II. Buch, Betrachtungen im Sinne der Wanderer–3
Es ist eine Eigenheit dem Menschen angeboren und mit seiner Natur innigst verwebt; daï¬ ihm zur Erkenntnis das Nâ°chste nicht gen¸gt; da doch jede Erscheinung, die wir selbst gewahr werden, im Augenblick das Nâ°chste ist und wir von ihr fordern kËnnen, daï¬ sie sich selbst erklâ°re, wenn wir krâ°ftig in sie dringen.
Das werden aber die Menschen nicht lernen, weil es gegen ihre Natur ist; daher die Gebildeten es selbst nicht lassen kËnnen, wenn sie an Ort und Stelle irgendein Wahres erkannt haben, es nicht nur mit dem Nâ°chsten, sondern auch mit dem Weitesten und Fernsten zusammenzuhâ°ngen, woraus denn Irrtum ¸ber Irrtum entspringt. Das nahe Phâ°nomen hâ°ngt aber mit dem fernen nur in dem Sinne zusammen, daï¬ sich alles auf wenige groï¬e Gesetze bezieht, die sich ¸berall manifestieren.
Was ist das Allgemeine?
Der einzelne Fall.
Was ist das Besondere?
Millionen Fâ°lle.
Die Analogie hat zwei Verirrungen zu f¸rchten: einmal sich dem Witz hinzugeben, wo sie in nichts zerflieï¬t; die andere, sich mit Tropen und Gleichnissen zu umh¸llen, welches jedoch weniger schâ°dlich ist.
Weder Mythologie noch Legenden sind in der Wissenschaft zu dulden. Lasse man diese den Poeten, die berufen sind, sie zu Nutz und Freude der Welt zu behandeln. Der wissenschaftliche Mann beschrâ°nke sich auf die nâ°chste, klarste Gegenwart. Wollte derselbe jedoch gelegentlich als Rhetor auftreten, so sei ihm jenes auch nicht verwehrt.
Um mich zu retten, betrachte ich alle Erscheinungen als unabhâ°ngig voneinander und suche sie gewaltsam zu isolieren; dann betrachte ich sie als Korrelate, und sie verbinden sich zu einem entschiedenen Leben. Dies bezieh’ ich vorz¸glich auf Natur; aber auch in bezug auf die neueste um uns her bewegte Weltgeschichte ist diese Betrachtungsweise fruchtbar.
Alles, was wir Erfinden, Entdecken im hËheren Sinne nennen, ist die bedeutende Aus¸bung, Betâ°tigung eines originalen Wahrheitsgef¸hles, das, im stillen lâ°ngst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis f¸hrt. Es ist eine aus dem Innern am â°uï¬ern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottâ°hnlichkeit vorahnen lâ°ï¬t. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt.
Der Mensch muï¬ bei dem Glauben verharren, daï¬ das Unbegreifliche begreiflich sei; er w¸rde sonst nicht forschen.
Begreiflich ist jedes Besondere, das sich auf irgendeine Weise anwenden lâ°ï¬t. Auf diese Weise kann das Unbegreifliche n¸tzlich werden.
Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen VermËgens aber gehËrt einer hochgebildeten Zeit an.
Am widerwâ°rtigsten sind die kricklichen Beobachter und grilligen Theoristen; ihre Versuche sind kleinlich und kompliziert, ihre Hypothesen abstrus und wunderlich.
Es gibt Pedanten, die zugleich Schelme sind, und das sind die allerschlimmsten.
Um zu begreifen, daï¬ der Himmel ¸berall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen.
Das Allgemeine und Besondere fallen zusammen; das Besondere ist das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erscheinend.
Man braucht nicht alles selbst gesehen noch erlebt zu haben; willst du aber dem andern und seinen Darstellungen vertrauen, so denke, daï¬ du es nun mit dreien zu tun hast: mit dem Gegenstand und zwei Subjekten.
Grundeigenschaft der lebendigen Einheit: sich zu trennen, sich zu vereinen, sich ins Allgemeine zu ergehen, im Besondern zu verharren, sich zu verwandeln, sich zu spezifizieren und, wie das Lebendige unter tausend Bedingungen sich dartun mag, hervorzutreten und zu verschwinden, zu solideszieren und zu schmelzen, zu erstarren und zu flieï¬en, sich auszudehnen und sich zusammenzuziehen. Weil nun alle diese Wirkungen im gleichen Zeitmoment zugleich vorgehen, so kann alles und jedes zu gleicher Zeit eintreten. Entstehen und Vergehen, Schaffen und Vernichten, Geburt und Tod, Freud und Leid, alles wirkt durcheinander, in gleichem Sinn und gleicher Maï¬e, deswegen denn auch das Besonderste, das sich ereignet, immer als Bild und Gleichnis des Allgemeinsten auftritt.
Ist das ganze Dasein ein ewiges Trennen und Verbinden, so folgt auch, daï¬ die Menschen im Betrachten des ungeheuren Zustandes auch bald trennen, bald verbinden werden.
Als getrennt muï¬ sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muï¬ in einer entschiedenen Unabhâ°ngigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Krâ°ften in die Natur und das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbek¸mmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut. Diese muï¬ sich dagegen unabhâ°ngig von allem â°uï¬ern erklâ°ren, ihren eigenen groï¬en Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden, als es geschehen kann, wenn sie wie bisher sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet.
In der Naturforschung bedarf es eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen; nur bedenke man, daï¬ man dadurch nicht am Ende, sondern erst am Anfang ist.
Das HËchste wâ°re, zu begreifen, daï¬ alles Faktische schon Theorie ist. Die Blâ°ue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phâ°nomenen; sie selbst sind die Lehre.
In den Wissenschaften ist viel Gewisses, sobald man sich von den Ausnahmen nicht irremachen lâ°ï¬t und die Probleme zu ehren weiï¬.
Wenn ich mich beim Urphâ°nomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein groï¬er Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschrâ°nktheit meines bornierten Individuums.
Wenn man die Probleme des Aristoteles ansieht, so erstaunt man ¸ber die Gabe des Bemerkens und f¸r was alles die Griechen Augen gehabt haben. Nur begehen sie den Fehler der ¸bereilung, da sie von dem Phâ°nomen unmittelbar zur Erklâ°rung schreiten, wodurch denn ganz unzulâ°ngliche theoretische Ausspr¸che zum Vorschein kommen. Dieses ist jedoch der allgemeine Fehler, der noch heutzutage begangen wird.
Hypothesen sind Wiegenlieder, womit der Lehrer seine Sch¸ler einlullt; der denkende treue Beobachter lernt immer mehr seine Beschrâ°nkung kennen, er sieht: je weiter sich das Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein.
Unser Fehler besteht darin, daï¬ wir am Gewissen zweifeln und das Ungewisse fixieren mËchten. Meine Maxime bei der Naturforschung ist: das Gewisse festzuhalten und dem Ungewissen aufzupassen.
Lâ°ï¬liche Hypothese nenn’ ich eine solche, die man gleichsam schalkhaft aufstellt, um sich von der ernsthaften Natur widerlegen zu lassen.
Wie wollte einer als Meister in seinem Fach erscheinen, wenn er nichts Unn¸tzes lehrte.
Das Nâ°rrischste ist, daï¬ jeder glaubt ¸berliefern zu m¸ssen, was man gewuï¬t zu haben glaubt.
Weil zum didaktischen Vortrag Gewiï¬heit verlangt wird, indem der Sch¸ler nichts Unsicheres ¸berliefert haben will, so darf der Lehrer kein Problem stehenlassen und sich etwa in einiger Entfernung da herumbewegen. Gleich muï¬ etwas bestimmt sein (“bepaalt” sagt der Hollâ°nder), und nun glaubt man eine Weile den unbekannten Raum zu besitzen, bis ein anderer die Pfâ°hle wieder ausreiï¬t und sogleich enger oder weiter abermals wieder bepfâ°hlt.
Lebhafte Frage nach der Ursache, Verwechselung von Ursache und Wirkung, Beruhigung in einer falschen Theorie sind von groï¬er nicht zu entwickelnder Schâ°dlichkeit.
Wenn mancher sich nicht verpflichtet f¸hlte, das Unwahre zu wiederholen, weil er’s einmal gesagt hat, so wâ°ren es ganz andre Leute geworden.
Das Falsche hat den Vorteil, daï¬ man immer dar¸ber schwâ°tzen kann, das Wahre muï¬ gleich genutzt werden, sonst ist es nicht da.
Wer nicht einsieht, wie das Wahre praktisch erleichtert, mag gern daran mâ°keln und hâ°keln, damit er nur sein irriges m¸hseliges Treiben einigermaï¬en beschËnigen kËnne.
Die Deutschen, und sie nicht allein, besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugâ°nglich zu machen.
Der Englâ°nder ist Meister, das Entdeckte gleich zu nutzen, bis es wieder zu neuer Entdeckung und frischer Tat f¸hrt. Man frage nun, warum sie uns ¸berall voraus sind.
Der denkende Mensch hat die wunderliche Eigenschaft, daï¬ er an die Stelle, wo das unaufgelËste Problem liegt, gerne ein Phantasiebild hinfabelt, das er nicht loswerden kann, wenn das Problem auch aufgelËst und die Wahrheit am Tage ist.
Es gehËrt eine eigene Geisteswendung dazu, um das gestaltlose Wirkliche in seiner eigensten Art zu fassen und es von Hirngespinsten zu unterscheiden, die sich denn doch auch mit einer gewissen Wirklichkeit lebhaft aufdringen.
Bei Betrachtung der Natur im groï¬en wie im kleinen hab’ ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht? Und in diesem Sinne betrachtete ich auch Vorgâ°nger und Mitarbeiter.
Ein jeder Mensch sieht die fertige und geregelte, gebildete, vollkommene Welt doch nur als ein Element an, woraus er sich eine besondere ihm angemessene Welt zu erschaffen bem¸ht ist. T¸chtige Menschen ergreifen sie ohne Bedenken und suchen damit, wie es gehen will, zu gebaren; andere zaudern an ihr herum; einige zweifeln sogar an ihrem Dasein.
Wer sich von dieser Grundwahrheit recht durchdrungen f¸hlte, w¸rde mit niemandem streiten, sondern nur die Vorstellungsart eines andern wie seine eigene als ein Phâ°nomen betrachten. Denn wir erfahren fast tâ°glich, daï¬ der eine mit Bequemlichkeit denken mag, was dem andern zu denken unmËglich ist, und zwar nicht etwa in Dingen, die auf Wohl und Wehe nur irgendeinen Einfluï¬ hâ°tten, sondern in Dingen, die f¸r uns vËllig gleichg¸ltig sind.
Man weiï¬ eigentlich das, was man weiï¬, nur f¸r sich selbst. Spreche ich mit einem andern von dem, was ich zu wissen glaube, unmittelbar glaubt er’s besser zu wissen, und ich muï¬ mit meinem Wissen immer wieder in mich selbst zur¸ckkehren.
Das Wahre fËrdert; aus dem Irrtum entwickelt sich nichts, er verwickelt uns nur.
Der Mensch findet sich mitten unter Wirkungen und kann sich nicht enthalten, nach den Ursachen zu fragen; als ein bequemes Wesen greift er nach der nâ°chsten als der besten und beruhigt sich dabei; besonders ist dies die Art des allgemeinen Menschenverstandes.
Sieht man ein ¸bel, so wirkt man unmittelbar darauf, d. h. man kuriert unmittelbar aufs Symptom los.
Die Vernunft hat nur ¸ber das Lebendige Herrschaft; die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot. Daher kann es keine Geologie geben, denn die Vernunft hat hier nichts zu tun.
Wenn ich ein zerstreutes Gerippe finde, so kann ich es zusammenlesen und aufstellen; denn hier spricht die ewige Vernunft durch ein Analogon zu mir, und wenn es das Riesenfaultier wâ°re.
Was nicht mehr entsteht, kËnnen wir uns als entstehend nicht denken; das Entstandene begreifen wir nicht.
Der allgemeine neuere Vulkanismus ist eigentlich ein k¸hner Versuch, die gegenwâ°rtige unbegreifliche Welt an eine vergangene unbekannte zu kn¸pfen.
Gleiche oder wenigstens â°hnliche Wirkungen werden auf verschiedene Weise durch Naturkrâ°fte hervorgebracht.
Nichts ist widerwâ°rtiger als die Majoritâ°t: denn sie besteht aus wenigen krâ°ftigen Vorgâ°ngern, aus Schelmen die sich akkommodieren, aus Schwachen die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.
Die Mathematik ist, wie die Dialektik, ein Organ des inneren hËheren Sinnes, in der Aus¸bung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. F¸r beide hat nichts Wert als die Form; der Gehalt ist ihnen gleichg¸ltig. Ob die Mathematik Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich.
Hier aber kommt es nun auf die Natur des Menschen an, der ein solches Geschâ°ft betreibt, eine solche Kunst aus¸bt. Ein durchgreifender Advokat in einer gerechten Sache, ein durchdringender Mathematiker vor dem Sternenhimmel erscheinen beide gleich gottâ°hnlich.
Was ist an der Mathematik exakt als die Exaktheit? Und diese, ist sie nicht eine Folge des innern Wahrheitsgef¸hls?
Die Mathematik vermag kein Vorurteil wegzuheben, sie kann den Eigensinn nicht lindern, den Parteigeist nicht beschwichtigen, nichts von allem Sittlichen vermag sie.
Der Mathematiker ist nur insofern vollkommen, als er ein vollkommener Mensch ist, als er das SchËne des Wahren in sich empfindet; dann erst wird er gr¸ndlich, durchsichtig, umsichtig, rein, klar, anmutig, ja elegant wirken. Das alles gehËrt dazu, um La Grange â°hnlich zu werden.
Nicht die Sprache an und f¸r sich ist richtig, t¸chtig, zierlich, sondern der Geist ist es der sich darin verkËrpert; und so kommt es nicht auf einen jeden an, ob er seinen Rechnungen, Reden oder Gedichten die w¸nschenswerten Eigenschaften verleihen will; es ist die Frage, ob ihm die Natur hiezu die geistigen und sittlichen Eigenschaften verliehen hat. Die geistigen: das VermËgen der An–und Durchschauung, die sittlichen: daï¬ er die bËsen Dâ°monen ablehne, die ihn hindern kËnnten, dem Wahren die Ehre zu geben.
Das Einfache durch das Zusammengesetzte, das Leichte durch das Schwierige erklâ°ren zu wollen, ist ein Unheil, das in dem ganzen KËrper der Wissenschaft verteilt ist, von den Einsichtigen wohl anerkannt, aber nicht ¸berall eingestanden.
Man sehe die Physik genau durch, und man wird finden, daï¬ die Phâ°nomene sowie die Versuche, worauf sie gebaut ist, verschiedenen Wert haben.
Auf die Primâ°ren, die Urversuche kommt alles an, und das Kapitel, das hierauf gebaut ist, steht sicher und fest; aber es gibt auch sekundâ°re, tertiâ°re u.s.w. Gesteht man diesen das gleiche Recht zu, so verwirren sie nur das, was von den ersten aufgeklâ°rt war.
Ein groï¬es ¸bel in den Wissenschaften, ja ¸berall entsteht daher, daï¬ Menschen, die kein IdeenvermËgen haben, zu theoretisieren sich vermessen, weil sie nicht begreifen, daï¬ noch so vieles Wissen hiezu nicht berechtigt. Sie gehen im Anfange wohl mit einem lËblichen Menschenverstand zu Werke, dieser aber hat seine Grenzen, und wenn er sie ¸berschreitet, kommt er in Gefahr, absurd zu werden. Des Menschenverstandes angewiesenes Gebiet und Erbteil ist der Bezirk des Tuns und Handelns. Tâ°tig wird er sich selten verirren; das hËhere Denken, Schlieï¬en und Urteilen jedoch ist nicht seine Sache.
Die Erfahrung nutzt erst der Wissenschaft, sodann schadet sie, weil die Erfahrung Gesetz und Ausnahme gewahr werden lâ°ï¬t. Der Durchschnitt von beiden gibt keineswegs das Wahre.
Man sagt: zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tâ°tige Leben, in Ruhe gedacht.