfernung erduldet, tritt von sich selbst weg: Stâ°rke von Stâ°rke, Wâ°rme von Wâ°rme, Kraft von Kraft; so auch SchËnheit von SchËnheit. Daher muï¬ das Wirkende trefflicher sein als das Gewirkte. Denn nicht die Unmusik macht den Musiker, sondern die Musik, und die ¸bersinnliche Musik bringt die Musik in sinnlichem Ton hervor.
Wollte aber jemand die K¸nste verachten, weil sie der Natur nachahmen, so lâ°ï¬t sich darauf antworten, daï¬ die Naturen auch manches andere nachahmen; daï¬ ferner die K¸nste nicht das geradezu nachahmen, was man mit Augen siehet, sondern auf jenes Vern¸nftige zur¸ckgehen, aus welchem die Natur bestehet und wornach sie handelt.
Ferner bringen auch die K¸nste vieles aus sich selbst hervor und f¸gen anderseits manches hinzu, was der Vollkommenheit abgehet, indem sie die SchËnheit in sich selbst haben. So konnte Phidias den Gott bilden, ob er gleich nichts sinnlich Erblickliches nachahmte, sondern sich einen solchen in den Sinn faï¬te, wie Zeus selbst erscheinen w¸rde, wenn er unsern Augen begegnen mËchte.
Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des einen dringen, woher alles entspringt und worauf alles wieder zur¸ckzuf¸hren wâ°re. Denn freilich ist das belebende und ordnende Prinzip in der Erscheinung dergestalt bedrâ°ngt, daï¬ es sich kaum zu retten weiï¬. Allein wir verk¸rzen uns an der andern Seite wieder, wenn wir das Formende und die hËhere Form selbst in eine vor unserm â°uï¬ern und innern Sinn verschwindende Einheit zur¸ckdrâ°ngen.
Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese beiden allgemeinen Formen sind es, in welchen sich alle ¸brigen Formen, besonders die sinnlichen, offenbaren. Eine geistige Form wird aber keineswegs verk¸rzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt daï¬ ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daï¬ das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende.
Dieses weiter auszuf¸hren und vollkommen anschaulich, ja, was mehr ist, durchaus praktisch zu machen, w¸rde von wichtigem Belang sein. Eine umstâ°ndliche folgerechte Ausf¸hrung aber mËchte den HËrern ¸bergroï¬e Aufmerksamkeit zumuten.
Was einem angehËrt, wird man nicht los, und wenn man es wegw¸rfe.
Die neueste Philosophie unserer westlichen Nachbarn gibt ein Zeugnis, daï¬ der Mensch, er gebâ°rde sich, wie er wolle, und so auch ganze Nationen immer wieder zum Angebornen zur¸ckkehren. Und wie wollte das anders sein, da ja dieses seine Natur und Lebensweise bestimmt.
Die Franzosen haben dem Materialismus entsagt und den Uranfâ°ngen etwas mehr Geist und Leben zuerkannt; sie haben sich vom Sensualismus losgemacht und den Tiefen der menschlichen Natur eine Entwickelung aus sich selbst eingestanden, sie lassen in ihr eine produktive Kraft gelten und suchen nicht alle Kunst aus Nachahmung eines gewahrgewordenen â°uï¬ern zu erklâ°ren. In solchen Richtungen mËgen sie beharren.
Eine eklektische Philosophie kann es nicht geben, wohl aber eklektische Philosophen.
Ein Eklektiker aber ist ein jeder, der aus dem, was ihn umgibt, aus dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was seiner Natur gemâ°ï¬ ist; und in diesem Sinne gilt alles, was Bildung und Fortschreitung heiï¬t, theoretisch oder praktisch genommen.
Zwei eklektische Philosophen kËnnten demnach die grËï¬ten Widersacher werden, wenn sie, antagonistisch geboren, jeder von seiner Seite sich aus allen ¸berlieferten Philosophien dasjenige aneignete, was ihm gemâ°ï¬ wâ°re. Sehe man doch nur um sich her, so wird man immer finden, daï¬ jeder Mensch auf diese Weise verfâ°hrt und deshalb nicht begreift, warum er andere nicht zu seiner Meinung bekehren kann.
Sogar ist es selten, daï¬ jemand im hËchsten Alter sich selbst historisch wird und daï¬ ihm die Mitlebenden historisch werden, so daï¬ er mit niemanden mehr kontrovertieren mag noch kann.
Besieht man es genauer, so findet sich, daï¬ dem Geschichtschreiber selbst die Geschichte nicht leicht historisch wird: denn der jedesmalige Schreiber schreibt immer nur so, als wenn er damals selbst dabei gewesen wâ°re; nicht aber was vormals und damals bewegte. Der Chronikenschreiber selbst deutet nur mehr oder weniger auf die Beschrâ°nktheit, auf die Eigenheiten seiner Stadt, seines Klosters wie seines Zeitalters.
Verschiedene Spr¸che der Alten, die man sich Ëfters zu wiederholen pflegt, hatten eine ganz andere Bedeutung, als man ihnen in spâ°teren Zeiten geben mËchte.
Das Wort: es solle kein mit der Geometrie Unbekannter, der Geometrie Fremder in die Schule des Philosophen treten, heiï¬t nicht etwa, man solle ein Mathematiker sein, um ein Weltweiser zu werden.
Geometrie ist hier in ihren ersten Elementen gedacht, wie sie uns im Euklid vorliegt und wie wir sie einen jeden Anfâ°nger beginnen lassen. Alsdann aber ist sie die vollkommenste Vorbereitung, ja Einleitung in die Philosophie.
Wenn der Knabe zu begreifen anfâ°ngt, daï¬ einem sichtbaren Punkte ein unsichtbarer vorhergehen m¸sse, daï¬ der nâ°chste Weg zwischen zwei Punkten schon als Linie gedacht werde, ehe sie mit dem Bleistift aufs Papier gezogen wird, so f¸hlt er einen gewissen Stolz, ein Behagen. Und nicht mit Unrecht; denn ihm ist die Quelle alles Denkens aufgeschlossen, Idee und Verwirklichtes, potentia et actu, ist ihm klar geworden; der Philosoph entdeckt ihm nichts Neues, dem Geometer war von seiner Seite der Grund alles Denkens aufgegangen.
Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so m¸ssen wir es nicht im aszetischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen damit gemeint; sondern es heiï¬t ganz einfach: Gib einigermaï¬en acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. Hiezu bedarf es keiner psychologischen Quâ°lereien; jeder t¸chtige Mensch weiï¬ und erfâ°hrt, was es heiï¬en soll; es ist ein guter Rat, der einem jeden praktisch zum grËï¬ten Vorteil gedeiht.
Man denke sich das Groï¬e der Alten, vorz¸glich der sokratischen Schule, daï¬ sie Quelle und Richtschnur alles Lebens und Tuns vor Augen stellt, nicht zu leerer Spekulation, sondern zu Leben und Tat auffordert.
Wenn nun unser Schulunterricht immer auf das Altertum hinweist, das Studium der griechischen und lateinischen Sprache fËrdert, so kËnnen wir uns Gl¸ck w¸nschen, daï¬ diese zu einer hËheren Kultur so nËtigen Studien niemals r¸ckgâ°ngig werden.
Wenn wir uns dem Altertum gegen¸berstellen und es ernstlich in der Absicht anschauen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die Empfindung, als ob wir erst eigentlich zu Menschen w¸rden.