einer wahren Befriedigung gleichsah.
Den heutigen Tag war jedoch diese Erleuchtung recht am Platze; denn wir sehen in einem der Zimmer eine Art von Christbescherung aufgestellt, in die Augen fallend und glâ°nzend. Das kluge Kammermâ°dchen hatte den Kammerdiener dahin vermocht, die Erleuchtung zu steigern, und dabei alles zusammengelegt und ausgebreitet, was zur Ausstattung Hilariens bisher vorgearbeitet worden, eigentlich in der listigen Absicht, mehr das Fehlende zur Sprache zu bringen als dasjenige zu erheben, was schon geleistet war. Alles Notwendige fand sich, und zwar aus den feinsten Stoffen und von der zierlichsten Arbeit; auch an Willk¸rlichem war kein Mangel, und doch wuï¬te Ananette ¸berall da noch eine L¸cke anschaulich zu machen, wo man ebensogut den schËnsten Zusammenhang hâ°tte finden kËnnen. Wenn nun alles Weiï¬zeug, stattlich ausgekramt, die Augen blendete, Leinwand, Mousselin und alle die zarteren Stoffe der Art, wie sie auch Namen haben mËgen, genugsames Licht umherwarfen, so fehlte doch alles bunte Seidene, mit dessen Ankauf man weislich zËgerte, weil man bei sehr verâ°nderlicher Mode das Allerneueste als Gipfel und Abschluï¬ hinzuf¸gen wollte.
Nach diesem heitersten Anschauen schritten sie wieder zu ihrer gewËhnlichen, obgleich mannigfaltigen Abendunterhaltung. Die Baronin, die recht gut erkannte, was ein junges Frauenzimmer, wohin das Schicksal sie auch f¸hren mochte, bei einem gl¸cklichen â°uï¬ern auch von innen heraus anmutig und ihre Gegenwart w¸nschenswert macht, hatte in diesem lâ°ndlichen Zustande so viele abwechselnde und bildende Unterhaltungen einzuleiten gewuï¬t, daï¬ Hilarie bei ihrer groï¬en Jugend schon ¸berall zu Hause schien, bei keinem Gesprâ°ch sich fremd erwies und doch dabei ihren Jahren vËllig gemâ°ï¬ sich erzeigte. Wie dies geleistet werden konnte, zu entwickeln, w¸rde zu weitlâ°ufig sein; genug, dieser Abend war auch ein Musterbild des bisherigen Lebens. Ein geistreiches Lesen, ein anmutiges Pianospiel, ein lieblicher Gesang zog sich durch die Stunden durch, zwar wie sonst gefâ°llig und regelmâ°ï¬ig, aber doch mit mehr Bedeutung; man hatte einen Dritten im Sinne, einen geliebten, verehrten Mann, dem man dieses und so manches andere zum freundlichsten Empfang vor¸bte. Es war ein brâ°utliches Gef¸hl, das nicht nur Hilarien mit den s¸ï¬esten Empfindungen belebte; die Mutter mit feinem Sinne nahm ihren reinen Teil daran, und selbst Ananette, sonst nur klug und tâ°tig, muï¬te sich gewissen entfernten Hoffnungen hingeben, die ihr einen abwesenden Freund als zur¸ckkehrend, als gegenwâ°rtig vorspiegelten. Auf diese Weise hatten sich die Empfindungen aller drei in ihrer Art liebensw¸rdigen Frauen mit der sie umgebenden Klarheit, mit einer wohltâ°tigen Wâ°rme, mit dem behaglichsten Zustande ins gleiche gestellt.
F¸nftes Kapitel
Heftiges Pochen und Rufen an dem â°uï¬ersten Tor, Wortwechsel drohender und fordernder Stimmen, Licht–und Fackelschein im Hofe unterbrachen den zarten Gesang. Aber gedâ°mpft war der Lâ°rm, ehe man dessen Ursache erfahren hatte; doch ruhig ward es nicht, auf der Treppe Gerâ°usch und lebhaftes Hin–und Hersprechen heraufkommender Mâ°nner. Die T¸re sprang auf ohne Meldung, die Frauen entsetzten sich. Flavio st¸rzte herein in schauderhafter Gestalt, verworrenen Hauptes, auf dem die Haare teils borstig starrten, teils vom Regen durchnâ°ï¬t niederhingen; zerfetzten Kleides, wie eines, der durch Dorn und Dickicht durchgest¸rmt, greulich beschmutzt, als durch Schlamm und Sumpf herangewadet.
“Mein Vater!” rief er aus, “wo ist mein Vater?” Die Frauen standen best¸rzt; der alte Jâ°ger, sein fr¸hster Diener und liebevollster Pfleger, mit ihm eintretend, rief ihm zu: “Der Vater ist nicht hier, besâ°nftigen Sie sich; hier ist Tante, hier ist Nichte, sehen Sie hin! “–“Nicht hier, nun so laï¬t mich weg, ihn zu suchen; er allein soll’s hËren, dann will ich sterben. Laï¬t mich von den Lichtern weg, von dem Tag, er blendet mich, er vernichtet mich.”
Der Hausarzt trat ein, ergriff seine Hand, vorsichtig den Puls f¸hlend, mehrere Bediente standen â°ngstlich umher.–“Was soll ich auf diesen Teppichen, ich verderbe sie, ich zerstËre sie; mein Ungl¸ck trâ°uft auf sie herunter, mein verworfenes Geschick besudelt sie.”–Er drâ°ngte sich gegen die T¸re, man benutzte das Bestreben, um ihn wegzuf¸hren und in das entfernte Gastzimmer zu bringen, das der Vater zu bewohnen pflegte. Mutter und Tochter standen erstarrt, sie hatten Orest gesehen, von Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwâ°rtiger Wirklichkeit, die im Kontrast mit einer behaglichen Glanzwohnung im klarsten Kerzenschimmer nur desto f¸rchterlicher schien. Erstarrt sahen die Frauen sich an, und jede glaubte in den Augen der andern das Schreckbild zu sehen, das sich so tief in die ihrigen eingeprâ°gt hatte.
Mit halber Besonnenheit sendete darauf die Baronin Bedienten auf Bedienten, sich zu erkundigen. Sie erfuhren zu einiger Beruhigung, daï¬ man ihn auskleide, trockne, besorge; halb gegenwâ°rtig, halb unbewuï¬t lasse er alles geschehen. Wiederholtes Anfragen wurde zur Geduld verwiesen.
Endlich vernahmen die beâ°ngstigten Frauen, man habe ihn zur Ader gelassen und sonst alles Besâ°nftigende mËglichst angewendet; er sei zur Ruhe gebracht, man hoffe Schlaf.
Mitternacht kam heran, die Baronin verlangte, wenn er schlafe, ihn zu sehen; der Arzt widerstand, der Arzt gab nach; Hilarie drâ°ngte sich mit der Mutter herein. Das Zimmer war dunkel, nur eine Kerze dâ°mmerte hinter dem gr¸nen Schirm, man sah wenig, man hËrte nichts; die Mutter nâ°herte sich dem Bette, Hilarie, sehnsuchtsvoll, ergriff das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet, aber ein hËchst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt blâ°ï¬lich, schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das anmutigste hervor, eine ruhende Hand und ihre lâ°ndlichen zartkrâ°ftigen Finger zogen den unsteten Blick an. Hilarie, leise atmend, glaubte selbst einen leisen Atem zu vernehmen, sie nâ°herte die Kerze, wie Psyche in Gefahr, die heilsamste Ruhe zu stËren. Der Arzt nahm die Kerze weg und leuchtete den Frauen nach ihren Zimmern.
Wie diese guten, alles Anteils w¸rdigen Personen ihre nâ°chtlichen Stunden zugebracht, ist uns ein Geheimnis geblieben; den andern Morgen aber von fr¸h an zeigten sich beide hËchst ungeduldig. Des Anfragens war kein Ende, der Wunsch, den Leidenden zu sehen, bescheiden, doch dringend; nur gegen Mittag erlaubte der Arzt einen kurzen Besuch.
Die Baronin trat hinzu, Flavio reichte die Hand hin–“Verzeihung, liebste Tante, einige Geduld, vielleicht nicht lange”–Hilarie trat hervor, auch ihr gab er die Rechte– “Gegr¸ï¬t liebe Schwester”–das fuhr ihr durchs Herz, er lieï¬ nicht los, sie sahen einander an, das herrlichste Paar, kontrastierend im schËnsten Sinne. Des J¸nglings schwarze, funkelnde Augen stimmten zu den d¸stern, verwirrten Locken; dagegen stand sie scheinbar himmlisch in Ruhe, doch zu dem ersch¸tternden Begebnis gesellte sich nun die ahnungsvolle Gegenwart. Die Benennung “Schwester”–ihr Allerinnerstes war aufgeregt. Die Baronin sprach: “Wie geht es, lieber Neffe?”–“Ganz leidlich, aber man behandelt mich ¸bel.”–“Wieso?”–“Da haben sie mir Blut gelassen, das ist grausam; sie haben es weggeschafft, das ist frech; es gehËrt ja nicht mein, es gehËrt alles, alles ihre.” Mit diesen Worten schien sich seine Gestalt zu verwandeln, doch mit heiï¬en Trâ°nen verbarg er sein Antlitz ins Kissen.
Hilariens Miene zeigte der Mutter einen furchtbaren Ausdruck, es war, als wenn das liebe Kind die Pforten der HËlle vor sich erËffnet sâ°he, zum erstenmal ein Ungeheures erblickte und f¸r ewig. Rasch, leidenschaftlich eilte sie durch den Saal, warf sich im letzten Kabinett auf den Sofa, die Mutter folgte und fragte, was sie leider schon begriff. Hilarie, wundersam aufblickend, rief: “Das Blut, das Blut, es gehËrt alles ihre, alles ihre, und sie ist es nicht wert. Der Ungl¸ckselige! der Arme!” Mit diesen Worten erleichterte der bitterste Trâ°nenstrom das bedrâ°ngte Herz.
Wer unternâ°hme es wohl, die aus dem Vorhergehenden sich entwickelnden Zustâ°nde zu enth¸llen, an den Tag zu bringen das innere, aus dieser ersten Zusammenkunft den Frauen erwachsende Unheil? Auch dem Leidenden war sie hËchst schâ°dlich, so behauptete wenigstens der Arzt, der zwar oft genug zu berichten und zu trËsten kam, aber sich doch verpflichtet f¸hlte, alles weitere Annâ°hern zu verbieten. Dabei fand er auch eine willige Nachgiebigkeit, die Tochter wagte nicht zu verlangen, was die Mutter nicht zugegeben hâ°tte, und so gehorchte man dem Gebot des verstâ°ndigen Mannes. Dagegen brachte er aber die beruhigende Nachricht, Flavio habe Schreibzeug verlangt, auch einiges aufgezeichnet, es aber sogleich neben sich im Bette versteckt. Nun gesellte sich Neugierde zu der ¸brigen Unruhe und Ungeduld, es waren peinliche Stunden. Nach einiger Zeit brachte er jedoch ein Blâ°ttchen von schËner, freier Hand, obgleich mit Hast geschrieben, es enthielt folgende Zeilen:
“Ein Wunder ist der arme Mensch geboren, In Wundern ist der irre Mensch verloren, Nach welcher dunklen, schwer entdeckten Schwelle Durchtappen pfadlos ungewisse Schritte?
Dann in lebendigem Himmelsglanz und Mitte Gewahr’, empfind’ ich Nacht und Tod und HËlle.”
Hier konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Krâ°fte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflËsenden Schmerzen verfl¸chtigt. Der Arzt hatte sich ¸berzeugt, daï¬ der J¸ngling bald wieder herzustellen sei; kËrperlich gesund, werde er schnell sich wieder froh f¸hlen, wenn die auf seinem Geist lastende Leidenschaft zu heben oder zu lindern wâ°re. Hilarie sann auf Erwiderung; sie saï¬ am Fl¸gel und versuchte die Zeilen des Leidenden mit Melodie zu begleiten. Es gelang ihr nicht, in ihrer Seele klang nichts zu so tiefen Schmerzen; doch bei diesem Versuch schmeichelten Rhythmus und Reim sich dergestalt an ihre Gesinnungen an, daï¬ sie jenem Gedicht mit lindernder Heiterkeit entgegnete, indem sie sich Zeit nahm, folgende Strophe auszubilden und abzurunden:
“Bist noch so tief in Schmerz und Qual verloren, So bleibst du doch zum Jugendgl¸ck geboren; Ermanne dich zu rasch gesundem Schritte, Komm in der Freundschaft Himmelsglanz und Helle, Empfinde dich in treuer Guten Mitte,
Da sprieï¬e dir des Lebens heitre Quelle.”
Der â°rztliche Hausfreund ¸bernahm die Botschaft, sie gelang, schon erwiderte der J¸ngling gemâ°ï¬igt; Hilarie fuhr mildernd fort, und so schien man nach und nach wieder einen heitern Tag, einen freien Boden zu gewinnen, und vielleicht ist es uns vergËnnt, den ganzen Verlauf dieser holden Kur gelegentlich mitzuteilen. Genug, einige Zeit verstrich in solcher Beschâ°ftigung hËchst angenehm; ein ruhiges Wiedersehen bereitete sich vor, das der Arzt nicht lâ°nger als nËtig zu verspâ°ten gedachte.
Indessen hatte die Baronin mit Ordnen und Zurechtlegen alter Papiere sich beschâ°ftigt, und diese dem gegenwâ°rtigen Zustande ganz angemessene Unterhaltung wirkte gar wundersam auf den erregten Geist. Sie sah manche Jahre ihres Lebens zur¸ck, schwere drohende Leiden waren vor¸bergegangen, deren Betrachtung den Mut f¸r den Moment krâ°ftigte; besonders r¸hrte sie die Erinnerung an ein schËnes Verhâ°ltnis zu Makarien, und zwar in bedenklichen Zustâ°nden. Die Herrlichkeit jener einzigen Frau ward ihr wieder vor die Seele gebracht und sogleich der Entschluï¬ gefaï¬t, sich auch diesmal an sie zu wenden: denn zu wem sonst hâ°tte sie ihre gegenwâ°rtigen Gef¸hle richten, wem sonst Furcht und Hoffnung offen bekennen sollen?
Bei dem Aufrâ°umen fand sie aber auch unter andern des Bruders Miniaturportrâ°t und muï¬te ¸ber die â°hnlichkeit mit dem Sohne lâ°chelnd seufzen. Hilarie ¸berraschte sie in diesem Augenblick, bemâ°chtigte sich des Bildes, und auch sie ward von jener â°hnlichkeit wundersam betroffen.
So verging einige Zeit; endlich mit Verg¸nstigung des Arztes und in seinem Geleite trat Flavio angemeldet zum Fr¸hst¸ck herein. Die Frauen hatten sich vor dieser ersten Erscheinung gef¸rchtet. Wie aber gar oft in bedeutenden, ja schrecklichen Momenten etwas Heiteres, ja Lâ°cherliches sich zu ereignen pflegt, so gl¸ckte es auch hier. Der Sohn kam vËllig in des Vaters Kleidern; denn da von seinem Anzug nichts zu brauchen war, so hatte man sich der Feld–und Hausgarderobe des Majors bedient, die er, zu bequemem Jagd–und Familienleben, bei der Schwester in Verwahrung lieï¬. Die Baronin lâ°chelte und nahm sich zusammen; Hilarie war, sie wuï¬te nicht wie, betroffen genug, sie wendete das Gesicht weg, und dem jungen Manne wollte in diesem Augenblick weder ein herzliches Wort von den Lippen noch eine Phrase gl¸cken. Um nun sâ°mtlicher Gesellschaft aus der Verlegenheit zu helfen, begann der Arzt eine Vergleichung beider Gestalten. Der Vater sei etwas grËï¬er, hieï¬ es, und deshalb der Rock etwas zu lang; dieser sei etwas breiter, deshalb der Rock ¸ber die Schultern zu eng. Beide Miï¬verstâ°ndnisse gaben dieser Maskerade ein komisches Ansehen.
Durch diese Einzelheiten jedoch kam man ¸ber das Bedenkliche des Augenblicks hinaus. F¸r Hilarien freilich blieb die â°hnlichkeit des jugendlichen Vaterbildes mit der frischen Lebensgegenwart des Sohnes unheimlich, ja bedrâ°ngend.
Nun aber w¸nschten wir wohl den nâ°chsten Zeitverlauf von einer zarten Frauenhand umstâ°ndlich geschildert zu sehen, da wir nach eigener Art und Weise uns nur mit dem Allgemeinsten befassen d¸rfen. Hier muï¬ denn nun von dem Einfluï¬ der Dichtkunst abermals die Rede sein.
Ein gewisses Talent konnte man unserm Flavio nicht absprechen, es bedurfte jedoch nur zu sehr eines leidenschaftlich-sinnlichen Anlasses, wenn etwas Vorz¸gliches gelingen sollte; deswegen denn auch fast alle Gedichte, jener unwiderstehlichen Frau gewidmet, hËchst eindringend und lobenswert erschienen und nun, einer gegenwâ°rtigen, hËchst liebensw¸rdigen SchËnen mit enthusiastischem Ausdruck vorgelesen, nicht geringe Wirkung hervorbringen muï¬ten.
Ein Frauenzimmer, das eine andere leidenschaftlich geliebt sieht, bequemt sich gern zu der Rolle einer Vertrauten; sie hegt ein heimlich, kaum bewuï¬tes Gef¸hl, daï¬ es nicht unangenehm sein m¸ï¬te, sich an die Stelle der Angebeteten leise gehoben zu sehen. Auch ging die Unterhaltung immer mehr und mehr ins Bedeutende. Wechselgedichte, wie sie der Liebende gern verfaï¬t, weil er sich von seiner SchËnen, wenn auch nur bescheiden, halb und halb kann erwidern lassen, was er w¸nscht und was er aus ihrem schËnen Munde zu hËren kaum erwarten d¸rfte. Dergleichen wurden mit Hilarien auch wechselsweise gelesen, und zwar, da es nur aus der einen Handschrift geschah, in welche man beiderseits, um zu rechter Zeit einzufallen, hineinschauen und zu diesem Zweck jedes das Bâ°ndchen anfassen muï¬te, so fand sich, daï¬ man, nahe sitzend, nach und nach Person an Person, Hand an Hand immer nâ°her r¸ckte und die Gelenke sich ganz nat¸rlich zuletzt im verborgnen ber¸hrten.
Aber bei diesen schËnen Verhâ°ltnissen, unter solchen daraus entspringenden allerliebsten Annehmlichkeiten f¸hlte Flavio eine schmerzliche Sorge, die er schlecht verbarg und, immerfort nach der Ankunft seines Vaters sich sehnend, zu bemerken gab, daï¬ er diesem das Wichtigste zu vertrauen habe. Dieses Geheimnis indes wâ°re, bei einigem Nachdenken, nicht schwer zu erraten gewesen. Jene reizende Frau mochte in einem bewegten, von dem zudringlichen J¸ngling hervorgerufnen Momente den Ungl¸cklichen entschieden abgewiesen und die bisher hartnâ°ckig behauptete Hoffnung aufgehoben und zerstËrt haben. Eine Szene, wie dies zugegangen, wagten wir nicht zu schildern, aus Furcht, hier mËchte uns die jugendliche Glut ermangeln. Genug, er war so wenig bei sich selbst, daï¬ er sich eiligst aus der Garnison ohne Urlaub entfernte und, um seinen Vater aufzusuchen, durch Nacht, Sturm und Regen nach dem Landgut seiner Tante verzweifelnd zu gelangen trachtete, wie wir ihn auch vor kurzem haben ankommen sehen. Die Folgen eines solchen Schrittes fielen ihm nun bei R¸ckkehr n¸chterner Gedanken lebhaft auf, und er wuï¬te, da der Vater immer lâ°nger ausblieb und er die einzige mËgliche Vermittlung entbehren sollte, sich weder zu fassen noch zu retten.
Wie erstaunt und betroffen war er deshalb, als ihm ein Brief seines Obristen eingehâ°ndigt wurde, dessen bekanntes Siegel er mit Zaudern und Bangigkeit auflËste, der aber nach den freundlichsten Worten damit endigte, daï¬ der ihm erteilte Urlaub noch um einen Monat sollte verlâ°ngert werden.
So unerklâ°rlich nun auch diese Gunst schien, so ward er doch dadurch von einer Last befreit, die sein Gem¸t fast â°ngstlicher als die verschmâ°hte Liebe selbst zu dr¸cken begann. Er f¸hlte nun ganz das Gl¸ck, bei seinen liebensw¸rdigen Verwandten so wohl aufgehoben zu sein; er durfte sich der Gegenwart Hilariens erfreuen und war nach kurzem in allen seinen angenehm-geselligen Eigenschaften wiederhergestellt, die ihn der schËnen Witwe selbst sowohl als ihrer Umgebung auf eine Zeitlang notwendig gemacht hatten und nur durch eine peremtorische Forderung ihrer Hand f¸r immer verfinstert worden.
In solcher Stimmung konnte man die Ankunft des Vaters gar wohl erwarten, auch wurden sie durch eintretende Naturereignisse zu einer tâ°tigen Lebensweise aufgeregt. Das anhaltende Regenwetter, das sie bisher in dem Schloï¬ zusammenhielt, hatte ¸berall, in groï¬en Wassermassen niedergehend, Fluï¬ um Fluï¬ angeschwellt; es waren Dâ°mme gebrochen, und die Gegend unter dem Schlosse lag als ein blanker See, aus welchem die Dorfschaften, MeierhËfe, grËï¬ere und kleinere Besitzt¸mer, zwar auf H¸geln gelegen, doch immer nur inselartig hervorschauten.
Auf solche zwar seltene, aber denkbare Fâ°lle war man eingerichtet; die Hausfrau befahl, und die Diener f¸hrten aus. Nach der ersten allgemeinsten Beih¸lfe ward Brot gebacken, Stiere wurden geschlachtet, Fischerkâ°hne fuhren hin und her, H¸lfe und Vorsorge nach allen Enden hin verbreitend. Alles f¸gte sich schËn und gut, das freundlich Gegebene ward freudig und dankbar aufgenommen, nur an einem Orte wollte man den austeilenden Gemeindevorstehern nicht trauen; Flavio ¸bernahm das Geschâ°ft und fuhr mit einem wohlbeladenen Kahn eilig und gl¸cklich zur Stelle. Das einfache Geschâ°ft, einfach behandelt, gelang zum besten; auch entledigte sich, weiterfahrend, unser J¸ngling eines Auftrags, den ihm Hilarie beim Scheiden gegeben. Gerade in den Zeitpunkt dieser Ungl¸ckstage war die Niederkunft einer Frau gefallen, f¸r die sich das schËne Kind besonders interessierte. Flavio fand die WËchnerin und brachte allgemeinen und diesen besondern Dank mit nach Hause. Dabei konnte es nun an mancherlei Erzâ°hlungen nicht fehlen. War auch niemand umgekommen, so hatte man von wunderbaren Rettungen, von seltsamen, scherzhaften, ja lâ°cherlichen Ereignissen viel zu sprechen; manche notgedrungene Zustâ°nde wurden interessant beschrieben. Genug, Hilarie empfand auf einmal ein unwiderstehliches Verlangen, gleichfalls eine Fahrt zu unternehmen, die WËchnerin zu begr¸ï¬en, zu beschenken und einige heitere Stunden zu verleben.
Nach einigem Widerstand der guten Mutter siegte endlich der freudige Wille Hilariens, dieses Abenteuer zu bestehen, und wir wollen gern bekennen, in dem Laufe, wie diese Begebenheit uns bekannt geworden, einigermaï¬en besorgt gewesen zu sein, es mËge hier einige Gefahr obschweben, ein Stranden, ein Umschlagen des Kahns, Lebensgefahr der SchËnen, k¸hne Rettung von seiten des J¸nglings, um das lose gekn¸pfte Band noch fester zu ziehen. Aber von allem diesem war nicht die Rede, die Fahrt lief gl¸cklich ab, die WËchnerin ward besucht und beschenkt; die Gesellschaft des Arztes blieb nicht ohne gute Wirkung, und wenn hier und da ein kleiner Anstoï¬ sich hervortat, wenn der Anschein eines gefâ°hrlichen Moments die Fortrudernden zu beunruhigen schien, so endete solches nur mit neckendem Scherz, daï¬ eins dem andern eine â°ngstliche Miene, eine grËï¬ere Verlegenheit, eine furchtsam Gebâ°rde wollte abgemerkt haben. Indessen war das wechselseitige Vertrauen bedeutend gewachsen; die Gewohnheit, sich zu sehen und unter allen Umstâ°nden zusammen zu sein, hatte sich verstâ°rkt, und die gefâ°hrliche Stellung, wo Verwandtschaft und Neigung zum wechselseitigen Annâ°hern und Festhalten sich berechtigt glauben, ward immer bedenklicher.
Anmutig sollten sie jedoch auf solchen Liebeswegen immer weiter und weiter verlockt werden. Der Himmel klâ°rte sich auf, eine gewaltige Kâ°lte, der Jahreszeit gemâ°ï¬, trat ein, die Wasser gefroren, ehe sie verlaufen konnten. Da verâ°nderte sich das Schauspiel der Welt vor allen Augen auf einmal; was durch Fluten erst getrennt war, hing nunmehr durch befestigten Boden zusammen, und alsbald tat sich als erw¸nschte Vermittlerin die schËne Kunst hervor, welche, die ersten raschen Wintertage zu verherrlichen und neues Leben in das Erstarrte zu bringen, im hohen Norden erfunden worden. Die R¸stkammer Ëffnete sich, jedermann suchte nach seinen gezeichneten Stahlschuhen, begierig, die reine, glatte Flâ°che, selbst mit einiger Gefahr, als der erste zu beschreiten. Unter den Hausgenossen fanden sich viele zu hËchster Leichtigkeit Ge¸bte; denn dieses Vergn¸gen ward ihnen fast jedes Jahr auf benachbarten Seen und verbindenden Kanâ°len, diesmal aber in der fernhin erweiterten Flâ°che.
Flavio f¸hlte sich nun erst durch und durch gesund, und Hilarie, seit ihren fr¸hsten Jahren von dem Oheim angeleitet, bewies sich so lieblich als krâ°ftig auf dem neu erschaffenen Boden; man bewegte sich lustig und lustiger, bald zusammen, bald einzeln, bald getrennt, bald vereint. Scheiden und Meiden, was sonst so schwer aufs Herz fâ°llt, ward hier zum kleinen, scherzhaften Frevel, man floh sich, um sich einander augenblicks wieder zu finden.
Aber innerhalb dieser Lust und Freudigkeit bewegte sich auch eine Welt des Bed¸rfnisses; immer waren bisher noch einige Ortschaften nur halb versorgt geblieben, eilig flogen nunmehr auf t¸chtig bespannten Schlitten die nËtigsten Waren hin und wider, und was der Gegend noch mehr zugute kam, war, daï¬ man aus manchen der vor¸bergehenden Hauptstraï¬e allzu fernen Orten nunmehr schnell die Erzeugnisse des Feldbaues und der Landwirtschaft in die nâ°chsten Magazine der kleinen Stâ°dte und Flecken bringen und von dorther aller Art Waren zur¸ckf¸hren konnte. Nun war auf einmal eine bedrâ°ngte, den bittersten Mangel empfindende Gegend wieder befreit, wieder versorgt, durch eine glatte, dem Geschickten, dem K¸hnen geËffnete Flâ°che verbunden.
Auch das junge Paar unterlieï¬ nicht, bei vorwaltendem Vergn¸gen mancher Pflichten einer liebevollen Anhâ°nglichkeit zu gedenken. Man besuchte jene WËchnerin, begabte sie mit allem Notwendigen; auch andere wurden heimgesucht: Alte, f¸r deren Gesundheit man besorgt gewesen; Geistliche, mit denen man erbauliche Unterhaltung sittlich zu pflegen gewohnt war und sie jetzt in dieser Pr¸fung noch achtenswerter fand; kleinere Gutsbesitzer, die k¸hn genug vor Zeiten sich in gefâ°hrliche Niederungen angebaut, diesmal aber, durch wohlangelegte Dâ°mme gesch¸tzt, unbeschâ°digt geblieben–und nach grenzenloser Angst sich ihres Daseins doppelt erfreuten. Jeder Hof, jedes Haus, jede Familie, jeder einzelne hatte seine Geschichte, er war sich und auch wohl andern eine bedeutende Person geworden, deswegen fiel auch einer dem andern Erzâ°hlenden leicht in die Rede. Eilig war jeder im Sprechen und Handeln, Kommen und Gehen, denn es blieb immer die Gefahr, ein plËtzliches Tauwetter mËchte den ganzen schËnen Kreis gl¸cklichen Wechselwirkens zerstËren, die Wirte bedrohen und die Gâ°ste vom Hause abschneiden.
War man den Tag in so rascher Bewegung und dem lebhaftesten Interesse beschâ°ftigt, so verlieh der Abend auf ganz andere Weise die angenehmsten Stunden; denn das hat die Eislust vor allen andern kËrperlichen Bewegungen voraus, daï¬ die Anstrengung nicht erhitzt und die Dauer nicht erm¸det. Sâ°mtliche Glieder scheinen gelenker zu werden und jedes Verwenden der Kraft neue Krâ°fte zu erzeugen, so daï¬ zuletzt eine selig bewegte Ruhe ¸ber uns kommt, in der wir uns zu wiegen immerfort gelockt sind.
Heute nun konnte sich unser junges Paar von dem glatten Boden nicht loslËsen, jeder Lauf gegen das erleuchtete Schloï¬, wo sich schon viele Gesellschaft versammelte, ward plËtzlich umgewendet und eine R¸ckkehr ins Weite beliebt; man mochte sich nicht voneinander entfernen, aus Furcht, sich zu verlieren, man faï¬te sich bei der Hand, um der Gegenwart ganz gewiï¬ zu sein. Am allers¸ï¬esten aber schien die Bewegung, wenn ¸ber den Schultern die Arme verschrâ°nkt ruhten und die zierlichen Finger unbewuï¬t in beiderseitigen Locken spielten.
Der volle Mond stieg zu dem gl¸henden Sternenhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung. Sie sahen sich wieder deutlich und suchten wechselseitig in den beschatteten Augen Erwiderung wie sonst, aber sie schien anders zu sein. Aus ihren Abgr¸nden schien ein Licht hervorzublicken und anzudeuten, was der Mund weislich verschwieg, sie f¸hlten sich beide in einem festlich behaglichen Zustande.
Alle hochstâ°mmigen Weiden und Erlen an den Grâ°ben, alles niedrige Geb¸sch auf HËhen und H¸geln war deutlich geworden; die Sterne flammten, die Kâ°lte war gewachsen, sie f¸hlten nichts davon und fuhren dem lang daherglitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. Da blickten sie auf und sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt eines Mannes hin und her schweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und selbst dunkel, vom Lichtglanz umgeben, auf sie zuschritt; unwillk¸rlich wendeten sie sich ab, jemanden zu begegnen wâ°re widerwâ°rtig gewesen. Sie vermieden die immerfort sich herbewegende Gestalt, die Gestalt schien sie nicht bemerkt zu haben und verfolgte ihren geraden Weg nach dem Schlosse. Doch verlieï¬ sie auf einmal diese Richtung und umkreiste mehrmals das fast beâ°ngstigte Paar. Mit einiger Besonnenheit suchten sie f¸r sich die Schattenseite zu gewinnen, im vollen Mondglanz fuhr jener auf sie zu, er stand nah vor ihnen, es war unmËglich, den Vater zu verkennen.
Hilarie, den Schritt anhaltend, verlor in ¸berraschung das Gleichgewicht und st¸rzte zu Boden, Flavio lag zu gleicher Zeit auf einem Knie und faï¬te ihr Haupt in seinen Schoï¬ auf, sie verbarg ihr Angesicht, sie wuï¬te nicht, wie ihr geworden war.–“Ich hole einen Schlitten, dort unten fâ°hrt noch einer vor¸ber, ich hoffe, sie hat sich nicht beschâ°digt; hier, bei diesen hohen drei Erlen find’ ich euch wieder!” so sprach der Vater und war schon weit hinweg. Hilarie raffte sich an dem J¸ngling empor.– “Laï¬ uns fliehen”, rief sie, “das ertrag’ ich nicht.”–Sie bewegte sich nach der Gegenseite des Schlosses heftig, daï¬ Flavio sie nur mit einiger Anstrengung erreichte, er gab ihr die freundlichsten Worte.
Auszumalen ist nicht die innere Gestalt der drei nunmehr nâ°chtlich auf der glatten Flâ°che im Mondschein Verirrten, Verwirrten. Genug, sie gelangten spâ°t nach dem Schlosse, das junge Paar einzeln, sich nicht zu ber¸hren, sich nicht zu nâ°hern wagend, der Vater mit dem leeren Schlitten, den er vergebens ins Weite und Breite hilfreich herumgef¸hrt hatte. Musik und Tanz waren schon im Gange, Hilarie, unter dem Vorwand schmerzlicher Folgen eines schlimmen Falles, verbarg sich in ihr Zimmer, Flavio ¸berlieï¬ Vortanz und Anordnung sehr gern einigen jungen Gesellen, die sich deren bei seinem Auï¬enbleiben schon bemâ°chtigt hatten. Der Major kam nicht zum Vorschein und fand es wunderlich, obgleich nicht unerwartet, sein Zimmer wie bewohnt anzutreffen, die eignen Kleider, Wâ°sche und Gerâ°tschaften, nur nicht so ordentlich, wie er’s gewohnt war, umherliegend. Die Hausfrau versah mit anstâ°ndigem Zwang ihre Pflichten, und wie froh war sie, als alle Gâ°ste, schicklich untergebracht, ihr endlich Raum lieï¬en, mit dem Bruder sich zu erklâ°ren. Es war bald getan, doch brauchte es Zeit, sich von der ¸berraschung zu erholen, das Unerwartete zu begreifen, die Zweifel zu heben, die Sorge zu beschwichtigen; an LËsung des Knotens, an Befreiung des Geistes war nicht sogleich zu denken.
Unsere Leser ¸berzeugen sich wohl, daï¬ von diesem Punkte an wir beim Vortrag unserer Geschichte nicht mehr darstellend, sondern erzâ°hlend und betrachtend verfahren m¸ssen, wenn wir in die Gem¸tszustâ°nde, auf welche jetzt alles ankommt, eindringen und sie uns vergegenwâ°rtigen wollen.
Wir berichten also zuerst, daï¬ der Major, seitdem wir ihn aus den Augen verloren, seine Zeit fortwâ°hrend jenem Familiengeschâ°ft gewidmet, dabei aber, so schËn und einfach es auch vorlag, doch in manchem Einzelnen auf unerwartete Hindernisse traf. Wie es denn ¸berhaupt so leicht nicht ist, einen alten verworrenen Zustand zu entwickeln und die vielen verschrâ°nkten Fâ°den auf einen Knaul zu winden. Da er nun deshalb den Ort Ëfters verâ°ndern muï¬te, um bei verschiedenen Stellen und Personen die Angelegenheit zu betreiben, so gelangten die Briefe der Schwester nur langsam und unordentlich zu ihm. Die Verirrung des Sohnes und dessen Krankheit erfuhr er zuerst; dann hËrte er von einem Urlaub, den er nicht begriff. Daï¬ Hilariens Neigung im Umwenden begriffen sei, blieb ihm verborgen, denn wie hâ°tte die Schwester ihn davon unterrichten mËgen!
Auf die Nachricht der ¸berschwemmung beschleunigte er seine Reise, kam jedoch erst nach eingefallenem Frost in die Nâ°he der Eisfelder, schaffte sich Schrittschuhe, sendete Knechte und Pferde durch einen Umweg nach dem Schlosse, und sich mit raschem Lauf dorthin bewegend, gelangte er, die erleuchteten Fenster schon von ferne schauend, in einer tagklaren Nacht zum unerfreulichsten Anschauen und war mit sich selbst in die unangenehmste Verwirrung geraten.
Der ¸bergang von innerer Wahrheit zum â°uï¬ern Wirklichen ist im Kontrast immer schmerzlich; und sollte Lieben und Bleiben nicht eben die Rechte haben wie Scheiden und Meiden? Und doch, wenn sich eins vom andern losreiï¬t, entsteht in der Seele eine ungeheure Kluft, in der schon manches Herz zugrunde ging. Ja der Wahn hat, solange er dauert, eine un¸berwindliche Wahrheit, und nur mâ°nnliche, t¸chtige Geister werden durch Erkennen eines Irrtums erhËht und gestâ°rkt. Eine solche Entdeckung hebt sie ¸ber sich selbst, sie stehen ¸ber sich erhoben und blicken, indem der alte Weg versperrt ist, schnell umher nach einem neuen, um ihn alsofort frisch und mutig anzutreten.
Unzâ°hlig sind die Verlegenheiten, in welche sich der Mensch in solchen Augenblicken versetzt sieht; unzâ°hlig die Mittel, welche eine erfinderische Natur innerhalb ihrer eignen Krâ°fte zu entdecken, sodann aber auch, wenn diese nicht auslangen, auï¬erhalb ihres Bereichs freundlich anzudeuten weiï¬.
Zu gutem Gl¸ck jedoch war der Major durch ein halbes Bewuï¬tsein, ohne sein Wollen und Trachten, schon auf einen solchen Fall im tiefsten vorbereitet. Seitdem er den kosmetischen Kammerdiener verabschiedet, sich seinem nat¸rlichen Lebensgange wieder ¸berlassen, auf den Schein Anspr¸che zu machen aufgehËrt hatte, empfand er sich am eigentlichen kËrperlichen Behagen einigermaï¬en verk¸rzt. Er empfand das Unangenehme eines ¸berganges vom ersten Liebhaber zum zâ°rtlichen Vater; und doch wollte diese Rolle immer mehr und mehr sich ihm aufdringen. Die Sorgfalt f¸r das Schicksal Hilariens und der Seinigen trat immer zuerst in seinen Gedanken hervor, bis das Gef¸hl von Liebe, von Hang, von Verlangen annâ°hernder Gegenwart sich erst spâ°ter entfaltete. Und wenn er sich Hilarien in seinen Armen dachte, so war es ihr Gl¸ck, was er beherzigte, das er ihr zu schaffen w¸nschte, mehr als die Wonne, sie zu besitzen. Ja er muï¬te sich, wenn er ihres Andenkens rein genieï¬en wollte, zuerst ihre himmlisch ausgesprochene Neigung, er muï¬te jenen Augenblick denken, wo sie sich ihm so unverhofft gewidmet hatte.
Nun aber, da er in klarster Nacht ein vereintes junges Paar vor sich gesehen, die Liebensw¸rdigste zusammenst¸rzend, in dem Schoï¬e des J¸nglings, beide seiner verheiï¬enen h¸lfreichen Wiederkunft nicht achtend, ihn an dem genau bezeichneten Orte nicht erwartend, verschwunden in die Nacht, und er sich selbst im d¸stersten Zustande ¸berlassen: wer f¸hlte das mit und verzweifelte nicht in seine Seele?
Die an Vereinigung gewËhnte, auf nâ°here Vereinigung hoffende Familie hielt sich best¸rzt auseinander; Hilarie blieb hartnâ°ckig auf ihrem Zimmer, der Major nahm sich zusammen, von seinem Sohne den fr¸heren Hergang zu erfahren. Das Unheil war durch einen weiblichen Frevel der schËnen Witwe verursacht. Um ihren bisher leidenschaftlichen Verehrer Flavio einer andern Liebensw¸rdigen, welche Absicht auf ihn verriet, nicht zu ¸berlassen, wendet sie mehr scheinbare Gunst, als billig ist, an ihn. Er, dadurch aufgeregt und ermutigt, sucht seine Zwecke heftig bis ins UngehËrige zu verfolgen, wor¸ber denn erst Widerwâ°rtigkeit und Zwist, darauf ein entschiedener Bruch dem ganzen Verhâ°ltnis unwiederbringlich ein Ende macht.
Vâ°terlicher Milde bleibt nichts ¸brig, als die Fehler der Kinder, wenn sie traurige Folgen haben, zu bedauern und, wo mËglich, herzustellen; gehen sie lâ°ï¬licher, als zu hoffen war, vor¸ber, sie zu verzeihen und zu vergessen. Nach wenigem Bedenken und Bereden ging Flavio sodann, um an der Stelle seines Vaters manches zu besorgen, auf die ¸bernommenen G¸ter und sollte dort bis zum Ablauf seines Urlaubs verweilen, dann sich wieder ans Regiment anschlieï¬en, welches indessen in eine andere Garnison verlegt worden.
Eine Beschâ°ftigung mehrerer Tage war es f¸r den Major, Briefe und Pakete zu erËffnen, welche sich wâ°hrend seines lâ°ngeren Ausbleibens bei der Schwester gehâ°uft hatten. Unter andern fand er ein Schreiben jenes kosmetischen Freundes, des wohlkonservierten Schauspielers. Dieser, durch den verabschiedeten Kammerdiener benachrichtigt von dem Zustande des Majors und von dem Vorsatze, sich zu verheiraten, trug mit der besten Laune die Bedenklichkeiten vor, die man bei einem solchen Unternehmen vor Augen haben sollte; er behandelte die Angelegenheit auf seine Weise und gab zu bedenken, daï¬ f¸r einen Mann in gewissen Jahren das sicherste kosmetische Mittel sei, sich des schËnen Geschlechts zu enthalten und einer lËblichen, bequemen Freiheit zu genieï¬en. Nun zeigte der Major lâ°chelnd das Blatt seiner Schwester, zwar scherzend, aber doch ernstlich genug auf die Wichtigkeit des Inhaltes hindeutend. Auch war ihm indessen ein Gedicht eingefallen, dessen rhythmische Ausf¸hrung uns nicht gleich beigeht, dessen Inhalt jedoch durch zierliche Gleichnisse und anmutige Wendung sich auszeichnete:
“Der spâ°te Mond, der zur Nacht noch anstâ°ndig leuchtet, verblaï¬t vor der aufgehenden Sonne; der Liebeswahn des Alters verschwindet in Gegenwart leidenschaftlicher Jugend; die Fichte, die im Winter frisch und krâ°ftig erscheint, sieht im Fr¸hling verbrâ°unt und miï¬fâ°rbig aus, neben hell aufgr¸nender Birke.”
Wir wollen jedoch weder Philosophie noch Poesie als die entscheidenden Helferinnen zu einer endlichen Entschlieï¬ung hier vorz¸glich preisen; denn wie ein kleines Ereignis die wichtigsten Folgen haben kann, so entscheidet es auch oft, wo schwankende Gesinnungen obwalten, die Waage dieser oder jener Seite zuneigend. Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen, und er f¸rchtete, den zweiten zu verlieren. An eine k¸nstlich scheinbare Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken, und mit diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werben, fing an, ihm ganz erniedrigend zu scheinen, besonders jetzt, da er sich mit ihr unter einem Dach befand. Fr¸her oder spâ°ter hâ°tte vielleicht ein solches Ereignis wenig gewirkt, gerade in diesem Augenblicke aber trat ein solcher Moment ein, der einem jeden an eine gesunde Vollstâ°ndigkeit gewËhnten Menschen hËchst widerwâ°rtig begegnen muï¬. Es ist ihm, als wenn der Schluï¬stein seines organischen Wesens entfremdet wâ°re und das ¸brige GewËlbe nun auch nach und nach zusammenzust¸rzen drohte.
Wie dem auch sei, der Major unterhielt sich mit seiner Schwester gar bald einsichtig und verstâ°ndig ¸ber die so verwirrt scheinende Angelegenheit; sie muï¬ten beide bekennen, daï¬ sie eigentlich nur durch einen Umweg ans Ziel gelangt seien, ganz nahe daran, von dem sie sich zufâ°llig, durch â°uï¬ern Anlaï¬ durch Irrtum eines unerfahrnen Kindes verleitet, unbedachtsam entfernt; sie fanden nichts nat¸rlicher, als auf diesem Wege zu verharren, eine Verbindung beider Kinder einzuleiten und ihnen sodann jede elterliche Sorgfalt, wozu sie sich die Mittel zu verschaffen gewuï¬t, treu und unablâ°ssig zu widmen. VËllig in ¸bereinstimmung mit dem Bruder, ging die Baronin zu Hilarien ins Zimmer. Diese saï¬ am Fl¸gel, zu eigner Begleitung singend und die eintretende Begr¸ï¬ende mit heiterem Blick und Beugung zum AnhËren gleichsam einladend. Es war ein angenehmes, beruhigendes Lied, das eine Stimmung der Sâ°ngerin aussprach, die nicht besser wâ°re zu w¸nschen gewesen. Nachdem sie geendigt hatte, stand sie auf, und ehe die â°ltere Bedâ°chtige ihren Vortrag beginnen konnte, fing sie zu sprechen an: “Beste Mutter! es war schËn, daï¬ wir ¸ber die wichtigste Angelegenheit so lange geschwiegen; ich danke Ihnen, daï¬ Sie bis jetzt diese Saite nicht ber¸hrten, nun aber ist es wohl Zeit, sich zu erklâ°ren, wenn es Ihnen gefâ°llig ist. Wie denken Sie sich die Sache?”
Die Baronin, hËchst erfreut ¸ber die Ruhe und Milde, zu der sie ihre Tochter gestimmt fand, begann sogleich ein verstâ°ndiges Darlegen der fr¸hern Zeit, der PersËnlichkeit ihres Bruders und seiner Verdienste; sie gab den Eindruck zu, den der einzige Mann von Wert, der einem jungen Mâ°dchen so nahe bekannt geworden, auf ein freies Herz notwendig machen m¸sse, und wie sich daraus, statt kindlicher Ehrfurcht und Vertrauen, gar wohl eine Neigung, die als Liebe, als Leidenschaft sich zeige, entwickeln kËnne. Hilarie hËrte aufmerksam zu und gab durch bejahende Mienen und Zeichen ihre vËllige Einstimmung zu erkennen; die Mutter ging auf den Sohn ¸ber, und jene lieï¬ ihre langen Augenwimpern fallen; und wenn die Rednerin nicht so r¸hmliche Argumente f¸r den J¸ngeren fand, als sie f¸r den Vater anzuf¸hren gewuï¬t hatte, so hielt sie sich hauptsâ°chlich an die â°hnlichkeit beider, an den Vorzug, den diesem die Jugend gebe, der zugleich, als vollkommen gattlicher Lebensgefâ°hrte gewâ°hlt, die vËllige Verwirklichung des vâ°terlichen Daseins von der Zeit wie billig verspreche. Auch hierin schien Hilarie gleichstimmig zu denken, obschon ein etwas ernsterer Blick und ein manchmal niederschauendes Auge eine gewisse in diesem Fall hËchst nat¸rliche innere Bewegung verrieten. Auf die â°uï¬eren gl¸cklichen, gewissermaï¬en gebietenden Umstâ°nde lenkte sich hierauf der Vortrag. Der abgeschlossene Vergleich, der schËne Gewinn f¸r die Gegenwart, die nach manchen Seiten hin sich erweiternden Aussichten, alles ward vËllig der Wahrheit gemâ°ï¬ vor Augen gestellt, da es zuletzt auch an Winken nicht fehlen konnte, wie Hilarie selbst erinnerlich sein m¸sse, daï¬ sie fr¸her dem mit ihr heranwachsenden Vetter, und wenn auch nur wie im Scherze, sei verlobt gewesen. Aus alle dem Vorgesagten zog nun die Mutter den sich selbst ergebenden Schluï¬, daï¬ nun mit ihrer und des Oheims Einwilligung die Verbindung der jungen Leute ungesâ°umt stattfinden kËnne.
Hilarie, ruhig blickend und sprechend, erwiderte darauf, sie kËnne diese Folgerung nicht sogleich gelten lassen, und f¸hrte gar schËn und anmutig dagegen an, was ein zartes Gem¸t gewiï¬ mit ihr gleich empfinden wird, und das wir mit Worten auszuf¸hren nicht unternehmen.
Vern¸nftige Menschen, wenn sie etwas Verstâ°ndiges ausgesonnen, wie diese oder jene Verlegenheit zu beseitigen wâ°re, dieser oder jener Zweck zu erreichen sein mËchte, und daf¸r sich alle denklichen Argumente verdeutlicht und geordnet, f¸hlen sich hËchst unangenehm betroffen, wenn diejenigen, die zu eignem Gl¸ck mitwirken sollten, vËllig andern Sinnes gefunden werden und aus Gr¸nden, die tief im Herzen ruhen, sich demjenigen widersetzen, was so lËblich als nËtig ist. Man wechselte Reden, ohne sich zu ¸berzeugen; das Verstâ°ndige wollte nicht in das Gef¸hl eindringen, das Gef¸hlte wollte sich dem N¸tzlichen, dem Notwendigen nicht f¸gen; das Gesprâ°ch erhitzte sich, die Schâ°rfe des Verstandes traf das schon verwundete Herz, das nun nicht mehr mâ°ï¬ig, sondern leidenschaftlich seinen Zustand an den Tag gab, so daï¬ zuletzt die Mutter selbst vor der Hoheit und W¸rde des jungen Mâ°dchens erstaunt zur¸cktrat, als sie mit Energie und Wahrheit das Unschickliche, ja Verbrecherische einer solchen Verbindung hervorhob.
In welcher Verwirrung die Baronin zu dem Bruder zur¸ckkehrte, lâ°ï¬t sich denken, vielleicht auch, wenngleich nicht vollkommen, nachempfinden, wie der Major, der, von dieser entschiedenen Weigerung im Innersten geschmeichelt, zwar hoffnungslos, aber getrËstet vor der Schwester stand, sich von jener Beschâ°mung entwunden und so dieses Ereignis, das ihm zur zartesten Ehrensache geworden war, in seinem Innern ausgeglichen f¸hlte. Er verbarg diesen Zustand augenblicklich seiner Schwester und versteckte seine schmerzliche Zufriedenheit hinter eine in diesem Falle ganz nat¸rliche â°uï¬erung: man m¸sse nichts ¸bereilen, sondern dem guten Kinde Zeit lassen, den erËffneten Weg, der sich nunmehr gewissermaï¬en selbst verst¸nde, freiwillig einzuschlagen.
Nun aber kËnnen wir kaum unsern Lesern zumuten, aus diesen ergreifenden inneren Zustâ°nden in das â°uï¬ere ¸berzugehen, worauf doch jetzt so viel ankam. Indes die Baronin ihrer Tochter alle Freiheit lieï¬, mit Musik und Gesang, mit Zeichnen und Sticken ihre Tage angenehm zu verbringen, auch mit Lesen und Vorlesen sich und die Mutter zu unterhalten, so beschâ°ftigte sich der Major bei eintretendem Fr¸hjahr, die Familienangelegenheiten in Ordnung zu bringen; der Sohn, der sich in der Folge als einen reichen Besitzer und, wie er gar nicht zweifeln konnte, als gl¸cklichen Gatten Hilariens erblickte, f¸hlte nun erst ein militâ°risches Bestreben nach Ruhm und Rang, wenn der androhende Krieg hereinbrechen sollte. Und so glaubte man in augenblicklicher Beruhigung als gewiï¬ vorauszusehen, daï¬ dieses Râ°tsel, welches nur noch an eine Grille gekn¸pft schien, sich bald aufhellen und auseinanderlegen w¸rde.
Leider aber war in dieser anscheinenden Ruhe keine Beruhigung zu finden. Die Baronin wartete tagtâ°glich, aber vergebens, auf die Sinnesâ°nderung ihrer Tochter, die zwar mit Bescheidenheit und selten, aber doch, bei entscheidendem Anlaï¬, mit Sicherheit zu erkennen gab, sie bleibe so fest bei ihrer ¸berzeugung, als nur einer sein kann, dem etwas innerlich wahr geworden, es mËge nun mit der ihn umgebenden Welt in Einklang stehen oder nicht. Der Major empfand sich zwiespâ°ltig; er w¸rde sich immer verletzt f¸hlen, wenn Hilarie sich wirklich f¸r den Sohn entschiede; entschiede sie sich aber f¸r ihn selbst, so war er ebenso ¸berzeugt, daï¬ er ihre Hand ausschlagen m¸sse.
Bedauern wir den guten Mann, dem diese Sorgen, diese Qualen wie ein beweglicher Nebel unablâ°ssig vorschwebten, bald als Hintergrund, auf welchem sich die Wirklichkeiten und Beschâ°ftigungen des dringenden Tages hervorhoben, bald herantretend und alles Gegenwâ°rtige bedeckend. Ein solches Wanken und Schweben bewegte sich vor den Augen seines Geistes; und wenn ihn der fordernde Tag zu rascher, wirksamer Tâ°tigkeit aufbot, so war es bei nâ°chtlichem Erwachen, wo alles Widerwâ°rtige, gestaltet und immer umgestaltet, im unerfreulichsten Kreis sich in seinem Innern umwâ°lzte. Dies ewig wiederkehrende Unabweisbare brachte ihn in einen Zustand, den wir fast Verzweiflung nennen d¸rften, weil Handeln und Schaffen, die sich sonst als Heilmittel f¸r solche Lagen am sichersten bewâ°hrten, hier kaum lindernd, geschweige denn befriedigend wirken wollten.
In solcher Lage erhielt unser Freund von unbekannter Hand ein Schreiben mit Einladung in das Posthaus des nahe gelegenen Stâ°dtchens, wo ein eilig Durchreisender ihn dringend zu sprechen w¸nschte. Er, bei seinen vielfachen Geschâ°fts–und Weltverhâ°ltnissen an dergleichen gewËhnt, sâ°umte um so weniger, als ihm die freie, fl¸chtige Hand einigermaï¬en erinnerlich schien. Ruhig und gefaï¬t nach seiner Art begab er sich an den bezeichneten Ort, als in der bekannten, fast bâ°uerischen Oberstube die schËne Witwe ihm entgegentrat, schËner und anmutiger, als er sie verlassen hatte. War es, daï¬ unsere Einbildungskraft nicht fâ°hig ist, das Vorz¸glichste festzuhalten und vËllig wieder zu vergegenwâ°rtigen, oder hatte wirklich ein bewegterer Zustand ihr mehreren Reiz gegeben, genug, es bedurfte doppelter Fassung, sein Erstaunen, seine Verwirrung unter dem Schein allgemeinster HËflichkeit zu verbergen; er gr¸ï¬te sie verbindlich mit verlegener Kâ°lte.
“Nicht so, mein Bester!” rief sie aus, “keineswegs hab’ ich Sie dazu zwischen diese geweihten Wâ°nde, in diese hËchst unedle Umgebung berufen; ein so schlechter Hausrat fordert nicht auf, sich hËfisch zu unterhalten. Ich befreie meine Brust von einer schweren Last, indem ich sage, bekenne: in Ihrem Hause hab’ ich viel Unheil angerichtet. “–Der Major trat stutzend zur¸ck.–“Ich weiï¬ alles”, fuhr sie fort, “wir brauchen uns nicht zu erklâ°ren; Sie und Hilarien, Hilarien und Flavio, Ihre gute Schwester, Sie alle bedaure ich.” Die Sprache schien ihr zu stocken, die herrlichsten Augenwimpern konnten hervorquellende Trâ°nen nicht zur¸ckhalten, ihre Wange rËtete sich, sie war schËner als jemals. In â°uï¬erster Verwirrung stand der edle Mann vor ihr, ihn durchdrang eine unbekannte R¸hrung. “Setzen wir uns”, sagte, die Augen trocknend, das allerliebste Wesen. “Verzeihen Sie mir, bedauern Sie mich, Sie sehen, wie ich bestraft bin.” Sie hielt ihr gesticktes Tuch abermals vor die Augen und verbarg, wie bitterlich sie weinte.
“Klâ°ren Sie mich auf, meine Gnâ°dige”, sprach er mit Hast.– “Nichts von gnâ°dig!” entgegnete sie himmlisch lâ°chelnd, “nennen Sie mich Ihre Freundin, Sie haben keine treuere. Und also, mein Freund, ich weiï¬ alles, ich kenne die Lage der ganzen Familie genau, aller Gesinnungen und Leiden bin ich vertraut.”– “Was konnte Sie bis auf diesen Grad unterrichten?”–“Selbstbekenntnisse. Diese Hand wird Ihnen nicht fremd sein.” Sie wies ihm einige entfaltete Briefe hin.– “Die Hand meiner Schwester, Briefe, mehrere, der nachlâ°ssigen Schrift nach vertraute! Haben Sie je mit ihr in Verhâ°ltnis gestanden?” “Unmittelbar nicht, mittelbar seit einiger Zeit; hier die Aufschrift: “An ***.””–“Ein neues Râ°tsel: An Makarien, die schweigsamste aller Frauen.”–“Deshalb aber auch die Vertraute, der Beichtiger aller bedrâ°ngten Seelen, aller derer, die sich selbst verloren haben, sich wiederzufinden w¸nschten und nicht wissen wo.”–“Gott sei Dank!” rief er aus, “daï¬ sich eine solche Vermittlung gefunden hat, mir wollt’ es nicht ziemen, sie anzuflehen, ich segne meine Schwester, daï¬ sie es tat; denn auch mir sind Beispiele bekannt, daï¬ jene Treffliche, im Vorhalten eines sittlich-magischen Spiegels, durch die â°uï¬ere verworrene Gestalt irgendeinem Ungl¸cklichen sein rein schËnes Innere gewiesen und ihn auf einmal erst mit sich selbst befriedigt und zu einem neuen Leben aufgefordert hat.”
“Diese Wohltat erzeigte sie auch mir”, versetzte die SchËne; und in diesem Augenblick f¸hlte unser Freund, wenn es ihm auch nicht klar wurde, dennoch entschieden, daï¬ aus dieser sonst in ihrer Eigenheit abgeschlossenen merkw¸rdigen Person sich ein sittlich-schËnes, teilnehmendes und teilgebendes Wesen hervortat.–“Ich war nicht ungl¸cklich, aber unruhig”, fuhr sie fort, “ich gehËrte mir selbst nicht recht mehr an, und das heiï¬t denn doch am Ende nicht gl¸cklich sein. Ich gefiel mir selbst nicht mehr, ich mochte mich vor dem Spiegel zurechtr¸cken, wie ich wollte, es schien mir immer, als wenn ich mich zu einem Maskenball herausputzte; aber seitdem sie mir ihren Spiegel vorhielt, seit ich gewahr wurde, wie man sich von innen selbst schm¸cken kËnne, komm’ ich mir wieder recht schËn vor.” Sie sagte das zwischen Lâ°cheln und Weinen und war, man muï¬te es zugeben, mehr als liebensw¸rdig. Sie erschien achtungswert und wert einer ewigen treuen Anhâ°nglichkeit.
“Und nun, mein Freund, fassen wir uns kurz: hier sind die Briefe! sie zu lesen und wieder zu lesen, sich zu bedenken, sich zu bereiten, bed¸rften Sie allenfalls einer Stunde, mehr, wenn Sie wollen; alsdann werden mit wenigen Worten unsere Zustâ°nde sich entscheiden lassen.”
Sie verlieï¬ ihn, um in dem Garten auf und ab zu gehen; er entfaltete nun einen Briefwechsel der Baronin mit Makarien, dessen Inhalt wir summarisch andeuten. Jene beklagt sich ¸ber die schËne Witwe. Wie eine Frau die andere ansieht und scharf beurteilt, geht hervor. Eigentlich ist nur vom â°uï¬ern und von â°uï¬erungen die Rede, nach dem Innern wird nicht gefragt.
Hierauf von seiten Makariens eine mildere Beurteilung. Schilderung eines solchen Wesens von innen heraus. Das â°uï¬ere erscheint als Folge von Zufâ°lligkeiten, kaum zu tadeln, vielleicht zu entschuldigen. Nun berichtet die Baronin von der Raserei und Tollheit des Sohns, der wachsenden Neigung des jungen Paars, von der Ankunft des Vaters, der entschiedenen Weigerung Hilariens. ¸berall finden sich Erwiderungen Makariens von reiner Billigkeit, die aus der gr¸ndlichen ¸berzeugung stammt, daï¬ hieraus eine sittliche Besserung entstehen m¸sse. Sie ¸bersendet zuletzt den ganzen Briefwechsel der schËnen Frau, deren himmelschËnes Innere nun hervortritt und das â°uï¬ere zu verherrlichen beginnt. Das Ganze schlieï¬t mit einer dankbaren Erwiderung an Makarien.
Sechstes Kapitel
Wilhelm an Lenardo
Endlich, teuerster Freund, kann ich sagen, sie ist gefunden, und zu Ihrer Beruhigung darf ich hinzusetzen, in einer Lage, wo f¸r das gute Wesen nichts weiter zu w¸nschen ¸brigbleibt. Lassen Sie mich im allgemeinen reden; ich schreibe noch hier an Ort und Stelle, wo ich alles vor Augen habe, wovon ich Rechenschaft geben soll.
Hâ°uslicher Zustand, auf FrËmmigkeit gegr¸ndet, durch Fleiï¬ und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im gl¸cklichsten Verhâ°ltnis der Pflichten zu den Fâ°higkeiten und Krâ°ften. Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten, anfâ°nglichsten Sinne; hier ist Beschrâ°nktheit und Wirkung in die Ferne, Umsicht und Mâ°ï¬igung, Unschuld und Tâ°tigkeit. Nicht leicht habe ich mich in einer angenehmeren Gegenwart gesehen, ¸ber welche eine heitere Aussicht auf die nâ°chste Zeit und die Zukunft waltet. Dieses, zusammen betrachtet, mËchte wohl hinreichend sein, einen jeden Teilnehmenden zu beruhigen.
Ich darf daher in Erinnerung alles dessen, was unter uns besprochen worden, auf das dringendste bitten: der Freund mËge es bei dieser allgemeinen Schilderung belassen, solche allenfalls in Gedanken ausmalen, dagegen aber aller weitern Nachforschung entsagen, und sich dem groï¬en Lebensgeschâ°fte, in das er nun wahrscheinlich vollkommen eingeweiht sein wird, auf die lebhafteste Weise widmen.
Ein Duplikat dieses Briefes sende an Hersilien, das andere an den AbbÃ, der, wie ich vermute, am sichersten weiï¬, wo Sie zu finden sind. An diesen gepr¸ften, im Geheimen und Offenbaren immer gleich zuverlâ°ssigen Freund schreibe noch einiges, welches er mitteilen wird; besonders bitte, was mich selbst betrifft, mit Anteil zu betrachten und mit frommen, treuen W¸nschen mein Vorhaben zu fËrdern. Wilhelm an den AbbÃ
Wenn mich nicht alles triegt, so ist Lenardo, der hËchst wertzuschâ°tzende, gegenwâ°rtig in eurer Mitte, und ich sende deshalb das Duplikat eines Schreibens, damit es ihm sicher zugestellt werde. MËge dieser vorz¸gliche junge Mann in euren Kreis zu ununterbrochenem bedeutendem Wirken verschlungen werden, da, wie ich hoffe, sein Inneres beruhigt ist.
Was mich betrifft, so kann ich, nach fortdauernder tâ°tiger Selbstpr¸fung, mein durch Montan vorlâ°ngst angebrachtes Gesuch nunmehr nur noch ernstlicher wiederholen; der Wunsch, meine Wanderjahre mit mehr Fassung und Stetigkeit zu vollenden, wird immer dringender. In sicherer Hoffnung, man w¸rde meinen Vorstellungen Raum geben, habe ich mich durchaus vorbereitet und meine Einrichtung getroffen. Nach Vollendung des Geschâ°fts zugunsten meines edlen Freundes werde ich nun wohl meinen fernern Lebensgang unter den schon ausgesprochenen Bedingungen getrost antreten d¸rfen. Sobald ich auch noch eine fromme Wallfahrt zur¸ckgelegt, gedenke ich in *** einzutreffen. An diesem Ort hoff ich eure Briefe zu finden und meinem innern Triebe gemâ°ï¬ von neuem zu beginnen.
Siebentes Kapitel
Nachdem unser Freund vorstehende Briefe abgelassen, schritt er, durch manchen benachbarten Gebirgszug fortwandernd, immer weiter, bis die herrliche Talgegend sich ihm erËffnete, wo er, vor Beginn eines neuen Lebensganges, so manches abzuschlieï¬en gedachte. Unerwartet traf er hier auf einen jungen, lebhaften Reisegefâ°hrten, durch welchen seinem Bestreben und seinem Genuï¬ manches zu Gunsten gereichen sollte. Er findet sich mit einem Maler zusammen, welcher, wie dergleichen viele in der offnen Welt, mehrere noch in Romanen und Dramen umherwandeln und spuken, sich diesmal als ein ausgezeichneter K¸nstler darstellte. Beide schicken sich gar bald ineinander, vertrauen sich wechselseitig Neigungen, Absichten, Vorsâ°tze, und nun wird offenbar, daï¬ der treffliche K¸nstler, der aquarellierte Landschaften mit geistreicher, wohl gezeichneter und ausgef¸hrter Staffage zu schm¸cken weiï¬, leidenschaftlich eingenommen sei von Mignons Schicksalen, Gestalt und Wesen. Er hatte sie gar oft schon vorgestellt und begab sich nun auf die Reise, die Umgebungen, worin sie gelebt, der Natur nachzubilden; hier das liebliche Kind in gl¸cklichen und ungl¸cklichen Umgebungen und Augenblicken darzustellen und so ihr Bild, das in allen zarten Herzen lebt, auch dem Sinne des Auges hervorzurufen.
Die Freunde gelangen bald zum groï¬en See, Wilhelm trachtet, die angedeuteten Stellen nach und nach aufzufinden. Lâ°ndliche Prachthâ°user, weitlâ°ufige KlËster, ¸berfahrten und Buchten, Erdzungen und Landungsplâ°tze wurden gesucht und die Wohnungen k¸hner und gutm¸tiger Fischer so wenig als die heiter gebauten Stâ°dtchen am Ufer und SchlËï¬chen auf benachbarten HËhen vergessen. Dies alles weiï¬ der K¸nstler zu ergreifen, durch Beleuchten und Fâ°rben der jedesmal geschichtlich erregten Stimmung anzueignen, so daï¬ Wilhelm seine Tage und Stunden in durchgreifender R¸hrung zubrachte.
Auf mehreren Blâ°ttern war Mignon im Vordergrunde, wie sie leibte und lebte, vorgestellt, indem Wilhelm der gl¸cklichen Einbildungskraft des Freundes durch genaue Beschreibung nachzuhelfen und das allgemeiner Gedachte ins Engere der PersËnlichkeit einzufassen wuï¬te.
Und so sah man denn das Knaben-Mâ°dchen in mannigfaltiger Stellung und Bedeutung aufgef¸hrt. Unter dem hohen Sâ°ulenportale des herrlichen Landhauses stand sie, nachdenklich die Statuen der Vorhalle betrachtend. Hier schaukelte sie sich plâ°tschernd auf dem angebundenen Kahn, dort erkletterte sie den Mast und erzeigte sich als ein k¸hner Matrose.
Ein Bild aber tat sich vor allen hervor, welches der K¸nstler auf der Herreise, noch eh’ er Wilhelmen begegnet, mit allen Charakterz¸gen sich angeeignet hatte. Mitten im rauhen Gebirge glâ°nzt der anmutige Scheinknabe, von Sturzfelsen umgeben, von Wasserfâ°llen bespr¸ht, mitten in einer schwer zu beschreibenden Horde. Vielleicht ist eine grauerliche, steile Urgebirg-Schlucht nie anmutiger und bedeutender staffiert worden. Die bunte, zigeunerhafte Gesellschaft, roh zugleich und phantastisch, seltsam und gemein, zu locker, um Furcht einzuflËï¬en, zu wunderlich, um Vertrauen zu erwecken. Krâ°ftige Saumrosse schleppen, bald ¸ber Kn¸ppelwege, bald eingehauene Stufen hinab, ein buntverworrenes Gepâ°ck, an welchem herum die sâ°mtlichen Instrumente einer betâ°ubenden Musik, schlotternd aufgehâ°ngt, das Ohr mit rauhen TËnen von Zeit zu Zeit belâ°stigen. Zwischen allem dem das liebensw¸rdige Kind, in sich gekehrt ohne Trutz, unwillig ohne Widerstreben, gef¸hrt, aber nicht geschleppt. Wer hâ°tte sich nicht des merkw¸rdigen, ausgef¸hrten Bildes gefreut? Krâ°ftig charakterisiert war die grimmige Enge dieser Felsmassen; die alles durchschneidenden schwarzen Schluchten, zusammenget¸rmt, allen Ausgang zu hindern drohend, hâ°tte nicht eine k¸hne Br¸cke auf die MËglichkeit, mit der ¸brigen Welt in Verbindung zu gelangen, hingedeutet. Auch lieï¬ der K¸nstler mit klugdichtendem Wahrheitssinne eine HËhle merklich werden, die man als Naturwerkstatt mâ°chtiger Kristalle oder als Aufenthalt einer fabelhaft-furchtbaren Drachenbrut ansprechen konnte.
Nicht ohne heilige Scheu besuchten die Freunde den Palast des Marchese; der Greis war von seiner Reise noch nicht zur¸ck; sie wurden aber auch in diesem Bezirk, weil sie sich mit geistlichen und weltlichen BehËrden wohl zu benehmen wuï¬ten, freundlich empfangen und behandelt.
Die Abwesenheit des Hausherrn jedoch empfand Wilhelm sehr angenehm; denn ob er gleich den w¸rdigen Mann gerne wieder gesehen und herzlich begr¸ï¬t hâ°tte, so f¸rchtete er sich doch vor dessen dankbarer Freigebigkeit und vor irgendeiner aufgedrungenen Belohnung jenes treuen, liebevollen Handelns, wof¸r er schon den zartesten Lohn dahingenommen hatte.
Und so schwammen die Freunde auf zierlichem Nachen von Ufer zu Ufer, den See in jeder Richtung durchkreuzend. In der schËnsten Jahrszeit entging ihnen weder Sonnenaufgang noch -untergang und keine der tausend Schattierungen, mit denen das Himmelslicht sein Firmament und von da See und Erde freigebigst ¸berspendet und sich im Abglanz erst vollkommen verherrlicht.
Eine ¸ppige Pflanzenwelt, ausgesâ°et von Natur, durch Kunst gepflegt und gefËrdert, umgab sie ¸berall. Schon die ersten Kastanienwâ°lder hatten sie willkommen geheiï¬en, und nun konnten sie sich eines traurigen Lâ°chelns nicht enthalten, wenn sie, unter Zypressen gelagert, den Lorbeer aufsteigen, den Granatapfel sich rËten, Orangen und Zitronen in Bl¸te sich entfalten und Fr¸chte zugleich aus dem dunklen Laube hervorgl¸hend erblickten.
Durch den frischen Gesellen entstand jedoch f¸r Wilhelm ein neuer Genuï¬. Unserm alten Freund hatte die Natur kein malerisches Auge gegeben. Empfâ°nglich f¸r sichtbare SchËnheit nur an menschlicher Gestalt, ward er auf einmal gewahr: ihm sei durch einen gleichgestimmten, aber zu ganz andern Gen¸ssen und Tâ°tigkeiten gebildeten Freund die Umwelt aufgeschlossen.
In gesprâ°chiger Hindeutung auf die wechselnden Herrlichkeiten der Gegend, mehr aber noch durch konzentrierte Nachahmung wurden ihm die Augen aufgetan und er von allen sonst hartnâ°ckig gehegten Zweifeln befreit. Verdâ°chtig waren ihm von jeher Nachbildungen italienischer Gegenden gewesen; der Himmel schien ihm zu blau, der violette Ton reizender Fernen zwar hËchst lieblich, doch unwahr und das mancherlei frische Gr¸n doch gar zu bunt; nun verschmolz er aber mit seinem neuen Freunde aufs innigste und lernte, empfâ°nglich wie er war, mit dessen Augen die Welt sehen, und indem die Natur das offenbare Geheimnis ihrer SchËnheit entfaltete, muï¬te man nach Kunst als der w¸rdigsten Auslegerin unbezwingliche Sehnsucht empfinden.
Aber ganz unerwartet kam der malerische Freund ihm von einer andern Seite entgegen; dieser hatte manchmal einen heitern Gesang angestimmt und dadurch ruhige Stunden auf weit–und breiter Wellenfahrt gar innig belebt und begleitet. Nun aber traf sich’s, daï¬ er in einem der Palâ°ste ein ganz eigenes Saitenspiel fand, eine Laute in kleinem Format, krâ°ftig, vollklingend, bequem und tragbar; er wuï¬te das Instrument alsbald zu stimmen, so gl¸cklich und angenehm zu behandeln und die Gegenwâ°rtigen so freundlich zu unterhalten, daï¬ er, als neuer Orpheus, den sonst strengen und trocknen Kastellan erweichend bezwang und ihn freundlich nËtigte, das Instrument dem Sâ°nger auf eine Zeitlang zu ¸berlassen, mit der Bedingung, solches vor der Abreise treulich wiederzugeben, auch in der Zwischenzeit an irgendeinem Sonn–oder Feiertage zu erscheinen und die Familie zu erfreuen.
Ganz anders war nunmehr See und Ufer belebt, Boot und Kahn buhlten um ihre Nachbarschaft, selbst Fracht–und Marktschiffe verweilten in ihrer Nâ°he, Reihen von Menschen zogen am Strande nach, und die Landenden sahen sich sogleich von einer frohsinnigen Menge umgeben; die Scheidenden segnete jedermann, zufrieden, doch sehnsuchtsvoll.
Nun hâ°tte zuletzt ein Dritter, die Freunde beobachtend, gar wohl bemerken kËnnen, daï¬ die Sendung beider eigentlich geendigt sei: alle die auf Mignon sich beziehenden Gegenden und Lokalitâ°ten waren sâ°mtlich umrissen, teils in Licht, Schatten und Farbe gesetzt, teils in heiï¬en Tagesstunden treulich ausgef¸hrt. Dies zu leiten, hatten sie sich auf eine eigne Weise von Ort zu Ort bewegt, weil ihnen Wilhelms Gel¸bde gar oft hinderlich war; doch wuï¬ten sie solches gelegentlich zu umgehen durch die Auslegung: es gelte nur f¸r das Land, auf dem Wasser sei es nicht anwendbar.
Auch f¸hlte Wilhelm selbst, daï¬ ihre eigentliche Absicht erreicht sei, aber leugnen konnte er sich nicht, daï¬ der Wunsch, Hilarien und die schËne Witwe zu sehen, auch noch befriedigt werden m¸sse, wenn man mit freiem Sinne diese Gegend verlassen wollte. Der Freund, dem er die Geschichte vertraut, war nicht weniger neugierig und freute sich schon, einen herrlichen Platz in einer seiner Zeichnungen leer und ledig zu wissen, den er mit den Gestalten so holder Personen k¸nstlerisch zu verzieren gedachte.
Nun stellten sie Kreuz-und-Quer-Fahrten an, die Punkte, wo der Fremde in dieses Paradies einzutreten pflegt, beobachtend. Ihre Schiffer hatten sie mit der Hoffnung, Freunde hier zu sehen, bekannt gemacht, und nun dauerte es nicht lange, so sahen sie ein wohlverziertes Prachtschiff herangleiten, worauf sie Jagd machten und sich nicht enthielten, sogleich leidenschaftlich zu entern. Die Frauenzimmer, einigermaï¬en betroffen, faï¬ten sich sogleich, als Wilhelm das Blâ°ttchen vorwies und beide den von ihnen selbst vorgezeichneten Pfeil ohne Bedenken anerkannten. Die Freunde wurden alsbald zutraulich eingeladen, das Schiff der Damen zu besteigen, welches eilig geschah.
Und nun vergegenwâ°rtige man sich die viere, wie sie, im zierlichsten Raum beisammen, gegen einander ¸ber sitzen in der seligsten Welt, von lindem Lufthauch angeweht, auf glâ°nzenden Wellen geschaukelt. Man denke das weibliche Paar, wie wir sie vor kurzem geschildert gesehen, das mâ°nnliche, mit dem wir schon seit Wochen ein gemeinsames Reiseleben f¸hren, und wir sehen sie nach einiger Betrachtung sâ°mtlich in der anmutigsten, obgleich gefâ°hrlichsten Lage.
F¸r die drei, welche sich schon, willig oder unwillig, zu den Entsagenden gezâ°hlt, ist nicht das Schwerste zu besorgen, der Vierte jedoch d¸rfte sich nur allzubald in jenen Orden aufgenommen sehen.
Nachdem man einigemal den See durchkreuzt und auf die interessantesten Lokalitâ°ten sowohl des Ufers als der Inseln hingedeutet hatte, brachte man die Damen gegen den Ort, wo sie ¸bernachten sollten und wo ein gewandter, f¸r diese Reise angenommener F¸hrer alle w¸nschenswerten Bequemlichkeiten zu besorgen wuï¬te. Hier war nun Wilhelms Gel¸bde ein schicklicher, aber unbequemer Zeremonienmeister; denn gerade an dieser Station hatten die Freunde vor kurzem drei Tage zugebracht und alles Merkw¸rdige der Umgebung erschËpft. Der K¸nstler, welchen kein Gel¸bde zur¸ckhielt, wollte die Erlaubnis erbitten, die Damen ans Land zu geleiten, die es aber ablehnten, weswegen man sich in einiger Entfernung vom Hafen trennte.
Kaum war der Sâ°nger in sein Schiff gesprungen, das sich eiligst vom Ufer entfernte, als er nach der Laute griff und jenen wundersam-klagenden Gesang, den die venezianischen Schiffer von Land zu See, von See zu Land erschallen lassen, lieblich anzustimmen begann. Ge¸bt genug zu solchem Vortrag, der ihm diesmal eigens zart und ausdrucksvoll gelang, verstâ°rkte er, verhâ°ltnismâ°ï¬ig zur wachsenden Entfernung, den Ton, so daï¬ man am Ufer immer die gleiche Nâ°he des Scheidenden zu hËren glaubte. Er lieï¬ zuletzt die Laute schweigen, seiner Stimme allein vertrauend, und hatte das Vergn¸gen, zu bemerken, daï¬ die Damen, anstatt sich ins Haus zur¸ckzuziehen, am Ufer zu verweilen beliebten. Er f¸hlte sich so begeistert, daï¬ er nicht endigen konnte, auch selbst als zuletzt Nacht und Entfernung das Anschauen aller Gegenstâ°nde entzogen; bis ihm endlich der mehr beruhigte Freund bemerklich machte, daï¬, wenn auch Finsternis den Ton beg¸nstigte, das Schiff den Kreis doch lâ°ngst verlassen habe, in welchem derselbe wirken kËnne.
Der Verabredung gemâ°ï¬ traf man sich des andern Tags abermals auf offener See. Vor¸berfliegend befreundete man sich mit der schËnen Reihe merkw¸rdig hingelagerter, bald reihenweis ¸bersehbarer, bald sich verschiebender Ansichten, die, im Wasser sich gleichmâ°ï¬ig verdoppelnd, bei Uferfahrten das mannigfaltigste Vergn¸gen gewâ°hren. Dabei lieï¬en denn die k¸nstlerischen Nachbildungen auf dem Papier dasjenige vermuten und ahnen, was man auf dem heutigen Zug nicht unmittelbar gewahrte. F¸r alles dieses schien die stille Hilarie freien und schËnen Sinn zu besitzen.
Aber nun gegen Mittag erschien abermals das Wunderbare: die Damen landeten allein, die Mâ°nner kreuzten vor dem Hafen. Nun suchte der Sâ°nger seinen Vortrag einer solchen Annâ°herung zu bequemen, wo nicht bloï¬ von einem zart und lebhaft jodelnden allgemeinen Sehnsuchtston, sondern von heiterer, zierlicher Andringlichkeit irgendeine gl¸ckliche Wirkung zu hoffen wâ°re. Da wollte denn manchmal ein und das andere der Lieder, die wir geliebten Personen der “Lehrjahre” schuldig sind, ¸ber den Saiten, ¸ber den Lippen schweben; doch enthielt er sich, aus wohlmeinender Schonung, deren er selbst bedurfte, und schwâ°rmte vielmehr in fremden Bildern und Gef¸hlen umher, zum Gewinn seines Vortrags, der sich nur um desto einschmeichelnder vernehmen lieï¬. Beide Freunde hâ°tten, auf diese Weise den Hafen blockierend, nicht an Essen und Trinken gedacht, wenn die vorsichtigen Freundinnen nicht gute Bissen her¸bergesendet hâ°tten, wozu ein begleitender Trunk ausgesuchten Weins zum allerbesten schmeckte.
Jede Absonderung, jede Bedingung, die unsern aufkeimenden Leidenschaften in den Weg tritt, schâ°rft sie, anstatt sie zu dâ°mpfen; und auch diesmal lâ°ï¬t sich vermuten, daï¬ die kurze Abwesenheit beiden Teilen gleiche Sehnsucht erregt habe. Allerdings! man sah die Damen in ihrer blendend-muntern Gondel gar bald wieder heranfahren.
Das Wort Gondel nehme man aber nicht im traurigen venezianischen Sinne; hier bezeichnet es ein lustig-bequem-gefâ°lliges Schiff, das, hâ°tte sich unser kleiner Kreis verdoppelt, immer noch gerâ°umig genug gewesen wâ°re.
Einige Tage wurden so auf diese eigene Weise zwischen Begegnen und Scheiden, zwischen Trennen und Zusammensein hingebracht; im Genuï¬ vergn¸glichster Geselligkeit schwebte immer Entfernen und Entbehren vor der bewegten Seele. In Gegenwart der neuen Freunde rief man sich die â°ltern zur¸ck; vermiï¬te man die neuen, so muï¬te man bekennen, daï¬ auch diese schon starken Anspruch an Erinnerung zu erwerben gewuï¬t. Nur ein gefaï¬ter, gepr¸fter Geist wie unsere schËne Witwe konnte sich zu solcher Stunde vËllig im Gleichgewicht erhalten.
Hilariens Herz war zu sehr verwundet, als daï¬ es einen neuen, reinen Eindruck zu empfangen fâ°hig gewesen wâ°re; aber wenn die Anmut einer herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gef¸hlvoller Freunde auf uns einwirkt, so kommt etwas Eigenes ¸ber Geist und Sinn, das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zur¸ckruft und das Gegenwâ°rtige, als wâ°re es nur Erscheinung, geistermâ°ï¬ig entfernt. So abwechselnd hin und wider geschaukelt, angezogen und abgelehnt, genâ°hert und entfernt, wallten und wogten sie verschiedene Tage.
Ohne diese Verhâ°ltnisse nâ°her zu beurteilen, glaubte doch der gewandte, wohlerfahrene Reisef¸hrer einige Verâ°nderung in dem ruhigen Betragen seiner Heldinnen gegen das bisherige zu bemerken, und als das Grillenhafte dieser Zustâ°nde sich ihm endlich aufgeklâ°rt hatte, wuï¬te er auch hier das Erfreulichste zu vermitteln. Denn als man eben die Damen abermals zu dem Orte, wo ihre Tafel bereitet wâ°re, bringen wollte, begegnete ihnen ein anderes geschm¸cktes Schiff, das, an das ihrige sich anlegend, einen gut gedeckten Tisch mit allen Heiterkeiten einer festlichen Tafel einladend vorwies; man konnte nun den Verlauf mehrerer Stunden zusammen abwarten, und erst die Nacht entschied die herkËmmliche Trennung.
Gl¸cklicherweise hatten die mâ°nnlichen Freunde auf ihren fr¸heren Fahrten gerade die geschm¸ckteste der Inseln aus einer gewissen Naturgrille zu betreten vernachlâ°ssigt und auch jetzt nicht gedacht, die dortigen, keineswegs im besten Stand erhaltenen K¸nsteleien den Freundinnen vorzuzeigen, ehe die herrlichen Weltszenen vËllig erschËpft wâ°ren. Doch zuletzt ging ihnen ein ander Licht auf! Man zog den F¸hrer ins Vertrauen, dieser wuï¬te jene Fahrt sogleich zu beschleunigen, und sie hielten solche f¸r die seligste. Nun durften sie hoffen und erwarten, nach so manchen unterbrochenen Freuden drei volle himmlische Tage, in einem abgeschlossenen Bezirk versammelt, zuzubringen.
Hier m¸ssen wir nun den Reisef¸hrer besonders r¸hmen; er gehËrte zu jenen beweglichen, tâ°tig gewandten, welche, mehrere Herrschaften geleitend, dieselben Routen oft zur¸cklegen; mit Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten genau bekannt, die einen zu vermeiden, die andern zu benutzen und, ohne Hintansetzung eignen Vorteils, ihre Patrone doch immer wohlfeiler und vergn¸glicher durchs Land zu f¸hren verstehen, als diesen auf eigene Hand w¸rde gelungen sein.
Zu gleicher Zeit tat sich eine lebhafte weibliche Bedienung der Frauenzimmer zum erstenmal entschieden tâ°tig hervor, so daï¬ die schËne Witwe zur Bedingung machen konnte, die beiden Freunde mËchten bei ihr als Gâ°ste einkehren und mit mâ°ï¬iger Bewirtung vorliebnehmen. Auch hier gelang alles zum g¸nstigsten: denn der kluge Geschâ°ftstrâ°ger hatte, bei dieser Gelegenheit wie fr¸her, von den Empfehlungs–und Kreditbriefen der Damen so klugen Gebrauch zu machen gewuï¬t, daï¬, in Abwesenheit der Besitzer, Schloï¬ und Garten, nicht weniger die K¸che zu beliebigem Gebrauch erËffnet wurden, ja sogar einige Aussicht auf den Keller blieb. Alles stimmte nun so zusammen, daï¬ man sich gleich vom ersten Augenblick an als einheimisch, als eingeborne Herrschaft solcher Paradiese f¸hlen muï¬te.
Das sâ°mtliche Gepâ°ck aller unserer Reisenden ward sogleich auf die Insel gebracht, wodurch f¸r die Gesellschaft groï¬e Bequemlichkeit entstand, der grËï¬te Vorteil aber dabei erzielt ward, indem die sâ°mtlichen Portefeuilles des trefflichen K¸nstlers, zum erstenmal alle beisammen, ihm Gelegenheit gaben, den Weg, den er genommen, in stetiger Folge den SchËnen zu vergegenwâ°rtigen. Man nahm die Arbeit mit Entz¸cken auf. Nicht etwa wie Liebhaber und K¸nstler sich wechselweise prâ°konisieren, hier ward einem vorz¸glichen Manne das gef¸hlteste und einsichtigste Lob erteilt. Damit wir aber nicht in Verdacht geraten, als wollten wir mit allgemeinen Phrasen dasjenige, was wir nicht vorzeigen kËnnen, glâ°ubigen Lesern nur unterschieben, so stehe hier das Urteil eines Kenners, der bei jenen fraglichen sowohl als gleichen und â°hnlichen Arbeiten mehrere Jahre nachher bewundernd verweilte.
“Ihm gelingt, die heitere Ruhe stiller Seeaussichten darzustellen, wo anliegend-freundliche Wohnungen, sich in der klaren Flut spiegelnd, gleichsam zu baden scheinen; Ufer, mit begr¸nten H¸geln umgeben, hinter denen Waldgebirge sind eisige Gletscherfirnen aufsteigen. Der Farbenton solcher Szenen ist heiter, frËhlich-klar; die Fernen mit milderndem Duft wie ¸bergossen, der, nebelgrauer und einh¸llender, aus durchstrËmenden Gr¸nden und Tâ°lern hervorsteigt und ihre Windungen andeutet. Nicht minder ist des Meisters Kunst zu loben in Ansichten aus Tâ°lern, nâ°her am Hochgebirg gelegen, wo ¸ppig bewachsene Bergeshâ°nge niedersteigen, frische StrËme sich am Fuï¬ der Felsen eilig fortwâ°lzen.
Trefflich weiï¬ er in mâ°chtig schattenden Bâ°umen des Vordergrundes den unterscheidenden Charakter verschiedener Arten so in Gestalt des Ganzen wie in dem Gang der Zweige, den einzelnen Partien der Blâ°tter befriedigend anzudeuten; nicht weniger in dem auf mancherlei Weise nuancierten frischen Gr¸n, worin sanfte L¸fte mit gelindem Hauch zu fâ°cheln und die Lichter daher gleichsam bewegt erscheinen.
Im Mittelgrund ermattet allmâ°hlich der lebhafte gr¸ne Ton und vermâ°hlt sich auf entferntern BerghËhen schwach violett mit dem Blau des Himmels. Doch unserm K¸nstler gl¸cken ¸ber alles Darstellungen hËherer Alpgegenden; das einfach Groï¬e und Stille ihres Charakters, die ausgedehnten Weiden am Bergeshang, mit dem frischesten Gr¸n ¸berkleidet, wo dunkel einzeln stehende Tannen aus dem Rasenteppich ragen und von hohen Felswâ°nden sich schâ°umende Bâ°che st¸rzen. Mag er die Weiden mit grasendem Rindvieh staffieren oder den engen, um Felsen sich windenden Bergpfad mit beladenen Saumpferden und Maultieren, er zeichnet alle gleich gut und geistreich; immer am schicklichen Ort und nicht in zu groï¬er F¸lle angebracht, zieren und beleben sie diese Bilder, ohne ihre ruhige Einsamkeit zu stËren oder auch nur zu mindern. Die Ausf¸hrung zeugt von der k¸hnsten Meisterhand, leicht mit wenigen sichern Strichen und doch vollendet. Er bediente sich spâ°ter englischer glâ°nzender Permanentfarben auf Papier, daher sind diese Gemâ°lde von vorz¸glich bl¸hendem Farbenton, heiter, aber zugleich krâ°ftig und gesâ°ttigt.
Seine Abbildungen tiefster Felsschluchten, wo um und um nur totes Gestein starrt, im Abgrund, von k¸hner Br¸cke ¸bersprungen, der wilde Strom tobt, gefallen zwar nicht wie die vorigen, doch ergreift uns ihre Wahrheit; wir bewundern die groï¬e Wirkung des Ganzen, durch wenige bedeutende Striche und Massen von Lokalfarben mit dem geringsten Aufwand hervorgebracht.
Ebenso charakteristisch weiï¬ er die Gegenden des Hochgebirges darzustellen, wo weder Baum noch Gestrâ°uch mehr fortkommt, sondern nur zwischen Felszacken und Schneegipfeln sonnige Flâ°chen mit zartem Rasen sich bedecken. So schËn und gr¸nduftig und einladend er dergleichen Stellen auch koloriert, so sinnig hat er doch unterlassen, hier mit weidenden Herden zu staffieren, denn diese Gegenden geben nur Futter den Gemsen, und Wildheuern einen gefahrvollen Erwerb.”
Wir entfernen uns nicht von der Absicht, unsern Lesern den Zustand solcher wilden Gegenden so nah als mËglich zu bringen, wenn wir das eben gebrauchte Wort Wildheuer mit wenigem erklâ°ren. Man bezeichnet damit â°rmere Bewohner der Hochgebirge, welche sich unterfangen, auf Grasplâ°tzen, die f¸r das Vieh schlechterdings unzugâ°nglich sind, Heu zu machen. Sie ersteigen deswegen, mit Steigehaken an den F¸ï¬en, die steilsten, gefâ°hrlichsten Klippen, oder lassen sich, wo es nËtig ist, von hohen Felswâ°nden an Stricken auf die besagten Grasplâ°tze herab. Ist nun das Gras von ihnen geschlagen und zu Heu getrocknet, so werfen sie solches von den HËhen in tiefere Talgr¸nde herab, wo dasselbe, wieder gesammelt, an Viehbesitzer verkauft wird, die es der vorz¸glichen Beschaffenheit wegen gern erhandeln.
Jene Bilder, die zwar einen jeden erfreuen und anziehen m¸ï¬ten, betrachtete Hilarie besonders mit groï¬er Aufmerksamkeit; ihre Bemerkungen gaben zu erkennen, daï¬ sie selbst diesem Fache nicht fremd sei; am wenigsten blieb dies dem K¸nstler verborgen, der sich von niemand lieber erkannt gesehen hâ°tte als gerade von dieser anmutigsten aller Personen. Die â°ltere Freundin schwieg daher nicht lâ°nger, sondern tadelte Hilarien, daï¬ sie mit ihrer eigenen Geschicklichkeit hervorzutreten auch diesmal, wie immer, zaudere; hier sei die Frage nicht, gelobt oder getadelt zu werden, sondern zu lernen. Eine schËnere Gelegenheit finde sich vielleicht nicht wieder.
Nun zeigte sich erst, als sie genËtigt war, ihre Blâ°tter vorzuweisen, welch ein Talent hinter diesem stillen, zierlichsten Wesen verborgen liege; die Fâ°higkeit war eingeboren, fleiï¬ig ge¸bt. Sie besaï¬ ein treues Auge, eine reinliche Hand, wie sie Frauen bei ihren sonstigen Schmuck–und Putzarbeiten zu hËherer Kunst befâ°higt. Man bemerkte freilich Unsicherheit in den Strichen und deshalb nicht hinlâ°nglich ausgesprochenen Charakter der Gegenstâ°nde, aber man bewunderte genugsam die fleiï¬igste Ausf¸hrung; dabei jedoch das Ganze nicht aufs vorteilhafteste gefaï¬t, nicht k¸nstlerisch zurechtger¸ckt. Sie f¸rchtet, so scheint es, den Gegenstand zu entweihen, bliebe sie ihm nicht vollkommen getreu, deshalb ist sie â°ngstlich und verliert sich im Detail.
Nun aber f¸hlt sie sich durch das groï¬e, freie Talent, die dreiste Hand des K¸nstlers aufgeregt, erweckt, was von Sinn und Geschmack in ihr treulich schlummerte; es geht ihr auf, daï¬ sie nur Mut fassen, einige Hauptmaximen, die ihr der K¸nstler gr¸ndlich, freundlich-dringend, wiederholt ¸berlieferte, ernst und strâ°cklich befolgen m¸sse. Die Sicherheit des Striches findet sich ein, sie hâ°lt sich allmâ°hlich weniger an die Teile als ans Ganze, und so schlieï¬t sich die schËnste Fâ°higkeit unvermutet zur Fertigkeit auf: wie eine Rosenknospe, an der wir noch abends unbeachtend vor¸bergingen, morgens mit Sonnenaufgang vor unsern Augen hervorbricht, so daï¬ wir das lebende Zittern, das die herrliche Erscheinung dem Lichte entgegenregt, mit Augen zu schauen glauben.
Auch nicht ohne sittliche Nachwirkung war eine solche â°sthetische Ausbildung geblieben: denn einen magischen Eindruck auf ein reines Gem¸t bewirkt das Gewahrwerden der innigsten Dankbarkeit gegen irgend jemand, dem wir entscheidende Belehrung schuldig sind. Diesmal war es das erste frohe Gef¸hl, das in Hilariens Seele nach geraumer Zeit hervortrat. Die herrliche Welt erst tagelang vor sich zu sehen und nun die auf einmal verliehene vollkommenere Darstellungsgabe zu empfinden! Welche Wonne, in Z¸gen und Farben dem Unaussprechlichen nâ°her zu treten! Sie f¸hlte sich mit einer neuen Jugend ¸berrascht und konnte sich eine besondere Anneigung zu jenem, dem sie dies Gl¸ck schuldig geworden, nicht versagen.
So saï¬en sie nebeneinander; man hâ°tte nicht unterscheiden kËnnen, wer hastiger, Kunstvorteile zu ¸berliefern oder sie zu ergreifen und auszu¸ben, gewesen wâ°re. Der gl¸cklichste Wettstreit, wie er sich selten zwischen Sch¸ler und Meister entz¸ndet, tat sich hervor. Manchmal schien der Freund auf ihr Blatt mit einem entscheidenden Zuge einwirken zu wollen, sie aber, sanft ablehnend, eilte, gleich das Gew¸nschte, das Notwendige zu tun, und immer zu seinem Erstaunen.
Der letzte Abend war nun herangekommen, und ein hervorleuchtender, klarster Vollmond lieï¬ den ¸bergang von Tag zu Nacht nicht empfinden. Die Gesellschaft hatte sich zusammen auf einer der hËchsten Terrassen gelagert, den ruhigen, von allen Seiten her erleuchteten und rings widerglâ°nzenden See, dessen Lâ°nge sich zum Teil verbarg, seiner Breite nach ganz und klar zu ¸berschauen.
Was man nun auch in solchen Zustâ°nden besprechen mochte, so war doch nicht zu unterlassen, das hundertmal Besprochene, die Vorz¸ge dieses Himmels, dieses Wassers, dieser Erde, unter dem Einfluï¬ einer gewaltigern Sonne, eines mildern Mondes nochmals zu bereden, ja sie ausschlieï¬lich und lyrisch anzuerkennen.
Was man sich aber nicht gestand, was man sich kaum selbst bekennen mochte, war das tiefe, schmerzliche Gef¸hl, das in jedem Busen stâ°rker oder schwâ°cher, durchaus aber gleich wahr und zart sich bewegte. Das Vorgef¸hl des Scheidens verbreitete sich ¸ber die Gesamtheit; ein allmâ°hliches Verstummen wollte fast â°ngstlich werden.
Da ermannte, da entschloï¬ sich der Sâ°nger, auf seinem Instrumente krâ°ftig prâ°ludierend, uneingedenk jener fr¸heren wohlbedachten Schonung. Ihm schwebte Mignons Bild mit dem ersten Zartgesang des holden Kindes vor. Leidenschaftlich ¸ber die Grenze gerissen, mit sehns¸chtigem Griff die wohlklingenden Saiten aufregend, begann er anzustimmen:
“Kennst du das Land, wo die Zitronen bl¸hn, Im dunklen Laub—”
Hilarie stand ersch¸ttert auf und entfernte sich, die Stirne verschleiernd; unsere schËne Witwe bewegte ablehnend eine Hand gegen den Sâ°nger, indem sie mit der andern Wilhelms Arm ergriff. Hilarien folgte der wirklich verworrene J¸ngling, Wilhelmen zog die mehr besonnene Freundin hinter beiden drein. Und als sie nun alle viere im hohen Mondschein sich gegen¸berstanden, war die allgemeine R¸hrung nicht mehr zu verhehlen. Die Frauen warfen sich einander in die Arme, die Mâ°nner umhalsten sich, und Luna ward Zeuge der edelsten, keuschesten Trâ°nen. Einige Besinnung kehrte langsam erst zur¸ck, man zog sich auseinander, schweigend, unter seltsamen Gef¸hlen und W¸nschen, denen doch die Hoffnung schon abgeschnitten war. Nun f¸hlte sich unser K¸nstler, welchen der Freund mit sich riï¬, unter dem hehren Himmel, in der ernst-lieblichen Nachtstunde, eingeweiht in alle Schmerzen des ersten Grades der Entsagenden, welchen jene Freunde schon ¸berstanden hatten, nun aber sich in Gefahr sahen, abermals schmerzlich gepr¸ft zu werden.
Spâ°t hatten sich die J¸nglinge zur Ruhe begeben, und am fr¸hen Morgen zeitig erwachend, faï¬ten sie ein Herz und glaubten sich stark zu einem Abschied aus diesem Paradiese, ersannen mancherlei Plane, wie sie ohne Pflichtverletzung in der angenehmen Nâ°he zu verharren allenfalls mËglich machten.
Ihre Vorschlâ°ge deshalb gedachten sie anzubringen, als die Nachricht sie ¸berraschte, schon beim fr¸hsten Scheine des Tages seien die Damen abgefahren. Ein Brief von der Hand unserer HerzenskËnigin belehrte sie des Weitern. Man konnte zweifelhaft sein, ob mehr Verstand oder G¸te, mehr Neigung oder Freundschaft, mehr Anerkennung des Verdienstes oder leises, verschâ°mtes Vorurteil darin ausgesprochen sei. Leider enthielt der Schluï¬ die harte Forderung, daï¬ man den Freundinnen weder folgen noch sie irgendwo aufsuchen, ja, wenn man sich zufâ°llig begegnete, einander treulich ausweichen wolle.
Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag f¸r die Freunde zur vËlligen W¸ste gewandelt; und gewiï¬ hâ°tten sie selbst gelâ°chelt, wâ°re ihnen in dem Augenblick klar geworden, wie ungerecht-undankbar sie sich auf einmal gegen eine so schËne, so merkw¸rdige Umgebung verhielten. Kein selbsts¸chtiger Hypochondrist w¸rde so scharf und scheels¸chtig den Verfall der Gebâ°ude, die Vernachlâ°ssigung der Mauern, das Verwittern der T¸rme, den Gras¸berzug der Gâ°nge, das Aussterben der Bâ°ume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten, und was noch alles dergleichen zu bemerken wâ°re, ger¸gt und gescholten haben. Sie faï¬ten sich indes, so gut es sich f¸gen wollte; unser K¸nstler packte sorgfâ°ltig seine Arbeit zusammen, sie schifften beide sich ein, Wilhelm begleitete ihn bis in die obere Gegend des Sees, wo jener nach fr¸herer Verabredung seinen Weg zu Natalien suchte, um sie durch die schËnen landschaftlichen Bilder in Gegenden zu versetzen, die sie vielleicht so bald nicht betreten sollte. Berechtigt ward er zugleich, den unerwarteten Fall bekennend vorzutragen, wodurch er in die Lage geraten, von den Bundesgliedern des Entsagens aufs freundlichste in die Mitte genommen und durch liebevolle Behandlung, wo nicht geheilt, doch getrËstet zu werden. Lenardo an Wilhelm
Ihr Schreiben, mein Teuerster, traf mich in einer Tâ°tigkeit, die ich Verwirrung nennen kËnnte, wenn der Zweck nicht so groï¬, das Erlangen nicht so sicher wâ°re. Die Verbindung mit den Ihrigen ist wichtiger, als beide Teile sich denken konnten. Dar¸ber darf ich nicht anfangen zu schreiben, weil sich gleich hervortut, wie un¸bersehbar das Ganze, wie unaussprechlich die Verkn¸pfung. Tun ohne Reden muï¬ jetzt unsre Losung sein. Tausend Dank, daï¬ Sie mir auf ein so anmutiges Geheimnis halb verschleiert in die Ferne hindeuten; ich gËnne dem guten Wesen einen so einfach gl¸cklichen Zustand, indessen mich ein Wirbel von Verschlingungen, doch nicht ohne Leitstern, umhertreiben wird. Der Abbà ¸bernimmt, das Weitere zu vermelden, ich darf nur dessen gedenken, was fËrdert; die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken. Sie haben mich–und hier nicht weiter; wo genug zu schaffen ist, bleibt kein Raum f¸r Betrachtung. Der Abbà an Wilhelm
Wenig hâ°tte gefehlt, so wâ°re Ihr wohlgemeinter Brief, ganz Ihrer Absicht entgegen, uns hËchst schâ°dlich geworden. Die Schilderung der Gefundenen ist so gem¸tlich und reizend, daï¬, um sie gleichfalls aufzufinden, der wunderliche Freund vielleicht alles hâ°tte stehen und liegen lassen, wâ°ren unsre nunmehr verb¸ndeten Plane nicht so groï¬ und weitaussehend. Nun aber hat er die Probe bestanden, und es bestâ°tigt sich, daï¬ er von der wichtigen Angelegenheit vËllig durchdrungen ist und sich von allem andern ab–und allein dorthin gezogen f¸hlt.
In diesem unserm neuen Verhâ°ltnis, dessen Einleitung wir Ihnen verdanken, ergaben sich bei nâ°herer Untersuchung f¸r jene wie f¸r uns weit grËï¬ere Vorteile, als man gedacht hâ°tte.
Denn gerade durch eine von der Natur weniger beg¸nstigte Gegend, wo ein Teil der G¸ter gelegen ist, die ihm der Oheim abtritt, ward in der neuern Zeit ein Kanal projektiert, der auch durch unsere Besitzungen sich ziehen wird und wodurch, wenn wir uns aneinander schlieï¬en, sich der Wert derselben ins Unberechenbare erhËht.
Hierbei kann er seine Hauptneigung, ganz von vorne anzufangen, sehr bequem entwickeln. Zu beiden Seiten jener Wasserstraï¬e wird unbebautes und unbewohntes Land genugsam zu finden sein; dort mËgen Spinnerinnen und Weberinnen sich ansiedeln, Maurer, Zimmerleute und Schmiede sich und ihnen mâ°ï¬ige Werkstâ°tten bestellen; alles mag durch die erste Hand verrichtet werden, indessen wir andern die verwickelten Aufgaben zu lËsen unternehmen und den Umschwung der Tâ°tigkeit zu befËrdern wissen.
Dieses ist also die nâ°chste Aufgabe unsers Freundes. Aus den Gebirgen vernimmt man Klagen ¸ber Klagen, wie dort Nahrungslosigkeit ¸berhandnehme; auch sollen jene Strecken im ¸bermaï¬ bevËlkert sein. Dort wird er sich umsehen, Menschen und Zustâ°nde beurteilen und die wahrhaft Tâ°tigen, sich selbst und andern N¸tzlichen in unsern Zug mit aufnehmen.
Ferner hab’ ich von Lothario zu berichten, er bereitet den vËlligen Abschluï¬ vor. Eine Reise zu den Pâ°dagogen hat er unternommen, um sich t¸chtige K¸nstler, nur sehr wenige, zu erbitten. Die K¸nste sind das Salz der Erde; wie dieses zu den Speisen, so verhalten sich jene zu der Technik. Wir nehmen von der Kunst nicht mehr auf als nur, daï¬ das Handwerk nicht abgeschmackt werde.
Im ganzen wird zu jener pâ°dagogischen Anstalt uns eine dauernde Verbindung hËchst n¸tzlich und nËtig werden. Wir m¸ssen tun und d¸rfen ans Bilden nicht denken; aber Gebildete heranzuziehen ist unsre hËchste Pflicht.
Tausend und aber tausend Betrachtungen schlieï¬en sich hier an; erlauben Sie mir nach unsrer alten Weise nur noch ein allgemeines Wort, veranlaï¬t durch eine Stelle Ihres Briefes an Lenardo. Wir wollen der HausfrËmmigkeit das geb¸hrende Lob nicht entziehen: auf ihr gr¸ndet sich die Sicherheit des Einzelnen, worauf zuletzt denn auch die Festigkeit und W¸rde des Ganzen beruhen mag; aber sie reicht nicht mehr hin, wir m¸ssen den Begriff einer WeltfrËmmigkeit fassen, unsre redlich menschlichen Gesinnungen in einen praktischen Bezug ins Weite setzen und nicht nur unsre Nâ°chsten fËrdern, sondern zugleich die ganze Menschheit mitnehmen.
Um nun zuletzt Ihres Gesuches zu erwâ°hnen, sag’ ich so viel: Montan hat es zu rechter Zeit bei uns angebracht. Der wunderliche Mann wollte durchaus nicht erklâ°ren, was Sie eigentlich vorhâ°tten, doch er gab sein Freundeswort, daï¬ es verstâ°ndig und, wenn es gelâ°nge, der Gesellschaft hËchst n¸tzlich sein w¸rde. Und so ist Ihnen verziehen, daï¬ Sie in Ihrem Schreiben gleichfalls ein Geheimnis davon machen. Genug, Sie sind von aller Beschrâ°nktheit entbunden, wie es Ihnen schon zugekommen sein sollte, wâ°re uns Ihr Aufenthalt bekannt gewesen. Deshalb wiederhol’ ich im Namen aller: Ihr Zweck, obschon unausgesprochen, wird im Zutrauen auf Montan und Sie gebilligt. Reisen Sie, halten Sie sich auf, bewegen Sie sich, verharren Sie! was Ihnen gelingt, wird recht sein; mËchten Sie sich zum notwendigsten Glied unsrer Kette bilden.
Ich lege zum Schluï¬ ein Tâ°felchen bei, woraus Sie den beweglichen Mittelpunkt unsrer Kommunikationen erkennen werden. Sie finden darin vor Augen gestellt, wohin Sie zu jeder Jahrszeit Ihre Briefe zu senden haben; am liebsten sehen wir’s durch sichere Boten, deren Ihnen genugsame an mehreren Orten angedeutet sind. Ebenso finden Sie durch Zeichen bemerkt, wo Sie einen oder den andern der Unsrigen aufzusuchen haben.
Zwischenrede
Hier aber finden wir uns in dem Falle, dem Leser eine Pause und zwar von einigen Jahren anzuk¸ndigen, weshalb wir gern, wâ°re es mit der typographischen Einrichtung zu verkn¸pfen gewesen, an dieser Stelle einen Band abgeschlossen hâ°tten.
Doch wird ja wohl auch der Raum zwischen zwei Kapiteln gen¸gen, um sich ¸ber das Maï¬ gedachter Zeit hinwegzusetzen, da wir lâ°ngst gewohnt sind, zwischen dem Sinken und Steigen des Vorhangs in unserer persËnlichen Gegenwart dergleichen geschehen zu lassen.
Wir haben in diesem zweiten Buche die Verhâ°ltnisse unsrer alten Freunde bedeutend steigern sehen und zugleich frische Bekanntschaften gewonnen; die Aussichten sind derart, daï¬ zu hoffen steht, es werde allen und jeden, wenn sie sich ins Leben zu finden wissen, ganz erw¸nscht geraten. Erwarten wir also zunâ°chst, einen nach dem andern, sich verflechtend und entwindend, auf gebahnten und ungebahnten Wegen wiederzufinden.
Achtes Kapitel
Suchen wir nun unsern seit einiger Zeit sich selbst ¸berlassenen Freund wieder auf, so finden wir ihn, wie er von seiten des flachen Landes her in die pâ°dagogische Provinz hineintritt. Er kommt ¸ber Auen und Wiesen, umgeht auf trocknem Anger manchen kleinen See, erblickt mehr bebuschte als waldige H¸gel, ¸berall freie Umsicht ¸ber einen wenig bewegten Boden. Auf solchen Pfaden blieb ihm nicht lange zweifelhaft, er befinde sich in der pferdenâ°hrenden Region, auch gewahrte er hie und da kleinere und grËï¬ere Herden dieses edlen Tiers, verschiedenen Geschlechts und Alters. Auf einmal aber bedeckt sich der Horizont mit einer furchtbaren Staubwolke, die, eiligst nâ°her und nâ°her anschwellend, alle Breite des Raums vËllig ¸berdeckt, endlich aber, durch frischen Seitenwind enth¸llt, ihren innern Tumult zu offenbaren genËtigt ist.
In vollem Galopp st¸rzt eine groï¬e Masse solcher edlen Tiere heran, sie werden durch reitende H¸ter gelenkt und zusammengehalten. An dem Wanderer sprengt das ungeheure Gewimmel vorbei, ein schËner Knabe unter den begleitenden H¸tern blickt ihn verwundert an, pariert, springt ab und umarmt den Vater.
Nun geht es an ein Fragen und Erzâ°hlen; der Sohn berichtet, daï¬ er in der ersten Pr¸fungszeit viel ausgestanden, sein Pferd vermiï¬t und auf â°ckern und Wiesen sich zu Fuï¬ herumgetrieben; da er sich denn auch an dem stillen, m¸hseligen Landleben, wie er voraus protestiert, nicht sonderlich erwiesen; das Erntefest habe ihm zwar ganz wohl, das Bestellen hintendrein, Pfl¸gen, Graben und Abwarten keineswegs gefallen, mit den notwendigen und nutzbaren Haustieren habe er sich zwar, doch immer lâ°ssig und unzufrieden beschâ°ftigt, bis er denn zur lebhafteren Reiterei endlich befËrdert worden. Das Geschâ°ft, die Stuten und Fohlen zu h¸ten, sei mitunter zwar langweilig genug, indessen wenn man ein muntres Tierchen vor sich sehe, das einen vielleicht in drei, vier Jahren lustig davontr¸ge, so sei es doch ein ganz anderes Wesen, als sich mit Kâ°lbern und Ferkeln abzugeben, deren Lebenszweck dahinaus gehe, wohl gef¸ttert und angefettet fortgeschafft zu werden.
Mit dem Wachstum des Knaben, der sich wirklich zum J¸ngling heranstreckte, seiner gesunden Haltung, einem gewissen frei-heitern, um nicht zu sagen geistreichen Gesprâ°che konnte der Vater wohl zufrieden sein. Beide folgten reitend nunmehr eilig der eilenden Herde, bei einsam gelegenen weitlâ°ufigen GehËften vor¸ber, zu dem Ort oder Flecken, wo das groï¬e Marktfest gehalten ward. Dort w¸hlt ein unglaubliches Get¸mmel durcheinander, und man w¸ï¬te nicht zu unterscheiden, ob Ware oder Kâ°ufer mehr Staub erregten. Aus allen Landen treffen hier Kauflustige zusammen, um GeschËpfe edler Abkunft, sorgfâ°ltiger Zucht sich zuzueignen. Alle Sprachen der Welt glaubt man zu hËren. Dazwischen tËnt auch der lebhafte Schall wirksamster Blasinstrumente, und alles deutet auf Bewegung, Kraft und Leben.
Unser Wanderer trifft nun den vorigen, schon bekannten Aufseher wieder an, gesellt zu andern t¸chtigen Mâ°nnern, welche still und gleichsam unbemerkt Zucht und Ordnung zu erhalten wissen. Wilhelm, der hier abermals ein Beispiel ausschlieï¬licher Beschâ°ftigung und, wie ihm bei aller Breite scheint, beschrâ°nkter Lebensleitung zu bemerken glaubt, w¸nscht zu erfahren, worin man die ZËglinge sonst noch zu ¸ben pflege, um zu verhindern, daï¬ bei so wilder, gewissermaï¬en roher Beschâ°ftigung, Tiere nâ°hrend und erziehend, der J¸ngling nicht selbst zum Tiere verwildere. Und so war ihm denn sehr lieb zu vernehmen, daï¬ gerade mit dieser gewaltsam und rauh scheinenden Bestimmung die zarteste von der Welt verkn¸pft sei: Sprach¸bung und Sprachbildung.
In dem Augenblick vermiï¬te der Vater den Sohn an seiner Seite, er sah ihn zwischen den L¸cken der Menge durch mit einem jungen Tabulettkrâ°mer ¸ber Kleinigkeiten eifrig handeln und feilschen. In kurzer Zeit sah er ihn gar nicht mehr. Als nun der Aufseher nach der Ursache einer gewissen Verlegenheit und Zerstreuung fragte und dagegen vernahm, daï¬ es den Sohn gelte: “Lassen Sie es nur”, sagte er zur Beruhigung des Vaters, “er ist unverloren; damit Sie aber sehen, wie wir die Unsrigen zusammenhalten”, stieï¬ er mit Gewalt in ein Pfeifchen, das an seinem Busen hing, in dem Augenblick antwortete es dutzendweise von allen Seiten. Der Mann fuhr fort: “jetzt lass’ ich es dabei bewenden, es ist nur ein Zeichen, daï¬ der Aufseher in der Nâ°he ist und ungefâ°hr wissen will, wie viel ihn hËren. Auf ein zweites Zeichen sind sie still, aber bereiten sich, auf das dritte antworten sie und st¸rzen herbei. ¸brigens sind diese Zeichen auf gar mannigfaltige Weise vervielfâ°ltigt und von besonderem Nutzen.”
Auf einmal hatte sich um sie her ein freierer Raum gebildet, man konnte freier sprechen, indem man gegen die benachbarten HËhen spazierte. “Zu jenen Sprach¸bungen”, fuhr der Aufsehende fort, “wurden wir dadurch bestimmt, daï¬ aus allen Weltgegenden J¸nglinge sich hier befinden. Um nun zu verh¸ten, daï¬ sich nicht, wie in der Fremde zu geschehen pflegt, die Landsleute vereinigen und, von den ¸brigen Nationen abgesondert, Parteien bilden, so suchen wir durch freie Sprachmitteilung sie einander zu nâ°hern.
Am notwendigsten aber wird eine allgemeine Sprach¸bung, weil bei diesem Festmarkte jeder Fremde in seinen eigenen TËnen und Ausdr¸cken genugsame Unterhaltung, beim Feilschen und Markten aber alle Bequemlichkeit gerne finden mag. Damit jedoch keine babylonische Verwirrung, keine Verderbnis entstehe, so wird das Jahr ¸ber monatweise nur eine Sprache im allgemeinen gesprochen, nach dem Grundsatz, daï¬ man nichts lerne auï¬erhalb des Elements, welches bezwungen werden soll.
Wir sehen unsere Sch¸ler”, sagte der Aufseher, “sâ°mtlich als Schwimmer an, welche mit Verwunderung im Elemente, das sie zu verschlingen droht, sich leichter f¸hlen, von ihm gehoben und getragen sind; und so ist es mit allem, dessen sich der Mensch unterfâ°ngt.
Zeigt jedoch einer der Unsrigen zu dieser oder jener Sprache besondere Neigung, so ist auch mitten in diesem tumultvoll scheinenden Leben, das zugleich sehr viel ruhige, m¸ï¬ig-einsame, ja langweilige Stunden bietet, f¸r treuen und gr¸ndlichen Unterricht gesorgt. Ihr w¸rdet unsere reitenden Grammatiker, unter welchen sogar einige Pedanten sind, aus diesen bâ°rtigen und unbâ°rtigen Centauren wohl schwerlich herausfinden. Euer Felix hat sich zum Italienischen bestimmt, und da, wie Ihr schon wiï¬t, melodischer Gesang bei unsern Anstalten durch alles durchgreift, so solltet Ihr ihn in der Langweile des H¸terlebens gar manches Lied zierlich und gef¸hlvoll vortragen hËren. Lebenstâ°tigkeit und T¸chtigkeit ist mit auslangendem Unterricht weit vertrâ°glicher, als man denkt.”
Da eine jede Region ihr eigenes Fest feiert, so f¸hrte man den Gast zum Bezirk der Instrumentalmusik. Dieser, an die Ebene grenzend, zeigte schon freundlich und zierlich abwechselnde Tâ°ler, kleine schlanke Wâ°lder, sanfte Bâ°che, an deren Seite hie und da ein bemooster Fels hervortrat. Zerstreute, umbuschte Wohnungen erblickte man auf den H¸geln, in sanften Gr¸nden drâ°ngten sich die Hâ°user nâ°her aneinander. Jene anmutig vereinzelten H¸tten lagen so weit auseinander, daï¬ weder TËne noch Miï¬tËne sich wechselseitig erreichen konnten.
Sie nâ°herten sich sodann einem weiten, rings umbauten und umschatteten Raume, wo Mann an Mann gedrâ°ngt mit groï¬er Aufmerksamkeit und Erwartung gespannt schienen. Eben als der Gast herantrat, ward eine mâ°chtige Symphonie aller Instrumente aufgef¸hrt, deren vollstâ°ndige Kraft und Zartheit er bewundern muï¬te. Dem gerâ°umig erbauten Orchester gegen¸ber stand ein kleineres, welches zu besonderer Betrachtung Anlaï¬ gab; auf demselben befanden sich j¸ngere und â°ltere Sch¸ler, jeder hielt sein Instrument bereit, ohne zu spielen; es waren diejenigen, die noch nicht vermochten oder nicht wagten, mit ins Ganze zu greifen. Mit Anteil bemerkte man, wie sie gleichsam auf dem Sprunge standen, und hËrte r¸hmen: ein solches Fest gehe selten vor¸ber, ohne daï¬ ein oder das andere Talent sich plËtzlich entwickele.
Da nun auch Gesang zwischen den Instrumenten sich hervortat, konnte kein Zweifel ¸brigbleiben, daï¬ auch dieser beg¸nstigt werde. Auf eine Frage sodann, was noch sonst f¸r eine Bildung sich hier freundlich anschlieï¬e, vernahm der Wanderer: die Dichtkunst sei es, und zwar von der lyrischen Seite. Hier komme alles darauf an, daï¬ beide K¸nste, jede f¸r sich und aus sich selbst, dann aber gegen–und miteinander entwickelt werde. Die Sch¸ler lernen eine wie die andre in ihrer Bedingtheit kennen; sodann wird gelehrt, wie sie sich wechselsweise bedingen und sich sodann wieder wechselseitig befreien.
Der poetischen Rhythmik stellt der Tonk¸nstler Takteinteilung und Taktbewegung entgegen. Hier zeigt sich aber bald die Herrschaft der Musik ¸ber die Poesie; denn wenn diese, wie billig und notwendig, ihre Quantitâ°ten immer so rein als mËglich im Sinne hat, so sind f¸r den Musiker wenig Silben entschieden lang oder kurz; nach Belieben zerstËrt dieser das gewissenhafteste Verfahren des Rhythmikers, ja verwandelt sogar Prosa in Gesang, wo dann die wunderbarsten MËglichkeiten hervortreten, und der Poet w¸rde sich gar bald vernichtet f¸hlen, w¸ï¬te er nicht von seiner Seite durch lyrische Zartheit und K¸hnheit dem Musiker Ehrfurcht einzuflËï¬en und neue Gef¸hle, bald in sanftester Folge, bald durch die raschesten ¸bergâ°nge, hervorzurufen.
Die Sâ°nger, die man hier findet, sind meist selbst Poeten. Auch der Tanz wird in seinen Grundz¸gen gelehrt, damit sich alle diese Fertigkeiten ¸ber sâ°mtliche Regionen regelmâ°ï¬ig verbreiten kËnnen.
Als man den Gast ¸ber die nâ°chste Grenze f¸hrte, sah er auf einmal eine ganz andere Bauart. Nicht mehr zerstreut waren die Hâ°user, nicht mehr h¸ttenartig; sie zeigten sich vielmehr regelmâ°ï¬ig, bequem und zierlich von innen; man ward hier einer unbeengten, wohlgebauten, der Gegend angemessenen Stadt gewahr. Hier sind bildende Kunst und die ihr verwandten Handwerke zu Hause, und eine ganz eigene Stille herrscht ¸ber diesen Râ°umen.
Der bildende K¸nstler denkt sich zwar immer in Bezug auf alles, was unter den Menschen lebt und webt, aber sein Geschâ°ft ist einsam, und durch den sonderbarsten Widerspruch verlangt vielleicht kein anderes so entschieden lebendige Umgebung. Hier nun bildet jeder im stillen, was bald f¸r immer die Augen der Menschen beschâ°ftigen soll; eine Feiertagsruhe waltet ¸ber dem ganzen Ort, und hâ°tte man nicht hie und da das Picken der Steinhauer oder abgemessene Schlâ°ge der Zimmerleute vernommen, die soeben emsig beschâ°ftigt waren, ein herrliches Gebâ°ude zu vollenden, so wâ°re die Luft von keinem Ton bewegt gewesen.
Unserm Wanderer fiel der Ernst auf, die wunderbare Strenge, mit welcher sowohl Anfâ°nger als Fortschreitende behandelt wurden; es schien, als wenn keiner aus eigner Macht und Gewalt etwas leistete, sondern als wenn ein geheimer Geist sie alle durch und durch belebte, nach einem einzigen groï¬en Ziele hinleitend. Nirgends erblickte man Entwurf und Skizze, jeder Strich war mit Bedacht gezogen, und als sich der Wanderer von dem F¸hrer eine Erklâ°rung des ganzen Verfahrens erbat, â°uï¬erte dieser: die Einbildungskraft sei ohnehin ein vages, unstâ°tes VermËgen, wâ°hrend das ganze Verdienst des bildenden K¸nstlers darin bestehe, daï¬ er sie immer mehr bestimmen, festhalten, ja endlich bis zur Gegenwart erhËhen lerne.
Man erinnerte an die Notwendigkeit sicherer Grundsâ°tze in andern K¸nsten. “W¸rde der Musiker einem Sch¸ler vergËnnen, wild auf den Saiten herumzugreifen oder sich gar Intervalle nach eigner Lust und Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, daï¬ nichts der Willk¸r des Lernenden zu ¸berlassen sei; das Element, worin er wirken soll, ist entschieden gegeben, das Werkzeug, das er zu handhaben hat, ist ihm eingehâ°ndigt, sogar die Art und Weise, wie er sich dessen bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben, damit ein Glied dem andern aus dem Wege gehe und seinem Nachfolger den rechten Weg bereite; durch welches gesetzliche Zusammenwirken denn zuletzt allein das UnmËgliche mËglich wird.
Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist: daï¬ gerade das Genie, das angeborne Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das HalbvermËgen w¸nschte gern seine beschrâ°nkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe, unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalitâ°t und Selbststâ°ndigkeit zu beschËnigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern h¸ten unsere Sch¸ler vor allen Miï¬tritten, wodurch ein groï¬er Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpfl¸ckt wird.
Mit dem Genie haben wir am liebsten zu tun, denn dieses wird eben von dem guten Geiste beseelt, bald zu erkennen, was ihm nutz ist. Es begreift, daï¬ Kunst eben darum Kunst heiï¬e, weil sie nicht Natur ist. Es bequemt sich zum Respekt, sogar vor dem, was man konventionell nennen kËnnte: denn was ist dieses anders, als daï¬ die vorz¸glichsten Menschen ¸bereinkamen, das Notwendige, das Unerlâ°ï¬liche f¸r das Beste zu halten; und gereicht es nicht ¸berall zum Gl¸ck?
Zur groï¬en Erleichterung f¸r die Lehrer sind auch hier, wie ¸berall bei uns, die drei Ehrfurchten und ihre Zeichen mit einiger Abâ°nderung, der Natur des obwaltenden Geschâ°fts gemâ°ï¬, eingef¸hrt und eingeprâ°gt.”
Den ferner umhergeleiteten Wanderer muï¬te nunmehr in Verwunderung setzen, daï¬ die Stadt sich immer zu erweitern, Straï¬e aus Straï¬e sich zu entwickeln schien, mannigfaltige Ansichten gewâ°hrend. Das â°uï¬ere der Gebâ°ude sprach ihre Bestimmung unzweideutig aus, sie waren w¸rdig und stattlich, weniger prâ°chtig als schËn. Den edlern und ernsteren in Mitte der Stadt schlossen sich die heitern gefâ°llig an, bis zuletzt zierliche Vorstâ°dte anmutigen Stils gegen das Feld sich hinzogen und endlich als Gartenwohnungen zerstreuten.
Der Wanderer konnte nicht unterlassen, hier zu bemerken, daï¬ die Wohnungen der Musiker in der vorigen Region keineswegs an SchËnheit und Raum den gegenwâ°rtigen zu vergleichen seien, welche Maler, Bildhauer und Baumeister bewohnen. Man erwiderte ihm, dies liege in der Natur der Sache. Der Musikus m¸sse immer in sich selbst gekehrt sein, sein Innerstes ausbilden, um es nach auï¬en zu wenden. “Dem Sinne des Auges hat er nicht zu schmeicheln. Das Auge bevorteilt gar leicht das Ohr und lockt den Geist von innen nach auï¬en. Umgekehrt muï¬ der bildende K¸nstler in der Auï¬enwelt leben und sein Inneres gleichsam unbewuï¬t an und in dem Auswendigen manifestieren. Bildende K¸nstler m¸ssen wohnen wie KËnige und GËtter, wie wollten sie denn sonst f¸r KËnige und GËtter bauen und verzieren? Sie m¸ssen sich zuletzt dergestalt ¸ber das Gemeine erheben, daï¬ die ganze Volksgemeinde in und an ihren Werken sich veredelt f¸hle.”
Sodann lieï¬ unser Freund sich ein anderes Paradoxon erklâ°ren: warum gerade in diesen festlichen, andere Regionen so belebenden, tumultuarisch erregten Tagen hier die grËï¬te Stille herrsche und das Arbeiten nicht auch ausgesetzt werde?
“Ein bildender K¸nstler”, hieï¬ es, “bedarf keines Festes, ihm ist das ganze Jahr ein Fest. Wenn er etwas Treffliches geleistet hat, es steht nach wie vor seinem Aug’ entgegen, dem Auge der ganzen Welt. Da bedarf es keiner Wiederholung, keiner neuen Anstrengung, keines frischen Gelingens, woran sich der Musiker immerfort abplagt, dem daher das splendideste Fest innerhalb des vollzâ°hligsten Kreises zu gËnnen ist.”
“Man sollte aber doch”, versetzte Wilhelm, “in diesen Tagen eine Ausstellung belieben, wo die dreijâ°hrigen Fortschritte der bravesten ZËglinge mit Vergn¸gen zu beschauen und zu beurteilen wâ°ren.”
“An anderen Orten”, versetzte man, “mag eine Ausstellung sich nËtig machen, bei uns ist sie es nicht. Unser ganzes Wesen und Sein ist Ausstellung. Sehen Sie hier die Gebâ°ude aller Art, alle von ZËglingen aufgef¸hrt; freilich nach hundertmal besprochenen und durchdachten Rissen: denn der Bauende soll nicht herumtasten und versuchen; was stehenbleiben soll, muï¬ recht stehen und, wo nicht f¸r die Ewigkeit, doch f¸r geraume Zeit gen¸gen. Mag man doch immer Fehler begehen, bauen darf man keine.
Mit Bildhauern verfahren wir schon lâ°ï¬licher, am lâ°ï¬lichsten mit Malern, sie d¸rfen dies und jenes versuchen, beide in ihrer Art. Ihnen steht frei, in den innern, an den â°uï¬ern Râ°umen der Gebâ°ude, auf Plâ°tzen sich eine Stelle zu wâ°hlen, die sie verzieren wollen. Sie machen ihren Gedanken kund, und wenn er einigermaï¬en zu billigen ist, so wird die Ausf¸hrung zugestanden, und zwar auf zweierlei Weise, entweder mit Verg¸nstigung, fr¸her oder spâ°ter die Arbeit wegnehmen zu d¸rfen, wenn sie dem K¸nstler selbst miï¬fiele, oder mit Bedingung, das einmal Aufgestellte unabâ°nderlich am Orte zu lassen. Die meisten erwâ°hlen das erste und behalten sich jene Erlaubnis vor, wobei sie immer am besten beraten sind. Der zweite Fall tritt seltner ein, und man bemerkt, daï¬ alsdann die K¸nstler sich weniger vertrauen, mit Gesellen und Kennern lange Konferenzen halten und dadurch wirklich schâ°tzenswerte dauerw¸rdige Arbeiten hervorzubringen wissen.”
Nach allem diesem versâ°umte Wilhelm nicht, sich zu erkundigen, was f¸r ein anderer Unterricht sich sonst noch anschlieï¬e, und man gestand ihm, daï¬ es die Dichtkunst, und zwar die epische sei.
Doch muï¬te dem Freunde dies sonderbar scheinen, als man hinzuf¸gte: es werde den Sch¸lern nicht vergËnnt, schon ausgearbeitete Gedichte â°lterer und neuerer Dichter zu lesen oder vorzutragen; ihnen wird nur eine Reihe von Mythen, ¸berlieferungen und Legenden lakonisch mitgeteilt. Nun erkennt man gar bald an malerischer oder poetischer Ausf¸hrung das eigene Produktive des einer oder der andern Kunst gewidmeten Talents. Dichter und Bildner, beide beschâ°ftigen sich an einer Quelle, und jeder sucht das Wasser nach seiner Seite, zu seinem Vorteil hinzulenken, um nach Erfordernis eigne Zwecke zu erreichen; welches ihm viel besser gelingt, als wenn er das schon Verarbeitete nochmals umarbeiten wollte.
Der Reisende selbst hatte Gelegenheit, zu sehen, wie das vorging. Mehrere Maler waren in einem Zimmer beschâ°ftigt, ein munterer junger Freund erzâ°hlte sehr ausf¸hrlich eine ganz einfache Geschichte, so daï¬ er fast ebenso viele Worte als jene Pinselstriche anwendete, seinen Vortrag ebenfalls aufs rundeste zu vollenden.
Man versicherte, daï¬ beim Zusammenarbeiten die Freunde sich gar anmutig unterhielten und daï¬ sich auf diesem Wege Ëfters Improvisatoren entwickelten, welche groï¬en Enthusiasmus f¸r die zwiefache Darstellung zu erregen w¸ï¬ten.
Der Freund wendete nun seine Erkundigungen zur bildenden Kunst zur¸ck. “Ihr habt”, so sprach er, “keine Ausstellung, also auch wohl keine Preisaufgabe?”– “Eigentlich nicht”, versetzte jener, “hier aber ganz in der Nâ°he kËnnen wir Euch sehen lassen, was wir f¸r n¸tzlicher halten.”
Sie traten in einen groï¬en, von oben gl¸cklich erleuchteten Saal; ein weiter Kreis beschâ°ftigter K¸nstler zeigte sich zuerst, aus dessen Mitte sich eine kolossale Gruppe g¸nstig aufgestellt erhob. Mâ°nnliche und weibliche Kraftgestalten in gewaltsamen Stellungen erinnerten an jenes herrliche Gefecht zwischen Heldenj¸nglingen und Amazonen, wo Haï¬ und Feindseligkeit zuletzt sich in wechselseitig-traulichen Beistand auflËst. Dieses merkw¸rdig verschlungene Kunstwerk war von jedem Punkte ringsum gleich g¸nstig anzusehen. In einem weiten Umfang saï¬en und standen bildende K¸nstler, jeder nach seiner Weise beschâ°ftigt: der Maler an seiner Staffelei, der Zeichner am Reiï¬brett; einige modellierten rund, einige flach erhoben; ja sogar Baumeister entwarfen den Untersatz, worauf k¸nftig ein solches Kunstwerk gestellt werden sollte. Jeder Teilnehmende verfuhr nach seiner Weise bei der Nachbildung, Maler und Zeichner entwickelten die Gruppe zur Flâ°che, sorgfâ°ltig jedoch, sie nicht zu zerstËren, sondern so viel wie mËglich beizubehalten. Ebenso wurden die flacherhobenen Arbeiten behandelt. Nur ein einziger hatte die ganze Gruppe in kleinerem Maï¬stabe wiederholt, und er schien das Modell wirklich in gewissen Bewegungen und Gliederbezug ¸bertroffen zu haben.
Nun offenbarte sich, dies sei der Meister des Modells, der dasselbe vor der Ausf¸hrung in Marmor hier einer nicht beurteilenden, sondern praktischen Pr¸fung unterwarf und so alles, was jeder seiner Mitarbeiter nach eigner Weise und Denkart daran gesehen, beibehalten oder verâ°ndert, genau beobachtend bei nochmaligem Durchdenken zu eignem Vorteil anzuwenden wuï¬te; dergestalt, daï¬ zuletzt, wenn das hohe Werk in Marmor gearbeitet dastehen wird, obgleich nur von einem unternommen, angelegt und ausgef¸hrt, doch allen anzugehËren scheinen mËge.
Die grËï¬te Stille beherrschte auch diesen Raum, aber der Vorsteher erhob seine Stimme und rief: “Wer wâ°re denn hier, der uns in Gegenwart dieses stationâ°ren Werkes mit trefflichen Worten die Einbildungskraft dergestalt erregte, daï¬ alles, was wir hier fixiert sehen, wieder fl¸ssig w¸rde, ohne seinen Charakter zu verlieren, damit wir uns ¸berzeugen, daï¬, was der K¸nstler hier festgehalten, sei auch das W¸rdigste?”
Namentlich aufgefordert von allen, verlieï¬ ein schËner J¸ngling seine Arbeit und begann heraustretend einen ruhigen Vortrag, worin er das gegenwâ°rtige Kunstwerk nur zu beschreiben schien, bald aber warf er sich in die eigentliche Region der Dichtkunst, tauchte sich in die Mitte der Handlung und beherrschte dies Element zur Bewunderung; nach und nach steigerte sich seine Darstellung durch herrliche Deklamation auf einen solchen Grad, daï¬ wirklich die starre Gruppe sich um ihre Achse zu bewegen und die Zahl der Figuren daran verdoppelt und verdreifacht schien. Wilhelm stand entz¸ckt und rief zuletzt: “Wer will sich hier noch enthalten, zum eigentlichen Gesang und zum rhythmischen Lied ¸berzugehen!”
“Dies mËcht’ ich verbitten”, versetzte der Aufseher; “denn wenn unser trefflicher Bildhauer aufrichtig sein will, so wird er bekennen,