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  • 1821
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dafl ihm unser Dichter eben darum beschwerlich gefallen, weil beide K¸nstler am weitesten auseinander stehen; dagegen wollt’ ich wetten, ein und der andere Maler hat sich gewisse lebendige Z¸ge daraus angeeignet.

Ein sanftes, gem¸tliches Lied jedoch mˆcht’ ich unserm Freunde zu hˆren geben, eines, das ihr so ernst-lieblich vortragt; es bewegt sich ¸ber das Ganze der Kunst und ist mir selbst, wenn ich es hˆre, stets erbaulich.”

Nach einer Pause, in der sie einander zuwinkten und sich durch Zeichen beredeten, erscholl von allen Seiten nachfolgender Herz und Geist erhebende, w¸rdige Gesang:

“Zu erfinden, zu beschlieflen,
Bleibe, K¸nstler, oft allein;
Deines Wirkens zu genieflen,
Eile freudig zum Verein!
Hier im Ganzen schau’, erfahre
Deinen eignen Lebenslauf,
Und die Taten mancher Jahre
Gehn dir in dem Nachbar auf.

Der Gedanke, das Entwerfen,
Die Gestalten, ihr Bezug,
Eines wird das andre sch‰rfen,
Und am Ende sei’s genug!
Wohl erfunden, klug ersonnen,
Schˆn gebildet, zart vollbracht–
So von jeher hat gewonnen
K¸nstler kunstreich seine Macht.

Wie Natur im Vielgebilde
Einen Gott nur offenbart,
So im weiten Kunstgefilde
Webt ein Sinn der ew’gen Art;
Dieses ist der Sinn der Wahrheit,
Der sich nur mit Schˆnem schm¸ckt Und getrost der hˆchsten Klarheit
Hellsten Tags entgegenblickt.

Wie beherzt in Reim und Prose
Redner, Dichter sich ergehn,
Soll des Lebens heitre Rose
Frisch auf Malertafel stehn,
Mit Geschwistern reich umgeben,
Mit des Herbstes Frucht umlegt,
Dafl sie von geheimem Leben
Offenbaren Sinn erregt.

Tausendfach und schˆn entfliefle
Form aus Formen deiner Hand,
Und im Menschenbild geniefle,
Dafl ein Gott sich hergewandt.
Welch ein Werkzeug ihr gebrauchet
Stellet euch als Br¸der dar;
Und gesangweis flammt und rauchet
Opfers‰ule vom Altar.”

Alles dieses mochte Wilhelm gar wohl gelten lassen, ob es ihm gleich sehr paradox und, h‰tte er es nicht mit Augen gesehen, gar unmˆglich scheinen muflte. Da man es ihm nun aber offen und frei, in schˆner Folge vorwies und bekannt machte, so bedurfte es kaum einer Frage, um das Weitere zu erfahren; doch enthielt er sich nicht, den F¸hrenden zuletzt folgendermaflen anzureden: “Ich sehe, hier ist gar kl¸glich f¸r alles gesorgt, was im Leben w¸nschenswert sein mag; entdeckt mir aber auch: welche Region kann eine gleiche Sorgfalt f¸r dramatische Poesie aufweisen, und wo kˆnnte ich mich dar¸ber belehren? Ich sah mich unter allen euren Geb‰uden um und finde keines, das zu einem solchen Zweck bestimmt sein kˆnnte.”

“Verhehlen d¸rfen wir nicht auf diese Anfrage, dafl in unserer ganzen Provinz dergleichen nicht anzutreffen sei: denn das Drama setzt eine m¸flige Menge, vielleicht gar einen Pˆbel voraus, dergleichen sich bei uns nicht findet; denn solches Gelichter wird, wenn es nicht selbst sich unwillig entfernt, ¸ber die Grenze gebracht. Seid jedoch gewifl, dafl bei unserer allgemein wirkenden Anstalt auch ein so wichtiger Punkt wohl ¸berlegt worden; keine Region aber wollte sich finden, ¸berall trat ein bedeutendes Bedenken ein. Wer unter unsern Zˆglingen sollte sich leicht entschlieflen, mit erlogener Heiterkeit oder geheucheltem Schmerz ein unwahres, dem Augenblick nicht angehˆriges Gef¸hl in der Mafle zu erregen, um dadurch ein immer miflliches Gefallen abwechselnd hervorzubringen? Solche Gaukeleien fanden wir durchaus gef‰hrlich und konnten sie mit unserm ernsten Zweck nicht vereinen.”

“Man sagt aber doch”, versetzte Wilhelm, “diese weit um sich greifende Kunst befˆrdere die ¸brigen s‰mtlich.”

“Keineswegs”, erwiderte man, “sie bedient sich der ¸brigen, aber verdirbt sie. Ich verdenke dem Schauspieler nicht, wenn er sich zu dem Maler gesellt; der Maler jedoch ist in solcher Gesellschaft verloren.

Gewissenlos wird der Schauspieler, was ihm Kunst und Leben darbietet, zu seinen fl¸chtigen Zwecken verbrauchen und mit nicht geringem Gewinn; der Maler hingegen, der vom Theater auch wieder seinen Vorteil ziehen mˆchte, wird sich immer im Nachteil finden und der Musikus im gleichen Falle sein. Die s‰mtlichen K¸nste kommen mir vor wie Geschwister, deren die meisten zu guter Wirtschaft geneigt w‰ren, eins aber, leicht gesinnt, Hab und Gut der ganzen Familie sich zuzueignen und zu verzehren Lust h‰tte. Das Theater ist in diesem Falle, es hat einen zweideutigen Ursprung, den es nie ganz, weder als Kunst noch Handwerk, noch als Liebhaberei verleugnen kann.”

Wilhelm sah mit einem tiefen Seufzer vor sich nieder, denn alles auf einmal vergegenw‰rtigte sich ihm, was er auf und an den Brettern genossen und gelitten hatte; er segnete die frommen M‰nner, welche ihren Zˆglingen solche Pein zu ersparen gewuflt und aus ¸berzeugung und Grundsatz jene Gefahren aus ihrem Kreise gebannt.

Sein Begleiter jedoch liefl ihn nicht lange in diesen Betrachtungen, sondern fuhr fort: “Da es unser hˆchster und heiligster Grundsatz ist, keine Anlage, kein Talent zu miflleiten, so d¸rfen wir uns nicht verbergen, dafl unter so grofler Anzahl sich eine mimische Naturgabe auch wohl entschieden hervortue; diese zeigt sich aber in unwiderstehlicher Lust des Nach‰ffens fremder Charaktere, Gestalten, Bewegung, Sprache. Dies fˆrdern wir zwar nicht, beobachten aber den Zˆgling genau, und bleibt er seiner Natur durchaus getreu, so haben wir uns mit groflen Theatern aller Nationen in Verbindung gesetzt und senden einen bew‰hrt F‰higen sogleich dorthin, damit er, wie die Ente auf dem Teiche, so auf den Brettern seinem k¸nftigen Lebensgewackel und -geschnatter eiligst entgegengeleitet werde.”

Wilhelm hˆrte dies mit Geduld, doch nur mit halber ¸berzeugung, vielleicht mit einigem Verdrufl: denn so wunderlich ist der Mensch gesinnt, dafl er von dem Unwert irgendeines geliebten Gegenstandes zwar ¸berzeugt sein, sich von ihm abwenden, sogar ihn verw¸nschen kann, aber ihn doch nicht von andern auf gleiche Weise behandelt wissen will; und vielleicht regt sich der Geist des Widerspruchs, der in allen Menschen wohnt, nie lebendiger und wirksamer als in solchem Falle.

Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: dafl er mit einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen l‰flt. Hat er nicht auch in vielfachem Sinn mehr Leben und Kr‰fte als billig dem Theater zugewendet? und kˆnnte man ihn wohl ¸berzeugen, dafl dies ein unverzeihlicher Irrtum, eine fruchtlose Bem¸hung gewesen?

Doch wir finden keine Zeit, solchen Erinnerungen und Nachgef¸hlen unwillig uns hinzugeben, denn unser Freund sieht sich angenehm ¸berrascht, da ihm abermals einer von den Dreien, und zwar ein besonders zusagender, vor die Augen tritt. Entgegenkommende Sanftmut, den reinsten Seelenfrieden verk¸ndend, teilte sich hˆchst erquicklich mit. Vertrauend konnte der Wanderer sich n‰hern und f¸hlte sein Vertrauen erwidert.

Hier vernahm er nun, dafl der Obere sich gegenw‰rtig bei den Heiligt¸mern befinde, dort unterweise, lehre, segne, indessen die Dreie sich verteilt, um s‰mtliche Regionen heimzusuchen und ¸berall, nach genommener tiefster Kenntnis und Verabredung mit den untergeordneten Aufsehern, das Eingef¸hrte weiterzuleiten, das Neubestimmte zu gr¸nden und dadurch ihre hohe Pflicht treulich zu erf¸llen.

Eben dieser treffliche Mann gab ihm nun eine allgemeinere ¸bersicht ihrer innern Zust‰nde und ‰uflern Verbindungen sowie Kenntnis von der Wechselwirkung aller verschiedenen Regionen; nicht weniger ward klar, wie aus einer in die andere, nach l‰ngerer oder k¸rzerer Zeit, ein Zˆgling versetzt werden kˆnne. Genug, mit dem bisher vernommenen stimmte alles vˆllig ¸berein. Zugleich machte die Schilderung seines Sohnes ihm viel Vergn¸gen, und der Plan, wie man ihn weiterf¸hren wollte, muflte seinen ganzen Beifall gewinnen.

Neuntes Kapitel

Wilhelm wurde darauf vom Geh¸lfen und Aufseher zu einem Bergfest eingeladen, welches zun‰chst gefeiert werden sollte. Sie erstiegen mit Schwierigkeit das Gebirg, Wilhelm glaubte sogar zu bemerken, dafl der F¸hrer gegen Abend sich langsamer bewegte, als w¸rde die Finsternis ihrem Pfad nicht noch mehr Hinderung entgegensetzen. Als aber eine tiefe Nacht sie umgab, ward ihm dies R‰tsel aufgelˆst: kleine Flammen sah er aus vielen Schluchten und T‰lern schwankend hervorschimmern, sich zu Linien verl‰ngern, sich ¸ber die Gebirgshˆhen her¸berw‰lzen. Viel freundlicher, als wenn ein Vulkan sich auftut und sein spr¸hendes Getˆs ganze Gegenden mit Untergang bedroht, zeigte sich diese Erscheinung, und doch gl¸hte sie nach und nach m‰chtiger, breiter und gedr‰ngter, funkelte wie ein Strom von Sternen, zwar sanft und lieblich, aber doch k¸hn ¸ber die ganze Gegend sich verbreitend.

Nachdem nun der Gef‰hrte sich einige Zeit an der Verwunderung des Gastes ergˆtzt, denn ihre Gesichter und Gestalten erschienen durch das Licht aus der Ferne erhellt, so wie ihr Weg, begann er zu sprechen: “Ihr seht hier freilich ein wunderliches Schauspiel; diese Lichter, die bei Tag und bei Nacht im ganzen Jahre unter der Erde leuchten und wirken und die Fˆrdernis versteckter, kaum erreichbarer irdischer Sch‰tze beg¸nstigen, diese quellen und wallen gegenw‰rtig aus ihren Schl¸nden hervor und erheitern die offenbare Nacht. Kaum gewahrte man je eine so erfreuliche Heerschau, wo das n¸tzlichste, unterirdisch zerstreute, den Augen entzogene Gesch‰ft sich uns in ganzer F¸lle zeigt und eine grofle geheime Vereinigung sichtbar macht.”

Unter solchen Reden und Betrachtungen waren sie an den Ort gelangt, wo die Feuerb‰che zum Flammensee um einen wohlerleuchteten Inselraum sich ergossen. Der Wanderer stand nunmehr in dem blendenden Kreise, wo schimmernde Lichter zu Tausenden gegen die zur schwarzen Hinterwand gereihten Tr‰ger einen ahnungsvollen Kontrast bildeten. Sofort erklang die heiterste Musik zu t¸chtigen Ges‰ngen. Hohle Felsmassen zogen maschinenhaft heran und schlossen bald ein gl‰nzendes Innere dem Auge des erfreuten Zuschauers auf. Mimische Darstellungen, und was nur einen solchen Moment der Menge erheitern kann, vereinigte sich, um eine frohe Aufmerksamkeit zugleich zu spannen und zu befriedigen.

Aber mit welcher Verwunderung ward unser Freund erf¸llt, als er sich den Hauptleuten vorgestellt sah und unter ihnen, in ernster, stattlicher Tracht, Freund Jarno erblickte. “Nicht umsonst”, rief dieser aus, “habe ich meinen fr¸hern Namen mit dem bedeutendem Montan vertauscht; du findest mich hier in Berg und Kluft eingeweiht, und gl¸cklicher in dieser Beschr‰nkung unter und ¸ber der Erde, als sich denken l‰flt.”–“Da wirst du also”, versetzte der Wanderer, “als ein Hocherfahrner nunmehr freigebiger sein mit Aufkl‰rung und Unterricht, als du es gegen mich warst auf jenen Berg–und Felsklippen. “–“Keineswegs!” erwiderte Montan, “die Gebirge sind stumme Meister und machen schweigsame Sch¸ler.”

An vielen Tafeln speiste man nach dieser Feierlichkeit. Alle G‰ste, die geladen oder ungeladen sich eingefunden, waren vom Handwerk, deswegen denn auch an dem Tische, wo Montan und sein Freund sich niedergesetzt, sogleich ein ortgem‰fles Gespr‰ch entstand; es war von Gebirgen, G‰ngen und Lagern, von Gangarten und Metallen der Gegend ausf¸hrlich die Rede. Sodann aber verlor das Gespr‰ch sich gar bald ins Allgemeine, und da war von nichts Geringerem die Rede als von Erschaffung und Entstehung der Welt. Hier aber blieb die Unterhaltung nicht lange friedlich, vielmehr verwickelte sich sogleich ein lebhafter Streit.

Mehrere wollten unsere Erdgestaltung aus einer nach und nach sich senkend abnehmenden Wasserbedeckung herleiten; sie f¸hrten die Tr¸mmer organischer Meeresbewohner auf den hˆchsten Bergen sowie auf flachen H¸geln zu ihrem Vorteil an. Andere heftiger dagegen lieflen erst gl¸hen und schmelzen, auch durchaus ein Feuer obwalten, das, nachdem es auf der Oberfl‰che genugsam gewirkt, zuletzt ins Tiefste zur¸ckgezogen, sich noch immer durch die ungest¸m sowohl im Meer als auf der Erde w¸tenden Vulkane bet‰tigte und durch sukzessiven Auswurf und gleichfalls nach und nach ¸berstrˆmende Laven die hˆchsten Berge bildete; wie sie denn ¸berhaupt den anders Denkenden zu Gem¸te f¸hrten, dafl ja ohne Feuer nichts heifl werden kˆnne, auch ein t‰tiges Feuer immer einen Herd voraussetze. So erfahrungsgem‰fl auch dieses scheinen mochte, so waren manche doch nicht damit zufrieden; sie behaupteten: m‰chtige, in dem Schofl der Erde schon vˆllig fertig gewordene Gebilde seien mittelst unwiderstehlich elastischer Gewalten durch die Erdrinde hindurch in die Hˆhe getrieben und zugleich in diesem Tumulte manche Teile derselben weit ¸ber Nachbarschaft und Ferne umhergestreut und zersplittert worden; sie beriefen sich auf manche Vorkommnisse, welche ohne eine solche Voraussetzung nicht zu erkl‰ren seien.

Eine vierte, wenn auch vielleicht nicht zahlreiche Partie l‰chelte ¸ber diese vergeblichen Bem¸hungen und beteuerte: gar manche Zust‰nde dieser Erdoberfl‰che w¸rden nie zu erkl‰ren sein, wofern man nicht grˆflere und kleinere Gebirgsstrecken aus der Atmosph‰re herunterfallen und weite, breite Landschaften durch sie ¸berdeckt werden lasse. Sie beriefen sich auf grˆflere und kleinere Felsmassen, welche zerstreut in vielen Landen umherliegend gefunden und sogar noch in unsern Tagen als von oben herabst¸rzend aufgelesen werden.

Zuletzt wollten zwei oder drei stille G‰ste sogar einen Zeitraum grimmiger K‰lte zu H¸lfe rufen und aus den hˆchsten Gebirgsz¸gen auf weit ins Land hingesenkten Gletschern gleichsam Rutschwege f¸r schwere Ursteinmassen bereitet und diese auf glatter Bahn fern und ferner hinausgeschoben im Geiste sehen. Sie sollten sich, bei eintretender Epoche des Auftauens, niedersenken und f¸r ewig in fremdem Boden liegenbleiben. Auch sollte sodann durch schwimmendes Treibeis der Transport ungeheurer Felsblˆcke von Norden her mˆglich werden. Diese guten Leute konnten jedoch mit ihrer etwas k¸hlen Betrachtung nicht durchdringen. Man hielt es ungleich naturgem‰fler, die Erschaffung einer Welt mit kolossalem Krachen und Heben, mit wildem Toben und feurigem Schleudern vorgehen zu lassen. Da nun ¸brigens die Glut des Weines stark mit einwirkte, so h‰tte das herrliche Fest beinahe mit tˆdlichen H‰ndeln abgeschlossen.

Ganz verwirrt und verd¸stert ward es unserm Freund zumute, welcher noch von alters her den Geist, der ¸ber den Wassern schwebte, und die hohe Flut, welche funfzehn Ellen ¸ber die hˆchsten Gebirge gestanden, im stillen Sinne hegte und dem unter diesen seltsamen Reden die so wohl geordnete, bewachsene, belebte Welt vor seiner Einbildungskraft chaotisch zusammenzust¸rzen schien.

Den andern Morgen unterliefl er nicht, den ernsten Montan hier¸ber zu befragen, indem er ausrief: “Gestern konnt’ ich dich nicht begreifen, denn unter allen den wunderlichen Dingen und Reden hofft’ ich endlich deine Meinung und deine Entscheidung zu hˆren, an dessen Statt warst du bald auf dieser, bald auf jener Seite und suchtest immer die Meinung desjenigen, der da sprach, zu verst‰rken. Nun aber sage mir ernstlich, was du dar¸ber denkst, was du davon weiflt.” Hierauf erwiderte Montan: “Ich weifl so viel wie sie und mˆchte dar¸ber gar nicht denken.”–“Hier aber”, versetzte Wilhelm, “sind so viele widersprechende Meinungen, und man sagt ja, die Wahrheit liege in der Mitte.”–“Keineswegs!” erwiderte Montan: “in der Mitte bleibt das Problem liegen, unerforschlich vielleicht, vielleicht auch zug‰nglich, wenn man es darnach anf‰ngt.”

Nachdem nun auf diese Weise noch einiges hin und wider gesprochen worden, fuhr Montan vertraulich fort: “Du tadelst mich, dafl ich einem jeden in seiner Meinung nachhalf, wie sich denn f¸r alles noch immer ein ferneres Argument auffinden l‰flt; ich vermehrte die Verwirrung dadurch, das ist wahr, eigentlich aber kann ich es mit diesem Geschlecht nicht mehr ernstlich nehmen. Ich habe mich durchaus ¸berzeugt, das Liebste, und das sind doch unsre ¸berzeugungen, mufl jeder im tiefsten Ernst bei sich selbst bewahren, jeder weifl nur f¸r sich, was er weifl, und das mufl er geheimhalten; wie er es ausspricht, sogleich ist der Widerspruch rege, und wie er sich in Streit einl‰flt, kommt er in sich selbst aus dem Gleichgewicht, und sein Bestes wird, wo nicht vernichtet, doch gestˆrt.”

Durch einige Gegenrede Wilhelms veranlaflt, erkl‰rte Montan sich ferner: “Wenn man einmal weifl, worauf alles ankommt, hˆrt man auf, gespr‰chig zu sein.”– “Worauf kommt nun aber alles an?” versetzte Wilhelm hastig.–“Das ist bald gesagt”, versetzte jener. “Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher anerkannt, von jeher ge¸bt, nicht eingesehen von einem jeden. Beides mufl wie Aus–und Einatmen sich im Leben ewig fort hin und wider bewegen; wie Frage und Antwort sollte eins ohne das andere nicht stattfinden. Wer sich zum Gesetz macht, was einem jeden Neugebornen der Genius des Menschenverstandes heimlich ins Ohr fl¸stert, das Tun am Denken, das Denken am Tun zu pr¸fen, der kann nicht irren, und irrt er, so wird er sich bald auf den rechten Weg zur¸ckfinden.”

Montan geleitete seinen Freund nunmehr in dem Bergrevier methodisch umher, ¸berall begr¸flt von einem derben “Gl¸ck auf!”, welches sie heiter zur¸ckgaben. “Ich mˆchte wohl”, sagte Montan, “ihnen manchmal zurufen: “Sinn auf!”, denn Sinn ist mehr als Gl¸ck; doch die Menge hat immer Sinn genug, wenn die Obern damit begabt sind. Weil ich nun hier, wo nicht zu befehlen, doch zu raten habe, bem¸ht’ ich mich, die Eigenschaft des Gebirgs kennen zu lernen. Man strebt leidenschaftlich nach den Metallen, die es enth‰lt. Nun habe ich mir auch das Vorkommen derselben aufzukl‰ren gesucht, und es ist mir gelungen. Das Gl¸ck tut’s nicht allein, sondern der Sinn, der das Gl¸ck herbeiruft, um es zu regeln. Wie diese Gebirge hier entstanden sind, weifl ich nicht, will’s auch nicht wissen; aber ich trachte t‰glich, ihnen ihre Eigent¸mlichkeit abzugewinnen. Auf Blei und Silber ist man erpicht, das sie in ihrem Busen tragen; ich weifl es zu entdecken: das Wie? behalt’ ich f¸r mich und gebe Veranlassung, das Gew¸nschte zu finden. Auf mein Wort unternimmt man’s versuchsweise, es gelingt, und man sagt, ich habe Gl¸ck. Was ich verstehe, versteh’ ich mir, was mir gelingt, gelingt mir f¸r andere, und niemand denkt, dafl es ihm auf diesem Wege gleichfalls gelingen kˆnne. Sie haben mich in Verdacht, dafl ich eine W¸nschelrute besitze, sie merken aber nicht, dafl sie mir widersprechen, wenn ich etwas Vern¸nftiges vorbringe, und dafl sie dadurch sich den Weg abschneiden zu dem Baum des Erkenntnisses, wo diese prophetischen Reiser zu brechen sind.”

Ermutigt an diesen Gespr‰chen, ¸berzeugt, dafl auch ihm durch sein bisheriges Tun und Denken gegl¸ckt, in einem weit entlegenen Fache, dem Hauptsinne nach, seines Freundes Forderungen sich gleichzustellen, gab er nunmehr Rechenschaft von der Anwendung seiner Zeit, seitdem er die Verg¸nstigung erlangt, die auferlegte Wanderschaft nicht nach Tagen und Stunden, sondern dem wahren Zweck einer vollst‰ndigen Ausbildung gem‰fl einzuteilen und zu benutzen.

Hier nun war zuf‰lligerweise vieles Redens keine Not, denn ein bedeutendes Ereignis gab unserm Freunde Gelegenheit, sein erworbenes Talent geschickt und gl¸cklich anzuwenden und sich der menschlichen Gesellschaft als wahrhaft n¸tzlich zu erweisen.

Welcher Art aber dies gewesen, d¸rfen wir im Augenblicke noch nicht offenbaren, obgleich der Leser bald, noch ehe er diesen Band aus den H‰nden legt, davon genugsam unterrichtet sein wird.

Zehntes Kapitel

Hersilie an Wilhelm

Die ganze Welt wirft mir seit langen Jahren vor, ich sei ein launig-wunderliches M‰dchen. Mag ich’s doch sein, so bin ich’s ohne mein Verschulden. Die Leute muflten Geduld mit mir haben, und nun brauche ich Geduld mit mir selber, mit meiner Einbildungskraft, die mir Vater und Sohn, bald zusammen, bald wechselsweise, hin und wieder vor die Augen f¸hrt. Ich komme mir vor wie eine unschuldige Alkmene, die von zwei Wesen, die einander vorstellen, unabl‰ssig heimgesucht wird.

Ich habe Ihnen viel zu sagen, und doch schreibe ich Ihnen, so scheint es, nur, wenn ich ein Abenteuer zu erz‰hlen habe; alles ¸brige ist auch abenteuerlich zwar, aber kein Abenteuer. Nun also zu dem heutigen:

Ich sitze unter den hohen Linden und mache soeben ein Brieft‰schchen fertig, ein sehr zierliches, ohne deutlichst zu wissen, wer es haben soll, Vater oder Sohn, aber gewifl einer von beiden; da kommt ein junger Tabulettkr‰mer mit Kˆrbchen und K‰stchen auf mich zu, er legitimiert sich bescheiden durch einen Schein des Beamten, dafl ihm erlaubt sei, auf den G¸tern zu hausieren; ich besehe seine S‰chelchen bis in die unendlichen Kleinigkeiten, deren niemand bedarf und die jedermann kauft aus kindischem Trieb, zu besitzen und zu vergeuden. Der Knabe scheint mich aufmerksam zu betrachten. Schˆne schwarze, etwas listige Augen, wohlgezeichnete Augenbraunen, reiche Locken, blendende Zahnreihen, genug, Sie verstehen mich, etwas Orientalisches.

Er tut mancherlei Fragen, auf die Personen der Familie bez¸glich, denen er allenfalls etwas anbieten d¸rfte; durch allerlei Wendungen weifl er es einzuleiten, dafl ich mich ihm nenne. “Hersilie”, spricht er bescheiden, “wird Hersilie verzeihen, wenn ich eine Botschaft ausrichte?” Ich sehe ihn verwundert an, er zieht das kleinste Schiefert‰felchen hervor, in ein weifles R‰hmchen gefaflt, wie man sie im Gebirg f¸r die kindischen Anf‰nge des Schreibens zubereitet; ich nehm’ es an, sehe es beschrieben und lese die mit scharfem Griffel sauber eingegrabene Inschrift:

“Felix
liebt
Hersilien.
Der Stallmeister
kommt bald.”

Ich bin betroffen, ich gerate in Verwunderung ¸ber das, was ich in der Hand halte, mit Augen sehe, am meisten dar¸ber, dafl das Schicksal sich fast noch wunderlicher beweisen will, als ich selbst bin.–“Was soll das!” sag’ ich zu mir, und der kleine Schalk ist mir gegenw‰rtiger als je, ja es ist mir, als ob sein Bild sich mir in die Augen hineinbohrte.

Nun fang’ ich an zu fragen und erhalte wunderliche, unbefriedigende Antworten; ich examiniere, und erfahre nichts; ich denke nach, und kann die Gedanken nicht recht zusammenbringen. Zuletzt verkn¸pf ich aus Reden und Widerreden so viel, dafl der junge Kr‰mer auch die p‰dagogische Provinz durchzogen, das Vertrauen meines jungen Verehrers erworben, welcher auf ein erhandeltes T‰felchen die Inschrift geschrieben und ihm f¸r ein Wˆrtchen Antwort die besten Geschenke versprochen. Er reichte mir sodann ein gleiches T‰felchen, deren er mehrere in seinem Warenbesteck vorwies, zugleich einen Griffel, wobei er so freundlich drang und bat, dafl ich beides annahm, dachte, wieder dachte, nichts erdenken konnte und schrieb:

“Hersiliens
Grufl
an Felix.
Der Stallmeister
halte sich gut.”

Ich betrachtete das Geschriebene und f¸hlte Verdrufl ¸ber den ungeschickten Ausdruck. Weder Z‰rtlichkeit, noch Geist, noch Witz, blofle Verlegenheit, und warum? Vor einem Knaben stand ich, an einen Knaben schrieb ich; sollte mich das aus der Fassung bringen? Ich glaube gar, ich seufzte, und war eben im Begriff, das Geschriebene wegzuwischen; aber jener nahm es mir so zierlich aus der Hand, bat mich um irgendeine f¸rsorgliche Einh¸llung, und so geschah’s, dafl ich, weifl ich doch nicht, wie’s geschah, das T‰felchen in das Brieft‰schchen steckte, das Band darumschlang und zugeheftet dem Knaben hinreichte, der es mit Anmut ergriff, sich tief verneigend einen Augenblick zauderte, dafl ich eben noch Zeit hatte, ihm mein Beutelchen in die Hand zu dr¸cken, und mich schalt, ihm nicht genug gegeben zu haben. Er entfernte sich schicklich eilend und war, als ich ihm nachblickte, schon verschwunden, ich begriff nicht recht wie.

Nun ist es vor¸ber, ich bin schon wieder auf dem gewˆhnlichen, flachen Tagesboden und glaube kaum an die Erscheinung. Halte ich nicht das T‰felchen in der Hand? Es ist gar zierlich, die Schrift gar schˆn und sorgf‰ltig gezogen; ich glaube, ich h‰tte es gek¸flt, wenn ich die Schrift auszulˆschen nicht f¸rchtete.

Ich habe mir Zeit genommen, nachdem ich Vorstehendes geschrieben; was ich aber auch dar¸ber denke, will immer nicht fˆrdern. Allerdings etwas Geheimnisvolles war in der Figur; dergleichen sind jetzt im Roman nicht zu entbehren, sollten sie uns denn auch im Leben begegnen? Angenehm, doch verd‰chtig, fremdartig, doch Vertrauen erregend; warum schied er auch vor aufgelˆster Verwirrung? warum hatt’ ich nicht Gegenwart des Geistes genug, um ihn schicklicherweise festzuhalten?

Nach einer Pause nehm’ ich die Feder abermals zur Hand, meine Bekenntnisse fortzusetzen. Die entschiedene, fortdauernde Neigung eines zum J¸ngling heranreifenden Knaben wollte mir schmeicheln; da aber fiel mir ein, dafl es nichts Seltenes sei, in diesem Alter nach ‰lteren Frauen sich umzusehen. F¸rwahr, es gibt eine geheimnisvolle Neigung j¸ngerer M‰nner zu ‰lteren Frauen. Sonst, da es mich nicht selbst betraf, lachte ich dar¸ber und wollte boshafterweise gefunden haben: es sei eine Erinnerung an die Ammen–und S‰uglingsz‰rtlichkeit, von der sie sich kaum losgerissen haben. Jetzt ‰rgert’s mich, mir die Sache so zu denken; ich erniedrige den guten Felix zur Kindheit herab, und mich sehe ich doch auch nicht in einer vorteilhaften Stellung. Ach welch ein Unterschied ist es, ob man sich oder die andern beurteilt.

Eilftes Kapitel Wilhelm an Natalien

Schon Tage geh’ ich umher und kann die Feder anzusetzen mich nicht entschlieflen; es ist so mancherlei zu sagen, m¸ndlich f¸gte sich wohl eins ans andere, entwickelte sich auch wohl leicht eins aus dem andern; lafl mich daher, den Entfernten, nur mit dem Allgemeinsten beginnen, es leitet mich doch zuletzt aufs Wunderliche, was ich mitzuteilen habe.

Du hast von dem J¸ngling gehˆrt, der, am Ufer des Meeres spazierend, einen Ruderpflock fand; das Interesse, das er daran nahm, bewog ihn, ein Ruder anzuschaffen, als notwendig dazu gehˆrend. Dies aber war nun auch weiter nichts n¸tze; er trachtete ernstlich nach einem Kahn und gelangte dazu. Jedoch war Kahn, Ruder und Ruderpflock nicht sonderlich fˆrdernd, er verschaffte sich Segelstangen und Segel und so nach und nach, was zur Schnelligkeit und Bequemlichkeit der Schiffahrt erforderlich ist. Durch zweckm‰fliges Bestreben gelangt er zu grˆflerer Fertigkeit und Geschicklichkeit, das Gl¸ck beg¸nstigt ihn, er sieht sich endlich als Herr und Patron eines grˆflern Fahrzeugs, und so steigert sich das Gelingen, er gewinnt Wohlhaben, Ansehen und Namen unter den Seefahrern.–

Indem ich nun dich veranlasse, diese artige Geschichte wieder zu lesen, mufl ich bekennen, dafl sie nur im weitesten Sinne hierher gehˆrt, jedoch mir den Weg bahnt, dasjenige auszudr¸cken, was ich vorzutragen habe. Indessen mufl ich noch einiges Entferntere durchgehen.

Die F‰higkeiten, die in dem Menschen liegen, lassen sich einteilen in allgemeine und besondere, die allgemeinen sind anzusehen als gleichg¸ltig-ruhende F‰higkeiten, die nach Umst‰nden geweckt und zuf‰llig zu diesem oder jenem Zweck bestimmt werden. Die Nachahmungsgabe des Menschen ist allgemein, er will nachmachen, nachbilden, was er sieht, auch ohne die mindesten innern und ‰uflern Mittel zum Zwecke. Nat¸rlich ist es daher immer, dafl er leisten will, was er leisten sieht; das Nat¸rlichste jedoch w‰re, dafl der Sohn des Vaters Besch‰ftigung ergriffe. Hier ist alles beisammen: eine vielleicht im Besondern schon angeborne, in urspr¸nglicher Richtung entschiedene F‰higkeit, sodann eine folgerecht stufenweis fortschreitende ¸bung und ein entwickeltes Talent, das uns nˆtigte, auch alsdann auf dem eingeschlagenen Wege fortzuschreiten, wenn andere Triebe sich in uns entwickeln und uns eine freie Wahl zu einem Gesch‰ft f¸hren d¸rfte, zu dem uns die Natur weder Anlage noch Beharrlichkeit verliehen. Im Durchschnitt sind daher die Menschen am gl¸cklichsten, die ein angebornes, ein Familientalent im h‰uslichen Kreise auszubilden Gelegenheit finden. Wir haben solche Malerstammb‰ume gesehen; darunter waren freilich schwache Talente, indessen lieferten sie doch etwas Brauchbares und vielleicht Besseres, als sie bei m‰fligen Naturkr‰ften aus eigner Wahl in irgendeinem andern Fache geleistet h‰tten.

Da dieses aber auch nicht ist, was ich sagen wollte, so mufl ich meinen Mitteilungen von irgendeiner andern Seite n‰her zu kommen suchen.

Das ist nun das Traurige der Entfernung von Freunden, dafl wir die Mittelglieder, die H¸lfsglieder unserer Gedanken, die sich in der Gegenwart so fl¸chtig wie Blitze wechselseitig entwickeln und durchweben, nicht in augenblicklicher Verkn¸pfung und Verbindung vorf¸hren und vortragen kˆnnen. Hier also zun‰chst eine der fr¸hsten Jugendgeschichten.

Wir in einer alten, ernsten Stadt erzogenen Kinder hatten die Begriffe von Straflen, Pl‰tzen, von Mauern gefaflt, sodann auch von W‰llen, dem Glacis und benachbarten ummauerten G‰rten. Uns aber einmal, oder vielmehr sich selbst ins Freie zu f¸hren, hatten unsere Eltern l‰ngst mit Freunden auf dem Lande eine immerfort verschobene Partie verabredet. Dringender endlich zum Pfingstfeste ward Einladung und Vorschlag, denen man nur unter der Bedingung sich f¸gte: alles so einzuleiten, dafl man zu Nacht wieder zu Hause sein kˆnnte; denn aufler seinem l‰ngst gewohnten Bette zu schlafen, schien eine Unmˆglichkeit. Die Freuden des Tags so eng zu konzentrieren, war freilich schwer: zwei Freunde sollten besucht und ihre Anspr¸che auf seltene Unterhaltung befriedigt werden; indessen hoffte man, mit grofler P¸nktlichkeit alles zu erf¸llen.

Am dritten Feiertag, mit dem fr¸hsten, standen alle munter und bereit, der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, bald hatten wir alles Beschr‰nkende der Straflen, Tore, Br¸cken und Stadtgr‰ben hinter uns gelassen, eine freie, weitausgebreitete Welt tat sich vor den Unerfahrnen auf. Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Gr¸n der Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben aufgebrochenen Strauch–und Baumknospen, das nach allen Seiten hin blendend sich verbreitende Weifl der Baumbl¸te, alles gab uns den Vorschmack gl¸cklicher, paradiesischer Stunden.

Zu rechter Zeit gelangten wir auf der ersten Station bei einem w¸rdigen Geistlichen an. Freundlichst empfangen, konnten wir bald gewahr werden, dafl die aufgehobene kirchliche Feier den Ruhe und Freiheit suchenden Gem¸tern nicht entnommen war. Ich betrachtete den l‰ndlichen Haushalt zum erstenmal mit freudigem Anteil; Pflug und Egge, Wagen und Karren deuteten auf unmittelbare Benutzung, selbst der widrig anzuschauende Unrat schien das Unentbehrlichste im ganzen Kreise: sorgf‰ltig war er gesammelt und gewissermaflen zierlich aufbewahrt. Doch dieser auf das Neue und doch Begreifliche gerichtete frische Blick ward gar bald auf ein Genieflbares geheftet: appetitliche Kuchen, frische Milch und sonst mancher l‰ndliche Leckerbissen ward von uns begierig in Betracht gezogen. Eilig besch‰ftigten sich nunmehr die Kinder, den kleinen Hausgarten und die wirtliche Laube verlassend, in dem angrenzenden Baumst¸ck ein Gesch‰ft zu vollbringen, das eine alte, wohlgesinnte Tante ihnen aufgetragen hatte. Sie sollten n‰mlich so viel Schl¸sselblumen als mˆglich sammeln und solche getreulich mit zur Stadt bringen, indem die haush‰ltische Matrone gar allerlei gesundes Getr‰nk daraus zu bereiten gewohnt war.

Indem wir nun in dieser Besch‰ftigung auf Wiesen, an R‰ndern und Z‰unen hin und wider liefen, gesellten sich mehrere Kinder des Dorfs zu uns, und der liebliche Duft gesammelter Fr¸hlingsblumen schien immer erquickender und balsamischer zu werden.

Wir hatten nun schon so eine Masse Stengel und Bl¸ten zusammengebracht, dafl wir nicht wuflten, wo mit hin; man fing jetzt an, die gelblichen Rˆhrenkronen auszuzupfen, denn um sie war es denn eigentlich doch nur zu tun; jeder suchte in sein H¸tchen, sein M¸tzchen mˆglichst zu sammeln.

Der ‰ltere dieser Knaben jedoch, an Jahren wenig vor mir voraus, der Sohn des Fischers, den dieses Blumenget‰ndel nicht zu freuen schien, ein Knabe, der mich bei seinem ersten Auftreten gleich besonders angezogen hatte, lud mich ein, mit ihm nach dem Flufl zu gehen, der, schon ansehnlich breit, in weniger Entfernung vorbeiflofl. Wir setzten uns mit ein paar Angelruten an eine schattige Stelle, wo im tiefen, ruhig klaren Wasser gar manches Fischlein sich hin und her bewegte. Freundlich wies er mich an, worum es zu tun, wie der Kˆder am Angel zu befestigen sei, und es gelang mir einigemal hintereinander, die kleinsten dieser zarten Geschˆpfe wider ihren Willen in die Luft herauszuschnellen. Als wir nun so zusammen aneinandergelehnt beruhigt saflen, schien er zu langweilen und machte mich auf einen flachen Kies aufmerksam, der von unserer Seite sich in den Strom hinein erstreckte. Da sei die schˆnste Gelegenheit zu baden. Er kˆnne, rief er, endlich aufspringend, der Versuchung nicht widerstehen, und ehe ich mich’s versah, war er unten, ausgezogen und im Wasser.

Da er sehr gut schwamm, verliefl er bald die seichte Stelle, ¸bergab sich dem Strom und kam bis an mich in dem tieferen Wasser heran; mir war ganz wunderlich zumute geworden. Grashupfer tanzten um mich her, Ameisen krabbelten heran, bunte K‰fer hingen an den Zweigen, und goldschimmernde Sonnenjungfern, wie er sie genannt hatte, schwebten und schwankten geisterartig zu meinen F¸flen, eben als jener, einen groflen Krebs zwischen Wurzeln hervorholend, ihn lustig aufzeigte, um ihn gleich wieder an den alten Ort zu bevorstehendem Fange geschickt zu verbergen. Es war umher so warm und so feucht, man sehnte sich aus der Sonne in den Schatten, aus der Schattenk¸hle hinab ins k¸hlere Wasser. Da war es denn ihm leicht, mich hinunterzulocken, eine nicht oft wiederholte Einladung fand ich unwiderstehlich und war, mit einiger Furcht vor den Eltern, wozu sich die Scheu vor dem unbekannten Elemente gesellte, in ganz wunderlicher Bewegung. Aber bald auf dem Kies entkleidet, wagt’ ich mich sachte ins Wasser, doch nicht tiefer, als es der leise abh‰ngige Boden erlaubte; hier liefl er mich weilen, entfernte sich in dem tragenden Elemente, kam wieder, und als er sich heraushob, sich aufrichtete, im hˆheren Sonnenschein sich abzutrocknen, glaubt’ ich meine Augen vor einer dreifachen Sonne geblendet: so schˆn war die menschliche Gestalt, von der ich nie einen Begriff gehabt. Er schien mich mit gleicher Aufmerksamkeit zu betrachten. Schnell angekleidet standen wir uns noch immer unverh¸llt gegeneinander, unsere Gem¸ter zogen sich an, und unter den feurigsten K¸ssen schwuren wir eine ewige Freundschaft.

Sodann aber eilig eilig gelangten wir nach Hause, gerade zur rechten Zeit, als die Gesellschaft den angenehmsten Fuflweg durch Busch und Wald etwa anderthalb Stunden nach der Wohnung des Amtmanns antrat. Mein Freund begleitete mich, wir schienen schon unzertrennlich; als ich aber h‰lftewegs um Erlaubnis bat, ihn mit in des Amtmanns Wohnung zu nehmen, verweigerte es die Pfarrerin, mit stiller Bemerkung des Unschicklichen, dagegen gab sie ihm den dringenden Auftrag: er solle seinem r¸ckkehrenden Vater ja sagen, sie m¸sse bei ihrer Nachhausekunft notwendig schˆne Krebse vorfinden, die sie den G‰sten als eine Seltenheit nach der Stadt mitgeben wolle. Der Knabe schied, versprach aber mit Hand und Mund, heute abend an dieser Waldecke meiner zu warten.

Die Gesellschaft gelangte nunmehr zum Amthause, wo wir auch einen l‰ndlichen Zustand antrafen, doch hˆherer Art. Ein durch die Schuld der ¸bert‰tigen Hausfrau sich versp‰tendes Mittagessen machte mich nicht ungeduldig, denn der Spaziergang in einem wohlgehaltenen Ziergarten, wohin die Tochter, etwas j¸nger als ich, mir den Weg begleitend anwies, war mir hˆchst unterhaltend. Fr¸hlingsblumen aller Art standen in zierlich gezeichneten Feldern, sie ausf¸llend oder ihre R‰nder schm¸ckend. Meine Begleiterin war schˆn, blond, sanftm¸tig, wir gingen vertraulich zusammen, faflten uns bald bei der Hand und schienen nichts Besseres zu w¸nschen. So gingen wir an Tulpenbeeten vor¸ber, so an gereihten Narzissen und Jonquillen; sie zeigte mir verschiedene Stellen, wo eben die herrlichsten Hyazinthenglocken schon abgebl¸ht hatten. Dagegen war auch f¸r die folgenden Jahrszeiten gesorgt: schon gr¸nten die B¸sche der k¸nftigen Ranunkeln und Anemonen; die auf zahlreiche Nelkenstˆcke verwendete Sorgfalt versprach den mannigfaltigsten Flor; n‰her aber knospete schon die Hoffnung vielblumiger Lilienstengel gar weislich zwischen Rosen verteilt. Und wie manche Laube versprach nicht zun‰chst mit Geiflblatt, Jasmin, reben und rankenartigen Gew‰chsen zu prangen und zu schatten.

Betracht’ ich nach so viel Jahren meinen damaligen Zustand, so scheint er mir wirklich beneidenswert. Unerwartet, in demselbigen Augenblick, ergriff mich das Vorgef¸hl von Freundschaft und Liebe. Denn als ich ungern Abschied nahm von dem schˆnen Kinde, trˆstete mich der Gedanke, diese Gef¸hle meinem jungen Freunde zu erˆffnen, zu vertrauen und seiner Teilnahme zugleich mit diesen frischen Empfindungen mich zu freuen.

Und wenn ich hier noch eine Betrachtung ankn¸pfe, so darf ich wohl bekennen: dafl im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufbl¸hen der Auflenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles ¸brige, was uns nachher zu den Sinnen kommt, nur Kopien zu sein scheinen, die bei aller Ann‰herung an jenes doch des eigentlich urspr¸nglichen Geistes und Sinnes ermangeln.

Wie m¸flten wir verzweifeln, das ‰uflere so kalt, so leblos zu erblicken, wenn nicht in unserm Innern sich etwas entwickelte, das auf eine ganz andere Weise die Natur verherrlicht, indem es uns selbst in ihr zu verschˆnen eine schˆpferische Kraft erweist.

Es d‰mmerte schon, als wir uns der Waldecke wieder n‰herten, wo der junge Freund meiner zu warten versprochen hatte. Ich strengte die Sehkraft mˆglichst an, um seine Gegenwart zu erforschen; als es mir nicht gelingen wollte, lief ich ungeduldig der langsam schreitenden Gesellschaft voraus, rannte durchs Geb¸sche hin und wider. Ich rief, ich ‰ngstigte mich; er war nicht zu sehen und antwortete nicht; ich empfand zum erstenmal einen leidenschaftlichen Schmerz, doppelt und vielfach.

Schon entwickelte sich in mir die unm‰flige Forderung vertraulicher Zuneigung, schon war es ein unwiderstehlich Bed¸rfnis, meinen Geist von dem Bilde jener Blondine durch Plaudern zu befreien, mein Herz von den Gef¸hlen zu erlˆsen, die sie in mir aufgeregt hatte. Es war voll, der Mund lispelte schon, um ¸berzuflieflen; ich tadelte laut den guten Knaben wegen verletzter Freundschaft, wegen vernachl‰ssigter Zusage.

Bald aber sollten mir schwerere Pr¸fungen zugedacht sein. Aus den ersten H‰usern des Ortes st¸rzten Weiber schreiend heraus, heulende Kinder folgten, niemand gab Red’ und Antwort. Von der einen Seite her um das Eckhaus sahen wir einen Trauerzug herumziehen, er bewegte sich langsam die lange Strafle hin; es schien wie ein Leichenzug, aber ein vielfacher; des Tragens und Schleppens war kein Ende. Das Geschrei dauerte fort, es vermehrte sich, die Menge lief zusammen. “Sie sind ertrunken, alle, s‰mtlich ertrunken! Der! wer? welcher?” Die M¸tter, die ihre Kinder um sich sahen, schienen getrˆstet. Aber ein ernster Mann trat heran und sprach zur Pfarrerin: “Ungl¸cklicherweise bin ich zu lange auflen geblieben, ertrunken ist Adolf selbf¸nfe, er wollte sein Versprechen halten und meins.” Der Mann, der Fischer selbst war es, ging weiter dem Zuge nach, wir standen erschreckt und erstarrt. Da trat ein kleiner Knabe heran, reichte einen Sack dar: “Hier die Krebse, Frau Pfarrerin”, und hielt das Zeichen hoch in die Hˆhe. Man entsetzte sich davor wie vor dem Sch‰dlichsten, man fragte, man forschte und erfuhr so viel: dieser letzte Kleine war am Ufer geblieben, er las die Krebse auf, die sie ihm von unten zuwarfen. Alsdann aber nach vielem Fragen und Widerfragen erfuhr man: Adolf mit zwei verst‰ndigen Knaben sei unten am und im Wasser hingegangen, zwei andere, j¸ngere haben sich ungebeten dazu gesellt, die durch kein Schelten und Drohen abzuhalten gewesen. Nun waren ¸ber eine steinige, gef‰hrliche Stelle die ersten fast hinaus, die letzten gleiteten, griffen zu und zerrten immer einer den andern hinunter; so geschah es zuletzt auch dem Vordersten, und alle st¸rzten in die Tiefe. Adolf, als guter Schwimmer, h‰tte sich gerettet, alles aber hielt in der Angst sich an ihn, er ward niedergezogen. Dieser Kleine sodann war schreiend ins Dorf gelaufen, seinen Sack mit Krebsen fest in den H‰nden. Mit andern Aufgerufenen eilte der zuf‰llig sp‰t r¸ckkehrende Fischer dorthin; man hatte sie nach und nach herausgezogen, tot gefunden, und nun trug man sie herein.

Der Pfarrherr mit dem Vater gingen bedenklich dem Gemeindehause zu; der volle Mond war aufgegangen und beleuchtete die Pfade des Todes; ich folgte leidenschaftlich, man wollte mich nicht einlassen; ich war im schrecklichsten Zustande. Ich umging das Haus und rastete nicht; endlich ersah ich meinen Vorteil und sprang zum offenen Fenster hinein.

In dem groflen Saale, wo Versammlungen aller Art gehalten werden, lagen die Ungl¸ckseligen auf Stroh, nackt, ausgestreckt, gl‰nzend-weifle Leiber, auch bei d¸sterm Lampenschein hervorleuchtend. Ich warf mich auf den grˆflten, auf meinen Freund; ich w¸flte nicht von meinem Zustand zu sagen, ich weinte bitterlich und ¸berschwemmte seine breite Brust mit unendlichen Tr‰nen. Ich hatte etwas von Reiben gehˆrt, das in solchem Falle hilfreich sein sollte, ich rieb meine Tr‰nen ein und belog mich mit der W‰rme, die ich erregte. In der Verwirrung dacht’ ich ihm Atem einzublasen, aber die Perlenreihen seiner Z‰hne waren fest verschlossen, die Lippen, auf denen der Abschiedskufl noch zu ruhen schien, versagten auch das leiseste Zeichen der Erwiderung. An menschlicher H¸lfe verzweifelnd, wandt’ ich mich zum Gebet; ich flehte, ich betete, es war mir, als wenn ich in diesem Augenblicke Wunder tun m¸flte, die noch inwohnende Seele hervorzurufen, die noch in der N‰he schwebende wieder hineinzulocken.

Man rifl mich weg; weinend, schluchzend safl ich im Wagen und vernahm kaum, was die Eltern sagten: unsere Mutter, was ich nachher so oft wiederholen hˆrte, hatte sich in den Willen Gottes ergeben. Ich war indessen eingeschlafen und erwachte verd¸stert am sp‰ten Morgen in einem r‰tselhaften, verwirrten Zustande.

Als ich mich aber zum Fr¸hst¸ck begab, fand ich Mutter, Tante und Kˆchin in wichtiger Beratung. Die Krebse sollten nicht gesotten, nicht auf den Tisch gebracht werden; der Vater wollte eine so unmittelbare Erinnerung an das n‰chstvergangene Ungl¸ck nicht erdulden. Die Tante schien sich dieser seltenen Geschˆpfe eifrigst bem‰chtigen zu wollen, schalt aber nebenher auf mich, dafl wir die Schl¸sselblumen mitzubringen vers‰umt; doch schien sie sich bald hier¸ber zu beruhigen, als man jene lebhaft durcheinander kriechenden Miflgestalten ihr zu beliebiger Verf¸gung ¸bergab, worauf sie denn deren weitere Behandlung mit der Kˆchin verabredete.

Um aber die Bedeutung dieser Szene klar zu machen, mufl ich von dem Charakter und dem Wesen dieser Frau das N‰here vermelden: Die Eigenschaften, von denen sie beherrscht wurde, konnte man, sittlich betrachtet, keineswegs r¸hmen; und doch brachten sie, b¸rgerlich und politisch angesehen, manche gute Wirkung hervor. Sie war im eigentlichen Sinne geldgeizig, denn es dauerte sie jeder bare Pfennig, den sie aus der Hand geben sollte, und sah sich ¸berall f¸r ihre Bed¸rfnisse nach Surrogaten um, welche man umsonst, durch Tausch oder irgendeine Weise beischaffen konnte. So waren die Schl¸sselblumen zum Tee bestimmt, den sie f¸r ges¸nder hielt als irgendeinen chinesischen. Gott habe einem jeden Land das Notwendige verliehen, es sei nun zur Nahrung, zur W¸rze, zur Arzenei; man brauche sich deshalb nicht an fremde L‰nder zu wenden. So besorgte sie in einem kleinen Garten alles, was nach ihrem Sinn die Speisen schmackhaft mache und Kranken zutr‰glich w‰re: sie besuchte keinen fremden Garten, ohne dergleichen von da mitzubringen.

Diese Gesinnung und was daraus folgte, konnte man ihr sehr gerne zugeben, da ihre emsig gesammelte Barschaft der Familie doch endlich zugute kommen sollte; auch wuflten Vater und Mutter hierin durchaus ihr nachzugeben und fˆrderlich zu sein.

Eine andere Leidenschaft jedoch, eine t‰tige, die sich unerm¸det gesch‰ftig hervortat, war der Stolz, f¸r eine bedeutende, einfluflreiche Person gehalten zu werden. Und sie hatte f¸rwahr diesen Ruhm sich verdient und erreicht; denn die sonst unn¸tzen, sogar oft sch‰dlichen unter Frauen obwaltenden Klatschereien wuflte sie zu ihrem Vorteil anzuwenden. Alles, was in der Stadt vorging, und daher auch das Innere der Familien, war ihr genau bekannt, und es ereignete sich nicht leicht ein zweifelhafter Fall, in den sie sich nicht zu mischen gewuflt h‰tte, welches ihr um desto mehr gelang, als sie immer nur zu nutzen trachtete, dadurch aber ihren Ruhm und guten Namen zu steigern wuflte. Manche Heirat hatte sie geschlossen, wobei wenigstens der eine Teil vielleicht zufrieden blieb. Was sie aber am meisten besch‰ftigte, war das Fˆrdern und Befˆrdern solcher Personen, die ein Amt, eine Anstellung suchten, wodurch sie sich denn wirklich eine grofle Anzahl Klienten erwarb, deren Einflufl sie dann wieder zu benutzen wuflte.

Als Witwe eines nicht unbedeutenden Beamten, eines rechtlichen, strengen Mannes, hatte sie denn doch gelernt, wie man diejenigen durch Kleinigkeiten gewinnt, denen man durch bedeutendes Anerbieten nicht beikommen kann.

Um aber ohne fernere Weitl‰ufigkeit auf dem betretenen Pfade zu bleiben, sei zun‰chst bemerkt, dafl sie auf einen Mann, der eine wichtige Stelle bekleidete, sich groflen Einflufl zu verschaffen gewuflt. Er war geizig gleich ihr, und zu seinem Ungl¸ck ebenso speiselustig und gen‰schig. Ihm also unter irgendeinem Vorwande ein schmackhaftes Gericht auf die Tafel zu bringen, blieb ihre erste Sorge. Sein Gewissen war nicht das zarteste, aber auch sein Mut, seine Verwegenheit muflte in Anspruch genommen werden, wenn er in bedenklichen F‰llen den Widerstand seiner Kollegen ¸berwinden und die Stimme der Pflicht, die sie ihm entgegensetzten, ¸bert‰uben sollte.

Nun war gerade der Fall, dafl sie einen Unw¸rdigen beg¸nstigte; sie hatte das mˆglichste getan, ihn einzuschieben; die Angelegenheit hatte f¸r sie eine g¸nstige Wendung genommen, und nun kamen ihr die Krebse, dergleichen man freilich selten gesehen, gl¸cklicherweise zustatten. Sie sollten sorgf‰ltig gef¸ttert und nach und nach dem hohen Gˆnner, der gewˆhnlich ganz allein sehr k‰rglich speiste, auf die Tafel gebracht werden.

¸brigens gab der ungl¸ckliche Vorfall zu manchen Gespr‰chen und geselligen Bewegungen Anlafl. Mein Vater war jener Zeit einer der ersten, der seine Betrachtung, seine Sorge ¸ber die Familie, ¸ber die Stadt hinaus zu erstrecken durch einen allgemeinen, wohlwollenden Geist getrieben ward. Die groflen Hindernisse, welche der Einimpfung der Blattern anfangs entgegenstanden, zu beseitigen, war er mit verst‰ndigen ‰rzten und Polizeiverwandten bem¸ht. Grˆflere Sorgfalt in den Hospit‰lern, menschlichere Behandlung der Gefangenen und was sich hieran ferner schlieflen mag, machte das Gesch‰ft wo nicht seines Lebens, doch seines Lesens und Nachdenkens; wie er denn auch seine ¸berzeugung ¸berall aussprach und dadurch manches Gute bewirkte.

Er sah die b¸rgerliche Gesellschaft, welcher Staatsform sie auch untergeordnet w‰re, als einen Naturzustand an, der sein Gutes und sein Bˆses habe, seine gewˆhnlichen Lebensl‰ufe, abwechselnd reiche und k¸mmerliche Jahre, nicht weniger zuf‰llig und unregelm‰flig Hagelschlag, Wasserfluten und Brandsch‰den; das Gute sei zu ergreifen und zu nutzen, das Bˆse abzuwenden oder zu ertragen; nichts aber, meinte er, sei w¸nschenswerter als die Verbreitung des allgemeinen guten Willens, unabh‰ngig von jeder andern Bedingung.

In Gefolg einer solchen Gem¸tsart muflte er nun bestimmt werden, eine schon fr¸her angeregte wohlt‰tige Angelegenheit wieder zur Sprache zu bringen; es war die Wiederbelebung der f¸r tot Gehaltenen, auf welche Weise sich auch die ‰uflern Zeichen des Lebens mˆchten verloren haben. Bei solchen Gespr‰chen erhorchte ich mir nun, dafl man bei jenen Kindern das Umgekehrte versucht und angewendet, ja sie gewissermaflen erst ermordet; ferner hielt man daf¸r, dafl durch einen Aderlafl vielleicht ihnen allen w‰re zu helfen gewesen. In meinem jugendlichen Eifer nahm ich mir daher im stillen vor, ich wollte keine Gelegenheit vers‰umen, alles zu lernen, was in solchem Falle nˆtig w‰re, besonders das Aderlassen und was dergleichen Dinge mehr waren.

Allein wie bald nahm mich der gewˆhnliche Tag mit sich fort. Das Bed¸rfnis nach Freundschaft und Liebe war aufgeregt, ¸berall schaut’ ich mich um, es zu befriedigen. Indessen ward Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Geist durch das Theater ¸berm‰flig besch‰ftigt; wie weit ich hier gef¸hrt und verf¸hrt worden, darf ich nicht wiederholen.

Wenn ich nun aber nach dieser umst‰ndlichen Erz‰hlung zu bekennen habe, dafl ich noch immer nicht ans Ziel meiner Absicht gelangt sei und dafl ich nur durch einen Umweg dahin zu gelangen hoffen darf, was soll ich da sagen! wie kann ich mich entschuldigen! Allenfalls h‰tte ich folgendes vorzubringen: Wenn es dem Humoristen erlaubt ist, das Hundertste ins Tausendste durcheinanderzuwerfen, wenn er kecklich seinem Leser ¸berl‰flt, das, was allenfalls daraus zu nehmen sei, in halber Bedeutung endlich aufzufinden, sollte es dem Verst‰ndigen, dem Vern¸nftigen nicht zustehen, auf eine seltsam scheinende Weise ringsumher nach vielen Punkten hinzuwirken, damit man sie in einem Brennpunkte zuletzt abgespielt und zusammengefaflt erkenne, einsehen lerne, wie die verschiedensten Einwirkungen den Menschen umringend zu einem Entschlufl treiben, den er auf keine andere Weise, weder aus innerm Trieb noch ‰uflerm Anlafl, h‰tte ergreifen kˆnnen? Bei dem Mannigfaltigen, was mir noch zu sagen ¸brigbleibt, habe ich die Wahl, was ich zuerst vornehmen will; aber auch dies ist gleichg¸ltig, du muflt dich eben in Geduld fassen, lesen und weiter lesen, zuletzt wird denn doch auf einmal hervorspringen und dir ganz nat¸rlich scheinen, was mit einem Worte ausgesprochen dir hˆchst seltsam vorgekommen w‰re, und zwar auf einen Grad, dafl du nachher diesen Einleitungen in Form von Erkl‰rungen kaum einen Augenblick h‰ttest schenken mˆgen.

Um nun aber einigermaflen in die Richte zu kommen, will ich mich wieder nach jenem Ruderpflock umsehen und eines Gespr‰chs gedenken, das ich mit unserem gepr¸ften Freunde Jarno, den ich unter dem Namen Montan im Gebirge fand, zu ganz besonderer Erweckung eigner Gef¸hle zuf‰llig zu f¸hren veranlaflt ward. Die Angelegenheiten unseres Lebens haben einen geheimnisvollen Gang, der sich nicht berechnen l‰flt. Du erinnerst dich gewifl jenes Bestecks, das euer t¸chtiger Wundarzt hervorzog, als du dich mir, wie ich verwundet im Walde hingestreckt lag, hilfreich n‰hertest? Es leuchtete mir damals dergestalt in die Augen und machte einen so tiefen Eindruck, dafl ich ganz entz¸ckt war, als ich nach Jahren es in den H‰nden eines J¸ngeren wiederfand. Dieser legte keinen besondern Wert darauf; die Instrumente s‰mtlich hatten sich in neuerer Zeit verbessert und waren zweckm‰fliger eingerichtet, und ich erlangte jenes um desto eher, als ihm die Anschaffung eines neuen dadurch erleichtert wurde. Nun f¸hrte ich es immer mit mir, freilich zu keinem Gebrauch, aber desto sicherer zu trˆstlicher Erinnerung: Es war Zeuge des Augenblicks, wo mein Gl¸ck begann, zu dem ich erst durch groflen Umweg gelangen sollte.

Zuf‰llig sah es Jarno, als wir bei dem Kˆhler ¸bernachteten, der es alsobald erkannte und auf meine Erkl‰rung erwiderte: “Ich habe nichts dagegen, dafl man sich einen solchen Fetisch aufstellt, zur Erinnerung an manches unerwartete Gute, an bedeutende Folgen eines gleichg¸ltigen Umstandes; es hebt uns empor als etwas, das auf ein Unbegreifliches deutet, erquickt uns in Verlegenheiten und ermutigt unsere Hoffnungen; aber schˆner w‰re es, wenn du dich durch jene Werkzeuge h‰ttest anreizen lassen, auch ihren Gebrauch zu verstehen und dasjenige zu leisten, was sie stumm von dir fordern.”

“Lafl mich bekennen”, versetzte ich darauf, “dafl mir dies hundertmal eingefallen ist; es regte sich in mir eine innere Stimme, die mich meinen eigentlichen Beruf hieran erkennen liefl.” Ich erz‰hlte ihm hierauf die Geschichte der ertrunkenen Knaben, und wie ich damals gehˆrt, ihnen w‰re zu helfen gewesen, wenn man ihnen zur Ader gelassen h‰tte; ich nahm mir vor, es zu lernen, doch jede Stunde lˆschte den Vorsatz aus.

“So ergreif ihn jetzt”, versetzte jener, “ich sehe dich schon so lange mit Angelegenheiten besch‰ftigt, die des Menschen Geist, Gem¸t, Herz, und wie man das alles nennt, betreffen und sich darauf beziehen; allein was hast du dabei f¸r dich und andere gewonnen? Seelenleiden, in die wir durch Ungl¸ck oder eigne Fehler geraten, sie zu heilen vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene T‰tigkeit hingegen alles. Hier wirke jeder mit und auf sich selbst, das hast du an dir, hast es an andern erfahren.”

Mit heftigen und bittern Worten, wie er gewohnt ist, setzte er mir zu und sagte manches Harte, das ich nicht wiederholen mag. Es sei nichts mehr der M¸he wert, schlofl er endlich, zu lernen und zu leisten, als dem Gesunden zu helfen, wenn er durch irgendeinen Zufall verletzt sei: durch einsichtige Behandlung stelle sich die Natur leicht wieder her; die Kranken m¸sse man den ‰rzten ¸berlassen, niemand aber bed¸rfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde. In der Stille des Landlebens, im engsten Kreis der Familie sei er ebenso willkommen als in und nach dem Get¸mmel der Schlacht; in den s¸flesten Augenblicken wie in den bittersten und gr‰fllichsten; ¸berall walte das bˆse Geschick grimmiger als der Tod, und ebenso r¸cksichtslos, ja noch auf eine schm‰hlichere, Lust und Leben verletzende Weise.

Du kennst ihn und denkst ohne Anstrengung, dafl er mich so wenig als die Welt schonte. Am st‰rksten aber lehnte er sich auf das Argument, das er im Namen der groflen Gesellschaft gegen mich wendete. “Narrenpossen”, sagte er, “sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Dafl ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorz¸glich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der n‰chsten Umgebung, darauf kommt es an, und besonders in unserm Verbande spricht es sich von selbst aus. Du bist gerade in einem Alter, wo man sich mit Verstande etwas vorsetzt, mit Einsicht das Vorliegende beurteilt, es von der rechten Seite angreift, seine F‰higkeiten und Fertigkeiten auf den rechten Zweck hinlenkt.”

Was soll ich nun weiter fortfahren auszusprechen, was sich von selbst versteht! Er machte mir deutlich, dafl ich Dispensation von dem so wunderlich gebotenen unst‰ten Leben erhalten kˆnne; es werde jedoch schwer sein, es f¸r mich zu erlangen. “Du bist von der Menschenart”, sprach er, “die sich leicht an einen Ort, nicht leicht an eine Bestimmung gewˆhnen. Allen solchen wird die unst‰te Lebensart vorgeschrieben, damit sie vielleicht zu einer sichern Lebensweise gelangen. Willst du dich ernstlich dem gˆttlichsten aller Gesch‰fte widmen, ohne Wunder zu heilen und ohne Worte Wunder zu tun, so verwende ich mich f¸r dich.” So sprach er hastig und f¸gte hinzu, was seine Beredsamkeit noch alles f¸r gewaltige Gr¸nde vorzubringen wuflte.

Hier nun bin ich geneigt zu enden, zun‰chst aber sollst du umst‰ndlich erfahren, wie ich die Erlaubnis, an bestimmten Orten mich l‰nger aufhalten zu d¸rfen, benutzt habe, wie ich in das Gesch‰ft, wozu ich immer eine stille Neigung empfunden, mich gar bald zu f¸gen, mich darin auszubilden wuflte. Genug! bei dem groflen Unternehmen, dem ihr entgegengeht, werd’ ich als ein n¸tzliches, als ein nˆtiges Glied der Gesellschaft erscheinen und euren Wegen, mit einer gewissen Sicherheit, mich anschlieflen; mit einigem Stolze, denn es ist ein lˆblicher Stolz, euer wert zu sein.

II. Buch, Betrachtungen im Sinne der Wanderer–1

Betrachtungen im Sinne der Wanderer

Kunst, Ethisches, Natur

Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man mufl nur versuchen, es noch einmal zu denken.

Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weiflt gleich, was an dir ist.

Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.

Die vern¸nftige Weit ist als ein grofles unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar ¸ber das Zuf‰llige zum Herrn macht.

Mir wird, je l‰nger ich lebe, immer verdriefllicher, wenn ich den Menschen sehe, der eigentlich auf seiner hˆchsten Stelle da ist, um der Natur zu gebieten, um sich und die Seinigen von der gewaltt‰tigen Notwendigkeit zu befreien; wenn ich sehe, wie er aus irgendeinem vorgefaflten falschen Begriff gerade das Gegenteil tut von dem, was er will, und sich alsdann, weil die Anlage im Ganzen verdorben ist, im Einzelnen k¸mmerlich herumpfuschet.

T¸chtiger, t‰tiger Mann, verdiene dir und erwarte:

von den Groflen–Gnade,
von den M‰chtigen–Gunst,
von T‰tigen und Guten–Fˆrderung, von der Menge–Neigung,
von dem Einzelnen–Liebe.

Die Dilettanten, wenn sie das Mˆglichste getan haben, pflegen zu ihrer Entschuldigung zu sagen, die Arbeit sei noch nicht fertig. Freilich kann sie nie fertig werden, weil sie nie recht angefangen ward. Der Meister stellt sein Werk mit wenigen Strichen als fertig dar, ausgef¸hrt oder nicht, schon ist es vollendet. Der geschickteste Dilettant tastet im Ungewissen, und wie die Ausf¸hrung w‰chst, kommt die Unsicherheit der ersten Anlage immer mehr zum Vorschein. Ganz zuletzt entdeckt sich erst das Verfehlte, das nicht auszugleichen ist, und so kann das Werk freilich nicht fertig werden.

In der wahren Kunst gibt es keine Vorschule, wohl aber Vorbereitungen; die beste jedoch ist die Teilnahme des geringsten Sch¸lers am Gesch‰ft des Meisters. Aus Farbenreibern sind treffliche Maler hervorgegangen.

Ein anderes ist die Nach‰ffung, zu welcher die nat¸rliche allgemeine T‰tigkeit des Menschen durch einen bedeutenden K¸nstler, der das Schwere mit Leichtigkeit vollbringt, zuf‰llig angeregt wird.

Von der Notwendigkeit: dafl der bildende K¸nstler Studien nach der Natur mache, und von dem Werte derselben ¸berhaupt sind wir genugsam ¸berzeugt; allein wir leugnen nicht, dafl es uns ˆfters betr¸bt, wenn wir den Miflbrauch eines so lˆblichen Strebens gewahr werden.

Nach unserer ¸berzeugung sollte der junge K¸nstler wenig oder gar keine Studien nach der Natur beginnen, wobei er nicht zugleich d‰chte, wie er jedes Blatt zu einem Ganzen abrunden, wie er diese Einzelnheit, in ein angenehmes Bild verwandelt, in einen Rahmen eingeschlossen, dem Liebhaber und Kenner gef‰llig anbieten mˆge.

Es steht manches Schˆne isoliert in der Welt, doch der Geist ist es, der Verkn¸pfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen hat.–Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anh‰ngt, durch den Tautropfen, der sie befeuchtet, durch das Gef‰fl, woraus sie allenfalls ihre letzte Nahrung zieht. Kein Busch, kein Baum, dem man nicht durch die Nachbarschaft eines Felsens, einer Quelle Bedeutung geben, durch eine m‰flige einfache Ferne grˆflern Reiz verleihen kˆnnte. So ist es mit menschlichen Figuren und so mit Tieren aller Art beschaffen.

Der Vorteil, den sich der junge K¸nstler hiedurch verschafft, ist gar mannigfaltig. Er lernt denken, das Passende gehˆrig zusammenbinden, und wenn er auf diese Weise geistreich komponiert, wird es ihm zuletzt auch an dem, was man Erfindung nennt, an dem Entwickeln des Mannigfaltigen aus dem Einzelnen, keineswegs fehlen kˆnnen.

Tut er nun hierin der eigentlichen Kunstp‰dagogik wahrhaft Gen¸ge, so hat er noch nebenher den groflen nicht zu verachtenden Gewinn, dafl er lernt, verk‰ufliche dem Liebhaber anmutige und liebliche Bl‰tter hervorzubringen.

Eine solche Arbeit braucht nicht im hˆchsten Grade ausgef¸hrt und vollendet zu sein; wenn sie gut gesehen, gedacht und fertig ist, so ist sie f¸r den Liebhaber oft reizender als ein grˆfleres ausgef¸hrtes Werk.

Beschaue doch jeder junge K¸nstler seine Studien im B¸chelchen und im Portefeuille und ¸berlege, wie viele Bl‰tter er davon auf jene Weise genieflbar und w¸nschenswert h‰tte machen kˆnnen.

Es ist nicht die Rede vom Hˆheren, wovon man wohl auch sprechen kˆnnte, sondern es soll nur als Warnung gesagt sein, die von einem Abwege zur¸ckruft und aufs Hˆhere hindeutet.

Versuche es doch der K¸nstler nur ein halb Jahr praktisch und setze weder Kohle noch Pinsel an ohne Intention, einen vorliegenden Naturgegenstand als Bild abzuschlieflen. Hat er angebornes Talent, so wird sich’s bald offenbaren, welche Absicht wir bei diesen Andeutungen im Sinne hegten.

Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist; weifl ich, womit du dich besch‰ftigst, so weifl ich, was aus dir werden kann.

Jeder Mensch mufl nach seiner Weise denken, denn er findet auf seinem Wege immer ein Wahres, oder eine Art von Wahrem die ihm durchs Leben hilft; nur darf er sich nicht gehen lassen; er mufl sich kontrollieren; der blofle nackte Instinkt geziemt nicht dem Menschen.

Unbedingte T‰tigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott.

In den Werken des Menschen wie in denen der Natur sind eigentlich die Absichten vorz¸glich der Aufmerksamkeit wert.

Die Menschen werden an sich und andern irre, weil sie die Mittel als Zweck behandeln, da denn vor lauter T‰tigkeit gar nichts geschieht oder vielleicht gar das Widerw‰rtige.

Was wir ausdenken, was wir vornehmen, sollte schon vollkommen so rein und schˆn sein, dafl die Welt nur daran zu verderben h‰tte; wir blieben dadurch in dem Vorteil, das Verschobene zurechtzur¸cken, das Zerstˆrte wiederherzustellen.

Ganze, Halb–und Viertelsirrt¸mer sind gar schwer und m¸hsam zurechtzulegen, zu sichten und das Wahre daran dahin zu stellen, wohin es gehˆrt.

Es ist nicht immer nˆtig, dafl das Wahre sich verkˆrpere; schon genug, wenn es geistig umherschwebt und ¸bereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glockenton ernstfreundlich durch die L¸fte wogt.

Wenn ich j¸ngere deutsche Maler, sogar solche, die sich eine Zeitlang in Italien aufgehalten, befrage: warum sie doch, besonders in ihren Landschaften, so widerw‰rtige grelle Tˆne dem Auge darstellen und vor aller Harmonie zu fliehen scheinen? so geben sie wohl ganz dreist und getrost zur Antwort: sie s‰hen die Natur genau auf solche Weise.

Kant hat uns aufmerksam gemacht, dafl es eine Kritik der Vernunft gebe, dafl dieses hˆchste Vermˆgen, was der Mensch besitzt, Ursache habe, ¸ber sich selbst zu wachen. Wie groflen Vorteil uns diese Stimme gebracht, mˆge jeder an sich selbst gepr¸ft haben. Ich aber mˆchte in eben dem Sinne die Aufgabe stellen, dafl eine Kritik der Sinne nˆtig sei, wenn die Kunst ¸berhaupt, besonders die deutsche, irgend wieder sich erholen und in einem erfreulichen Lebensschritt vorw‰rts gehen solle.

Der zur Vernunft geborene Mensch bedarf noch grofler Bildung, sie mag sich ihm nun durch Sorgfalt der Eltern und Erzieher, durch friedliches Beispiel oder durch strenge Erfahrung nach und nach offenbaren. Ebenso wird zwar der angehende K¸nstler, aber nicht der vollendete geboren; sein Auge komme frisch auf die Welt, er habe gl¸cklichen Blick f¸r Gestalt, Proportion, Bewegung; aber f¸r hˆhere Komposition, f¸r Haltung, Licht, Schatten, Farben kann ihm die nat¸rliche Anlage fehlen, ohne dafl er es gewahr wird.

Ist er nun nicht geneigt, von hˆher ausgebildeten K¸nstlern der Vor–und Mitzeit das zu lernen, was ihm fehlt um eigentlicher K¸nstler zu sein, so wird er im falschen Begriff von bewahrter Originalit‰t hinter sich selbst zur¸ckblicken; denn nicht allein das, was mit uns geboren ist, sondern auch das, was wir erwerben kˆnnen, gehˆrt uns an, und wir sind es.

Allgemeine Begriffe und grofler D¸nkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Ungl¸ck anzurichten.

“Blasen ist nicht flˆten, ihr m¸flt die Finger bewegen.”

Die Botaniker haben eine Pflanzenabteilung, die sie Incompletae nennen; man kann eben auch sagen, dafl es inkomplette, unvollst‰ndige Menschen gibt. Es sind diejenigen, deren Sehnsucht und Streben mit ihrem Tun und Leisten nicht proportioniert ist.

Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner F‰higkeiten und Fertigkeiten bewegt; aber selbst schˆne Vorz¸ge werden verdunkelt, aufgehoben und vernichtet, wenn jenes unerl‰fllich geforderte Ebenmafl abgeht. Dieses Unheil wird sich in der neuern Zeit noch ˆfter hervortun; denn wer wird wohl den Forderungen einer durchaus gesteigerten Gegenwart, und zwar in schnellster Bewegung genugtun kˆnnen?

Nur klugt‰tige Menschen, die ihre Kr‰fte kennen und sie mit Mafl und Gescheidigkeit benutzen, werden es im Weltwesen weit bringen,

Ein grofler Fehler: dafl man sich mehr d¸nkt, als man ist, und sich weniger sch‰tzt, als man wert ist.

Es begegnet mir von Zeit zu Zeit ein J¸ngling, an dem ich nichts ver‰ndert noch gebessert w¸nschte; nur macht mir bange, dafl ich manchen vollkommen geeignet sehe, im Zeitstrom mit fortzuschwimmen, und hier ist’s, wo ich immerfort aufmerksam machen mˆchte: dafl dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willk¸r der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leiste.

Wie soll nun aber ein junger Mann f¸r sich selbst dahin gelangen, dasjenige f¸r tadelnswert und sch‰dlich anzusehen, was jedermann treibt, billigt und fˆrdert? Warum soll er sich nicht und sein Naturell auch dahin gehen lassen?

F¸r das grˆflte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden l‰flt, mufl ich halten, dafl man im n‰chsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Bl‰tter f¸r s‰mtliche Tageszeiten! ein guter Kopf kˆnnte wohl noch eins und das andere interkalieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins ˆffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der ¸brigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.

So wenig nun die Dampfmaschinen zu d‰mpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen mˆglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenw‰rtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der Natur mit m‰fligem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverh‰ltnism‰flige Forderungen an die Welt zu machen noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen.

Aber in einem jeden Kreise bedroht ihn der Tagesgeist; und nichts ist nˆtiger, als fr¸h genug ihm die Richtung bemerklich zu machen, wohin sein Wille zu steuern hat.

Die Bedeutsamkeit der unschuldigsten Reden und Handlungen w‰chst mit den Jahren; und wen ich l‰nger um mich sehe, den suche ich immerfort aufmerksam zu machen, welch ein Unterschied stattfinde zwischen Aufrichtigkeit, Vertrauen und Indiskretion, ja dafl eigentlich kein Unterschied sei, vielmehr nur ein leiser ¸bergang vom Unverf‰nglichsten zum Sch‰dlichsten, welcher bemerkt oder vielmehr empfunden werden m¸sse.

Hierauf haben wir unsern Takt zu ¸ben, sonst laufen wir Gefahr, auf dem Wege, worauf wir uns die Gunst der Menschen erwarben, sie ganz unversehens wieder zu verscherzen. Das begreift man wohl im Laufe des Lebens von selbst, aber erst nach bezahltem teurem Lehrgelde, das man leider seinen Nachkommenden nicht ersparen kann.

Das Verh‰ltnis der K¸nste und Wissenschaften zum Leben ist nach Verh‰ltnis der Stufen, worauf sie stehen, nach Beschaffenheit der Zeiten und tausend andern Zuf‰lligkeiten sehr verschieden; deswegen auch niemand dar¸ber im ganzen leicht klug werden kann.

Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zust‰nde, sie seien nun ganz roh, halbkultiviert, oder bei Ab‰nderung einer Kultur, beim Gewahrwerden einer fremden Kultur, dafl man also sagen kann, die Wirkung der Neuheit findet durchaus statt.

Musik im besten Sinne bedarf weniger der Neuheit, ja vielmehr je ‰lter sie ist, je gewohnter man sie ist, desto mehr wirkt sie.

Die W¸rde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden m¸flte. Sie ist ganz Form und Gehalt und erhˆht und veredelt alles, was sie ausdr¸ckt.

Die Musik ist heilig oder profan. Das Heilige ist ihrer W¸rde ganz gem‰fl, und hier hat sie die grˆflte Wirkung aufs Leben, welche sich durch alle Zeiten und Epochen gleich bleibt. Die profane sollte durchaus heiter sein.

Eine Musik, die den heiligen und profanen Charakter vermischt, ist gottlos, und eine halbsch¸rige, welche schwache, jammervolle, erb‰rmliche Empfindungen auszudr¸cken Belieben findet, ist abgeschmackt. Denn sie ist nicht ernst genug, um heilig zu sein, und es fehlt ihr der Hauptcharakter des Entgegengesetzten: die Heiterkeit.

Die Heiligkeit der Kirchenmusiken, das Heitere und Neckische der Volksmelodien sind die beiden Angeln, um die sich die wahre Musik herumdreht. Auf diesen beiden Punkten beweist sie jederzeit eine unausbleibliche Wirkung: Andacht oder Tanz. Die Vermischung macht irre, die Verschw‰chung wird fade, und will die Musik sich an Lehrgedichte oder beschreibende und dergleichen wenden, so wird sie kalt.

Plastik wirkt eigentlich nur auf ihrer hˆchsten Stufe; alles Mittlere kann wohl aus mehr denn einer Ursache imponieren, aber alle mittleren Kunstwerke dieser Art machen mehr irre, als dafl sie erfreuen. Die Bildhauerkunst mufl sich daher noch ein stoffartiges Interesse suchen, und das findet sie in den Bildnissen bedeutender Menschen. Aber auch hier mufl sie schon einen hohen Grad erreichen, wenn sie zugleich wahr und w¸rdig sein will.

Die Malerei ist die l‰fllichste und bequemste von allen K¸nsten. Die l‰fllichste, weil man ihr um des Stoffes und des Gegenstandes willen, auch da, wo sie nur Handwerk oder kaum eine Kunst ist, vieles zugute h‰lt und sich an ihr erfreut; teils weil eine technische obgleich geistlose Ausf¸hrung den Ungebildeten wie den Gebildeten in Verwunderung setzt, so dafl sie sich also nur einigermaflen zur Kunst zu steigern braucht, um in einem hˆheren Grade willkommen zu sein. Wahrheit in Farben, Oberfl‰chen, in Beziehungen der sichtbaren Gegenst‰nde aufeinander ist schon angenehm; und da das Auge ohnehin gewohnt ist, alles zu sehen, so ist ihm eine Miflgestalt und also auch ein Miflbild nicht so zuwider als dem Ohr ein Miflton. Man l‰flt die schlechteste Abbildung gelten, weil man noch schlechtere Gegenst‰nde zu sehen gewohnt ist. Der Maler darf also nur einigermaflen K¸nstler sein, so findet er schon ein grˆfleres Publikum als der Musiker, der auf gleichem Grade st¸nde; wenigstens kann der geringere Maler immer f¸r sich operieren, anstatt dafl der mindere Musiker sich mit anderen soziieren mufl, um durch gesellige Leistung einigen Effekt zu tun.

Die Frage: ob man bei Betrachtung von Kunstleistungen vergleichen solle oder nicht, mˆchten wir folgendermaflen beantworten: Der ausgebildete Kenner soll vergleichen; denn ihm schwebt die Idee vor, er hat den Begriff gefaflt, was geleistet werden kˆnne und solle; der Liebhaber, auf dem Wege zur Bildung begriffen, fˆrdert sich am besten, wenn er nicht vergleicht, sondern jedes Verdienst einzeln betrachtet; dadurch bildet sich Gef¸hl und Sinn f¸r das Allgemeinere nach und nach aus. Das Vergleichen der Unkenner ist eigentlich nur eine Bequemlichkeit, die sich gern des Urteils ¸berheben mˆchte.

II. Buch, Betrachtungen im Sinne der Wanderer–2

Wahrheitsliebe zeigt sich darin, dafl man ¸berall das Gute zu finden und zu sch‰tzen weifl.

Ein historisches Menschengef¸hl heiflt ein dergestalt gebildetes, dafl es bei Sch‰tzung gleichzeitiger Verdienste und Verdienstlichkeiten auch die Vergangenheit mit in Anschlag bringt.

Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.

Eigent¸mlichkeit ruft Eigent¸mlichkeit hervor.

Man mufl bedenken, dafl unter den Menschen gar viele sind, die doch auch etwas Bedeutendes sagen wollen, ohne produktiv zu sein, und da kommen die wunderlichsten Dinge an den Tag.

Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publikum einen bˆsen Stand.

Wenn ich die Meinung eines andern anhˆren soll, so mufl sie positiv ausgesprochen werden; Problematisches hab’ ich in mir selbst genug.

Der Aberglaube gehˆrt zum Wesen des Menschen und fl¸chtet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdr‰ngen denkt, in die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaflen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt.

Wir w¸rden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht zu genau erkennen wollten. Wird uns doch ein Gegenstand unter einem Winkel von f¸nfundvierzig Graden erst fafllich.

Mikroskope und Fernrˆhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.

Ich schweige zu vielem still, denn ich mag die Menschen nicht irremachen und bin wohl zufrieden, wenn sie sich freuen da wo ich mich ‰rgere.

Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft ¸ber uns selbst zu geben, ist verderblich.

Das _Was_ des Kunstwerks interessiert die Menschen mehr als das _Wie_; jenes kˆnnen sie einzeln ergreifen, dieses im ganzen nicht fassen. Daher kommt das Herausheben von Stellen, wobei zuletzt, wenn man wohl aufmerkt, die Wirkung der Totalit‰t auch nicht ausbleibt, aber jedem unbewuflt.

Die Frage: _woher hat’s der Dichter?_ geht auch nur aufs _Was_, vom _Wie_ erf‰hrt dabei niemand etwas.

Einbildungskraft wird nur durch Kunst, besonders durch Poesie geregelt. Es ist nichts f¸rchterlicher als Einbildungskraft ohne Geschmack.

Das Manierierte ist ein verfehltes Ideelle, ein subjektiviertes Ideelle; daher fehlt ihm das Geistreiche nicht leicht.

Der Philolog ist angewiesen auf die Kongruenz des Geschrieben-¸berlieferten. Ein Manuskript liegt zum Grunde, es finden sich in demselben wirkliche L¸cken, Schreibfehler, die eine L¸cke im Sinne machen, und was sonst alles an einem Manuskript zu tadeln sein mag. Nun findet sich eine zweite Abschrift, eine dritte; die Vergleichung derselben bewirkt immer mehr, das Verst‰ndige und Vern¸nftige der ¸berlieferung gewahr zu werden. Ja er geht weiter und verlangt von seinem innern Sinn, dafl derselbe ohne ‰uflere H¸lfsmittel die Kongruenz des Abgehandelten immer mehr zu begreifen und darzustellen wisse. Weil nun hiezu ein besondrer Takt, eine besondre Vertiefung in seinen abgeschiedenen Autor nˆtig und ein gewisser Grad von Erfindungskraft gefordert wird, so kann man dem Philologen nicht verdenken, wenn er sich auch ein Urteil bei Geschmackssachen zutraut, welches ihm jedoch nicht immer gelingen wird.

Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Hˆchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, dafl sie als gegenw‰rtig f¸r jedermann gelten kˆnnen. Auf ihrem hˆchsten Gipfel scheint die Poesie ganz ‰uflerlich; je mehr sie sich ins Innere zur¸ckzieht, ist sie auf dem Wege zu sinken. Diejenige, die nur das Innere darstellt, ohne es durch ein ‰ufleres zu verkˆrpern, oder ohne das ‰uflere durch das Innere durchf¸hlen zu lassen, sind beides die letzten Stufen, von welchen aus sie ins gemeine Leben hineintritt.

Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vorteile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bem‰chtigt sich derselben und miflbraucht sie, um gewisse ‰uflere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vorteile im b¸rgerlichen Leben zu erreichen.

Literatur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das wenigste ¸briggeblieben.

In nat¸rlicher Wahrheit und Groflheit, obgleich wild und unbehaglich ausgebildetes Talent ist Lord Byron, und deswegen kaum ein anderes ihm vergleichbar.

Eigentlichster Wert der sogenannten Volkslieder ist der, dafl ihre Motive unmittelbar von der Natur genommen sind. Dieses Vorteils aber kˆnnte der gebildete Dichter sich auch bedienen, wenn er es verst¸nde.

Hiebei aber haben jene immer das voraus, dafl nat¸rliche Menschen sich besser auf den Lakonismus verstehen als eigentlich Gebildete.

Shakespear ist f¸r aufkeimende Talente gef‰hrlich zu lesen; er nˆtigt sie, ihn zu reproduzieren, und sie bilden sich ein, sich selbst zu produzieren.

¸ber Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es ganzen Nationen. Die Deutschen kˆnnen erst ¸ber Literatur urteilen, seitdem sie selbst eine Literatur haben.

Man ist nur eigentlich lebendig, wenn man sich des Wohlwollens andrer freut.

Frˆmmigkeit ist kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste Gem¸tsruhe zur hˆchsten Kultur zu gelangen.

Deswegen l‰flt sich bemerken, dafl diejenigen, welche Frˆmmigkeit als Zweck und Ziel aufstecken, meistens Heuchler werden.

“Wenn man alt ist, mufl man mehr tun, als da man jung war.”

Erf¸llte Pflicht empfindet sich immer noch als Schuld, weil man sich nie ganz genug getan.

Die M‰ngel erkennt nur der Lieblose; deshalb, um sie einzusehen, mufl man auch lieblos werden, aber nicht mehr, als hiezu nˆtig ist.

Das hˆchste Gl¸ck ist das, welches unsere M‰ngel verbessert und unsere Fehler ausgleicht.

Kannst du lesen, so sollst du verstehen; kannst du schreiben, so muflt du etwas wissen; kannst du glauben, so sollst du begreifen; wenn du begehrst, wirst du sollen; wenn du forderst, wirst du nicht erlangen; und wenn du erfahren bist, sollst du nutzen.

Man erkennt niemand an als den, der uns nutzt. Wir erkennen den F¸rsten an, weil wir unter seiner Firma den Besitz gesichert sehen. Wir gew‰rtigen uns von ihm Schutz gegen ‰uflere und innere widerw‰rtige Verh‰ltnisse.

Der Bach ist dem M¸ller befreundet, dem er nutzt, und er st¸rzt gern ¸ber die R‰der; was hilft es ihm, gleichg¸ltig durchs Tal hinzuschleichen.

Wer sich mit reiner Erfahrung begn¸gt und darnach handelt, der hat Wahres genug. Das heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.

Die Theorie an und f¸r sich ist nichts n¸tze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.

Alles Abstrakte wird durch Anwendung dem Menschenverstand gen‰hert, und so gelangt der Menschenverstand durch Handeln und Beobachten zur Abstraktion.

Wer zuviel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den Verwirrungen ausgesetzt.

Nach Analogien denken ist nicht zu schelten; die Analogie hat den Vorteil, dafl sie nicht abschlieflt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge tr‰gt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreiflt.

Gewˆhnliches Anschauen, richtige Ansicht der irdischen Dinge ist ein Erbteil des allgemeinen Menschenverstandes.–Reines Anschauen des ‰uflern und Innern ist sehr selten.

Es ‰uflert sich jenes im praktischen Sinn, im unmittelbaren Handeln; dieses symbolisch, vorz¸glich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln, durch Rede, uranf‰nglich, tropisch, als Poesie des Genies, als Sprichwˆrtlichkeit des Menschenverstandes.

Das Abwesende wirkt auf uns durch ¸berlieferung. Die gewˆhnliche ist historisch zu nennen; eine hˆhere, der Einbildungskraft verwandte ist mythisch. Sucht man hinter dieser noch etwas Drittes, irgendeine Bedeutung, so verwandelt sie sich in Mystik. Auch wird sie leicht sentimental, so dafl wir uns nur, was gem¸tlich ist, aneignen.

Die Wirksamkeiten, auf die wir achten m¸ssen, wenn wir wahrhaft gefˆrdert sein wollen, sind:

vorbereitende,

begleitende,

mitwirkende,

nachhelfende,

fˆrdernde,

verst‰rkende,

hindernde,

nachwirkende.

Im Betrachten wie im Handeln ist das Zug‰ngliche von dem Unzug‰nglichen zu unterscheiden; ohne dies l‰flt sich im Leben wie im Wissen wenig leisten

“Le sens commun est le GÈnie de l’humanitÈ.”

Der Gemeinverstand, der als Genie der Menschheit gelten soll, mufl vorerst in seinen ‰uflerungen betrachtet werden. Forschen wir, wozu ihn die Menschheit benutzt, so finden wir folgendes: Die Menschheit ist bedingt durch Bed¸rfnisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig; sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichg¸ltig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zust‰nden; und seinen Verstand, den sogenannten Menschenverstand, wird er anwenden, seine Bed¸rfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so hat er die Aufgabe, die R‰ume der Gleichg¸ltigkeit auszuf¸llen. Beschr‰nkt sich dieses in die n‰chsten und notwendigsten Grenzen, so gelingt es ihm auch. Erheben sich aber die Bed¸rfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen heraus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr, die Region des Irrtums ist der Menschheit aufgetan.

Es geschieht nichts Unvern¸nftiges, das nicht Verstand oder Zufall wieder in die Richte br‰chten; nichts Vern¸nftiges, das Unverstand und Zufall nicht miflleiten kˆnnten.

Jede grofle Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vorteile, die sie hervorbringt, sich nur allzubald in Nachteile verwandeln. Man kann deshalb eine jede Institution verteidigen und r¸hmen, wenn man an ihre Anf‰nge erinnert und darzutun weifl, dafl alles, was von ihr im Anfange gegolten, auch jetzt noch gelte.

Lessing, der mancherlei Beschr‰nkung unwillig f¸hlte, l‰flt eine seiner Personen sagen: Niemand mufl m¸ssen. Ein geistreicher frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der mufl. Ein dritter, freilich ein Gebildeter, f¸gte hinzu: Wer einsieht, der will auch. Und so glaubte man den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und M¸ssens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Tun und Lassen; deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen.

Es gibt zwei friedliche Gewalten: das Recht und die Schicklichkeit.

Das Recht dringt auf Schuldigkeit, die Polizei aufs Geziemende. Das Recht ist abw‰gend und entscheidend, die Polizei ¸berschauend und gebietend. Das Recht bezieht sich auf den Einzelnen, die Polizei auf die Gesamtheit.

Die Geschichte der Wissenschaften ist eine grofle Fuge, in der die Stimmen der Vˆlker nach und nach zum Vorschein kommen.

Man kann in den Naturwissenschaften ¸ber manche Probleme nicht gehˆrig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu H¸lfe ruft; aber nicht jene Schul–und Wortweisheit; es ist dasjenige, was vor, mit und nach der Physik war, ist und sein wird.

Autorit‰t, dafl n‰mlich etwas schon einmal geschehen, gesagt oder entschieden worden sei, hat groflen Wert; aber nur der Pedant fordert ¸berall Autorit‰t.

Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben, irgendwo wieder einmal von vorn zu gr¸nden.

Beharre, wo du stehst!–Maxime, notwendiger als je, indem einerseits die Menschen in grofle Parteien gerissen werden; sodann aber auch jeder Einzelne nach individueller Einsicht und Vermˆgen sich geltend machen will.

Man tut immer besser, dafl man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen: denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten hˆren weder auf das eine noch auf das andere.

Da ich mit der Naturwissenschaft, wie sie sich von Tag zu Tage vorw‰rts bewegt, immer mehr bekannt und verwandt werde, so dringt sich mir gar manche Betrachtung auf: ¸ber die Vor–und R¸ckschritte, die zu gleicher Zeit geschehen. Eines nur sei hier ausgesprochen: _dafl wir sogar anerkannte Irrt¸mer aus der Wissenschaft nicht loswerden_. Die Ursache hievon ist ein offenbares Geheimnis.

Einen Irrtum nenn’ ich, wenn irgendein Ereignis falsch ausgelegt, falsch angekn¸pft, falsch abgeleitet wird. Nun ereignet sich aber im Gange des Erfahrens und Denkens, dafl eine Erscheinung folgerecht angekn¸pft, richtig abgeleitet wird. Das l‰flt man sich wohl gefallen, legt aber keinen besondern Wert darauf und l‰flt den Irrtum ganz ruhig daneben liegen; und ich kenne ein kleines Magazin von Irrt¸mern, die man sorgf‰ltig aufbewahrt.

Da nun den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung, so sieht jedermann, der eine Meinung vortr‰gt, sich rechts und links nach H¸lfsmitteln um, damit er sich und andere best‰rken mˆge. Des Wahren bedient man sich solange es brauchbar ist; aber leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es f¸r den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als mit einem L¸ckenb¸fler das Zerst¸ckelte scheinbar vereinigen kann. Dieses zu erfahren, war mir erst ein ‰rgernis, dann betr¸bte ich mich dar¸ber, und nun macht es mir Schadenfreude. Ich habe mir das Wort gegeben, ein solches Verfahren niemals wieder aufzudecken.

Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verkn¸pft. Folgt man der Analogie zu sehr, so f‰llt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In beiden F‰llen stagniert die Betrachtung, einmal als ¸berlebendig, das andere Mal als getˆtet.

Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene bek¸mmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher?–Sie erfreut sich am Entwickeln; er w¸nscht alles festzuhalten, damit er es nutzen kˆnne.