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Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 6
Johann Wolfgang von Goethe
Sechstes Buch
Bekenntnisse einer schËnen Seele
Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz gesundes Kind, weiï¬ mich aber von dieser Zeit so wenig zu erinnern als von dem Tage meiner Geburt. Mit dem Anfange des achten Jahres bekam ich einen Blutsturz, und in dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Gedâ°chtnis. Die kleinsten Umstâ°nde dieses Zufalls stehn mir noch vor Augen, als hâ°tte er sich gestern ereignet.
Wâ°hrend des neunmonatlichen Krankenlagers, das ich mit Geduld aushielt, ward, so wie mich d¸nkt, der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt, indem meinem Geiste die ersten H¸lfsmittel gereicht wurden, sich nach seiner eigenen Art zu entwickeln.
Ich litt und liebte, das war die eigentliche Gestalt meines Herzens. In dem heftigsten Husten und abmattenden Fieber war ich stille wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zieht; sobald ich ein wenig Luft hatte, wollte ich etwas Angenehmes f¸hlen, und da mir aller ¸brige Genuï¬ versagt war, suchte ich mich durch Augen und Ohren schadlos zu halten. Man brachte mir Puppenwerk und Bilderb¸cher, und wer Sitz an meinem Bette haben wollte, muï¬te mir etwas erzâ°hlen.
Von meiner Mutter hËrte ich die biblischen Geschichten gern an; der Vater unterhielt mich mit Gegenstâ°nden der Natur. Er besaï¬ ein artiges Kabinett. Davon brachte er gelegentlich eine Schublade nach der andern herunter, zeigte mir die Dinge und erklâ°rte sie mir nach der Wahrheit. Getrocknete Pflanzen und Insekten und manche Arten von anatomischen Prâ°paraten, Menschenhaut, Knochen, Mumien und dergleichen kamen auf das Krankenbette der Kleinen; VËgel und Tiere, die er auf der Jagd erlegte, wurden mir vorgezeigt, ehe sie nach der K¸che gingen; und damit doch auch der F¸rst der Welt eine Stimme in dieser Versammlung behielte, erzâ°hlte mir die Tante Liebesgeschichten und Feenmâ°rchen. Alles ward angenommen, und alles faï¬te Wurzel. Ich hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit dem unsichtbaren Wesen unterhielt; ich weiï¬ noch einige Verse, die ich der Mutter damals in die Feder diktierte.
Oft erzâ°hlte ich dem Vater wieder, was ich von ihm gelernt hatte. Ich nahm nicht leicht eine Arzenei, ohne zu fragen: “Wo wachsen die Dinge, aus denen sie gemacht ist? wie sehen sie aus? wie heiï¬en sie?” Aber die Erzâ°hlungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte mich in schËne Kleider und begegnete den allerliebsten Prinzen, die nicht ruhen noch rasten konnten, bis sie wuï¬ten, wer die unbekannte SchËne war. Ein â°hnliches Abenteuer mit einem reizenden kleinen Engel, der in weiï¬em Gewand und goldnen Fl¸geln sich sehr um mich bem¸hte, setzte ich so lange fort, daï¬ meine Einbildungskraft sein Bild fast bis zur Erscheinung erhËhte.
Nach Jahresfrist war ich ziemlich wiederhergestellt; aber es war mir aus der Kindheit nichts Wildes ¸briggeblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen spielen, ich verlangte nach Wesen, die meine Liebe erwiderten. Hunde, Katzen und VËgel, dergleichen mein Vater von allen Arten ernâ°hrte, vergn¸gten mich sehr; aber was hâ°tte ich nicht gegeben, ein GeschËpf zu besitzen, das in einem der Mâ°rchen meiner Tante eine sehr wichtige Rolle spielte. Es war ein Schâ°fchen, das von einem Bauermâ°dchen in dem Walde aufgefangen und ernâ°hrt worden war, aber in diesem artigen Tiere stak ein verw¸nschter Prinz, der sich endlich wieder als schËner J¸ngling zeigte und seine Wohltâ°terin durch seine Hand belohnte. So ein Schâ°fchen hâ°tte ich gar zu gerne besessen!
Nun wollte sich aber keines finden, und da alles neben mir so ganz nat¸rlich zuging, muï¬te mir nach und nach die Hoffnung auf einen so kËstlichen Besitz fast vergehen. Unterdessen trËstete ich mich, indem ich solche B¸cher las, in denen wunderbare Begebenheiten beschrieben wurden. Unter allen war mir der “Christliche deutsche Herkules” der liebste; die andâ°chtige Liebesgeschichte war ganz nach meinem Sinne. Begegnete seiner Valiska irgend etwas, und es begegneten ihr grausame Dinge, so betete er erst, eh er ihr zu H¸lfe eilte, und die Gebete standen ausf¸hrlich im Buche. Wie wohl gefiel mir das! Mein Hang zu dem Unsichtbaren, den ich immer auf eine dunkle Weise f¸hlte, ward dadurch nur vermehrt; denn ein f¸r allemal sollte Gott auch mein Vertrauter sein.
Als ich weiter heranwuchs, las ich, der Himmel weiï¬ was, alles durcheinander; aber die “RËmische Oktavia” behielt vor allen den Preis. Die Verfolgungen der ersten Christen, in einen Roman gekleidet, erregten bei mir das lebhafteste Interesse.
Nun fing die Mutter an, ¸ber das stete Lesen zu schmâ°len; der Vater nahm ihr zuliebe mir einen Tag die B¸cher aus der Hand und gab sie mir den andern wieder. Sie war klug genug zu bemerken, daï¬ hier nichts auszurichten war, und drang nur darauf, daï¬ auch die Bibel ebenso fleiï¬ig gelesen wurde. Auch dazu lieï¬ ich mich nicht treiben, und ich las die heiligen B¸cher mit vielem Anteil. Dabei war meine Mutter immer sorgfâ°ltig, daï¬ keine verf¸hrerischen B¸cher in meine Hâ°nde kâ°men, und ich selbst w¸rde jede schâ°ndliche Schrift aus der Hand geworfen haben; denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle â°uï¬erst tugendhaft, und ich wuï¬te ¸brigens von der nat¸rlichen Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr, als ich merken lieï¬, und hatte es meistens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt ich mit Worten und Dingen, die mir vor Augen kamen, zusammen und brachte bei meiner Wiï¬begierde und Kombinationsgabe die Wahrheit gl¸cklich heraus. Hâ°tte ich von Hexen gehËrt, so hâ°tte ich auch mit der Hexerei bekannt werden m¸ssen.
Meiner Mutter und dieser Wiï¬begierde hatte ich es zu danken, daï¬ ich bei dem heftigen Hang zu B¸chern doch kochen lernte; aber dabei war etwas zu sehen. Ein Huhn, ein Ferkel aufzuschneiden war f¸r mich ein Fest. Dem Vater brachte ich die Eingeweide, und er redete mit mir dar¸ber wie mit einem jungen Studenten und pflegte mich oft mit inniger Freude seinen miï¬ratenen Sohn zu nennen.
Nun war das zwËlfte Jahr zur¸ckgelegt. Ich lernte FranzËsisch, Tanzen und Zeichnen und erhielt den gewËhnlichen Religionsunterricht. Bei dem letzten wurden manche Empfindungen und Gedanken rege, aber nichts, was sich auf meinen Zustand bezogen hâ°tte. Ich hËrte gern von Gott reden, ich war stolz darauf, besser als meinesgleichen von ihm reden zu kËnnen; ich las nun mit Eifer manche B¸cher, die mich in den Stand setzten, von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sei, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne widerglâ°nzen kËnnte; das hatte ich ein f¸r allemal schon vorausgesetzt.
FranzËsisch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeister war ein wackerer Mann. Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker, nicht ein trocknet Grammatiker; er hatte Wissenschaften, er hatte die Welt gesehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte sâ°ttigte er meine Wiï¬begierde auf mancherlei Weise. Ich liebte ihn so sehr, daï¬ ich seine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeichnen fiel mir nicht schwer, und ich w¸rde es weiter gebracht haben, wenn mein Meister Kopf und Kenntnisse gehabt hâ°tte; er hatte aber nur Hâ°nde und ¸bung.
Tanzen war anfangs nur meine geringste Freude; mein KËrper war zu empfindlich, und ich lernte nur in der Gesellschaft meiner Schwester. Durch den Einfall unsers Tanzmeisters, allen seinen Sch¸lern und Sch¸lerinnen einen Ball zu geben, ward aber die Lust zu dieser ¸bung ganz anders belebt.
Unter vielen Knaben und Mâ°dchen zeichneten sich zwei SËhne des Hofmarschalls aus: der j¸ngste so alt wie ich, der andere zwei Jahre â°lter, Kinder von einer solchen SchËnheit, daï¬ sie nach dem allgemeinen Gestâ°ndnis alles ¸bertrafen, was man je von schËnen Kindern gesehen hatte. Auch ich hatte sie kaum erblickt, so sah ich niemand mehr vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke tanzte ich mit Aufmerksamkeit und w¸nschte schËn zu tanzen. Wie es kam, daï¬ auch diese Knaben unter allen andern mich vorz¸glich bemerkten?–Genug, in der ersten Stunde waren wir die besten Freunde, und die kleine Lustbarkeit ging noch nicht zu Ende, so hatten wir schon ausgemacht, wo wir uns nâ°chstens wiedersehen wollten. Eine groï¬e Freude f¸r mich! Aber ganz entz¸ckt war ich, als beide den andern Morgen, jeder in einem galanten Billett, das mit einem Blumenstrauï¬ begleitet war, sich nach meinem Befinden erkundigten. So f¸hlte ich nie mehr, wie ich da f¸hlte! Artigkeiten wurden mit Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen erwidert. Kirche und Promenaden wurden von nun an zu Rendezvous; unsre jungen Bekannten luden uns schon jederzeit zusammen ein, wir aber waren schlau genug, die Sache dergestalt zu verdecken, daï¬ die Eltern nicht mehr davon einsahen, als wir f¸r gut hielten.
Nun hatte ich auf einmal zwei Liebhaber bekommen. Ich war f¸r keinen entschieden; sie gefielen mir beide, und wir standen aufs beste zusammen. Auf einmal ward der â°ltere sehr krank; ich war selbst schon oft sehr krank gewesen und wuï¬te den Leidenden durch ¸bersendung mancher Artigkeiten und f¸r einen Kranken schicklicher Leckerbissen zu erfreuen, daï¬ seine Eltern die Aufmerksamkeit dankbar erkannten, der Bitte des lieben Sohns GehËr gaben und mich samt meinen Schwestern, sobald er nur das Bette verlassen hatte, zu ihm einluden. Die Zâ°rtlichkeit, womit er mich empfing, war nicht kindisch, und von dem Tage an war ich f¸r ihn entschieden. Er warnte mich gleich, vor seinem Bruder geheim zu sein; allein das Feuer war nicht mehr zu verbergen, und die Eifersucht des J¸ngern machte den Roman vollkommen. Er spielte uns tausend Streiche; mit Lust vernichtete er unsre Freunde und vermehrte dadurch die Leidenschaft, die er zu zerstËren suchte.
Nun hatte ich denn wirklich das gew¸nschte Schâ°fchen gefunden, und diese Leidenschaft hatte, wie sonst eine Krankheit, die Wirkung auf mich, daï¬ sie mich still machte und mich von der schwâ°rmenden Freude zur¸ckzog. Ich war einsam und ger¸hrt, und Gott fiel mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiï¬ wohl, mit welchen Trâ°nen ich f¸r den Knaben, der fortkrâ°nkelte, zu beten anhielt.
Soviel Kindisches in dem Vorgang war, soviel trug er zur Bildung meines Herzens bei. Unserm franzËsischen Sprachmeister muï¬ten wir tâ°glich statt der sonst gewËhnlichen ¸bersetzung Briefe von unsrer eignen Erfindung schreiben. Ich brachte meine Liebesgeschichte unter dem Namen Phyllis und Damon zu Markte. Der Alte sah bald durch, und um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar sehr. Ich wurde immer k¸hner, ging offenherzig heraus und war bis ins Detail der Wahrheit getreu. Ich weiï¬ nicht mehr, bei welcher Stelle er einst Gelegenheit nahm zu sagen: “Wie das artig, wie das nat¸rlich ist! Aber die gute Phyllis mag sich in acht nehmen, es kann bald ernsthaft werden.”
Mich verdroï¬, daï¬ er die Sache nicht schon f¸r ernsthaft hielt, und fragte ihn pikiert, was er unter ernsthaft verstehe? Er lieï¬ sich nicht zweimal fragen und erklâ°rte sich so deutlich, daï¬ ich meinen Schrecken kaum verbergen konnte. Doch da sich gleich darauf bei mir der Verdruï¬ einstellte und ich ihm ¸belnahm, daï¬ er solche Gedanken hegen kËnne, faï¬te ich mich, wollte meine SchËne rechtfertigen und sagte mit feuerroten Wangen: “Aber, mein Herr, Phyllis ist ein ehrbares Mâ°dchen!”
Nun war er boshaft genug, mich mit meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen und, indem wir FranzËsisch sprachen, mit dem “honnete” zu spielen, um die Ehrbarkeit der Phyllis durch alle Bedeutungen durchzuf¸hren. Ich f¸hlte das Lâ°cherliche und war â°uï¬erst verwirrt. Er, der mich nicht furchtsam machen wollte, brach ab, brachte aber das Gesprâ°ch bei andern Gelegenheiten wieder auf die Bahn. Schauspiele und kleine Geschichten, die ich bei ihm las und ¸bersetzte, gaben ihm oft Anlaï¬ zu zeigen, was f¸r ein schwacher Schutz die sogenannte Tugend gegen die Aufforderungen eines Affekts sei. Ich widersprach nicht mehr, â°rgerte mich aber immer heimlich, und seine Anmerkungen wurden mir zur Last.
Mit meinem guten Damon kam ich auch nach und nach aus aller Verbindung. Die Schikanen des J¸ngern hatten unsern Umgang zerrissen. Nicht lange Zeit darauf starben beide bl¸hende J¸nglinge. Es tat mir weh, aber bald waren sie vergessen.
Phyllis wuchs nun schnell heran, war ganz gesund und fing an, die Welt zu sehen. Der Erbprinz vermâ°hlte sich und trat bald darauf nach dem Tode seines Vaters die Regierung an. Hof und Stadt waren in lebhafter Bewegung. Nun hatte meine Neugierde mancherlei Nahrung. Nun gab es KomËdien, Bâ°lle und was sich daran anschlieï¬t, und ob uns gleich die Eltern soviel als mËglich zur¸ckhielten, so muï¬te man doch bei Hof, wo ich eingef¸hrt war, erscheinen. Die Fremden strËmten herbei, in allen Hâ°usern war groï¬e Welt, an uns selbst waren einige Kavaliere empfohlen und andre introduziert, und bei meinem Oheim waren alle Nationen anzutreffen.
Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich auf eine bescheidene und doch treffende Weise zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich ¸bel. Ich war keinesweges von der Wahrheit seiner Behauptung ¸berzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals recht, vielleicht hatte er unrecht, die Frauen unter allen Umstâ°nden f¸r so schwach zu halten; aber er redete zugleich so zudringlich, daï¬ mir einst bange wurde, er mËchte recht haben, da ich denn sehr lebhaft zu ihm sagte: “Weil die Gefahr so groï¬ und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich Gott bitten, daï¬ er mich bewahre.”
Die naive Antwort schien ihn zu freuen, er lobte meinen Vorsatz; aber es war bei mir nichts weniger als ernstlich gemeint; diesmal war es nur ein leeres Wort: denn die Empfindungen f¸r den Unsichtbaren waren bei mir fast ganz verloschen. Der groï¬e Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerstreute mich und riï¬ mich wie ein starker Strom mit fort. Es waren die leersten Jahre meines Lebens. Tagelang von nichts zu reden, keinen gesunden Gedanken zu haben und nur zu schwâ°rmen, das war meine Sache. Nicht einmal der geliebten B¸cher wurde gedacht. Die Leute, mit denen ich umgeben war, hatten keine Ahnung von Wissenschaften; es waren deutsche Hofleute, und diese Klasse hatte damals nicht die mindeste Kultur.
Ein solcher Umgang, sollte man denken, hâ°tte mich an den Rand des Verderbens f¸hren m¸ssen. Ich lebte in sinnlicher Munterkeit nur so hin, ich sammelte mich nicht, ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch an Gott; aber ich sah es als eine F¸hrung an, daï¬ mir keiner von den vielen schËnen, reichen und wohlgekleideten Mâ°nnern gefiel. Sie waren liederlich und versteckten es nicht, das schreckte mich zur¸ck; ihr Gesprâ°ch zierten sie mit Zweideutigkeiten, das beleidigte mich, und ich hielt mich kalt gegen sie; ihre Unart ¸berstieg manchmal allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu sein.
¸berdies hatte mir mein Alter einmal vertraulich erËffnet, daï¬ mit den meisten dieser leidigen Bursche nicht allein die Tugend, sondern auch die Gesundheit eines Mâ°dchens in Gefahr sei. Nun graute mir erst vor ihnen, und ich war schon besorgt, wenn mir einer auf irgendeine Weise zu nahe kam. Ich h¸tete mich vor Glâ°sern und Tassen wie vor dem Stuhle, von dem einer aufgestanden war. Auf diese Weise war ich moralisch und physisch sehr isoliert, und alle die Artigkeiten, die sie mir sagten, nahm ich stolz f¸r schuldigen Weihrauch auf.
Unter den Fremden, die sich damals bei uns aufhielten, zeichnete sich ein junger Mann besonders aus, den wir im Scherz Narziï¬ nannten. Er hatte sich in der diplomatischen Laufbahn guten Ruf erworben und hoffte bei verschiedenen Verâ°nderungen, die an unserm neuen Hofe vorgingen, vorteilhaft plaziert zu werden. Er ward mit meinem Vater bald bekannt, und seine Kenntnisse und sein Betragen Ëffneten ihm den Weg in eine geschlossene Gesellschaft der w¸rdigsten Mâ°nner. Mein Vater sprach viel zu seinem Lobe, und seine schËne Gestalt hâ°tte noch mehr Eindruck gemacht, wenn sein ganzes Wesen nicht eine Art von Selbstgefâ°lligkeit gezeigt hâ°tte. Ich hatte ihn gesehen, dachte gut von ihm, aber wir hatten uns nie gesprochen.
Auf einem groï¬en Balle, auf dem er sich auch befand, tanzten wir eine Menuett zusammen; auch das ging ohne nâ°here Bekanntschaft ab. Als die heftigen Tâ°nze angingen, die ich meinem Vater zuliebe, der f¸r meine Gesundheit besorgt war, zu vermeiden pflegte, begab ich mich in ein Nebenzimmer und unterhielt mich mit â°ltern Freundinnen, die sich zum Spiele gesetzt hatten.
VI. Buch–2
Narziï¬, der eine Weile mit herumgesprungen war, kam auch einmal in das Zimmer, in dem ich mich befand, und fing, nachdem er sich von einem Nasenbluten, das ihn beim Tanzen ¸berfiel, erholt hatte, mit mir ¸ber mancherlei zu sprechen an. Binnen einer halben Stunde war der Diskurs so interessant, ob sich gleich keine Spur von Zâ°rtlichkeit dreinmischte, daï¬ wir nun beide das Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir wurden bald von den andern dar¸ber geneckt, ohne daï¬ wir uns dadurch irremachen lieï¬en. Den andern Abend konnten wir unser Gesprâ°ch wieder ankn¸pfen und schonten unsre Gesundheit sehr.
Nun war die Bekanntschaft gemacht. Narziï¬ wartete mir und meinen Schwestern auf, und nun fing ich erst wieder an gewahr zu werden, was ich alles wuï¬te, wor¸ber ich gedacht, was ich empfunden hatte und wor¸ber ich mich im Gesprâ°che auszudr¸cken verstand. Mein neuer Freund, der von jeher in der besten Gesellschaft gewesen war, hatte auï¬er dem historischen und politischen Fache, das er ganz ¸bersah, sehr ausgebreitete literarische Kenntnisse, und ihm blieb nichts Neues, besonders was in Frankreich herauskam, unbekannt. Er brachte und sendete mir manch angenehmes Buch, doch das muï¬te geheimer als ein verbotenes Liebesverstâ°ndnis gehalten werden. Man hatte die gelehrten Weiber lâ°cherlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich weil man f¸r unhËflich hielt, so viel unwissende Mâ°nner beschâ°men zu lassen. Selbst mein Vater, dem diese neue Gelegenheit, meinen Geist auszubilden, sehr erw¸nscht war, verlangte ausdr¸cklich, daï¬ dieses literarische Kommerz ein Geheimnis bleiben sollte.
So wâ°hrte unser Umgang beinahe Jahr und Tag, und ich konnte nicht sagen, daï¬ Narziï¬ auf irgendeine Weise Liebe oder Zâ°rtlichkeit gegen mich geâ°uï¬ert hâ°tte. Er blieb artig und verbindlich, aber zeigte keinen Affekt; vielmehr schien der Reiz meiner j¸ngsten Schwester, die damals auï¬erordentlich schËn war, ihn nicht gleichg¸ltig zu lassen. Er gab ihr im Scherze allerlei freundliche Namen aus fremden Sprachen, deren mehrere er sehr gut sprach und deren eigent¸mliche Redensarten er gern ins deutsche Gesprâ°ch mischte. Sie erwiderte seine Artigkeiten nicht sonderlich; sie war von einem andern Fâ°dchen gebunden, und da sie ¸berhaupt sehr rasch und er empfindlich war, so wurden sie nicht selten ¸ber Kleinigkeiten uneins. Mit der Mutter und den Tanten wuï¬te er sich gut zu halten, und so war er nach und nach ein Glied der Familie geworden.
Wer weiï¬, wie lange wir noch auf diese Weise fortgelebt hâ°tten, wâ°ren durch einen sonderbaren Zufall unsere Verhâ°ltnisse nicht auf einmal verâ°ndert worden. Ich ward mit meinen Schwestern in ein gewisses Haus gebeten, wohin ich nicht gerne ging. Die Gesellschaft war zu gemischt, und es fanden sich dort oft Menschen, wo nicht vom rohsten, doch vom plattsten Schlage mit ein. Diesmal war Narziï¬ auch mit geladen, und um seinetwillen war ich geneigt hinzugehen: denn ich war doch gewiï¬, jemanden zu finden, mit dem ich mich auf meine Weise unterhalten konnte. Schon bei Tafel hatten wir manches auszustehen, denn einige Mâ°nner hatten stark getrunken; nach Tische sollten und muï¬ten Pfâ°nder gespielt werden. Es ging dabei sehr rauschend und lebhaft zu. Narziï¬ hatte ein Pfand zu lËsen; man gab ihm auf, der ganzen Gesellschaft etwas ins Ohr zu sagen, das jedermann angenehm wâ°re. Er mochte sich bei meiner Nachbarin, der Frau eines Hauptmanns, zu lange verweilen. Auf einmal gab ihm dieser eine Ohrfeige, daï¬ mir, die ich gleich daran saï¬, der Puder in die Augen flog. Als ich die Augen ausgewischt und mich vom Schrecken einigermaï¬en erholt hatte, sah ich beide Mâ°nner mit bloï¬en Degen. Narziï¬ blutete, und der andere, auï¬er sich von Wein, Zorn und Eifersucht, konnte kaum von der ganzen ¸brigen Gesellschaft zur¸ckgehalten werden. Ich nahm Narzissen beim Arm und f¸hrte ihn zur T¸re hinaus, eine Treppe hinauf in ein ander Zimmer, und weil ich meinen Freund vor seinem tollen Gegner nicht sicher glaubte, riegelte ich die T¸re sogleich zu.
Wir hielten beide die Wunde nicht f¸r ernsthaft, denn wir sahen nur einen leichten Hieb ¸ber die Hand; bald aber wurden wir einen Strom von Blut, der den R¸cken hinunterfloï¬, gewahr, und es zeigte sich eine groï¬e Wunde auf dem Kopfe. Nun ward mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz, um nach H¸lfe zu schicken, konnte aber niemand ansichtig werden, denn alles war unten geblieben, den rasenden Menschen zu bâ°ndigen. Endlich kam eine Tochter des Hauses heraufgesprungen, und ihre Munterkeit â°ngstigte mich nicht wenig, da sie sich ¸ber den tollen Spektakel und ¸ber die verfluchte KomËdie fast zu Tode lachen wollte. Ich bat sie dringend, mir einen Wundarzt zu schaffen, und sie, nach ihrer wilden Art, sprang gleich die Treppe hinunter, selbst einen zu holen.
Ich ging wieder zu meinem Verwundeten, band ihm mein Schnupftuch um die Hand und ein Handtuch, das an der T¸re hing, um den Kopf. Er blutete noch immer heftig: der Verwundete erblaï¬te und schien in Ohnmacht zu sinken. Niemand war in der Nâ°he, der mir hâ°tte beistehen kËnnen; ich nahm ihn sehr ungezwungen in den Arm und suchte ihn durch Streicheln und Schmeicheln aufzumuntern. Es schien die Wirkung eines geistigen Heilmittels zu tun; er blieb bei sich, aber saï¬ totenbleich da.
Nun kam endlich die tâ°tige Hausfrau, und wie erschrak sie, als sie den Freund in dieser Gestalt in meinen Armen liegen und uns alle beide mit Blut ¸berstrËmt sah: denn niemand hatte sich vorgestellt, daï¬ Narziï¬ verwundet sei; alle meinten, ich habe ihn gl¸cklich hinausgebracht.
Nun war Wein, wohlriechendes Wasser, und was nur erquicken und erfrischen konnte, im ¸berfluï¬ da, nun kam auch der Wundarzt, und ich hâ°tte wohl abtreten kËnnen; allein Narziï¬ hielt mich fest bei der Hand, und ich wâ°re, ohne gehalten zu werden, stehengeblieben. Ich fuhr wâ°hrend des Verbandes fort, ihn mit Wein anzustreichen, und achtete es wenig, daï¬ die ganze Gesellschaft nunmehr umherstand. Der Wundarzt hatte geendigt, der Verwundete nahm einen stummen, verbindlichen Abschied von mir und wurde nach Hause getragen.
Nun f¸hrte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; sie muï¬te mich ganz auskleiden, und ich darf nicht verschweigen, daï¬ ich, da man sein Blut von meinem KËrper abwusch, zum erstenmal zufâ°llig im Spiegel gewahr wurde, daï¬ ich mich auch ohne H¸lle f¸r schËn halten durfte. Ich konnte keines meiner Kleidungsst¸cke wieder anziehn, und da die Personen im Hause alle kleiner oder stâ°rker waren als ich, so kam ich in einer seltsamen Verkleidung zum grËï¬ten Erstaunen meiner Eltern nach Hause. Sie waren ¸ber mein Schrecken, ¸ber die Wunden des Freundes, ¸ber den Unsinn des Hauptmanns, ¸ber den ganzen Vorfall â°uï¬erst verdrieï¬lich. Wenig fehlte, so hâ°tte mein Vater selbst, seinen Freund auf der Stelle zu râ°chen, den Hauptmann herausgefordert. Er schalt die anwesenden Herren, daï¬ sie ein solches meuchlerisches Beginnen nicht auf der Stelle geahndet; denn es war nur zu offenbar, daï¬ der Hauptmann sogleich, nachdem er geschlagen, den Degen gezogen und Narzissen von hinten verwundet habe; der Hieb ¸ber die Hand war erst gef¸hrt worden, als Narziï¬ selbst zum Degen griff. Ich war unbeschreiblich alteriert und affiziert, oder wie soll ich es ausdr¸cken; der Affekt, der im tiefsten Grunde des Herzens ruhte, war auf einmal losgebrochen wie eine Flamme, welche Luft bekËmmt. Und wenn Lust und Freude sehr geschickt sind, die Liebe zuerst zu erzeugen und im stillen zu nâ°hren, so wird sie, die von Natur herzhaft ist, durch den Schrecken am leichtesten angetrieben, sich zu entscheiden und zu erklâ°ren. Man gab dem TËchterchen Arznei ein und legte es zu Bette. Mit dem fr¸hesten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten Freund, der an einem starken Wundfieber recht krank darniederlag.
Mein Vater sagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und suchte mich wegen der Folgen, die dieser Vorfall haben kËnnte, zu beruhigen. Es war die Rede, ob man sich mit einer Abbitte begn¸gen kËnne, ob die Sache gerichtlich werden m¸sse, und was dergleichen mehr war. Ich kannte meinen Vater zu wohl, als daï¬ ich ihm geglaubt hâ°tte, daï¬ er diese Sache ohne Zweikampf geendigt zu sehen w¸nschte; allein ich blieb still, denn ich hatte von meinem Vater fr¸h gelernt, daï¬ Weiber in solche Hâ°ndel sich nicht zu mischen hâ°tten. ¸brigens schien es nicht, als wenn zwischen den beiden Freunden etwas vorgefallen wâ°re, das mich betroffen hâ°tte; doch bald vertraute mein Vater den Inhalt seiner weitern Unterredung meiner Mutter. Narziï¬, sagte er, sei â°uï¬erst ger¸hrt von meinem geleisteten Beistand, habe ihn umarmt, sich f¸r meinen ewigen Schuldner erklâ°rt, bezeigt, er verlange kein Gl¸ck, wenn er es nicht mit mir teilen sollte; er habe sich die Erlaubnis ausgebeten, ihn als Vater ansehn zu d¸rfen. Mama sagte mir das alles treulich wieder, hâ°ngte aber die wohlmeinende Erinnerung daran, auf so etwas, das in der ersten Bewegung gesagt worden, d¸rfe man so sehr nicht achten. “Ja freilich”, antwortete ich mit angenommener Kâ°lte und f¸hlte der Himmel weiï¬ was und wieviel dabei.
Narziï¬ blieb zwei Monate krank, konnte wegen der Wunde an der rechten Hand nicht einmal schreiben, bezeigte mir aber inzwischen sein Andenken durch die verbindlichste Aufmerksamkeit. Alle diese mehr als gewËhnlichen HËflichkeiten hielt ich mit dem, was ich von der Mutter erfahren hatte, zusammen, und bestâ°ndig war mein Kopf voller Grillen. Die ganze Stadt unterhielt sich von der Begebenheit. Man sprach mit mir davon in einem besondern Tone, man zog Folgerungen daraus, die, sosehr ich sie abzulehnen suchte, mir immer sehr nahegingen. Was vorher Tâ°ndelei und Gewohnheit gewesen war, ward nun Ernst und Neigung. Die Unruhe, in der ich lebte, war um so heftiger, je sorgfâ°ltiger ich sie vor allen Menschen zu verbergen suchte. Der Gedanke, ihn zu verlieren, erschreckte mich, und die MËglichkeit einer nâ°hern Verbindung machte mich zittern. Der Gedanke des Ehestandes hat f¸r ein halbkluges Mâ°dchen gewiï¬ etwas Schreckhaftes.
Durch diese heftigen Ersch¸tterungen ward ich wieder an mich selbst erinnert. Die bunten Bilder eines zerstreuten Lebens, die mir sonst Tag und Nacht vor den Augen schwebten, waren auf einmal weggeblasen. Meine Seele fing wieder an, sich zu regen; allein die sehr unterbrochene Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so leicht nicht wiederhergestellt. Wir blieben noch immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein groï¬er Unterschied.
Ein Zweikampf, worin der Hauptmann stark verwundet wurde, war vor¸ber, ohne daï¬ ich etwas davon erfahren hatte, und die Ëffentliche Meinung war in jedem Sinne auf der Seite meines Geliebten, der endlich wieder auf dem Schauplatze erschien. Vor allen Dingen lieï¬ er sich mit verbundnem Haupt und eingewickelter Hand in unser Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz bei diesem Besuche! Die ganze Familie war gegenwâ°rtig; es blieb auf beiden Seiten nur bei allgemeinen Danksagungen und HËflichkeiten; doch fand er Gelegenheit, mir einige geheime Zeichen seiner Zâ°rtlichkeit zu geben, wodurch meine Unruhe nur zu sehr vermehrt ward. Nachdem er sich vËllig wieder erholt, besuchte er uns den ganzen Winter auf ebendem Fuï¬ wie ehemals, und bei allen leisen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles unerËrtert.
Auf diese Weise ward ich in steter ¸bung gehalten. Ich konnte mich keinem Menschen vertrauen, und von Gott war ich zu weit entfernt. Ich hatte diesen wâ°hrend vier wilder Jahre ganz vergessen; nun dachte ich dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntschaft war erkaltet; es waren nur Zeremonienvisiten, die ich ihm machte, und da ich ¸berdies, wenn ich vor ihm erschien, immer schËne Kleider anlegte, meine Tugend, Ehrbarkeit und Vorz¸ge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit vorwies, so schien er mich in dem Schmucke gar nicht zu bemerken.
Ein HËfling w¸rde, wenn sein F¸rst, von dem er sein Gl¸ck erwartet, sich so gegen ihn betr¸ge, sehr beunruhigt werden; mir aber war nicht ¸bel dabei zumute. Ich hatte, was ich brauchte, Gesundheit und Bequemlichkeit; wollte sich Gott mein Andenken gefallen lassen, so war es gut; wo nicht, so glaubte ich doch meine Schuldigkeit getan zu haben.
So dachte ich freilich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Gestalt meiner Seele. Meine Gesinnungen zu â°ndern und zu reinigen, waren aber auch schon Anstalten gemacht.
Der Fr¸hling kam heran, und Narziï¬ besuchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da ich ganz allein zu Hause war. Nun erschien er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm mein Herz und, wenn er eine ehrenvolle, wohlbesoldete Stelle erhielte, auch dereinst meine Hand schenken wollte.
Man hatte ihn zwar in unsre Dienste genommen; allein anfangs hielt man ihn, weil man sich vor seinem Ehrgeiz f¸rchtete, mehr zur¸ck, als daï¬ man ihn schnell emporgehoben hâ°tte, und lieï¬ ihn, weil er eignes VermËgen hatte, bei einer kleinen Besoldung.
Bei aller meiner Neigung zu ihm wuï¬te ich, daï¬ er der Mann nicht war, mit dem man ganz gerade handeln konnte. Ich nahm mich daher zusammen und verwies ihn an meinen Vater, an dessen Einwilligung er nicht zu zweifeln schien und mit mir erst auf der Stelle einig sein wollte. Endlich sagte ich ja, indem ich die Beistimmung meiner Eltern zur notwendigen Bedingung machte. Er sprach alsdann mit beiden fËrmlich; sie zeigten ihre Zufriedenheit, man gab sich das Wort auf den bald zu hoffenden Fall, daï¬ man ihn weiter avancieren werde. Schwestern und Tanten wurden davon benachrichtigt und ihnen das Geheimnis auf das strengste anbefohlen.
Nun war aus einem Liebhaber ein Brâ°utigam geworden. Die Verschiedenheit zwischen beiden zeigte sich sehr groï¬. KËnnte jemand die Liebhaber aller wohldenkenden Mâ°dchen in Brâ°utigame verwandeln, so wâ°re es eine groï¬e Wohltat f¸r unser Geschlecht, selbst wenn auf dieses Verhâ°ltnis keine Ehe erfolgen sollte. Die Liebe zwischen beiden Personen nimmt dadurch nicht ab, aber sie wird vern¸nftiger. Unzâ°hlige kleine Torheiten, alle Koketterien und Launen fallen gleich hinweg. â°uï¬ert uns der Brâ°utigam, daï¬ wir ihm in einer Morgenhaube besser als in dem schËnsten Aufsatze gefallen, dann wird einem wohldenkenden Mâ°dchen gewiï¬ die Frisur gleichg¸ltig, und es ist nichts nat¸rlicher, als daï¬ er auch solid denkt und lieber sich eine Hausfrau als der Welt eine Putzdocke zu bilden w¸nscht. Und so geht es durch alle Fâ°cher durch.
Hat ein solches Mâ°dchen dabei das Gl¸ck, daï¬ ihr Brâ°utigam Verstand und Kenntnisse besitzt, so lernt sie mehr, als hohe Schulen und fremde Lâ°nder geben kËnnen. Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an, die er ihr gibt, sondern sie sucht sich auch auf diesem Wege so immer weiterzubringen. Die Liebe macht vieles UnmËgliche mËglich, und endlich geht die dem weiblichen Geschlecht so nËtige und anstâ°ndige Unterwerfung sogleich an; der Brâ°utigam herrscht nicht wie der Ehemann; er bittet nur, und seine Geliebte sucht ihm abzumerken, was er w¸nscht, um es noch eher zu vollbringen, als er bittet.
So hat mich die Erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles missen mËchte. Ich war gl¸cklich, wahrhaft gl¸cklich, wie man es in der Welt sein kann, das heiï¬t auf kurze Zeit.
Ein Sommer ging unter diesen stillen Freuden hin. Narziï¬ gab mir nicht die mindeste Gelegenheit zu Beschwerden; er ward mir immer lieber, meine ganze Seele hing an ihm, das wuï¬te er wohl und wuï¬te es zu schâ°tzen. Inzwischen entspann sich aus anscheinenden Kleinigkeiten etwas, das unserm Verhâ°ltnisse nach und nach schâ°dlich wurde.
Narziï¬ ging als Brâ°utigam mit mir um, und nie wagte er es, das von mir zu begehren, was uns noch verboten war. Allein ¸ber die Grenzen der Tugend und Sittsamkeit waren wir sehr verschiedener Meinung. Ich wollte sichergehen und erlaubte durchaus keine Freiheit, als welche allenfalls die ganze Welt hâ°tte wissen d¸rfen. Er, an Nâ°schereien gewËhnt, fand diese Diâ°t sehr streng; hier setzte es nun bestâ°ndigen Widerspruch; er lobte mein Verhalten und suchte meinen Entschluï¬ zu untergraben.
Mir fiel das “ernsthaft” meines alten Sprachmeisters wieder ein und zugleich das H¸lfsmittel, das ich damals dagegen angegeben hatte.
Mit Gott war ich wieder ein wenig bekannter geworden. Er hatte mir so einen lieben Brâ°utigam gegeben, und daf¸r wuï¬te ich ihm Dank. Die irdische Liebe selbst konzentrierte meinen Geist und setzte ihn in Bewegung, und meine Beschâ°ftigung mit Gott widersprach ihr nicht. Ganz nat¸rlich klagte ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte nicht, daï¬ ich selbst das, was mich bange machte, w¸nschte und begehrte. Ich kam mir sehr stark vor und betete nicht etwa: “Bewahre mich vor Versuchung!” ¸ber die Versuchung war ich meinen Gedanken nach weit hinaus. In diesem losen Flitterschmuck eigner Tugend erschien ich dreist vor Gott; er stieï¬ mich nicht weg; auf die geringste Bewegung zu ihm hinterlieï¬ er einen sanften Eindruck in meiner Seele, und dieser Eindruck bewegte mich, ihn immer wieder aufzusuchen.
VI. Buch–3
Die ganze Welt war mir auï¬er Narzissen tot, nichts hatte auï¬er ihm einen Reiz f¸r mich. Selbst meine Liebe zum Putz hatte nur den Zweck, ihm zu gefallen; wuï¬te ich, daï¬ er mich nicht sah, so konnte ich keine Sorgfalt darauf wenden. Ich tanzte gern; wenn er aber nicht dabei war, so schien mir, als wenn ich die Bewegung nicht vertragen kËnnte. Auf ein brillantes Fest, bei dem er nicht zugegen war, konnte ich mir weder etwas Neues anschaffen noch das Alte der Mode gemâ°ï¬ aufstutzen. Einer war mir so lieb als der andere, doch mËchte ich lieber sagen: einer so lâ°stig als der andere. Ich glaubte meinen Abend recht gut zugebracht zu haben, wenn ich mir mit â°ltern Personen ein Spiel ausmachen konnte, wozu ich sonst nicht die mindeste Lust hatte, und wenn ein alter, guter Freund mich etwa scherzhaft dar¸ber aufzog, lâ°chelte ich vielleicht das erstemal den ganzen Abend. So ging es mit Promenaden und allen gesellschaftlichen Vergn¸gungen, die sich nur denken lassen:
Ich hatt ihn einzig mir erkoren; Ich schien mir nur f¸r ihn geboren, Begehrte nichts als seine Gunst.
So war ich oft in der Gesellschaft einsam, und die vËllige Einsamkeit war mir meistens lieber. Allein mein geschâ°ftiger Geist konnte weder schlafen noch trâ°umen; ich f¸hlte und dachte und erlangte nach und nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindungen und Gedanken mit Gott zu reden. Da entwickelten sich Empfindungen anderer Art in meiner Seele, die jenen nicht widersprachen. Denn meine Liebe zu Narziï¬ war dem ganzen SchËpfungsplane gemâ°ï¬ und stieï¬ nirgend gegen meine Pflichten an. Sie widersprachen sich nicht und waren doch unendlich verschieden. Narziï¬ war das einzige Bild, das mir vorschwebte, auf das sich meine ganze Liebe bezog; aber das andere Gef¸hl bezog sich auf kein Bild und war unaussprechlich angenehm. Ich habe es nicht mehr und kann es mir nicht mehr geben.
Mein Geliebter, der sonst alle meine Geheimnisse wuï¬te, erfuhr nichts hiervon. Ich merkte bald, daï¬ er anders dachte; er gab mir Ëfters Schriften, die alles, was man Zusammenhang mit dem Unsichtbaren heiï¬en kann, mit leichten und schweren Waffen bestritten. Ich las die B¸cher, weil sie von ihm kamen, und wuï¬te am Ende kein Wort von allem dem, was darin gestanden hatte.
¸ber Wissenschaften und Kenntnisse ging es auch nicht ohne Widerspruch ab; er machte es wie alle Mâ°nner, spottete ¸ber gelehrte Frauen und bildete unaufhËrlich an mir. ¸ber alle Gegenstâ°nde, die Rechtsgelehrsamkeit ausgenommen, pflegte er mit mir zu sprechen, und indem er mir Schriften von allerlei Art bestâ°ndig zubrachte, wiederholte er oft die bedenkliche Lehre: daï¬ ein Frauenzimmer sein Wissen heimlicher halten m¸sse als der Kalvinist seinen Glauben im katholischen Lande; und indem ich wirklich auf eine ganz nat¸rliche Weise vor der Welt mich nicht kl¸ger und unterrichteter als sonst zu zeigen pflegte, war er der erste, der gelegentlich der Eitelkeit nicht widerstehen konnte, von meinen Vorz¸gen zu sprechen.
Ein ber¸hmter und damals wegen seines Einflusses, seiner Talente und seines Geistes sehr geschâ°tzter Weltmann fand an unserm Hofe groï¬en Beifall. Er zeichnete Narzissen besonders aus und hatte ihn bestâ°ndig um sich. Sie stritten auch ¸ber die Tugend der Frauen. Narziï¬ vertraute mir weitlâ°ufig ihre Unterredung; ich blieb mit meinen Anmerkungen nicht dahinten, und mein Freund verlangte von mir einen schriftlichen Aufsatz. Ich schrieb ziemlich gelâ°ufig FranzËsisch: ich hatte bei meinem Alten einen guten Grund gelegt. Die Korrespondenz mit meinem Freunde war in dieser Sprache gef¸hrt, und eine feinere Bildung konnte man ¸berhaupt damals nur aus franzËsischen B¸chern nehmen. Mein Aufsatz hatte dem Grafen gefallen; ich muï¬te einige kleine Lieder hergeben, die ich vor kurzem gedichtet hatte. Genug, Narziï¬ schien sich auf seine Geliebte ohne R¸ckhalt etwas zugute zu tun, und die Geschichte endigte zu seiner groï¬en Zufriedenheit mit einer geistreichen Epistel in franzËsischen Versen, die ihm der Graf bei seiner Abreise zusandte, worin ihres freundschaftlichen Streites gedacht war und mein Freund am Ende gl¸cklich gepriesen wurde, daï¬ er, nach so manchen Zweifeln und Irrt¸mern, in den Armen einer reizenden und tugendhaften Gattin, was Tugend sei, am sichersten erfahren w¸rde.
Dieses Gedicht ward mir vor allen und dann aber auch fast jedermann gezeigt, und jeder dachte dabei, was er wollte. So ging es in mehreren Fâ°llen, und so muï¬ten alle Fremden, die er schâ°tzte, in unserm Hause bekannt werden.
Eine grâ°fliche Familie hielt sich wegen unsres geschickten Arztes eine Zeitlang hier auf. Auch in diesem Hause war Narziï¬ wie ein Sohn gehalten; er f¸hrte mich daselbst ein, man fand bei diesen w¸rdigen Personen eine angenehme Unterhaltung f¸r Geist und Herz, und selbst die gewËhnlichen Zeitvertreibe der Gesellschaft schienen in diesem Hause nicht so leer wie anderwâ°rts. Jedermann wuï¬te, wie wir zusammen standen; man behandelte uns, wie es die Umstâ°nde mit sich brachten, und lieï¬ das Hauptverhâ°ltnis unber¸hrt. Ich erwâ°hne dieser einen Bekanntschaft, weil sie in der Folge meines Lebens manchen Einfluï¬ auf mich hatte.
Nun war fast ein Jahr unserer Verbindung verstrichen, und mit ihm war auch unser Fr¸hling dahin. Der Sommer kam, und alles wurde ernsthafter und heiï¬er.
Durch einige unerwartete Todesfâ°lle waren â°mter erledigt, auf die Narziï¬ Anspruch machen konnte. Der Augenblick war nahe, in dem sich mein ganzes Schicksal entscheiden sollte, und indes Narziï¬ und alle Freunde sich bei Hofe die mËglichste M¸he gaben, gewisse Eindr¸cke, die ihm ung¸nstig waren, zu vertilgen und ihm den erw¸nschten Platz zu verschaffen, wendete ich mich mit meinem Anliegen zu dem unsichtbaren Freunde. Ich ward so freundlich aufgenommen, daï¬ ich gern wiederkam. Ganz frei gestand ich meinen Wunsch, Narziï¬ mËchte zu der Stelle gelangen; allein meine Bitte war nicht ungest¸m, und ich forderte nicht, daï¬ es um meines Gebets willen geschehen sollte.
Die Stelle ward durch einen viel geringern Konkurrenten besetzt. Ich erschrak heftig ¸ber die Zeitung und eilte in mein Zimmer, das ich fest hinter mir zumachte. Der erste Schmerz lËste sich in Trâ°nen auf; der nâ°chste Gedanke war: Es ist aber doch nicht von ungefâ°hr geschehen, und sogleich folgte die Entschlieï¬ung, es mir recht wohl gefallen zu lassen, weil auch dieses anscheinende ¸bel zu meinem wahren Besten gereichen w¸rde. Nun drangen die sanftesten Empfindungen, die alle Wolken des Kummers zerteilten, herbei; ich f¸hlte, daï¬ sich mit dieser H¸lfe alles ausstehen lieï¬. Ich ging heiter zu Tische, zum Erstaunen meiner Hausgenossen.
Narziï¬ hatte weniger Kraft als ich, und ich muï¬te ihn trËsten. Auch in seiner Familie begegneten ihm Widerwâ°rtigkeiten, die ihn sehr dr¸ckten, und bei dem wahren Vertrauen, das unter uns statthatte, vertraute er mir alles. Seine Negoziationen, in fremde Dienste zu gehen, waren auch nicht gl¸cklicher; alles f¸hlte ich tief um seinet- und meinetwillen, und alles trug ich zuletzt an den Ort, wo mein Anliegen so wohl aufgenommen wurde.
Je sanfter diese Erfahrungen waren, desto Ëfter suchte ich sie zu erneuern und den Trost immer da, wo ich ihn so oft gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht immer: es war mir wie einem, der sich an der Sonne wâ°rmen will und dem etwas im Wege steht, das Schatten macht. “Was ist das?” fragte ich mich selbst. Ich sp¸rte der Sache eifrig nach und bemerkte deutlich, daï¬ alles von der Beschaffenheit meiner Seele abhing; wenn die nicht ganz in der geradesten Richtung zu Gott gekehrt war, so blieb ich kalt; ich f¸hlte seine R¸ckwirkung nicht und konnte seine Antwort nicht vernehmen. Nun war die zweite Frage: Was verhindert diese Richtung? Hier war ich in einem weiten Feld und verwickelte mich in eine Untersuchung, die beinahe das ganze zweite Jahr meiner Liebesgeschichte fortdauerte. Ich hâ°tte sie fr¸her endigen kËnnen, denn ich kam bald auf die Spur; aber ich wollte es nicht gestehen und suchte tausend Ausfl¸chte.
Ich fand sehr bald, daï¬ die gerade Richtung meiner Seele durch tËrichte Zerstreuung und Beschâ°ftigung mit unw¸rdigen Sachen gestËrt werde; das Wie und Wo war mir bald klar genug. Nun aber wie herauskommen in einer Welt, wo alles gleichg¸ltig oder toll ist? Gern hâ°tte ich die Sache an ihren Ort gestellt sein lassen und hâ°tte auf Geratewohl hingelebt wie andere Leute auch, die ich ganz wohlauf sah; allein ich durfte nicht: mein Inneres widersprach mir zu oft. Wollte ich mich der Gesellschaft entziehen und meine Verhâ°ltnisse verâ°ndern, so konnte ich nicht. Ich war nun einmal in einen Kreis hineingesperrt; gewisse Verbindungen konnte ich nicht loswerden, und in der mir so angelegenen Sache drâ°ngten und hâ°uften sich die Fatalitâ°ten. Ich legte mich oft mit Trâ°nen zu Bette und stand nach einer schlaflosen Nacht auch wieder so auf; ich bedurfte einer krâ°ftigen Unterst¸tzung, und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich mit der Schellenkappe herumlief.
Nun ging es an ein Abwiegen aller und jeder Handlungen; Tanzen und Spielen wurden am ersten in Untersuchung genommen. Nie ist etwas f¸r oder gegen diese Dinge geredet, gedacht oder geschrieben worden, das ich nicht aufsuchte, besprach, las, erwog, vermehrte, verwarf und mich unerhËrt herumplagte. Unterlieï¬ ich diese Dinge, so war ich gewiï¬, Narzissen zu beleidigen; denn er f¸rchtete sich â°uï¬erst vor dem Lâ°cherlichen, das uns der Anschein â°ngstlicher Gewissenhaftigkeit vor der Welt gibt. Weil ich nun das, was ich f¸r Torheit, f¸r schâ°dliche Torheit hielt, nicht einmal aus Geschmack, sondern bloï¬ um seinetwillen tat, so wurde mir alles entsetzlich schwer.
Ohne unangenehme Weitlâ°ufigkeiten und Wiederholungen w¸rde ich die Bem¸hungen nicht darstellen kËnnen, welche ich anwendete, um jene Handlungen, die mich nun einmal zerstreuten und meinen innern Frieden stËrten, so zu verrichten, daï¬ dabei mein Herz f¸r die Einwirkungen des unsichtbaren Wesens offenblieben und wie schmerzlich ich empfinden muï¬te, daï¬ der Streit auf diese Weise nicht beigelegt werden kËnne. Denn sobald ich mich in das Gewand der Torheit kleidete, blieb es nicht bloï¬ bei der Maske, sondern die Narrheit durchdrang mich sogleich durch und durch.
Darf ich hier das Gesetz einer bloï¬ historischen Darstellung ¸berschreiten und einige Betrachtungen ¸ber dasjenige machen, was in mir vorging? Was konnte das sein, das meinen Geschmack und meine Sinnesart so â°nderte, daï¬ ich im zweiundzwanzigsten Jahre, ja fr¸her, kein Vergn¸gen an Dingen fand, die Leute von diesem Alter unschuldig belustigen kËnnen? Warum waren sie mir nicht unschuldig? Ich darf wohl antworten: eben weil sie mir nicht unschuldig waren, weil ich nicht wie andre meinesgleichen unbekannt mit meiner Seele war. Nein, ich wuï¬te aus Erfahrungen, die ich ungesucht erlangt hatte, daï¬ es hËhere Empfindungen gebe, die uns ein Vergn¸gen wahrhaftig gewâ°hrten, das man vergebens bei Lustbarkeiten sucht, und daï¬ in diesen hËhern Freuden zugleich ein geheimer Schatz zur Stâ°rkung im Ungl¸ck aufbewahrt sei.
Aber die geselligen Vergn¸gungen und Zerstreuungen der Jugend muï¬ten doch notwendig einen starken Reiz f¸r mich haben, weil es mir nicht mËglich war, sie zu tun, als tâ°te ich sie nicht. Wie manches kËnnte ich jetzt mit groï¬er Kâ°lte tun, wenn ich nur wollte, was mich damals irremachte, ja Meister ¸ber mich zu werden drohte. Hier konnte kein Mittelweg gehalten werden: ich muï¬te entweder die reizenden Vergn¸gungen oder die erquickenden innerlichen Empfindungen entbehren.
Aber schon war der Streit in meiner Seele ohne mein eigentliches Bewuï¬tsein entschieden. Wenn auch etwas in mir war, das sich nach den sinnlichen Freuden hinsehnte, so konnte ich sie doch nicht mehr genieï¬en. Wer den Wein noch so sehr liebt, dem wird alle Lust zum Trinken vergehen, wenn er sich bei vollen Fâ°ssern in einem Keller befâ°nde, in welchem die verdorbene Luft ihn zu ersticken drohte. Reine Luft ist mehr als Wein, das f¸hlte ich nur zu lebhaft, und es hâ°tte gleich von Anfang an wenig ¸berlegung bei mir gekostet, das Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich die Furcht, Narzissens Gunst zu verlieren, nicht abgehalten hâ°tte. Aber da ich endlich nach tausendfâ°ltigem Streit, nach immer wiederholter Betrachtung auch scharfe Blicke auf das Band warf, das mich an ihm festhielt, entdeckte ich, daï¬ es nur schwach war, daï¬ es sich zerreiï¬en lasse. Ich erkannte auf einmal, daï¬ es nur eine Glasglocke sei, die mich in den luftleeren Raum sperrte; nur noch so viel Kraft, sie entzweizuschlagen, und du bist gerettet!
Gedacht, gewagt. Ich zog die Maske ab und handelte jedesmal, wie mir’s ums Herz war. Narzissen hatte ich immer zâ°rtlich lieb; aber das Thermometer, das vorher im heiï¬en Wasser gestanden, hing nun an der nat¸rlichen Luft; es konnte nicht hËher steigen, als die Atmosphâ°re warm war.
Ungl¸cklicherweise erkâ°ltete sie sich sehr. Narziï¬ fing an, sich zur¸ckzuziehen und fremd zu tun; das stand ihm frei; aber mein Thermometer fiel, so wie er sich zur¸ckzog. Meine Familie bemerkte es, man befragte mich, man wollte sich verwundern. Ich erklâ°rte mit mâ°nnlichem Trotz, daï¬ ich mich bisher genug aufgeopfert habe, daï¬ ich bereit sei, noch ferner und bis ans Ende meines Lebens alle Widerwâ°rtigkeiten mit ihm zu teilen; daï¬ ich aber f¸r meine Handlungen vËllige Freiheit verlange, daï¬ mein Tun und Lassen von meiner ¸berzeugung abhâ°ngen m¸sse; daï¬ ich zwar niemals eigensinnig auf meiner Meinung beharren, vielmehr jede Gr¸nde gerne anhËren wolle, aber da es mein eignes Gl¸ck betreffe, m¸sse die Entscheidung von mir abhâ°ngen, und keine Art von Zwang w¸rde ich dulden. Sowenig das Râ°sonnement des grËï¬ten Arztes mich bewegen w¸rde, eine sonst vielleicht ganz gesunde und von vielen sehr geliebte Speise zu mir zu nehmen, sobald mir meine Erfahrung bewiesen daï¬ sie mir jederzeit schâ°dlich sei, wie ich den Gebrauch des Kaffees zum Beispiel anf¸hren kËnnte, sowenig und noch viel weniger w¸rde ich mir irgend eine Handlung, die mich verwirrte, als f¸r mich moralisch zutrâ°glich aufdemonstrieren lassen.
Da ich mich so lange im stillen vorbereitet hatte, so waren mir die Debatten hier¸ber eher angenehm als verdrieï¬lich. Ich machte meinem Herzen Luft und f¸hlte den ganzen Wert meines Entschlusses. Ich wich nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kindlichen Respekt schuldig war, der wurde derb abgefertigt. In meinem Hause siegte ich bald. Meine Mutter hatte von Jugend auf â°hnliche Gesinnungen, nur waren sie bei ihr nicht zur Reife gediehen; keine Not hatte sie gedrâ°ngt und den Mut, ihre ¸berzeugung durchzusetzen, erhËht. Sie freute sich, durch mich ihre stillen W¸nsche erf¸llt zu sehen. Die j¸ngere Schwester schien sich an mich anzuschlieï¬en; die zweite war aufmerksam und still. Die Tante hatte am meisten einzuwenden. Die Gr¸nde, die sie vorbrachte, schienen ihr unwiderleglich und waren es auch, weil sie ganz gemein waren. Ich war endlich genËtigt, ihr zu zeigen, daï¬ sie in keinem Sinne eine Stimme in dieser Sache habe, und sie lieï¬ nur selten merken, daï¬ sie auf ihrem Sinne verharre. Auch war sie die einzige, die diese Begebenheit von nahem ansah und ganz ohne Empfindung blieb. Ich tue ihr nicht zuviel, wenn ich sage, daï¬ sie kein Gem¸t und die eingeschrâ°nktesten Begriffe hatte.
Der Vater benahm sich ganz seiner Denkart gemâ°ï¬. Er sprach weniges, aber Ëfter mit mir ¸ber die Sache, und seine Gr¸nde waren verstâ°ndig und als seine Gr¸nde unwiderleglich; nur das tiefe Gef¸hl meines Rechts gab mir Stâ°rke, gegen ihn zu disputieren. Aber bald verâ°nderten sich die Szenen; ich muï¬te an sein Herz Anspruch machen. Gedrâ°ngt von seinem Verstande, brach ich in die affektvollsten Vorstellungen aus. Ich lieï¬ meiner Zunge und meinen Trâ°nen freien Lauf. Ich zeigte ihm, wie sehr ich Narzissen liebte und welchen Zwang ich mir seit zwei Jahren angetan hatte, wie gewiï¬ ich sei, daï¬ ich recht handle, daï¬ ich bereit sei, diese Gewiï¬heit mit dem Verlust des geliebten Brâ°utigams und anscheinenden Gl¸cks, ja wenn es nËtig wâ°re, mit Hab und Gut zu versiegeln; daï¬ ich lieber mein Vaterland, Eltern und Freunde verlassen und mein Brot in der Fremde verdienen als gegen meine Einsichten handeln wolle. Er verbarg seine R¸hrung, schwieg einige Zeit stille und erklâ°rte sich endlich Ëffentlich f¸r mich.
Narziï¬ vermied seit jener Zeit unser Haus, und nun gab mein Vater die wËchentliche Gesellschaft auf, in der sich dieser befand. Die Sache machte Aufsehn bei Hofe und in der Stadt. Man sprach dar¸ber wie gewËhnlich in solchen Fâ°llen, an denen das Publikum heftigen Teil zu nehmen pflegt, weil es verwËhnt ist, auf die Entschlieï¬ungen schwacher Gem¸ter einigen Einfluï¬ zu haben. Ich kannte die Welt genug und wuï¬te, daï¬ man oft von ebenden Personen ¸ber das getadelt wird, wozu man sich durch sie hat bereden lassen, und auch ohne das w¸rden mir bei meiner innern Verfassung alle solche vor¸bergehende Meinungen weniger als nichts gewesen sein.
VI. Buch–4
Dagegen versagte ich mir nicht, meiner Neigung zu Narzissen nachzuhâ°ngen. Er war mir unsichtbar geworden, und mein Herz hatte sich nicht gegen ihn geâ°ndert. Ich liebte ihn zâ°rtlich, gleichsam auf das neue und viel gesetzter als vorher. Wollte er meine ¸berzeugung nicht stËren, so war ich die Seine; ohne diese Bedingung hâ°tte ich ein KËnigreich mit ihm ausgeschlagen. Mehrere Monate lang trug ich diese Empfindungen und Gedanken mit mir herum, und da ich mich endlich still und stark genug f¸hlte, um ruhig und gesetzt zu Werke zu gehen, so schrieb ich ihm ein hËfliches, nicht zâ°rtliches Billett und fragte ihn, warum er nicht mehr zu mir komme.
Da ich seine Art kannte, sich selbst in geringern Dingen nicht gern zu erklâ°ren, sondern stillschweigend zu tun, was ihm gut deuchte, so drang ich gegenwâ°rtig mit Vorsatz in ihn. Ich erhielt eine lange und, wie mir schien, abgeschmackte Antwort in einem weitlâ°ufigen Stil und unbedeutenden Phrasen: daï¬ er ohne bessere Stellen sich nicht einrichten und mir seine Hand anbieten kËnne, daï¬ ich am besten wisse, wie hinderlich es ihm bisher gegangen, daï¬ er glaube, ein so lang fortgesetzter fruchtloser Umgang kËnne meiner Renommee schaden, ich w¸rde ihm erlauben, sich in der bisherigen Entfernung zu halten; sobald er imstande wâ°re, mich gl¸cklich zu machen, w¸rde ihm das Wort, das er mir gegeben, heilig sein.
Ich antwortete ihm auf der Stelle: da die Sache aller Welt bekannt sei, mËge es zu spâ°t sein, meine Renommee zu menagieren, und f¸r diese wâ°ren mir mein Gewissen und meine Unschuld die sichersten B¸rgen; ihm aber gâ°be ich hiermit sein Wort ohne Bedenken zur¸ck und w¸nschte, daï¬ er dabei sein Gl¸ck finden mËchte. In ebender Stunde erhielt ich eine kurze Antwort, die im wesentlichen mit der ersten vËllig gleichlautend war. Er blieb dabei, daï¬ er nach erhaltener Stelle bei mir anfragen w¸rde, ob ich sein Gl¸ck mit ihm teilen wollte.
Mir hieï¬ das nun soviel als nichts gesagt. Ich erklâ°rte meinen Verwandten und Bekannten, die Sache sei abgetan, und sie war es auch wirklich. Denn als er neun Monate hernach auf das erw¸nschteste befËrdert wurde, lieï¬ er mir seine Hand nochmals antragen, freilich mit der Bedingung, daï¬ ich als Gattin eines Mannes, der ein Haus machen m¸ï¬te, meine Gesinnungen w¸rde zu â°ndern haben. Ich dankte hËflich und eilte mit Herz und Sinn von dieser Geschichte weg, wie man sich aus dem Schauspielhause heraussehnt, wenn der Vorhang gefallen ist. Und da er kurze Zeit darauf, wie es ihm nun sehr leicht war, eine reiche und ansehnliche Partie gefunden hatte und ich ihn nach seiner Art gl¸cklich wuï¬te, so war meine Beruhigung ganz vollkommen.
Ich darf nicht mit Stillschweigen ¸bergehen, daï¬ einigemal, noch eh er eine Bedienung erhielt, auch nachher, ansehnliche Heiratsantrâ°ge an mich getan wurden, die ich aber ganz ohne Bedenken ausschlug, sosehr Vater und Mutter mehr Nachgiebigkeit von meiner Seite gew¸nscht hâ°tten.
Nun schien mir nach einem st¸rmischen Mâ°rz und April das schËnste Maiwetter beschert zu sein. Ich genoï¬ bei einer guten Gesundheit eine unbeschreibliche Gem¸tsruhe; ich mochte mich umsehen, wie ich wollte, so hatte ich bei meinem Verluste noch gewonnen. Jung und voll Empfindung, wie ich war, deuchte mir die SchËpfung tausendmal schËner als vorher, da ich Gesellschaften und Spiele haben muï¬te, damit mir die Weile in dem schËnen Garten nicht zu lang wurde. Da ich mich einmal meiner FrËmmigkeit nicht schâ°mte, so hatte ich Herz, meine Liebe zu K¸nsten und Wissenschaften nicht zu verbergen. Ich zeichnete, malte, las und fand Menschen genug, die mich unterst¸tzten; statt der groï¬en Welt, die ich verlassen hatte, oder vielmehr die mich verlieï¬, bildete sich eine kleinere um mich her, die weit reicher und unterhaltender war. Ich hatte eine Neigung zum gesellschaftlichen Leben, und ich leugne nicht, daï¬ mir, als ich meine â°ltern Bekanntschaften aufgab, vor der Einsamkeit grauete. Nun fand ich mich hinlâ°nglich, ja vielleicht zu sehr entschâ°digt. Meine Bekanntschaften wurden erst recht weitlâ°ufig, nicht nur mit Einheimischen, deren Gesinnungen mit den meinigen ¸bereinstimmten, sondern auch mit Fremden. Meine Geschichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menschen neugierig, das Mâ°dchen zu sehen, die Gott mehr schâ°tzte als ihren Brâ°utigam. Es war damals ¸berhaupt eine gewisse religiËse Stimmung in Deutschland bemerkbar. In mehreren f¸rstlichen und grâ°flichen Hâ°usern war eine Sorge f¸r das Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an Edelleuten, die gleiche Aufmerksamkeit hegten, und in den geringern Stâ°nden war durchaus diese Gesinnung verbreitet.
Die grâ°fliche Familie, deren ich oben erwâ°hnt, zog mich nun nâ°her an sich. Sie hatte sich indessen verstâ°rkt, indem sich einige Verwandte in die Stadt gewendet hatten. Diese schâ°tzbaren Personen suchten meinen Umgang wie ich den ihrigen. Sie hatten groï¬e Verwandtschaft, und ich lernte in diesem Hause einen groï¬en Teil der F¸rsten, Grafen und Herren des Reichs kennen. Meine Gesinnungen waren niemanden ein Geheimnis, und man mochte sie ehren oder auch nur schonen, so erlangte ich doch meinen Zweck und blieb ohne Anfechtung.
Noch auf eine andere Weise sollte ich wieder in die Welt gef¸hrt werden. Zu eben der Zeit verweilte ein Stiefbruder meines Vaters, der uns sonst nur im Vorbeigehn besucht hatte, lâ°nger bei uns. Er hatte die Dienste seines Hofes, wo er geehrt und von Einfluï¬ war, nur deswegen verlassen, weil nicht alles nach seinem Sinne ging. Sein Verstand war richtig und sein Charakter streng, und er war darin meinem Vater sehr â°hnlich; nur hatte dieser dabei einen gewissen Grad von Weichheit, wodurch ihm leichter ward, in Geschâ°ften nachzugeben und etwas gegen seine ¸berzeugung nicht zu tun, aber geschehen zu lassen und den Unwillen dar¸ber alsdann entweder in der Stille f¸r sich oder vertraulich mit seiner Familie zu verkochen. Mein Oheim war um vieles j¸nger, und seine Selbstâ°ndigkeit ward durch seine â°uï¬ern Umstâ°nde nicht wenig bestâ°tigt. Er hatte eine sehr reiche Mutter gehabt und hatte von ihren nahen und fernen Verwandten noch ein groï¬es VermËgen zu hoffen; er bedurfte keines fremden Zuschusses, anstatt daï¬ mein Vater bei seinem mâ°ï¬igen VermËgen durch Besoldung an den Dienst fest gekn¸pft war.
Noch unbiegsamer war mein Oheim durch hâ°usliches Ungl¸ck geworden. Er hatte eine liebensw¸rdige Frau und einen hoffnungsvollen Sohn fr¸h verloren, und er schien von der Zeit an alles von sich entfernen zu wollen, was nicht von seinem Willen abhing.
In der Familie sagte man sich gelegentlich mit einiger Selbstgefâ°lligkeit in die Ohren, daï¬ er wahrscheinlich nicht wieder heiraten werde und daï¬ wir Kinder uns schon als Erben seines groï¬en VermËgens ansehen kËnnten. Ich achtete nicht weiter darauf; allein das Betragen der ¸brigen ward nach diesen Hoffnungen nicht wenig gestimmt. Bei der Festigkeit seines Charakters hatte er sich gewËhnt, in der Unterredung niemand zu widersprechen, vielmehr die Meinung eines jeden freundlich anzuhËren und die Art, wie sich jeder eine Sache dachte, noch selbst durch Argumente und Beispiele zu erheben. Wer ihn nicht kannte, glaubte stets mit ihm einerlei Meinung zu sein; denn er hatte einen ¸berwiegenden Verstand und konnte sich in alle Vorstellungsarten versetzen. Mit mir ging es ihm nicht so gl¸cklich, denn hier war von Empfindungen die Rede, von denen er gar keine Ahnung hatte, und so schonend, teilnehmend und verstâ°ndig er mit mir ¸ber meine Gesinnungen sprach, so war es mir doch auffallend, daï¬ er von dem, worin der Grund aller meiner Handlungen lag, offenbar keinen Begriff hatte.
So geheim er ¸brigens war, entdeckte sich doch der Endzweck seines ungewËhnlichen Aufenthalts bei uns nach einiger Zeit. Er hatte, wie man endlich bemerken konnte, sich unter uns die j¸ngste Schwester ausersehen, um sie nach seinem Sinne zu verheiraten und gl¸cklich zu machen; und gewiï¬, sie konnte nach ihren kËrperlichen und geistigen Gaben, besonders wenn sich ein ansehnliches VermËgen noch mit auf die Schale legte, auf die ersten Partien Anspruch machen. Seine Gesinnungen gegen mich gab er gleichfalls pantomimisch zu erkennen, indem er mir den Platz einer Stiftsdame verschaffte, wovon ich sehr bald auch die Eink¸nfte zog.
Meine Schwester war mit seiner F¸rsorge nicht so zufrieden und nicht so dankbar wie ich. Sie entdeckte mir eine Herzensangelegenheit, die sie bisher sehr weislich verborgen hatte: denn sie f¸rchtete wohl, was auch wirklich geschah, daï¬ ich ihr auf alle mËgliche Weise die Verbindung mit einem Manne, der ihr nicht hâ°tte gefallen sollen, widerraten w¸rde. Ich tat mein mËglichstes, und es gelang mir. Die Absichten des Oheims waren zu ernsthaft und zu deutlich und die Aussicht f¸r meine Schwester bei ihrem Weltsinne zu reizend, als daï¬ sie nicht eine Neigung, die ihr Verstand selbst miï¬billigte, aufzugeben Kraft hâ°tte haben sollen.
Da sie nun den sanften Leitungen des Oheims nicht mehr wie bisher auswich, so war der Grund zu seinem Plane bald gelegt. Sie ward Hofdame an einem benachbarten Hofe, wo er sie einer Freundin, die als Oberhofmeisterin in groï¬em Ansehn stand, zur Aufsicht und Ausbildung ¸bergeben konnte. Ich begleitete sie zu dem Ort ihres neuen Aufenthaltes. Wir konnten beide mit der Aufnahme, die wir erfuhren, sehr zufrieden sein, und manchmal muï¬te ich ¸ber die Person, die ich nun als Stiftsdame, als junge und fromme Stiftsdame, in der Welt spielte, heimlich lâ°cheln.
In fr¸hern Zeiten w¸rde ein solches Verhâ°ltnis mich sehr verwirrt, ja mir vielleicht den Kopf verr¸ckt haben; nun aber war ich bei allem, was mich umgab, sehr gelassen. Ich lieï¬ mich in groï¬er Stille ein paar Stunden frisieren, putzte mich und dachte nichts dabei, als daï¬ ich in meinem Verhâ°ltnisse diese Galalivree anzuziehen schuldig sei. In den angef¸llten Sâ°len sprach ich mit allen und jeden, ohne daï¬ mir irgendeine Gestalt oder ein Wesen einen starken Eindruck zur¸ckgelassen hâ°tte. Wenn ich wieder nach Hause kam, waren m¸de Beine meist alles Gef¸hl, was ich mit zur¸ckbrachte. Meinem Verstande n¸tzten die vielen Menschen, die ich sah; und als Muster aller menschlichen Tugenden, eines guten und edlen Betragens lernte ich einige Frauen, besonders die Oberhofmeisterin, kennen, unter der meine Schwester sich zu bilden das Gl¸ck hatte.
Doch f¸hlte ich bei meiner R¸ckkunft nicht so gl¸ckliche kËrperliche Folgen von dieser Reise. Bei der grËï¬ten Enthaltsamkeit und der genausten Diâ°t war ich doch nicht wie sonst Herr von meiner Zeit und meinen Krâ°ften. Nahrung, Bewegung, Aufstehn und Schlafengehn, Ankleiden und Ausfahren hing nicht wie zu Hause von meinem Willen und meinem Empfinden ab. Im Laufe des geselligen Kreises darf man nicht stocken, ohne unhËflich zu sein, und alles, was nËtig war, leistete ich gern, weil ich es f¸r Pflicht hielt, weil ich wuï¬te, daï¬ es bald vor¸bergehen w¸rde, und weil ich mich gesunder als jemals f¸hlte. Dessenungeachtet muï¬te dieses fremde, unruhige Leben auf mich stâ°rker, als ich f¸hlte, gewirkt haben. Denn kaum war ich zu Hause angekommen und hatte meine Eltern mit einer befriedigenden Erzâ°hlung erfreut, so ¸berfiel mich ein Blutsturz, der, ob er gleich nicht gefâ°hrlich war und schnell vor¸berging, doch lange Zeit eine merkliche Schwachheit hinterlieï¬.
Hier hatte ich nun wieder eine neue Lektion aufzusagen. Ich tat es freudig. Nichts fesselte mich an die Welt, und ich war ¸berzeugt, daï¬ ich hier das Rechte niemals finden w¸rde, und so war ich in dem heitersten und ruhigsten Zustande und ward, indem ich Verzicht aufs Leben getan hatte, beim Leben erhalten.
Eine neue Pr¸fung hatte ich auszustehen, da meine Mutter mit einer dr¸ckenden Beschwerde ¸berfallen wurde, die sie noch f¸nf Jahre trug, ehe sie die Schuld der Natur bezahlte. In dieser Zeit gab es manche ¸bung. Oft, wenn ihr die Bangigkeit zu stark wurde, lieï¬ sie uns des Nachts alle vor ihr Bette rufen, um wenigstens durch unsre Gegenwart zerstreut, wo nicht gebessert zu werden. Schwerer, ja kaum zu tragen war der Druck, als mein Vater auch elend zu werden anfing. Von Jugend auf hatte er Ëfters heftige Kopfschmerzen, die aber aufs lâ°ngste nur sechsunddreiï¬ig Stunden anhielten. Nun aber wurden sie bleibend, und wenn sie auf einen hohen Grad stiegen, so zerriï¬ der Jammer mir das Herz. Bei diesen St¸rmen f¸hlte ich meine kËrperliche Schwâ°che am meisten, weil sie mich hinderte, meine heiligsten, liebsten Pflichten zu erf¸llen, oder mir doch ihre Aus¸bung â°uï¬erst beschwerlich machte.
Nun konnte ich mich pr¸fen, ob auf dem Wege, den ich eingeschlagen, Wahrheit oder Phantasie sei, ob ich vielleicht nur nach andern gedacht oder ob der Gegenstand meines Glaubens eine Realitâ°t habe, und zu meiner grËï¬ten Unterst¸tzung fand ich immer das letztere. Die gerade Richtung meines Herzens zu Gott, den Umgang mit den “beloved ones” hatte ich gesucht und gefunden, und das war, was mir alles erleichterte. Wie der Wanderer in den Schatten, so eilte meine Seele nach diesem Schutzort, wenn mich alles von auï¬en dr¸ckte, und kam niemals leer zur¸ck.
In der neuern Zeit haben einige Verfechter der Religion, die mehr Eifer als Gef¸hl f¸r dieselbe zu haben scheinen, ihre Mitglâ°ubigen aufgefordert, Beispiele von wirklichen GebetserhËrungen bekanntzumachen, wahrscheinlich weil sie sich Brief und Siegel w¸nschten, um ihren Gegnern recht diplomatisch und juristisch zu Leibe zu gehen. Wie unbekannt muï¬ ihnen das wahre Gef¸hl sein, und wie wenig echte Erfahrungen mËgen sie selbst gemacht haben!
Ich darf sagen, ich kam nie leer zur¸ck, wenn ich unter Druck und Not Gott gesucht hatte. Es ist unendlich viel gesagt, und doch kann und darf ich nicht mehr sagen. So wichtig jede Erfahrung in dem kritischen Augenblicke f¸r mich war, so matt, so unbedeutend, unwahrscheinlich w¸rde die Erzâ°hlung werden, wenn ich einzelne Fâ°lle anf¸hren wollte. Wie gl¸cklich war ich, daï¬ tausend kleine Vorgâ°nge zusammen, so gewiï¬ als das Atemholen Zeichen meines Lebens ist, mir bewiesen, daï¬ ich nicht ohne Gott auf der Welt sei. Er war mir nahe, ich war vor ihm. Das ist’s, was ich mit geflissentlicher Vermeidung aller theologischen Systemsprache mit grËï¬ter Wahrheit sagen kann.
Wie sehr w¸nschte ich, daï¬ ich mich auch damals ganz ohne System befunden hâ°tte; aber wer kommt fr¸h zu dem Gl¸cke, sich seines eignen Selbsts, ohne fremde Formen, in reinem Zusammenhang bewuï¬t zu sein? Mir war es Ernst mit meiner Seligkeit. Bescheiden vertraute ich fremdem Ansehn; ich ergab mich vËllig dem Hallischen Bekehrungssystem, und mein ganzes Wesen wollte auf keine Wege hineinpassen.
Nach diesem Lehrplan muï¬ die Verâ°nderung des Herzens mit einem tiefen Schrecken ¸ber die S¸nde anfangen; das Herz muï¬ in dieser Not bald mehr, bald weniger die verschuldete Strafe erkennen und den Vorschmack der HËlle kosten, der die Lust der S¸nde verbittert. Endlich muï¬ man eine sehr merkliche Versicherung der Gnade f¸hlen, die aber im Fortgange sich oft versteckt und mit Ernst wieder gesucht werden muï¬.
Das alles traf bei mir weder nahe noch ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig suchte, so lieï¬ er sich finden und hielt mir von vergangenen Dingen nichts vor. Ich sah hintennach wohl ein, wo ich unw¸rdig gewesen, und wuï¬te auch, wo ich es noch war; aber die Erkenntnis meiner Gebrechen war ohne alle Angst. Nicht einen Augenblick ist mir eine Furcht vor der HËlle angekommen, ja die Idee eines bËsen Geistes und eines Straf- und Quâ°lortes nach dem Tode konnte keinesweges in dem Kreise meiner Ideen Platz finden. Ich fand die Menschen, die ohne Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und der Liebe gegen den Unsichtbaren zugeschlossen war, schon so ungl¸cklich, daï¬ eine HËlle und â°uï¬ere Strafen mir eher f¸r sie eine Linderung zu versprechen als eine Schâ°rfung der Strafe zu drohen schienen. Ich durfte nur Menschen auf dieser Welt ansehen, die gehâ°ssigen Gef¸hlen in ihrem Busen Raum geben, die sich gegen das Gute von irgendeiner Art verstecken und sich und andern das Schlechte aufdringen wollen, die lieber bei Tage die Augen zuschlieï¬en, um nur behaupten zu kËnnen, die Sonne gebe keinen Schein von sich–wie ¸ber allen Ausdruck schienen mir diese Menschen elend! Wer hâ°tte eine HËlle schaffen kËnnen, um ihren Zustand zu verschlimmern!
Diese Gem¸tsbeschaffenheit blieb mir, einen Tag wie den andern, zehn Jahre lang. Sie erhielt sich durch viele Proben, auch am schmerzhaften Sterbebette meiner geliebten Mutter. Ich war offen genug, um bei dieser Gelegenheit meine heitere Gem¸tsverfassung frommen, aber ganz schulgerechten Leuten nicht zu verbergen, und ich muï¬te dar¸ber manchen freundschaftlichen Verweis erdulden. Man meinte mir eben zur rechten Zeit vorzustellen, welchen Ernst man anzuwenden hâ°tte, um in gesunden Tagen einen guten Grund zu legen.
An Ernst wollte ich es auch nicht fehlen lassen. Ich lieï¬ mich f¸r den Augenblick ¸berzeugen und wâ°re um mein Leben gern traurig und voll Schrecken gewesen. Wie verwundert war ich aber, da es ein f¸r allemal nicht mËglich war. Wenn ich an Gott dachte, war ich heiter und vergn¸gt; auch bei meiner lieben Mutter schmerzensvollem Ende graute mir vor dem Tode nicht. Doch lernte ich vieles und ganz andere Sachen, als meine unberufenen Lehrmeister glaubten, in diesen groï¬en Stunden.
VI. Buch–5
Nach und nach ward ich an den Einsichten so mancher hochber¸hmten Leute zweifelhaft und bewahrte meine Gesinnungen in der Stille. Eine gewisse Freundin, der ich erst zuviel eingerâ°umt hatte, wollte sich immer in meine Angelegenheiten mengen; auch von dieser war ich genËtigt mich loszumachen, und einst sagte ich ihr ganz entschieden, sie solle ohne M¸he bleiben, ich brauche ihren Rat nicht; ich kenne meinen Gott und wolle ihn ganz allein zum F¸hrer haben. Sie fand sich sehr beleidigt, und ich glaube, sie hat mir’s nie ganz verziehen.
Dieser Entschluï¬, mich dem Rate und der Einwirkung meiner Freunde in geistlichen Sachen zu entziehen, hatte die Folge, daï¬ ich auch in â°uï¬erlichen Verhâ°ltnissen meinen eigenen Weg zu gehen Mut gewann. Ohne den Beistand meines treuen unsichtbaren F¸hrers hâ°tte es mir ¸bel geraten kËnnen, und noch muï¬ ich ¸ber diese weise und gl¸ckliche Leitung erstaunen. Niemand wuï¬te eigentlich, worauf es bei mir ankam, und ich wuï¬te es selbst nicht.
Das Ding, das noch nie erklâ°rte bËse Ding, das uns von dem Wesen trennt, dem wir das Leben verdanken, von dem Wesen, aus dem alles, was Leben genannt werden soll, sich unterhalten muï¬, das Ding, das man S¸nde nennt, kannte ich noch gar nicht.
In dem Umgange mit dem unsichtbaren Freunde f¸hlte ich den s¸ï¬esten Genuï¬ aller meiner Lebenskrâ°fte. Das Verlangen, dieses Gl¸ck immer zu genieï¬en, war so groï¬, daï¬ ich gern unterlieï¬, was diesen Umgang stËrte, und hierin war die Erfahrung mein bester Lehrmeister. Allein es ging mir wie Kranken, die keine Arznei haben und sich mit der Diâ°t zu helfen suchen. Es tut etwas, aber lange nicht genug.
In der Einsamkeit konnte ich nicht immer bleiben, ob ich gleich in ihr das beste Mittel gegen die mir so eigene Zerstreuung der Gedanken fand. Kam ich nachher in Get¸mmel, so machte es einen desto grËï¬ern Eindruck auf mich. Mein eigentlichster Vorteil bestand darin, daï¬ die Liebe zur Stille herrschend war und ich mich am Ende immer dahin wieder zur¸ckzog. Ich erkannte, wie in einer Art von Dâ°mmerung, mein Elend und meine Schwâ°che, und ich suchte mir dadurch zu helfen, daï¬ ich mich schonte, daï¬ ich mich nicht aussetzte.
Sieben Jahre lang hatte ich meine diâ°tetische Vorsicht ausge¸bt. Ich hielt mich nicht f¸r schlimm und fand meinen Zustand w¸nschenswert. Ohne sonderbare Umstâ°nde und Verhâ°ltnisse wâ°re ich auf dieser Stufe stehengeblieben, und ich kam nur auf einem sonderbaren Wege weiter. Gegen den Rat aller meiner Freunde kn¸pfte ich ein neues Verhâ°ltnis an. Ihre Einwendungen machten mich anfangs stutzig. Sogleich wandte ich mich an meinen unsichtbaren F¸hrer, und da dieser es mir vergËnnte, ging ich ohne Bedenken auf meinem Wege fort.
Ein Mann von Geist, Herz und Talenten hatte sich in der Nachbarschaft angekauft. Unter den Fremden, die ich kennenlernte, war auch er und seine Familie. Wir stimmten in unsern Sitten, Hausverfassungen und Gewohnheiten sehr ¸berein und konnten uns daher bald aneinander anschlieï¬en.
Philo, so will ich ihn nennen, war schon in gewissen Jahren und meinem Vater, dessen Krâ°fte abzunehmen anfingen, in gewissen Geschâ°ften von der grËï¬ten Beih¸lfe. Er ward bald der innige Freund unsers Hauses, und da er, wie er sagte, an mir eine Person fand, die nicht das Ausschweifende und Leere der groï¬en Welt und nicht das Trockne und â°ngstliche der “Stillen im Lande” habe, so waren wir bald vertraute Freunde. Er war mir sehr angenehm und sehr brauchbar.
Ob ich gleich nicht die mindeste Anlage noch Neigung hatte, mich in weltliche Geschâ°fte zu mischen und irgendeinen Einfluï¬ zu suchen, so hËrte ich doch gerne davon und wuï¬te gern, was in der Nâ°he und Ferne vorging. Von weltlichen Dingen liebte ich mir eine gef¸hllose Deutlichkeit zu verschaffen; Empfindung, Innigkeit, Neigung bewahrte ich f¸r meinen Gott, f¸r die Meinigen und f¸r meine Freunde.
Diese letzten waren, wenn ich so sagen darf, auf meine neue Verbindung mit Philo eifers¸chtig und hatten dabei von mehr als einer Seite recht, wenn sie mich hier¸ber warnten. Ich litt viel in der Stille, denn ich konnte selbst ihre Einwendungen nicht ganz f¸r leer oder eigenn¸tzig halten. Ich war von jeher gewohnt, meine Einsichten unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine ¸berzeugung nicht nach. Ich flehte zu meinem Gott, auch hier mich zu warnen, zu hindern, zu leiten, und da mich hierauf mein Herz nicht abmahnte, so ging ich meinen Pfad getrost fort.
Philo hatte im ganzen eine entfernte â°hnlichkeit mit Narzissen; nur hatte eine fromme Erziehung sein Gef¸hl mehr zusammengehalten und belebt. Er hatte weniger Eitelkeit, mehr Charakter, und wenn jener in weltlichen Geschâ°ften fein, genau, anhaltend und unerm¸dlich war, so war dieser klar, scharf, schnell und arbeitete mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Durch ihn erfuhr ich die innersten Verhâ°ltnisse fast aller der vornehmen Personen, deren â°uï¬eres ich in der Gesellschaft hatte kennenlernen, und ich war froh, von meiner Warte dem Get¸mmel von weiten zuzusehen. Philo konnte mir nichts mehr verhehlen: er vertraute mir nach und nach seine â°uï¬ern und innern Verbindungen. Ich f¸rchtete f¸r ihn, denn ich sah gewisse Umstâ°nde und Verwickelungen voraus, und das ¸bel kam schneller, als ich vermutet hatte; denn er hatte mit gewissen Bekenntnissen immer zur¸ckgehalten, und auch zuletzt entdeckte er mir nur so viel, daï¬ ich das Schlimmste vermuten konnte.
Welche Wirkung hatte das auf mein Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die mir ganz neu waren. Ich sah mit unbeschreiblicher Wehmut einen Agathon, der, in den Hainen von Delphi erzogen, das Lehrgeld noch schuldig war und es nun mit schweren, r¸ckstâ°ndigen Zinsen abzahlte, und dieser Agathon war mein genau verbundener Freund. Meine Teilnahme war lebhaft und vollkommen; ich litt mit ihm, und wir befanden uns beide in dem sonderbarsten Zustande.
Nachdem ich mich lange mit seiner Gem¸tsverfassung beschâ°ftigt hatte, wendete sich meine Betrachtung auf mich selbst. Der Gedanke: “Du bist nicht besser als er”, stieg wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete sich nach und nach aus und verfinsterte meine ganze Seele.
Nun dachte ich nicht mehr bloï¬: “Du bist nicht besser als er”; ich f¸hlte es und f¸hlte es so, daï¬ ich es nicht noch einmal f¸hlen mËchte: und es war kein schneller ¸bergang. Mehr als ein Jahr muï¬te ich empfinden, daï¬, wenn mich eine unsichtbare Hand nicht umschrâ°nkt hâ°tte, ich ein Girard, ein Cartouche, ein Damiens, und welches Ungeheuer man nennen will, hâ°tte werden kËnnen: die Anlage dazu f¸hlte ich deutlich in meinem Herzen. Gott, welche Entdeckung!
Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der S¸nde in mir durch die Erfahrung nicht einmal auf das leiseste gewahr werden kËnnen, so war mir jetzt die MËglichkeit derselben in der Ahnung aufs schrecklichste deutlich geworden, und doch kannte ich das ¸bel nicht, ich f¸rchtete es nur; ich f¸hlte, daï¬ ich schuldig sein kËnnte, und hatte mich nicht anzuklagen.
So tief ich ¸berzeugt war, daï¬ eine solche Geistesbeschaffenheit, wof¸r ich die meinige anerkennen muï¬te, sich nicht zu einer Vereinigung mit dem hËchsten Wesen, die ich nach dem Tode hoffte, schicken kËnne, so wenig f¸rchtete ich, in eine solche Trennung zu geraten. Bei allem BËsen, das ich in mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haï¬te, was ich f¸hlte, ja ich w¸nschte es noch ernstlicher zu hassen, und mein ganzer Wunsch war, von dieser Krankheit und dieser Anlage zur Krankheit erlËst zu werden, und ich war gewiï¬, daï¬ mir der groï¬e Arzt seine H¸lfe nicht versagen w¸rde.
Die einzige Frage war: Was heilt diesen Schaden? Tugend¸bungen? An die konnte ich nicht einmal denken; denn zehn Jahre hatte ich schon mehr als nur bloï¬e Tugend ge¸bt, und die nun erkannten Greuel hatten dabei tief in meiner Seele verborgen gelegen. Hâ°tten sie nicht auch wie bei David losbrechen kËnnen, als er Bathseba erblickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes, und war ich nicht im Innersten ¸berzeugt, daï¬ Gott mein Freund sei?
Sollte es also wohl eine unvermeidliche Schwâ°che der Menschheit sein? M¸ssen wir uns nun gefallen lassen, daï¬ wir irgendeinmal die Herrschaft unsrer Neigung empfinden, und bleibt uns bei dem besten Willen nichts andres ¸brig, als den Fall, den wir getan, zu verabscheuen und bei einer â°hnlichen Gelegenheit wieder zu fallen?
Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Trost schËpfen. Weder ihre Strenge, wodurch sie unsre Neigung meistern will, noch ihre Gefâ°lligkeit, mit der sie unsre Neigungen zu Tugenden machen mËchte, konnte mir gen¸gen. Die Grundbegriffe, die mir der Umgang mit dem unsichtbaren Freunde eingeflËï¬t hatte, hatten f¸r mich schon einen viel entschiedenern Wert.
Indem ich einst die Lieder studierte, welche David nach jener hâ°ï¬lichen Katastrophe gedichtet hatte, war mir sehr auffallend, daï¬ er das in ihm wohnende BËse schon in dem Stoff, woraus er geworden war, erblickte, daï¬ er aber ents¸ndigt sein wollte und daï¬ er auf das dringendste um ein reines Herz flehte.
Wie nun aber dazu zu gelangen? Die Antwort aus den symbolischen B¸chern wuï¬te ich wohl: es war mir auch eine Bibelwahrheit, daï¬ das Blut Jesu Christi uns von allen S¸nden reinige. Nun aber bemerkte ich erst, daï¬ ich diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden hatte. Die Fragen: Was heiï¬t das? Wie soll das zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir sich durch. Endlich glaubte ich bei einem Schimmer zu sehen, daï¬ das, was ich suchte, in der Menschwerdung des ewigen Worts, durch das alles und auch wir erschaffen sind, zu suchen sei. Daï¬ der Uranfâ°ngliche sich in die Tiefen, in denen wir stecken, die er durchschaut und umfaï¬t, einstmal als Bewohner begeben habe, durch unser Verhâ°ltnis von Stufe zu Stufe, von der Empfâ°ngnis und Geburt bis zu dem Grabe, durchgegangen sei, daï¬ er durch diesen sonderbaren Umweg wieder zu den lichten HËhen aufgestiegen, wo wir auch wohnen sollten, um gl¸cklich zu sein: das ward mir, wie in einer dâ°mmernden Ferne, offenbart.
O warum m¸ssen wir, um von solchen Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur â°uï¬ere Zustâ°nde anzeigen! Wo ist vor ihm etwas Hohes oder Tiefes, etwas Dunkles oder Helles? Wir nur haben ein Oben und Unten, einen Tag und eine Nacht. Und eben darum ist er uns â°hnlich geworden, weil wir sonst keinen Teil an ihm haben kËnnten.
Wie kËnnen wir aber an dieser unschâ°tzbaren Wohltat teilnehmen? “Durch den Glauben”, antwortet uns die Schrift. Was ist denn Glauben? Die Erzâ°hlung einer Begebenheit f¸r wahr halten, was kann mir das helfen? Ich muï¬ mir ihre Wirkungen, ihre Folgen zueignen kËnnen. Dieser zueignende Glaube muï¬ ein eigener, dem nat¸rlichen Menschen ungewËhnlicher Zustand des Gem¸ts sein.
“Nun, Allmâ°chtiger! so schenke mir Glauben!” flehte ich einst in dem grËï¬ten Druck des Herzens. Ich lehnte mich auf einen kleinen Tisch, an dem ich saï¬, und verbarg mein betrâ°ntes Gesicht in meinen Hâ°nden. Hier war ich in der Lage, in der man sein muï¬, wenn Gott auf unser Gebet achten soll, und in der man selten ist.
Ja, wer nur schildern kËnnte, was ich da f¸hlte! Ein Zug brachte meine Seele nach dem Kreuze hin, an dem Jesus einst erblaï¬te; ein Zug war es, ich kann es nicht anders nennen, demjenigen vËllig gleich, wodurch unsre Seele zu einem abwesenden Geliebten gef¸hrt wird, ein Zunahen, das vermutlich viel wesentlicher und wahrhafter ist, als wir vermuten. So nahte meine Seele dem Menschgewordnen und am Kreuz Gestorbenen, und in dem Augenblicke wuï¬te ich, was Glauben war.
“Das ist Glauben!” sagte ich und sprang wie halb erschreckt in die HËhe. Ich suchte nun, meiner Empfindung, meines Anschauens gewiï¬ zu werden, und in kurzem war ich ¸berzeugt, daï¬ mein Geist eine Fâ°higkeit sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war.
Bei diesen Empfindungen verlassen uns die Worte. Ich konnte sie ganz deutlich von aller Phantasie unterscheiden; sie waren ganz ohne Phantasie, ohne Bild, und gaben doch ebendie Gewiï¬heit eines Gegenstandes, auf den sie sich bezogen, als die Einbildungskraft, indem sie uns die Z¸ge eines abwesenden Geliebten vormalt.
Als das erste Entz¸cken vor¸ber war, bemerkte ich, daï¬ mir dieser Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stâ°rke empfunden. Ich hatte ihn niemals festhalten, nie zu eigen behalten kËnnen. Ich glaube ¸berhaupt, daï¬ jede Menschenseele ein und das andere Mal davon etwas empfunden hat. Ohne Zweifel ist er das, was einem jeden lehrt, daï¬ ein Gott ist.
Mit dieser mich ehemals von Zeit zu Zeit nur anwandelnden Kraft war ich bisher sehr zufrieden gewesen, und wâ°re mir nicht durch sonderbare Schickung seit Jahr und Tag die unerwartete Plage widerfahren, wâ°re nicht dabei mein KËnnen und VermËgen bei mir selbst auï¬er allen Kredit gekommen, so wâ°re ich vielleicht mit jenem Zustande immer zufrieden geblieben.
Nun hatte ich aber seit jenem groï¬en Augenblicke Fl¸gel bekommen. Ich konnte mich ¸ber das, was mich vorher bedrohete, aufschwingen, wie ein Vogel singend ¸ber den schnellsten Strom ohne M¸he fliegt, vor welchem das H¸ndchen â°ngstlich bellend stehenbleibt.
Meine Freude war unbeschreiblich, und ob ich gleich niemand etwas davon entdeckte, so merkten doch die Meinigen eine ungewËhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen zu kËnnen, was die Ursache meines Vergn¸gens wâ°re. Hâ°tte ich doch immer geschwiegen und die reine Stimmung in meiner Seele zu erhalten gesucht! Hâ°tte ich mich doch nicht durch Umstâ°nde verleiten lassen, mit meinem Geheimnisse hervorzutreten! dann hâ°tte ich mir abermals einen groï¬en Umweg ersparen kËnnen.
Da in meinem vorhergehenden zehnjâ°hrigen Christenlauf diese notwendige Kraft nicht in meiner Seele war, so hatte ich mich in dem Fall anderer redlichen Leute auch befunden; ich hatte mir dadurch geholfen, daï¬ ich die Phantasie immer mit Bildern erf¸llte, die einen Bezug auf Gott hatten, und auch dieses ist schon wahrhaft n¸tzlich: denn schâ°dliche Bilder und ihre bËsen Folgen werden dadurch abgehalten. Sodann ergreift unsre Seele oft ein und das andere von den geistigen Bildern und schwingt sich ein wenig damit in die HËhe, wie ein junger Vogel von einem Zweige auf den andern flattert. Solange man nichts Besseres hat, ist doch diese ¸bung nicht ganz zu verwerfen.
Auf Gott zielende Bilder und Eindr¸cke verschaffen uns kirchliche Anstalten, Glocken, Orgeln und Gesâ°nge und besonders die Vortrâ°ge unsrer Lehrer. Auf sie war ich ganz unsâ°glich begierig; keine Witterung, keine kËrperliche Schwâ°che hielt mich ab, die Kirchen zu besuchen, und nur das sonntâ°gige Gelâ°ute konnte mir auf meinem Krankenlager einige Ungeduld verursachen. Unsern Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann war, hËrte ich mit groï¬er Neigung; auch seine Kollegen waren mir wert, und ich wuï¬te die goldnen â°pfel des gËttlichen Wortes auch aus irdenen Schalen unter gemeinem Obste herauszufinden. Den Ëffentlichen ¸bungen wurden alle mËglichen Privaterbauungen, wie man sie nennt, hinzugef¸gt und auch dadurch nur Phantasie und feinere Sinnlichkeit genâ°hrt. Ich war so an diesen Gang gewËhnt, ich respektierte ihn so sehr, daï¬ mir auch jetzt nichts HËheres einfiel. Denn meine Seele hat nur F¸hlhËrner und keine Augen; sie tastet nur und sieht nicht; ach! daï¬ sie Augen bekâ°me und schauen d¸rfte!
Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die Predigten; aber ach, wie geschah mir! Ich fand das nicht mehr, was ich sonst gefunden. Diese Prediger stumpften sich die Zâ°hne an den Schalen ab, indessen ich den Kern genoï¬. Ich muï¬te ihrer nun bald m¸de werden; aber mich an den allein zu halten, den ich doch zu finden wuï¬te, dazu war ich zu verwËhnt. Bilder wollte ich haben, â°uï¬ere Eindr¸cke bedurfte ich und glaubte ein reines geistiges Bed¸rfnis zu f¸hlen.
VI. Buch–6
Philos Eltern hatten mit der herrnhutischen Gemeinde in Verbindung gestanden; in seiner Bibliothek fanden sich noch viele Schriften des Grafen. Er hatte mir einigemal sehr klar und billig dar¸ber gesprochen und mich ersucht, einige dieser Schriften durchzublâ°ttern, und wâ°re es auch nur, um ein psychologisches Phâ°nomen kennenzulernen. Ich hielt den Grafen f¸r einen gar zu argen Ketzer; so lieï¬ ich auch das Ebersdorfer Gesangbuch bei mir liegen, das mir der Freund in â°hnlicher Absicht gleichsam aufgedrungen hatte.
In dem vËlligen Mangel aller â°uï¬eren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ungefâ°hr das gedachte Gesangbuch und fand zu meinem Erstaunen wirklich Lieder darin, die, freilich unter sehr seltsamen Formen, auf dasjenige zu deuten schienen, was ich f¸hlte; die Originalitâ°t und Naivetâ°t der Ausdr¸cke zog mich an. Eigene Empfindungen schienen auf eine eigene Weise ausgedr¸ckt; keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward ¸berzeugt, die Leute f¸hlten, was ich f¸hlte, und ich fand mich nun sehr gl¸cklich, ein solches Verschen ins Gedâ°chtnis zu fassen und mich einige Tage damit zu tragen.
Seit jenem Augenblick, in welchem mir das Wahre geschenkt worden war, verflossen auf diese Weise ungefâ°hr drei Monate. Endlich faï¬te ich den Entschluï¬, meinem Freunde Philo alles zu entdecken und ihn um die Mitteilung jener Schriften zu bitten, auf die ich nun ¸ber die Maï¬en neugierig geworden war. Ich tat es auch wirklich, ungeachtet mir ein Etwas im Herzen ernstlich davon abriet.
Ich erzâ°hlte Philo die ganze Geschichte umstâ°ndlich, und da er selbst darin eine Hauptperson war, da meine Erzâ°hlung auch f¸r ihn die strengste Buï¬predigt enthielt, war er â°uï¬erst betroffen und ger¸hrt. Er zerfloï¬ in Trâ°nen. Ich freute mich und glaubte, auch bei ihm sei eine vËllige Sinnesâ°nderung bewirkt worden.
Er versorgte mich mit allen Schriften, die ich nur verlangte, und nun hatte ich ¸berfl¸ssige Nahrung f¸r meine Einbildungskraft. Ich machte groï¬e Fortschritte in der Zinzendorfischen Art, zu denken und zu sprechen. Man glaube nicht, daï¬ ich die Art und Weise des Grafen nicht auch gegenwâ°rtig zu schâ°tzen wisse; ich lasse ihm gern Gerechtigkeit widerfahren; er ist kein leerer Phantast; er spricht von groï¬en Wahrheiten meist in einem k¸hnen Fluge der Einbildungskraft, und die ihn geschmâ°ht haben, wuï¬ten seine Eigenschaften weder zu schâ°tzen noch zu unterscheiden.
Ich gewann ihn unbeschreiblich lieb. Wâ°re ich mein eigner Herr gewesen, so hâ°tte ich gewiï¬ Vaterland und Freunde verlassen, wâ°re zu ihm gezogen; unfehlbar hâ°tten wir uns verstanden, und schwerlich hâ°tten wir uns lange vertragen.
Dank sei meinem Genius, der mich damals in meiner hâ°uslichen Verfassung so eingeschrâ°nkt hielt! Es war schon eine groï¬e Reise, wenn ich nur in den Hausgarten gehen konnte. Die Pflege meines alten und schwâ°chlichen Vaters machte mir Arbeit genug, und in den ErgËtzungsstunden war die edle Phantasie mein Zeitvertreib. Der einzige Mensch, den ich sah, war Philo, den mein Vater sehr liebte, dessen offnes Verhâ°ltnis zu mir aber durch die letzte Erklâ°rung einigermaï¬en gelitten hatte. Bei ihm war die R¸hrung nicht tief gedrungen, und da ihm einige Versuche, in meiner Sprache zu reden, nicht gelungen waren, so vermied er diese Materie um so leichter, als er durch seine ausgebreiteten Kenntnisse immer neue Gegenstâ°nde des Gesprâ°chs herbeizuf¸hren wuï¬te.
Ich war also eine herrnhutische Schwester auf meine eigene Hand und hatte diese neue Wendung meines Gem¸ts und meiner Neigungen besonders vor dem Oberhofprediger zu verbergen, den ich als meinen Beichtvater zu schâ°tzen sehr Ursache hatte und dessen groï¬e Verdienste auch gegenwâ°rtig durch seine â°uï¬erste Abneigung gegen die herrnhutische Gemeinde in meinen Augen nicht geschmâ°lert wurden. Leider sollte dieser w¸rdige Mann an mir und andern viele Betr¸bnis erleben!
Er hatte vor mehreren Jahren auswâ°rts einen Kavalier als einen redlichen, frommen Mann kennenlernen und war mit ihm als einem, der Gott ernstlich suchte, in einem ununterbrochenen Briefwechsel geblieben. Wie schmerzhaft war es daher f¸r seinen geistlichen F¸hrer, als dieser Kavalier sich in der Folge mit der herrnhutischen Gemeinde einlieï¬ und sich lange unter den Br¸dern aufhielt; wie angenehm dagegen, als sein Freund sich mit den Br¸dern wieder entzweite, in seiner Nâ°he zu wohnen sich entschloï¬ und sich seiner Leitung aufs neue vËllig zu ¸berlassen schien.
Nun wurde der Neuangekommene gleichsam im Triumph allen besonders geliebten Schâ°fchen des Oberhirten vorgestellt. Nur in unser Haus ward er nicht eingef¸hrt, weil mein Vater niemand mehr zu sehen pflegte. Der Kavalier fand groï¬e Approbation; er hatte das Gesittete des Hofs und das Einnehmende der Gemeinde, dabei viel schËne nat¸rliche Eigenschaften und ward bald der groï¬e Heilige f¸r alle, die ihn kennenlernten, wor¸ber sich sein geistlicher GËnner â°uï¬erst freute. Leider war jener nur ¸ber â°uï¬ere Umstâ°nde mit der Gemeine brouilliert und im Herzen noch ganz Herrnhuter. Er hing zwar wirklich an der Realitâ°t der Sache; allein auch ihm war das Tâ°ndelwerk, das der Graf darumgehâ°ngt hatte, hËchst angemessen. Er war an jene Vorstellungs- und Redensarten nun einmal gewËhnt, und wenn er sich nunmehr vor seinem alten Freunde sorgfâ°ltig verbergen muï¬te, so war es ihm desto notwendiger, sobald er ein Hâ°ufchen vertrauter Personen um sich erblickte, mit seinen Verschen, Litaneien und Bilderchen hervorzur¸cken, und er fand, wie man denken kann, groï¬en Beifall.
Ich wuï¬te von der ganzen Sache nichts und tâ°ndelte auf meine eigene Art fort. Lange Zeit blieben wir uns unbekannt.
Einst besuchte ich in einer freien Stunde eine kranke Freundin. Ich traf mehrere Bekannte dort an und merkte bald, daï¬ ich sie in einer Unterredung gestËrt hatte. Ich lieï¬ mir nichts merken, erblickte aber zu meiner groï¬en Verwunderung an der Wand einige herrnhutische Bilder, in zierlichen Rahmen. Ich faï¬te geschwinde, was in der Zeit, da ich nicht im Hause gewesen, vorgegangen sein mochte, und bewillkommte diese neue Erscheinung mit einigen angemessenen Versen.
Man denke sich das Erstaunen meiner Freundinnen. Wir erklâ°rten uns und waren auf der Stelle einig und vertraut.
Ich suchte nun Ëfter Gelegenheit auszugehn. Leider fand ich sie nur alle drei bis vier Wochen, ward mit dem adeligen Apostel und nach und nach mit der ganzen heimlichen Gemeinde bekannt. Ich besuchte, wenn ich konnte, ihre Versammlungen, und bei meinem geselligen Sinn war es mir unendlich angenehm, das von andern zu vernehmen und andern mitzuteilen, was ich nur bisher in und mit mir selbst ausgearbeitet hatte.
Ich war nicht so eingenommen, daï¬ ich nicht bemerkt hâ°tte, wie nur wenige den Sinn der zarten Worte und Ausdr¸cke f¸hlten und wie sie dadurch auch nicht mehr als ehemals durch die kirchlich symbolische Sprache gefËrdert waren. Dessenungeachtet ging ich mit ihnen fort und lieï¬ mich nicht irremachen. Ich dachte, daï¬ ich nicht zur Untersuchung und Herzenspr¸fung berufen sei. War ich doch auch durch manche unschuldige ¸bung zum Besseren vorbereitet worden. Ich nahm meinen Teil hinweg, drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn, der bei so zarten Gegenstâ°nden eher durch Worte versteckt als angedeutet wird, und lieï¬ Â¸brigens mit stiller Vertrâ°glichkeit einen jeden nach seiner Art gewâ°hren.
Auf diese ruhigen Zeiten des heimlichen gesellschaftlichen Genusses folgten bald die St¸rme Ëffentlicher Streitigkeiten und Widerwâ°rtigkeiten, die am Hofe und in der Stadt groï¬e Bewegungen erregten und, ich mËchte beinahe sagen, manches Skandal verursachten. Der Zeitpunkt war gekommen, in welchem unser Oberhofprediger, dieser groï¬e Widersacher der herrnhutischen Gemeinde, zu seiner gesegneten Dem¸tigung entdecken sollte, daï¬ seine besten und sonst anhâ°nglichsten ZuhËrer sich sâ°mtlich auf die Seite der Gemeinde neigten. Er war â°uï¬erst gekrâ°nkt, vergaï¬ im ersten Augenblicke alle Mâ°ï¬igung und konnte in der Folge sich nicht, selbst wenn er gewollt hâ°tte, zur¸ckziehn. Es gab heftige Debatten, bei denen ich gl¸cklicherweise nicht genannt wurde, da ich nur ein zufâ°lliges Mitglied der so sehr verhaï¬ten Zusammenk¸nfte war und unser eifriger F¸hrer meinen Vater und meinen Freund in b¸rgerlichen Angelegenheiten nicht entbehren konnte. Ich erhielt meine Neutralitâ°t mit stiller Zufriedenheit; denn mich von solchen Empfindungen und Gegenstâ°nden selbst mit wohlwollenden Menschen zu unterhalten war mir schon verdrieï¬lich, wenn sie den tiefsten Sinn nicht fassen konnten und nur auf der Oberflâ°che verweilten. Nun aber gar ¸ber das mit Widersachern zu streiten, wor¸ber man sich kaum mit Freunden verstand, schien mir unn¸tz, ja verderblich. Denn bald konnte ich bemerken, daï¬ liebevolle, edle Menschen, die in diesem Falle ihr Herz von Widerwillen und Haï¬ nicht rein halten konnten, gar bald zur Ungerechtigkeit ¸bergingen und, um eine â°uï¬ere Form zu verteidigen, ihr bestes Innerste beinahe zerstËrten.
Sosehr auch der w¸rdige Mann in diesem Fall unrecht haben mochte und sosehr man mich auch gegen ihn aufzubringen suchte, konnte ich ihm doch niemals eine herzliche Achtung versagen. Ich kannte ihn genau; ich konnte mich in seine Art, diese Sachen anzusehen, mit Billigkeit versetzen. Ich hatte niemals einen Menschen ohne Schwâ°che gesehen; nur ist sie auffallender bei vorz¸glichen Menschen. Wir w¸nschen und wollen nun ein f¸r allemal, daï¬ die, die so sehr privilegiert sind, auch gar keinen Tribut, keine Abgaben zahlen sollen. Ich ehrte ihn als einen vorz¸glichen Mann und hoffte den Einfluï¬ meiner stillen Neutralitâ°t, wo nicht zu einem Frieden, doch zu einem Waffenstillstande zu nutzen. Ich weiï¬ nicht, was ich bewirkt hâ°tte; Gott faï¬te die Sache k¸rzer und nahm ihn zu sich. Bei seiner Bahre weinten alle, die noch kurz vorher um Worte mit ihm gestritten hatten. Seine Rechtschaffenheit, seine Gottesfurcht hatte niemals jemand bezweifelt.
Auch ich muï¬te um diese Zeit das Puppenwerk aus den Hâ°nden legen, das mir durch diese Streitigkeiten gewissermaï¬en in einem andern Lichte erschienen war. Der Oheim hatte seine Plane auf meine Schwester in der Stille durchgef¸hrt. Er stellte ihr einen jungen Mann von Stande und VermËgen als ihren Brâ°utigam vor und zeigte sich in einer reichlichen Aussteuer, wie man es von ihm erwarten konnte. Mein Vater willigte mit Freuden ein; die Schwester war frei und vorbereitet und verâ°nderte gerne ihren Stand. Die Hochzeit wurde auf des Oheims Schloï¬ ausgerichtet, Familie und Freunde waren eingeladen, und wir kamen alle mit heiterm Geiste.
Zum erstenmal in meinem Leben erregte mir der Eintritt in ein Haus Bewunderung. Ich hatte wohl oft von des Oheims Geschmack, von seinem italienischen Baumeister, von seinen Sammlungen und seiner Bibliothek reden hËren; ich verglich aber das alles mit dem, was ich schon gesehen hatte, und machte mir ein sehr buntes Bild davon in Gedanken. Wie verwundert war ich daher ¸ber den ernsten und harmonischen Eindruck, den ich beim Eintritt in das Haus empfand und der sich in jedem Saal und Zimmer verstâ°rkte. Hatte Pracht und Zierat mich sonst nur zerstreut, so f¸hlte ich mich hier gesammelt und auf mich selbst zur¸ckgef¸hrt. Auch in allen Anstalten zu Feierlichkeiten und Festen erregten Pracht und W¸rde ein stilles Gefallen, und es war mir ebenso unbegreiflich, daï¬ ein Mensch das alles hâ°tte erfinden und anordnen kËnnen, als daï¬ mehrere sich vereinigen kËnnten, um in einem so groï¬en Sinne zusammenzuwirken. Und bei dem allen schienen der Wirt und die Seinigen so nat¸rlich; es war keine Spur von Steifheit noch von leerem Zeremoniell zu bemerken.
Die Trauung selbst ward unvermutet auf eine herzliche Art eingeleitet; eine vortreffliche Vokalmusik ¸berraschte uns, und der Geistliche wuï¬te dieser Zeremonie alle Feierlichkeit der Wahrheit zu geben. Ich stand neben Philo, und statt mir Gl¸ck zu w¸nschen, sagte er mit einem tiefen Seufzer: “Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war mir’s, als ob man mich mit siedheiï¬em Wasser begossen hâ°tte. “–“Warum?” fragte ich. “Es ist mir allezeit so, wenn ich eine Kopulation ansehe”, versetzte er. Ich lachte ¸ber ihn und habe nachher oft genug an seine Worte zu denken gehabt.
Die Heiterkeit der Gesellschaft, worunter viel junge Leute waren, schien noch einmal so glâ°nzend, indem alles, was uns umgab, w¸rdig und ernsthaft war. Aller Hausrat, Tafelzeug, Service und Tischaufsâ°tze stimmten zu dem Ganzen, und wenn mir sonst die Baumeister mit den Konditoren aus einer Schule entsprungen zu sein schienen, so war hier Konditor und Tafeldecker bei dem Architekten in die Schule gegangen.
Da man mehrere Tage zusammenblieb, hatte der geistreiche und verstâ°ndige Wirt f¸r die Unterhaltung der Gesellschaft auf das mannigfaltigste gesorgt. Ich wiederholte hier nicht die traurige Erfahrung, die ich so oft in meinem Leben gehabt hatte, wie ¸bel eine groï¬e gemischte Gesellschaft sich befinde, die, sich selbst ¸berlassen, zu den allgemeinsten und schalsten Zeitvertreiben greifen muï¬, damit ja eher die guten als die schlechten Subjekte Mangel der Unterhaltung f¸hlen.
Ganz anders hatte es der Oheim veranstaltet. Er hatte zwei bis drei Marschâ°lle, wenn ich sie so nennen darf, bestellt; der eine hatte f¸r die Freuden der jungen Welt zu sorgen: Tâ°nze, Spazierfahrten, kleine Spiele waren von seiner Erfindung und standen unter seiner Direktion, und da junge Leute gern im Freien leben und die Einfl¸sse der Luft nicht scheuen, so war ihnen der Garten und der groï¬e Gartensaal ¸bergeben, an den zu diesem Endzwecke noch einige Galerien und Pavillons angebauet waren, zwar nur von Brettern und Leinwand, aber in so edlen Verhâ°ltnissen, daï¬ man nur an Stein und Marmor dabei erinnert ward.
Wie selten ist eine Fete, wobei derjenige, der die Gâ°ste zusammenberuft, auch die Schuldigkeit empfindet, f¸r ihre Bed¸rfnisse und Bequemlichkeiten auf alle Weise zu sorgen!
Jagd und Spielpartien, kurze Promenaden, Gelegenheiten zu vertraulichen, einsamen Gesprâ°chen waren f¸r die â°ltern Personen bereitet, und derjenige, der am fr¸hsten zu Bette ging, war auch gewiï¬ am weitesten von allem Lâ°rm einquartiert.
Durch diese gute Ordnung schien der Raum, in dem wir uns befanden, eine kleine Welt zu sein, und doch, wenn man es bei nahem betrachtete, war das Schloï¬ nicht groï¬, und man w¸rde ohne genaue Kenntnis desselben und ohne den Geist des Wirtes wohl schwerlich so viele Leute darin beherbergt und jeden nach seiner Art bewirtet haben.
So angenehm uns der Anblick eines wohlgestalteten Menschen ist, so angenehm ist uns eine ganze Einrichtung, aus der uns die Gegenwart eines verstâ°ndigen, vern¸nftigen Wesens f¸hlbar wird. Schon in ein reinliches Haus zu kommen ist eine Freude, wenn es auch sonst geschmacklos gebauet und verziert ist: denn es zeigt uns die Gegenwart wenigstens von einer Seite gebildeter Menschen. Wie doppelt angenehm ist es uns also, wenn aus einer menschlichen Wohnung uns der Geist einer hËhern, obgleich auch nur sinnlichen Kultur entgegenspricht.
Mit vieler Lebhaftigkeit ward mir dieses auf dem Schlosse meines Oheims anschaulich. Ich hatte vieles von Kunst gehËrt und gelesen; Philo selbst war ein groï¬er Liebhaber von Gemâ°lden und hatte eine schËne Sammlung; auch ich selbst hatte viel gezeichnet; aber teils war ich zu sehr mit meinen Empfindungen beschâ°ftigt und trachtete nur, das eine, was not ist, erst recht ins reine zu bringen, teils schienen doch alle die Sachen, die ich gesehen hatte, mich wie die ¸brigen weltlichen Dinge zu zerstreuen. Nun war ich zum erstenmal durch etwas â°uï¬erliches auf mich selbst zur¸ckgef¸hrt, und ich lernte den Unterschied zwischen dem nat¸rlichen, vortrefflichen Gesang der Nachtigall und einem vierstimmigen Halleluja aus gef¸hlvollen Menschenkehlen zu meiner grËï¬ten Verwunderung erst kennen.
Ich verbarg meine Freude ¸ber diese neue Anschauung meinem Oheim nicht, der, wenn alles andere in sein Teil gegangen war, sich mit mir besonders zu unterhalten pflegte. Er sprach mit groï¬er Bescheidenheit von dem, was er besaï¬ und hervorgebracht hatte, mit groï¬er Sicherheit von dem Sinne, in dem es gesammelt und aufgestellt worden war, und ich konnte wohl merken, daï¬ er mit Schonung f¸r mich redete, indem er nach seiner alten Art das Gute, wovon er Herr und Meister zu sein glaubte, demjenigen unterzuordnen schien, was nach meiner ¸berzeugung das Rechte und Beste war.
VI. Buch–7
“Wenn wir uns”, sagte er einmal, “als mËglich denken kËnnen, daï¬ der SchËpfer der Welt selbst die Gestalt seiner Kreatur angenommen und auf ihre Art und Weise sich eine Zeitlang auf der Welt befunden habe, so muï¬ uns dieses GeschËpf schon unendlich vollkommen erscheinen, weil sich der SchËpfer so innig damit vereinigen konnte. Es muï¬ also in dem Begriff des Menschen kein Widerspruch mit dem Begriff der Gottheit liegen; und wenn wir auch oft eine gewisse Unâ°hnlichkeit und Entfernung von ihr empfinden, so ist es doch um desto mehr unsere Schuldigkeit, nicht immer wie der Advokat des bËsen Geistes nur auf die BlËï¬en und Schwâ°chen unserer Natur zu sehen, sondern eher alle Vollkommenheiten aufzusuchen, wodurch wir die Anspr¸che unsrer Gottâ°hnlichkeit bestâ°tigen kËnnen.”
Ich lâ°chelte und versetzte: “Beschâ°men Sie mich nicht zu sehr, lieber Oheim, durch die Gefâ°lligkeit, in meiner Sprache zu reden! Das, was Sie mir zu sagen haben, ist f¸r mich von so groï¬er Wichtigkeit, daï¬ ich es in Ihrer eigensten Sprache zu hËren w¸nschte, und ich will alsdann, was ich mir davon nicht ganz zueignen kann, schon zu ¸bersetzen suchen.”
“Ich werde”, sagte er darauf, “auch auf meine eigenste Weise ohne Verâ°nderung des Tons fortfahren kËnnen. Des Menschen grËï¬tes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstâ°nde soviel als mËglich bestimmt und sich sowenig als mËglich von ihnen bestimmen lâ°ï¬t. Das ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein groï¬er Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufâ°lligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der grËï¬ten Ëkonomie, Zweckmâ°ï¬igkeit und Festigkeit zusammenstellt. Alles auï¬er uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schËpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten lâ°ï¬t, bis wir es auï¬er uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt haben. Sie, liebe Nichte, haben vielleicht das beste Teil erwâ°hlt; Sie haben Ihr sittliches Wesen, Ihre tiefe, liebevolle Natur mit sich selbst und mit dem hËchsten Wesen ¸bereinstimmend zu machen gesucht, indes wir andern wohl auch nicht zu tadeln sind, wenn wir den sinnlichen Menschen in seinem Umfange zu kennen und tâ°tig in Einheit zu bringen suchen.”
Durch solche Gesprâ°che wurden wir nach und nach vertrauter, und ich erlangte von ihm, daï¬ er mit mir ohne Kondeszendenz wie mit sich selbst sprach. “Glauben Sie nicht”, sagte der Oheim zu mir, “daï¬ ich Ihnen schmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken und zu handeln lobe. Ich verehre den Menschen, der deutlich weiï¬, was er will, unablâ°ssig vorschreitet, die Mittel zu seinem Zwecke kennt und sie zu ergreifen und zu brauchen weiï¬; inwiefern sein Zweck groï¬ oder klein sei, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bei mir erst nachher in Betrachtung. Glauben Sie mir, meine Liebe, der grËï¬te Teil des Unheils und dessen, was man bËs in der Welt nennt, entsteht bloï¬, weil die Menschen zu nachlâ°ssig sind, ihre Zwecke recht kennenzulernen und, wenn sie solche kennen, ernsthaft darauf loszuarbeiten. Sie kommen mir vor wie Leute, die den Begriff haben, es kËnne und m¸sse ein Turm gebauet werden, und die doch an den Grund nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man allenfalls einer H¸tte unterschl¸ge. Hâ°tten Sie, meine Freundin, deren hËchstes Bed¸rfnis war, mit Ihrer innern sittlichen Natur ins reine zu kommen, anstatt der groï¬en und k¸hnen Aufopferungen sich zwischen Ihrer Familie, einem Brâ°utigam, vielleicht einem Gemahl nur so hin beholfen, Sie w¸rden, in einem ewigen Widerspruch mit sich selbst, niemals einen zufriedenen Augenblick genossen haben.”
“Sie brauchen”, versetzte ich hier, “das Wort Aufopferung, und ich habe manchmal gedacht, wie wir einer hËhern Absicht gleichsam wie einer Gottheit das Geringere zum Opfer darbringen, ob es uns schon am Herzen liegt, wie man ein geliebtes Schaf f¸r die Gesundheit eines verehrten Vaters gern und willig zum Altar f¸hren w¸rde.”
“Was es auch sei”, versetzte er, “der Verstand oder die Empfindung, das uns eins f¸r das andere hingeben, eins vor dem andern wâ°hlen heiï¬t, so ist Entschiedenheit und Folge nach meiner Meinung das Verehrungsw¸rdigste am Menschen. Man kann die Ware und das Geld nicht zugleich haben; und der ist ebenso ¸bel daran, dem es immer nach der Ware gel¸stet, ohne daï¬ er das Herz hat, das Geld hinzugeben, als der, den der Kauf reut, wenn er die Ware in Hâ°nden hat. Aber ich bin weit entfernt, die Menschen deshalb zu tadeln; denn sie sind eigentlich nicht schuld, sondern die verwickelte Lage, in der sie sich befinden und in der sie sich nicht zu regieren wissen. So werden Sie zum Beispiel im Durchschnitt weniger ¸ble Wirte auf dem Lande als in den Stâ°dten finden und wieder in kleinen Stâ°dten weniger als in groï¬en; und warum? Der Mensch ist zu einer beschrâ°nkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen, und er gewËhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiï¬ er weder, was er will noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstâ°nde zerstreut oder ob er durch die HËhe und W¸rde derselben auï¬er sich gesetzt werde. Es ist immer sein Ungl¸ck, wenn er veranlaï¬t wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmâ°ï¬ige Selbsttâ°tigkeit nicht verbinden kann.
F¸rwahr”, fuhr er fort, “ohne Ernst ist in der Welt nichts mËglich, und unter denen, die wir gebildete Menschen nennen, ist eigentlich wenig Ernst zu finden; sie gehen, ich mËchte sagen, gegen Arbeiten und Geschâ°fte, gegen K¸nste, ja gegen Vergn¸gungen nur mit einer Art von Selbstverteidigung zu Werke; man lebt, wie man ein Pack Zeitungen liest, nur damit man sie loswerde, und es fâ°llt mir dabei jener junge Englâ°nder in Rom ein, der abends in einer Gesellschaft sehr zufrieden erzâ°hlte: daï¬ er doch heute sechs Kirchen und zwei Galerien beiseite gebracht habe. Man will mancherlei wissen und kennen, und gerade das, was einen am wenigsten angeht, und man bemerkt nicht, daï¬ kein Hunger dadurch gestillt wird, wenn man nach der Luft schnappt. Wenn ich einen Menschen kennenlerne, frage ich sogleich: womit beschâ°ftigt er sich? und wie? und in welcher Folge? und mit der Beantwortung der Frage ist auch mein Interesse an ihm auf zeitlebens entschieden.”
“Sie sind, lieber Oheim”, versetzte ich darauf, “vielleicht zu strenge und entziehen manchem guten Menschen, dem Sie n¸tzlich sein kËnnten, Ihre h¸lfreiche Hand.”
“Ist es dem zu verdenken”, antwortete er, “der so lange vergebens an ihnen und um sie gearbeitet hat? Wie sehr leidet man nicht in der Jugend von Menschen, die uns zu einer angenehmen Lustpartie einzuladen glauben, wenn sie uns in die Gesellschaft der Danaiden oder des Sisyphus zu bringen versprechen. Gott sei Dank, ich habe mich von ihnen losgemacht, und wenn einer ungl¸cklicherweise in meinen Kreis kommt, suche ich ihn auf die hËflichste Art hinauszukomplimentieren: denn gerade von diesen Leuten hËrt man die bittersten Klagen ¸ber den verworrenen Lauf der Welthâ°ndel, ¸ber die Seichtigkeit der Wissenschaften, ¸ber den Leichtsinn der K¸nstler, ¸ber die Leerheit der Dichter und was alles noch mehr ist. Sie bedenken am wenigsten, daï¬ eben sie selbst und die Menge, die ihnen gleich ist, gerade das Buch nicht lesen w¸rden, das geschrieben wâ°re, wie sie es fordern, daï¬ ihnen die echte Dichtung fremd sei und daï¬ selbst ein gutes Kunstwerk nur durch Vorurteil ihren Beifall erlangen kËnne. Doch lassen Sie uns abbrechen, es ist hier keine Zeit zu schelten noch zu klagen.”
Er leitete meine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Gemâ°lde, die an der Wand aufgehâ°ngt waren; mein Auge hielt sich an die, deren Anblick reizend oder deren Gegenstand bedeutend war; er lieï¬ es eine Weile geschehen, dann sagte er: “GËnnen Sie nun auch dem Genius, der diese Werke hervorgebracht hat, einige Aufmerksamkeit. Gute Gem¸ter sehen so gerne den Finger Gottes in der Natur; warum sollte man nicht auch der Hand seines Nachahmers einige Betrachtung schenken?” Er machte mich sodann auf unscheinbare Bilder aufmerksam und suchte mir begreiflich zu machen, daï¬ eigentlich die Geschichte der Kunst allein uns den Begriff von dem Wert und der W¸rde eines Kunstwerks geben kËnne, daï¬ man erst die beschwerlichen Stufen des Mechanismus und des Handwerks, an denen der fâ°hige Mensch sich jahrhundertelang hinaufarbeitet, kennen m¸sse, um zu begreifen, wie es mËglich sei, daï¬ das Genie auf dem Gipfel, bei dessen bloï¬em Anblick uns schwindelt, sich frei und frËhlich bewege.
Er hatte in diesem Sinne eine schËne Reihe zusammengebracht, und ich konnte mich nicht enthalten, als er mir sie auslegte, die moralische Bildung hier wie im Gleichnisse vor mir zu sehen. Als ich ihm meine Gedanken â°uï¬erte, versetzte er: “Sie haben vollkommen recht, und wir sehen daraus, daï¬ man nicht wohltut, der sittlichen Bildung einsam, in sich selbst verschlossen nachzuhâ°ngen; vielmehr wird man finden, daï¬ derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur strebt, alle Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit er nicht in Gefahr komme, von seiner moralischen HËhe herabzugleiten, indem er sich den Lockungen einer regellosen Phantasie ¸bergibt und in den Fall kommt, seine edlere Natur durch Vergn¸gen an geschmacklosen Tâ°ndeleien, wo nicht an etwas Schlimmerem herabzuw¸rdigen.”
Ich hatte ihn nicht im Verdacht, daï¬ er auf mich ziele, aber ich f¸hlte mich getroffen, wenn ich zur¸ckdachte, daï¬ unter den Liedern, die mich erbauet hatten, manches abgeschmackte mochte gewesen sein und daï¬ die Bildchen, die sich an meine geistlichen Ideen anschlossen, wohl schwerlich vor den Augen des Oheims w¸rden Gnade gefunden haben.
Philo hatte sich indessen Ëfters in der Bibliothek aufgehalten und f¸hrte mich nunmehr auch in selbiger ein. Wir bewunderten die Auswahl und dabei die Menge der B¸cher. Sie waren in jenem Sinne gesammelt: denn es waren beinahe auch nur solche darin zu finden, die uns zur deutlichen Erkenntnis f¸hren oder uns zur rechten Ordnung anweisen, die uns entweder rechte Materialien geben oder uns von der Einheit unsers Geistes ¸berzeugen.
Ich hatte in meinem Leben unsâ°glich gelesen, und in gewissen Fâ°chern war mir fast kein Buch unbekannt; um desto angenehmer war mir’s, hier von der ¸bersicht des Ganzen zu sprechen und L¸cken zu bemerken, wo ich sonst nur eine beschrâ°nkte Verwirrung oder eine unendliche Ausdehnung gesehen hatte.
Zugleich machten wir die Bekanntschaft eines sehr interessanten, stillen Mannes. Er war Arzt und Naturforscher und schien mehr zu den Penaten als zu den Bewohnern des Hauses zu gehËren. Er zeigte uns das Naturalienkabinett, das, wie die Bibliothek, in verschlossenen Glasschrâ°nken zugleich die Wâ°nde der Zimmer verzierte und den Raum veredelte, ohne ihn zu verengen. Hier erinnerte ich mich mit Freuden meiner Jugend und zeigte meinem Vater mehrere Gegenstâ°nde, die er ehemals auf das Krankenbette seines kaum in die Welt blickenden Kindes gebracht hatte. Dabei verhehlte der Arzt so wenig als bei folgenden Unterredungen, daï¬ er sich mir in Absicht auf religiËse Gesinnungen nâ°here, lobte dabei den Oheim auï¬erordentlich wegen seiner Toleranz und Schâ°tzung von allem, was den Wert und die Einheit der menschlichen Natur anzeige und befËrdere, nur verlange er freilich von allen andern Menschen ein Gleiches und pflege nichts so sehr als individuellen D¸nkel und ausschlieï¬ende Beschrâ°nktheit zu verdammen oder zu fliehen.
Seit der Trauung meiner Schwester sah dem Oheim die Freude aus den Augen, und er sprach verschiedenemal mit mir ¸ber das, was er f¸r sie und ihre Kinder zu tun denke. Er hatte schËne G¸ter, die er selbst bewirtschaftete und die er in dem besten Zustande seinen Neffen zu ¸bergeben hoffte. Wegen des kleinen Gutes, auf dem wir uns befanden, schien er besondere Gedanken zu hegen: “Ich werde es”, sagte er, “nur einer Person ¸berlassen, die zu kennen, zu schâ°tzen und zu genieï¬en weiï¬, was es enthâ°lt, und die einsieht, wie sehr ein Reicher und Vornehmer, besonders in Deutschland, Ursache habe, etwas Mustermâ°ï¬iges aufzustellen.”
Schon war der grËï¬te Teil der Gâ°ste nach und nach verflogen; wir bereiteten uns zum Abschied und glaubten die letzte Szene der Feierlichkeit erlebt zu haben, als wir aufs neue durch seine Aufmerksamkeit, uns ein w¸rdiges Vergn¸gen zu machen, ¸berrascht wurden. Wir hatten ihm das Entz¸cken nicht verbergen kËnnen, das wir f¸hlten, als bei meiner Schwester Trauung ein Chor Menschenstimmen sich ohne alle Begleitung irgendeines Instruments hËren lieï¬. Wir legten es ihm nahe genug, uns das Vergn¸gen noch einmal zu verschaffen; er schien nicht darauf zu merken. Wie ¸berrascht waren wir daher, als er eines Abends zu uns sagte: “Die Tanzmusik hat sich entfernt; die jungen, fl¸chtigen Freunde haben uns verlassen; das Ehepaar selbst sieht schon ernsthafter aus als vor einigen Tagen, und in einer solchen Epoche voneinander zu scheiden, da wir uns vielleicht nie, wenigstens anders wiedersehen, regt uns zu einer feierlichen Stimmung, die ich nicht edler nâ°hren kann als durch eine Musik, deren Wiederholung Sie schon fr¸her zu w¸nschen schienen.”
Er lieï¬ durch das indes verstâ°rkte und im stillen noch mehr ge¸bte Chor uns vierund achtstimmige Gesâ°nge vortragen, die uns, ich darf wohl sagen, wirklich einen Vorschmack der Seligkeit gaben. Ich hatte bisher nur den frommen Gesang gekannt, in welchem gute Seelen oft mit heiserer Kehle wie die WaldvËgelein Gott zu loben glauben, weil sie sich selbst eine angenehme Empfindung machen; dann die eitle Musik der Konzerte, in denen man allenfalls zur Bewunderung eines Talents, selten aber auch nur zu einem vor¸bergehenden Vergn¸gen hingerissen wird. Nun vernahm ich eine Musik, aus dem tiefsten Sinne der trefflichsten menschlichen Naturen entsprungen, die durch bestimmte und ge¸bte Organe in harmonischer Einheit wieder zum tiefsten, besten Sinne des Menschen sprach und ihn wirklich in diesem Augenblicke seine Gottâ°hnlichkeit lebhaft empfinden lieï¬. Alles waren lateinische geistliche Gesâ°nge, die sich wie Juwelen in dem goldnen Ringe einer gesitteten weltlichen Gesellschaft ausnahmen und mich ohne Anforderung einer sogenannten Erbauung auf das geistigste erhoben und gl¸cklich machten.
Bei unserer Abreise wurden wir alle auf das edelste beschenkt. Mir ¸berreichte er das Ordenskreuz meines Stiftes, kunstmâ°ï¬iger und schËner gearbeitet und emailliert, als man es sonst zu sehen gewohnt war. Es hing an einem groï¬en Brillanten, wodurch es zugleich an das Band befestigt wurde, und den er als den edelsten Stein einer Naturaliensammlung anzusehen bat.
Meine Schwester zog nun mit ihrem Gemahl auf seine G¸ter, wir andern kehrten alle nach unsern Wohnungen zur¸ck und schienen uns, was unsere â°uï¬ren Umstâ°nde anbetraf, in ein ganz gemeines Leben zur¸ckgekehrt zu sein. Wir waren wie aus einem Feenschloï¬ auf die platte Erde gesetzt und muï¬ten uns wieder nach unsrer Weise benehmen und behelfen.
Die sonderbaren Erfahrungen, die ich in jenem neuen Kreise gemacht hatte, lieï¬en einen schËnen Eindruck bei mir zur¸ck; doch blieb er nicht lange in seiner ganzen Lebhaftigkeit, obgleich der Oheim ihn zu unterhalten und zu erneuern suchte, indem er mir von Zeit zu Zeit von seinen besten und gefâ°lligsten Kunstwerken zusandte und, wenn ich sie lange genug genossen hatte, wieder mit andern vertauschte.
Ich war zu sehr gewohnt, mich mit mir selbst zu beschâ°ftigen, die Angelegenheiten meines Herzens und meines Gem¸tes in Ordnung zu bringen und mich davon mit â°hnlich gesinnten Personen zu unterhalten, als daï¬ ich mit Aufmerksamkeit ein Kunstwerk hâ°tte betrachten sollen, ohne bald auf mich selbst zur¸ckzukehren. Ich war gewohnt, ein Gemâ°lde und einen Kupferstich nur anzusehen wie die Buchstaben eines Buchs. Ein schËner Druck gefâ°llt wohl; aber wer wird ein Buch des Druckes wegen in die Hand nehmen? So sollte mir auch eine bildliche Darstellung etwas sagen, sie sollte mich belehren, r¸hren, bessern; und der Oheim mochte in seinen Briefen, mit denen er seine Kunstwerke erlâ°uterte, reden, was er wollte, so blieb es mit mir doch immer beim alten.
Doch mehr als meine eigene Natur zogen mich â°uï¬ere Begebenheiten, die Verâ°nderungen in meiner Familie von solchen Betrachtungen, ja eine Weile von mir selbst ab; ich muï¬te dulden und wirken, mehr, als meine schwachen Krâ°fte zu ertragen schienen.
Meine ledige Schwester war bisher mein rechter Arm gewesen; gesund, stark und unbeschreiblich g¸tig hatte sie die Besorgung der Haushaltung ¸ber sich genommen, wie mich die persËnliche Pflege des alten Vaters beschâ°ftigte. Es ¸berfâ°llt sie ein Katarrh, woraus eine Brustkrankheit wird, und in drei Wochen liegt sie auf der Bahre; ihr Tod schlug mir Wunden, deren Narben ich jetzt noch nicht gerne ansehe.
Ich lag krank zu Bette, ehe sie noch beerdiget war; der alte Schaden auf meiner Brust schien aufzuwachen, ich hustete heftig und war so heiser, daï¬ ich keinen lauten Ton hervorbringen konnte.
Die verheiratete Schwester kam vor Schrecken und Betr¸bnis zu fr¸h in die Wochen. Mein alter Vater f¸rchtete, seine Kinder und die Hoffnung seiner Nachkommenschaft auf einmal zu verlieren; seine gerechten Trâ°nen vermehrten meinen Jammer; ich flehte zu Gott um Herstellung einer leidlichen Gesundheit und bat ihn nur, mein Leben bis nach dem Tode des Vaters zu fristen. Ich genas und war nach meiner Art wohl, konnte wieder meine Pflichten, obgleich nur auf eine k¸mmerliche Weise, erf¸llen.
VI. Buch–8
Meine Schwester ward wieder guter Hoffnung. Mancherlei Sorgen, die in solchen Fâ°llen der Mutter anvertraut werden, wurden mir mitgeteilt; sie lebte nicht ganz gl¸cklich mit ihrem Manne, das sollte dem Vater verborgen bleiben; ich muï¬te Schiedsrichter sein und konnte es um so eher, da mein Schwager Zutrauen zu mir hatte und beide wirklich gute Menschen waren, nur daï¬ beide, anstatt einander nachzusehen, miteinander rechteten und aus Begierde, vËllig miteinander ¸berein zu leben, niemals einig werden konnten. Nun lernte ich auch die weltlichen Dinge mit Ernst angreifen und das aus¸ben, was ich sonst nur gesungen hatte.
Meine Schwester gebar einen Sohn; die Unpâ°ï¬lichkeit meines Vaters verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reisen. Beim Anblick des Kindes war er unglaublich heiter und froh, und bei der Taufe erschien er mir gegen seine Art wie begeistert, ja ich mËchte sagen, als ein Genius mit zwei Gesichtern. Mit dem einen blickte er freudig vorwâ°rts in jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte, mit dem andern auf das neue, hoffnungsvolle irdische Leben, das in dem Knaben entsprungen war, der von ihm abstammte. Er ward nicht m¸de, auf dem R¸ckwege mich von dem Kinde zu unterhalten, von seiner Gestalt, seiner Gesundheit und dem Wunsche, daï¬ die Anlagen dieses neuen Weltb¸rgers gl¸cklich ausgebildet werden mËchten. Seine Betrachtungen hier¸ber dauerten fort, als wir zu Hause anlangten, und erst nach einigen Tagen bemerkte man eine Art Fieber, das sich nach Tisch ohne Frost durch eine etwas ermattende Hitze â°uï¬erte. Er legte sich jedoch nicht nieder, fuhr des Morgens aus und versah treulich seine Amtsgeschâ°fte, bis ihn endlich anhaltende, ernsthafte Symptome davon abhielten.
Nie werde ich die Ruhe des Geistes, die Klarheit und Deutlichkeit vergessen, womit er die Angelegenheiten seines Hauses, die Besorgung seines Begrâ°bnisses, als wie das Geschâ°ft eines andern, mit der grËï¬ten Ordnung vornahm.
Mit einer Heiterkeit, die ihm sonst nicht eigen war und die bis zu einer lebhaften Freude stieg, sagte er zu mir: “Wo ist die Todesfurcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? Sollt ich zu sterben scheuen? Ich habe einen gnâ°digen Gott, das Grab erweckt mir kein Grauen, ich habe ein ewiges Leben.”
Mir die Umstâ°nde seines Todes zur¸ckzurufen, der bald darauf erfolgte, ist in meiner Einsamkeit eine meiner angenehmsten Unterhaltungen, und die sichtbaren Wirkungen einer hËhern Kraft dabei wird mir niemand wegrâ°sonieren.
Der Tod meines lieben Vaters verâ°nderte meine bisherige Lebensart. Aus dem strengsten Gehorsam, aus der grËï¬ten Einschrâ°nkung kam ich in die grËï¬te Freiheit, und ich genoï¬ ihrer wie einer Speise, die man lange entbehrt hat. Sonst war ich selten zwei Stunden auï¬er dem Hause; nun verlebte ich kaum einen Tag in meinem Zimmer. Meine Freunde, bei denen ich sonst nur abgerissene Besuche machen konnte, wollten sich meines anhaltenden Umgangs sowie ich mich des ihrigen erfreuen; Ëfters wurde ich zu Tische geladen, Spazierfahrten und kleine Lustreisen kamen hinzu, und ich blieb nirgends zur¸ck. Als aber der Zirkel durchlaufen war, sah ich, daï¬ das unschâ°tzbare Gl¸ck der Freiheit nicht darin besteht, daï¬ man alles tut, was man tun mag und wozu uns die Umstâ°nde einladen, sondern daï¬ man das ohne Hindernis und R¸ckhalt auf dem geraden Wege tun kann, was man f¸r recht und schicklich hâ°lt, und ich war alt genug, in diesem Falle ohne Lehrgeld zu der schËnen ¸berzeugung zu gelangen.
Was ich mir nicht versagen konnte, war, so bald als nur mËglich den Umgang mit den Gliedern der herrnhutischen Gemeine fortzusetzen und fester zu kn¸pfen, und ich eilte, eine ihrer nâ°chsten Einrichtungen zu besuchen: aber auch da fand ich keinesweges, was ich mir vorgestellt hatte. Ich war ehrlich genug, meine Meinung merken zu lassen, und man suchte mir hinwieder beizubringen: diese Verfassung sei gar nichts gegen eine ordentlich eingerichtete Gemeine. Ich konnte mir das gefallen lassen; doch hâ°tte nach meiner ¸berzeugung der wahre Geist aus einer kleinen so gut als aus einer groï¬en Anstalt hervorblicken sollen.
Einer ihrer BischËfe, der gegenwâ°rtig war, ein unmittelbarer Sch¸ler des Grafen, beschâ°ftigte sich viel mit mir; er sprach vollkommen Englisch, und weil ich es ein wenig verstand, meinte er, es sei ein Wink, daï¬ wir zusammengehËrten; ich meinte es aber ganz und gar nicht; sein Umgang konnte mir nicht im geringsten gefallen. Er war ein Messerschmied, ein geborner Mâ°hre; seine Art zu denken konnte das Handwerksmâ°ï¬ige nicht verleugnen. Besser verstand ich mich mit dem Herrn von L***, der Major in franzËsischen Diensten gewesen war; aber zu der Untertâ°nigkeit, die er gegen seine Vorgesetzten bezeigte, f¸hlte ich mich niemals fâ°hig; ja es war mir, als wenn man mir eine Ohrfeige gâ°be, wenn ich die Majorin und andere mehr oder weniger angesehene Frauen dem Bischof die Hand k¸ssen sah. Indessen wurde doch eine Reise nach Holland verabredet, die aber, und gewiï¬ zu meinem Besten, niemals zustande kam.
Meine Schwester war mit einer Tochter niedergekommen, und nun war die Reihe an uns Frauen, zufrieden zu sein und zu denken, wie sie dereinst uns â°hnlich erzogen werden sollte. Mein Schwager war dagegen sehr unzufrieden, als in dem Jahr darauf abermals eine Tochter erfolgte; er w¸nschte bei seinen groï¬en G¸tern Knaben um sich zu sehen, die ihm einst in der Verwaltung beistehen kËnnten.
Ich hielt mich bei meiner schwachen Gesundheit still und bei einer ruhigen Lebensart ziemlich im Gleichgewicht; ich f¸rchtete den Tod nicht, ja ich w¸nschte zu sterben, aber ich f¸hlte in der Stille, daï¬ mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu untersuchen und ihm immer nâ°herzukommen. In den vielen schlaflosen Nâ°chten habe ich besonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich beschreiben kann.
Es war, als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des KËrpers dâ°chte; sie sah den KËrper selbst als ein ihr fremdes Wesen an, wie man etwa ein Kleid ansieht. Sie stellte sich mit einer auï¬erordentlichen Lebhaftigkeit die vergangenen Zeiten und Begebenheiten vor und f¸hlte daraus, was folgen werde. Alle diese Zeiten sind dahin; was folgt, wird auch dahingehen: der KËrper wird wie ein Kleid zerreiï¬en, aber ich, das wohlbekannte Ich, ich bin.
Diesem groï¬en, erhabenen und trËstlichen Gef¸hle sowenig als nur mËglich nachzuhâ°ngen, lehrte mich ein edler Freund, der sich mir immer nâ°her verband; es war der Arzt, den ich in dem Hause meines Oheims hatte kennenlernen und der sich von der Verfassung meines KËrpers und meines Geistes sehr gut unterrichtet hatte; er zeigte mir, wie sehr diese Empfindungen, wenn wir sie unabhâ°ngig von â°uï¬ern Gegenstâ°nden in uns nâ°hren, uns gewissermaï¬en aushËhlen und den Grund unseres Daseins untergraben. “Tâ°tig zu sein”, sagte er, “ist des Menschen erste Bestimmung, und alle Zwischenzeiten, in denen er auszuruhen genËtiget ist, sollte er anwenden, eine deutliche Erkenntnis der â°uï¬erlichen Dinge zu erlangen, die ihm in der Folge abermals seine Tâ°tigkeit erleichtert.”
Da der Freund meine Gewohnheit kannte, meinen eigenen KËrper als einen â°uï¬ern Gegenstand anzusehn, und da er wuï¬te, daï¬ ich meine Konstitution, mein ¸bel und die medizinischen H¸lfsmittel ziemlich kannte und ich wirklich durch anhaltende eigene und fremde Leiden ein halber Arzt geworden war, so leitete er meine Aufmerksamkeit von der Kenntnis des menschlichen KËrpers und der Spezereien auf die ¸brigen nachbarlichen Gegenstâ°nde der SchËpfung und f¸hrte mich wie im Paradiese umher, und nur zuletzt, wenn ich mein Gleichnis fortsetzen darf, lieï¬ er mich den in der Abendk¸hle im Garten wandelnden SchËpfer aus der Entfernung ahnen.
Wie gerne sah ich nunmehr Gott in der Natur, da ich ihn mit solcher Gewiï¬heit im Herzen trug; wie interessant war mir das Werk seiner Hâ°nde, und wie dankbar war ich, daï¬ er mich mit dem Atem seines Mundes hatte beleben wollen! Wir hofften aufs neue mit meiner Schwester auf einen Knaben, dem mein Schwager so sehnlich entgegensah und dessen Geburt er leider nicht erlebte. Der wackere Mann starb an den Folgen eines ungl¸cklichen Sturzes vom Pferde, und meine Schwester folgte ihm, nachdem sie der Welt einen schËnen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hinterlassenen Kinder konnte ich nur mit Wehmut ansehn. So manche gesunde Person war vor mir, der Kranken, hingegangen; sollte ich nicht vielleicht von diesen hoffnungsvollen Bl¸ten manche abfallen sehen? Ich kannte die Welt genug, um zu wissen, unter wie vielen Gefahren ein Kind, besonders in dem hËheren Stande, heraufwâ°chst, und es schien mir, als wenn sie seit der Zeit meiner Jugend sich f¸r die gegenwâ°rtige Welt noch vermehrt hâ°tten. Ich f¸hlte, daï¬ ich bei meiner Schwâ°che wenig oder nichts f¸r die Kinder zu tun imstande sei; um desto erw¸nschter war mir des Oheims Entschluï¬, der nat¸rlich aus seiner Denkungsart entsprang, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Erziehung dieser liebensw¸rdigen GeschËpfe zu verwenden. Und gewiï¬, sie verdienten es in jedem Sinne, sie waren wohlgebildet und versprachen bei ihrer groï¬en Verschiedenheit sâ°mtlich gutartige und verstâ°ndige Menschen zu werden.
Seitdem mein guter Arzt mich aufmerksam gemacht hatte, betrachtete ich gern die Familienâ°hnlichkeit in Kindern und Verwandten. Mein Vater hatte sorgfâ°ltig die Bilder seiner Vorfahren aufbewahrt, sich selbst und seine Kinder von leidlichen Meistern malen lassen, auch war meine Mutter und ihre Verwandten nicht vergessen worden. Wir kannten die Charaktere der ganzen Familie genau, und da wir sie oft untereinander verglichen hatten, so suchten wir nun bei den Kindern die â°hnlichkeiten des â°uï¬ern und Innern wieder auf. Der â°lteste Sohn meiner Schwester schien seinem Groï¬vater vâ°terlicher Seite zu gleichen, von dem ein jugendliches Bild, sehr gut gemalt, in der Sammlung unseres Oheims aufgestellt war; auch liebte er wie jener, der sich immer als ein braver Offizier gezeigt hatte, nichts so sehr als das Gewehr, womit er sich immer, sooft er mich besuchte, beschâ°ftigte. Denn mein Vater hatte einen sehr schËnen Gewehrschrank hinterlassen, und der Kleine hatte nicht eher Ruhe, bis ich ihm ein paar Pistolen und eine Jagdflinte schenkte und bis er herausgebracht hatte, wie ein deutsches Schloï¬ aufzuziehen sei. ¸brigens war er in seinen Handlungen und seinem ganzen Wesen nichts weniger als rauh, sondern vielmehr sanft und verstâ°ndig.
Die â°lteste Tochter hatte meine ganze Neigung gefesselt, und es mochte wohl daher kommen, weil sie mir â°hnlich sah und weil sie sich von allen vieren am meisten zu mir hielt. Aber ich kann wohl sagen, je genauer ich sie beobachtete, da sie heranwuchs, desto mehr beschâ°mte sie mich, und ich konnte das Kind nicht ohne Bewunderung, ja ich darf beinahe sagen, nicht ohne Verehrung ansehn. Man sah nicht leicht eine edlere Gestalt, ein ruhiger Gem¸t und eine immer gleiche, auf keinen Gegenstand eingeschrâ°nkte Tâ°tigkeit. Sie war keinen Augenblick ihres Lebens unbeschâ°ftigt, und jedes Geschâ°ft ward unter ihren Hâ°nden zur w¸rdigen Handlung. Alles schien ihr gleich, wenn sie nur das verrichten konnte, was in der Zeit und am Platz war, und ebenso konnte sie ruhig, ohne Ungeduld bleiben, wenn sich nichts zu tun fand. Diese Tâ°tigkeit ohne Bed¸rfnis einer Beschâ°ftigung habe ich in meinem Leben nicht wieder gesehen. Unnachahmlich war von Jugend auf ihr Betragen gegen Notleidende und H¸lfsbed¸rftige. Ich gestehe gern, daï¬ ich niemals das Talent hatte, mir aus der Wohltâ°tigkeit ein Geschâ°ft zu machen; ich war nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in meinem Verhâ°ltnisse zuviel dahin, aber gewissermaï¬en kaufte ich mich nur los, und es muï¬te mir jemand angeboren sein, wenn er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte. Gerade das Gegenteil lobe ich an meiner Nichte. Ich habe sie niemals einem Armen Geld geben sehen, und was sie von mir zu diesem Endzweck erhielt, verwandelte sie immer erst in das nâ°chste Bed¸rfnis. Niemals erschien sie mir liebensw¸rdiger, als wenn sie meine Kleider- und Wâ°schschrâ°nke pl¸nderte; immer fand sie etwas, das ich nicht trug und nicht brauchte, und diese alten Sachen zusammenzuschneiden und sie irgendeinem zerlumpten Kinde anzupassen war ihre grËï¬te Gl¸ckseligkeit.
Die Gesinnungen ihrer Schwester zeigten sich schon anders; sie hatte vieles von der Mutter, versprach schon fr¸he sehr zierlich und reizend zu werden und scheint ihr Versprechen halten zu wollen; sie ist sehr mit ihrem â°uï¬ern beschâ°ftigt und wuï¬te sich von fr¸her Zeit an auf eine in die Augen fallende Weise zu putzen und zu tragen. Ich erinnere mich noch immer, mit welchem Entz¸cken sie sich als ein kleines Kind im Spiegel besah, als ich ihr die schËnen Perlen, die mir meine Mutter hinterlassen hatte und die sie von ungefâ°hr bei mir fand, umbinden muï¬te.
Wenn ich diese verschiedenen Neigungen betrachtete, war es mir angenehm zu denken, wie meine Besitzungen nach meinem Tode unter sie zerfallen und durch sie wieder lebendig werden w¸rden. Ich sah die Jagdflinten meines Vaters schon wieder auf dem R¸cken des Neffen im Felde herumwandeln und aus seiner Jagdtasche schon wieder H¸hner herausfallen; ich sah meine sâ°mtliche Garderobe bei der Osterkonfirmation, lauter kleinen Mâ°dchen angepaï¬t, aus der Kirche herauskommen und mit meinen besten Stoffen ein sittsames B¸rgermâ°dchen an ihrem Brauttage geschm¸ckt: denn zu Ausstattung solcher Kinder und ehrbarer armer Mâ°dchen hatte Natalie eine besondere Neigung, ob sie gleich, wie ich hier bemerken muï¬, selbst keine Art von Liebe und, wenn ich so sagen darf, kein Bed¸rfnis einer Anhâ°nglichkeit an ein sichtbares oder unsichtbares Wesen, wie es sich bei mir in meiner Jugend so lebhaft gezeigt hatte, auf irgendeine Weise merken lieï¬.
Wenn ich nun dachte, daï¬ die J¸ngste an ebendemselben Tage meine Perlen und Juwelen nach Hofe tragen werde, so sah ich mit Ruhe meine Besitzungen wie meinen KËrper den Elementen wiedergegeben.
Die Kinder wuchsen heran und sind zu meiner Zufriedenheit gesunde, schËne und wackre GeschËpfe. Ich ertrage es mit Geduld, daï¬ der Oheim sie von mir entfernt hâ°lt, und sehe sie, wenn sie in der Nâ°he oder auch wohl gar in der Stadt sind, selten.
Ein wunderbarer Mann, den man f¸r einen franzËsischen Geistlichen hâ°lt, ohne daï¬ man recht von seiner Herkunft unterrichtet ist, hat die Aufsicht ¸ber die sâ°mtlichen Kinder, welche an verschiedenen Orten erzogen werden und bald hier, bald da in der Kost sind.
Ich konnte anfangs keinen Plan in dieser Erziehung sehn, bis mir mein Arzt zuletzt erËffnete: der Oheim habe sich durch den Abbe ¸berzeugen lassen, daï¬, wenn man an der Erziehung des Menschen etwas tun wolle, m¸sse man sehen, wohin seine Neigungen und W¸nsche gehen. Sodann m¸sse man ihn in die Lage versetzen, jene so bald als mËglich zu befriedigen, diese so bald als mËglich zu erreichen, damit der Mensch, wenn er sich geirret habe, fr¸h genug seinen Irrtum gewahr werde, und wenn er das getroffen hat, was f¸r ihn paï¬t, desto eifriger daran halte und sich desto emsiger fortbilde. Ich w¸nsche, daï¬ dieser sonderbare Versuch gelingen mËge; bei so guten Naturen ist es vielleicht mËglich.
Aber das, was ich nicht an diesen Erziehern billigen kann, ist, daï¬ sie alles von den Kindern zu entfernen suchen, was sie zu dem Umgange mit sich selbst und mit dem unsichtbaren, einzigen treuen Freunde f¸hren kËnne. Ja, es verdrieï¬t mich oft von dem Oheim, daï¬ er mich deshalb f¸r die Kinder f¸r gefâ°hrlich hâ°lt. Im Praktischen ist doch kein Mensch tolerant! Denn wer auch versichert, daï¬ er jedem seine Art und Wesen gerne lassen wolle, sucht doch immer diejenigen von der Tâ°tigkeit auszuschlieï¬en, die nicht so denken wie er.
Diese Art, die Kinder von mir zu entfernen, betr¸bt mich desto mehr, je mehr ich von der Realitâ°t meines Glaubens ¸berzeugt sein kann. Warum sollte er nicht einen gËttlichen Ursprung, nicht einen wirklichen Gegenstand haben, da er sich im Praktischen so wirksam erweiset? Werden wir durchs Praktische doch unseres eigenen Daseins selbst erst recht gewiï¬, warum sollten wir uns nicht auch auf ebendem Wege von jenem Wesen ¸berzeugen kËnnen, das uns zu allem Guten die Hand reicht?
Daï¬ ich immer vorwâ°rts, nie r¸ckwâ°rts gehe, daï¬ meine Handlungen immer mehr der Idee â°hnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe, daï¬ ich tâ°glich mehr Leichtigkeit f¸hle, das zu tun, was ich f¸r recht halte, selbst bei der Schwâ°che meines KËrpers, der mir so manchen Dienst versagt; lâ°ï¬t sich das alles aus der menschlichen Natur, deren Verderben ich so tief eingesehen habe, erklâ°ren? F¸r mich nun einmal nicht.
Ich erinnere mich kaum eines Gebotes; nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes; es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht f¸hret; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiï¬ sowenig von Einschrâ°nkung als von Reue. Gott sei Dank, daï¬ ich erkenne, wem ich dieses Gl¸ck schuldig bin und daï¬ ich an diese Vorz¸ge nur mit Demut denken darf. Denn niemals werde ich in Gefahr kommen, auf mein eignes KËnnen und VermËgen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Ungeheuer in jedem menschlichen Busen, wenn eine hËhere Kraft uns nicht bewahrt, sich erzeugen und nâ°hren kËnne.