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  • 1821
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gewinnen, die ihm durch seines Vaters und seiner Tante Lob und Freundschaft erst recht wert geworden. Er bem¸hte sich aufrichtig um ein liebensw¸rdiges Weib, die seiner Leidenschaft weit ¸ber den gegenw‰rtigen Zustand erhˆht schien. Ihre Strenge mehr als ihr Verdienst und ihre Schˆnheit entflammte ihn; er wagte zu reden, zu unternehmen, zu versprechen.

Der Vater, ohne es selbst zu wollen, gab seiner Bewerbung immer ein etwas v‰terliches Ansehn, Er kannte sich, und als er seinen Rival erkannt hatte, hoffte er nicht, ¸ber ihn zu siegen, wenn er nicht zu Mitteln greifen wollte, die einem Manne von Grunds‰tzen nicht geziemen. Dessenungeachtet verfolgte er seinen Weg, ob ihm gleich nicht unbekannt war, dafl G¸te, ja Vermˆgen selbst, nur Reizungen sind, denen sich ein Frauenzimmer mit Vorbedacht hingibt, die jedoch unwirksam bleiben, sobald Liebe sich mit den Reizen und in Begleitung der Jugend zeigt. Auch machte Herr von Revanne noch andere Fehler, die er sp‰ter bereute. Bei einer hochachtungsvollen Freundschaft sprach er von einer dauerhaften, geheimen, gesetzm‰fligen Verbindung. Er beklagte sich auch wohl und sprach das Wort Undankbarkeit aus. Gewifl kannte er die nicht, die er liebte, als er eines Tages zu ihr sagte, dafl viele Wohlt‰ter ¸bles f¸r Gutes zur¸ckerhielten. Ihm antwortete die Unbekannte mit Geradheit: “Viele Wohlt‰ter mˆchten ihren Beg¸nstigten s‰mtliche Rechte gern abhandeln f¸r eine Linse.”

Die schˆne Fremde, in die Bewerbung zweier Gegner verwickelt, durch unbekannte Beweggr¸nde geleitet, scheint keine andere Absicht gehabt zu haben, als sich und andern alberne Streiche zu ersparen, indem sie in diesen bedenklichen Umst‰nden einen wunderlichen Ausweg ergriff. Der Sohn dr‰ngte mit der K¸hnheit seines Alters und drohte, wie gebr‰uchlich, sein Leben der Unerbittlichen aufzuopfern. Der Vater, etwas weniger unvern¸nftig, war doch ebenso dringend; aufrichtig beide. Dieses liebensw¸rdige Wesen h‰tte sich hier wohl eines verdienten Zustandes versichern kˆnnen: denn beide Herren von Revanne beteuren, ihre Absicht sei gewesen, sie zu heiraten.

Aber an dem Beispiele dieses M‰dchens mˆgen die Frauen lernen, dafl ein redliches Gem¸t, h‰tte sich auch der Geist durch Eitelkeit oder wirklichen Wahnsinn verirrt, die Herzenswunden nicht unterh‰lt, die es nicht heilen will. Die Pilgerin f¸hlte, dafl sie auf einem ‰uflersten Punkte stehe, wo es ihr wohl nicht leicht sein w¸rde, sich lange zu verteidigen. Sie war in der Gewalt zweier Liebenden, welche jede Zudringlichkeit durch die Reinheit ihrer Absichten entschuldigen konnten, indem sie im Sinne hatten, ihre Verwegenheit durch ein feierliches B¸ndnis zu rechtfertigen. So war es, und so begriff sie es.

Sie konnte sich hinter Fr‰ulein von Revanne verschanzen; sie unterliefl es, ohne Zweifel aus Schonung, aus Achtung f¸r ihre Wohlt‰ter. Sie kommt nicht aus der Fassung, sie erdenkt ein Mittel, jedermann seine Tugend zu erhalten, indem sie die ihrige bezweifeln l‰flt. Sie ist wahnsinnig vor Treue, die ihr Liebhaber gewifl nicht verdient, wenn er nicht alle die Aufopferungen f¸hlt, und sollten sie ihm auch unbekannt bleiben.

Eines Tages, als Herr von Revanne die Freundschaft, die Dankbarkeit, die sie ihm bezeigte, etwas zu lebhaft erwiderte, nahm sie auf einmal ein naives Wesen an, das ihm auffiel. “Ihre G¸te, mein Herr”, sagte sie, “‰ngstigt mich; und lassen Sie mich aufrichtig entdecken, warum. Ich f¸hle wohl, nur Ihnen bin ich meine ganze Dankbarkeit schuldig; aber freilich–“–“Grausames M‰dchen!” sagte Herr von Revanne, “ich verstehe Sie. Mein Sohn hat Ihr Herz ger¸hrt.”–“Ach! mein Herr, dabei ist es nicht geblieben. Ich kann nur durch meine Verwirrung ausdr¸cken–“–“Wie? Mademoiselle, Sie w‰ren–“–“Ich denke wohl ja”, sagte sie, indem sie sich tief verneigte und eine Tr‰ne vorbrachte: denn niemals fehlt es Frauen an einer Tr‰ne bei ihren Schalkheiten, niemals an einer Entschuldigung ihres Unrechts.

So verliebt Herr von Revanne war, so muflte er doch diese neue Art von unschuldiger Aufrichtigkeit unter dem Mutterh‰ubchen bewundern, und er fand die Verneigung sehr am Platze. –“Aber, Mademoiselle, das ist mir ganz unbegreiflich–“– “Mir auch”, sagte sie, und ihre Tr‰nen flossen reichlicher. Sie flossen so lange, bis Herr von Revanne, am Schlufl eines sehr verdriefllichen Nachdenkens, mit ruhiger Miene das Wort wieder aufnahm und sagte: “Dies kl‰rt mich auf! Ich sehe, wie l‰cherlich meine Forderungen sind. Ich mache Ihnen keine Vorw¸rfe, und als einzige Strafe f¸r den Schmerz, den Sie mir verursachen, verspreche ich Ihnen von seinem Erbteile so viel, als nˆtig ist, um zu erfahren, ob er Sie so sehr liebt als ich.”–“Ach! mein Herr, erbarmen Sie sich meiner Unschuld und sagen ihm nichts davon.”

Verschwiegenheit fordern ist nicht das Mittel, sie zu erlangen. Nach diesen Schritten erwartete nun die unbekannte Schˆne, ihren Liebhaber voll Verdrufl und hˆchst aufgebracht vor sich zu sehen. Bald erschien er mit einem Blicke, der niederschmetternde Worte verk¸ndigte. Doch er stockte und konnte nichts weiter hervorbringen als: “Wie? Mademoiselle, ist es mˆglich?”–“Nun was denn, mein Herr?” sagte sie mit einem L‰cheln, das bei einer solchen Gelegenheit zum Verzweifeln bringen kann.–“Wie? was denn? Gehen Sie, Mademoiselle, Sie sind mir ein schˆnes Wesen! Aber wenigstens sollte man rechtm‰flige Kinder nicht enterben; es ist schon genug, sie anzuklagen. Ja, Mademoiselle, ich durchdringe Ihr Komplott mit meinem Vater. Sie geben mir beide einen Sohn, und es ist mein Bruder, das bin ich gewifl!”

Mit ebenderselben ruhigen und heitern Stirne antwortete ihm die schˆne Unkluge: “Von nichts sind Sie gewifl; es ist weder Ihr Sohn noch Ihr Bruder. Die Knaben sind bˆsartig; ich habe keinen gewollt; es ist ein armes M‰dchen, das ich weiterf¸hren will, weiter, ganz weit von den Menschen, den Bˆsen, den Toren und den Ungetreuen.”

Darauf ihrem Herzen Luft machend: “Leben Sie wohl!” fuhr sie fort, “leben Sie wohl, lieber Revanne! Sie haben von Natur ein redliches Herz; erhalten Sie die Grunds‰tze der Aufrichtigkeit. Diese sind nicht gef‰hrlich bei einem gegr¸ndeten Reichtum. Sein Sie gut gegen Arme. Wer die Bitte bek¸mmerter Unschuld verachtet, wird einst selbst bitten und nicht erhˆrt werden. Wer sich kein Bedenken macht, das Bedenken eines schutzlosen M‰dchens zu verachten, wird das Opfer werden von Frauen ohne Bedenken. Wer nicht f¸hlt, was ein ehrbares M‰dchen empfinden mufl, wenn man um sie wirbt, der verdient sie nicht zu erhalten. Wer gegen alle Vernunft, gegen die Absichten, gegen den Plan seiner Familie, zugunsten seiner Leidenschaften Entw¸rfe schmiedet, verdient die Fr¸chte seiner Leidenschaft zu entbehren und der Achtung seiner Familie zu ermangeln. Ich glaube wohl, Sie haben mich aufrichtig geliebt; aber, mein lieber Revanne, die Katze weifl wohl, wem sie den Bart leckt; und werden Sie jemals der Geliebte eines w¸rdigen Weibes, so erinnern Sie sich der M¸hle des Ungetreuen. Lernen Sie an meinem Beispiel sich auf die Standhaftigkeit und Verschwiegenheit Ihrer Geliebten verlassen. Sie wissen, ob ich untreu bin, Ihr Vater weifl es auch. Ich gedachte durch die Welt zu rennen und mich allen Gefahren auszusetzen. Gewifl diejenigen sind die grˆflten, die mich in diesem Hause bedrohen. Aber weil Sie jung sind, sage ich es Ihnen allein und im Vertrauen: M‰nner und Frauen sind nur mit Willen ungetreu; und das wollt’ ich dem Freunde von der M¸hle beweisen, der mich vielleicht wieder sieht, wenn sein Herz rein genug sein wird, zu vermissen, was er verloren hat.”

Der junge Revanne hˆrte noch zu, da sie schon ausgesprochen hatte. Er stand wie vom Blitz getroffen; Tr‰nen ˆffneten zuletzt seine Augen, und in dieser R¸hrung lief er zur Tante, zum Vater, ihnen zu sagen: Mademoiselle gehe weg, Mademoiselle sei ein Engel, oder vielmehr ein D‰mon, herumirrend in der Welt, um alle Herzen zu peinigen. Aber die Pilgerin hatte so gut sich vorgesehen, dafl man sie nicht wiederfand. Und als Vater und Sohn sich erkl‰rt hatten, zweifelte man nicht mehr an ihrer Unschuld, ihren Talenten, ihrem Wahnsinn. So viel M¸he sich auch Herr von Revanne seit der Zeit gegeben, war es ihm doch nicht gelungen, sich die mindeste Aufkl‰rung ¸ber diese schˆne Person zu verschaffen, die so fl¸chtig wie die Engel und so liebensw¸rdig erschienen war.

Sechstes Kapitel

Nach einer langen und gr¸ndlichen Ruhe, deren die Wanderer wohl bed¸rfen mochten, sprang Felix lebhaft aus dem Bette und eilte, sich anzuziehn; der Vater glaubte zu bemerken, mit mehr Sorgfalt als bisher. Nichts safl ihm knapp noch nett genug, auch h‰tte er alles neuer und frischer gew¸nscht. Er sprang nach dem Garten und haschte unterwegs nur etwas von der Vorkost, die der Diener f¸r die G‰ste brachte, weil erst nach einer Stunde die Frauenzimmer im Garten erscheinen w¸rden.

Der Diener war gewohnt, die Fremden zu unterhalten und manches im Hause vorzuzeigen; so auch f¸hrte er unsern Freund in eine Galerie, worin blofl Portr‰te aufgehangen und gestellt waren, alles Personen, die im achtzehnten Jahrhundert gewirkt hatten, eine grofle und herrliche Gesellschaft; Gem‰lde sowie B¸sten, wo mˆglich, von vortrefflichen Meistern. “Sie finden”, sagte der Kustode, “in dem ganzen Schlofl kein Bild, das, auch nur von ferne, auf Religion, ¸berlieferung, Mythologie, Legende oder Fabel hindeutete; unser Herr will, dafl die Einbildungskraft nur gefˆrdert werde, um sich das Wahre zu vergegenw‰rtigen. “Wir fabeln so genug”, pflegt er zu sagen, “als dafl wir diese gef‰hrliche Eigenschaft unsers Geistes durch ‰uflere reizende Mittel noch steigern sollten.””

Die Frage Wilhelms: wann man ihm aufwarten kˆnne? ward durch die Nachricht beantwortet: der Herr sei, nach seiner Gewohnheit, ganz fr¸h weggeritten. Er pflege zu sagen: “Aufmerksamkeit ist das Leben! “–“Sie werden diesen und andere Spr¸che, in denen er sich bespiegelt, in den Feldern ¸ber den T¸ren eingeschrieben sehen, wie wir hier z. B. gleich antreffen: “Vom N¸tzlichen durchs Wahre zum Schˆnen.””

Die Frauenzimmer hatten schon unter den Linden das Fr¸hst¸ck bereitet, Felix eulenspiegelte um sie her und trachtete, in allerlei Torheiten und Verwegenheiten sich hervorzutun, die Aufmerksamkeit auf sich zu leiten, eine Abmahnung, einen Verweis von Hersilien zu erhaschen. Nun suchten die Schwestern durch Aufrichtigkeit und Mitteilung das Vertrauen des schweigsamen Gastes, der ihnen gefiel, zu gewinnen; sie erz‰hlten von einem werten Vetter, der, drei Jahre abwesend, zun‰chst erwartet werde, von einer w¸rdigen Tante, die, unfern in ihrem Schlosse wohnend, als ein Schutzgeist der Familie zu betrachten sei. In krankem Verfall des Kˆrpers, in bl¸hender Gesundheit des Geistes ward sie geschildert, als wenn die Stimme einer unsichtbar gewordenen Ursibylle rein gˆttliche Worte ¸ber die menschlichen Dinge ganz einfach ausspr‰che.

Der neue Gast lenkte nun Gespr‰ch und Frage auf die Gegenwart. Er w¸nschte den edlen Oheim in rein entschiedener T‰tigkeit gerne n‰her zu kennen; er gedachte des angedeuteten Wegs vom N¸tzlichen durchs Wahre zum Schˆnen und suchte die Worte auf seine Weise auszulegen, das ihm denn ganz gut gelang und Juliettens Beifall zu erwerben das Gl¸ck hatte.

Hersilie, die bisher l‰chelnd schweigsam geblieben, versetzte dagegen: “Wir Frauen sind in einem besondern Zustande. Die Maximen der M‰nner hˆren wir immerfort wiederholen, ja wir m¸ssen sie in goldnen Buchstaben ¸ber unsern H‰upten sehen, und doch w¸flten wir M‰dchen im stillen das Umgekehrte zu sagen, das auch gˆlte, wie es gerade hier der Fall ist. Die Schˆne findet Verehrer, auch Freier, und endlich wohl gar einen Mann; dann gelangt sie zum Wahren, das nicht immer hˆchst erfreulich sein mag, und wenn sie klug ist, widmet sie sich dem N¸tzlichen, sorgt f¸r Haus und Kinder und verharrt dabei. So habe ich’s wenigstens oft gefunden. Wir M‰dchen haben Zeit zu beobachten, und da finden wir meist, was wir nicht suchten.”

Ein Bote vom Oheim traf ein mit der Nachricht, dafl s‰mtliche Gesellschaft auf ein nahes Jagdhaus zu Tische geladen sei, man kˆnne hin reiten und fahren. Hersilie erw‰hlte zu reiten. Felix bat inst‰ndig, man mˆge ihm auch ein Pferd geben. Man kam ¸berein, Juliette sollte mit Wilhelm fahren und Felix als Page seinen ersten Ausritt der Dame seines jungen Herzens zu verdanken haben.

Indessen fuhr Juliette mit dem neuen Freunde durch eine Reihe von Anlagen, welche s‰mtlich auf Nutzen und Genufl hindeuteten, ja die unz‰hligen Fruchtb‰ume machten zweifelhaft, ob das Obst alles verzehrt werden kˆnne.

“Sie sind durch ein so wunderliches Vorzimmer in unsere Gesellschaft geraten und fanden manches wirklich Seltsame und Sonderbare, so dafl ich vermuten darf, Sie w¸nschen einen Zusammenhang von allem diesem zu wissen. Alles beruht auf Geist und Sinn meines trefflichen Oheims. Die kr‰ftigen Mannsjahre dieses Edlen fielen in die Zeit der Beccaria und Filangieri; die Maximen einer allgemeinen Menschlichkeit wirkten damals nach allen Seiten. Dies Allgemeine jedoch bildete sich der strebende Geist, der strenge Charakter nach Gesinnungen aus, die sich ganz aufs Praktische bezogen. Er verhehlte uns nicht, wie er jenen liberalen Wahlspruch: “Den Meisten das Beste!” nach seiner Art verwandelt und “Vielen das Erw¸nschte” zugedacht. Die Meisten lassen sich nicht finden noch kennen, was das Beste sei, noch weniger ausmitteln, Viele jedoch sind immer um uns her; was sie w¸nschen, erfahren wir, was sie w¸nschen sollten, ¸berlegen wir, und so l‰flt sich denn immer Bedeutendes tun und schaffen. In diesem Sinne”, fuhr sie fort, “ist alles, was Sie hier sehen, gepflanzt, gebaut, eingerichtet, und zwar um eines ganz nahen, leicht fafllichen Zweckes willen; alles dies geschah dem groflen, nahen Gebirg zuliebe. Der treffliche Mann, Kraft und Vermˆgen zusammenhaltend, sagte zu sich selbst: “Keinem Kinde da droben soll es an einer Kirsche, an einem Apfel fehlen, wornach sie mit Recht so l¸stern sind; der Hausfrau soll es nicht an Kohl noch an R¸ben oder sonst einem Gem¸se im Topf ermangeln, damit dem unseligen Kartoffelgenufl nur einigermaflen das Gleichgewicht gehalten werde.” In diesem Sinne, auf diese Weise sucht er zu leisten, wozu ihm sein Besitztum Gelegenheit gibt, und so haben sich seit manchen Jahren Tr‰ger und Tr‰gerinnen gebildet, welche das Obst in die tiefsten Schluchten des Felsgebirges verk‰uflich hintragen.”

“Ich habe selbst davon genossen wie ein Kind”, versetzte Wilhelm; “da, wo ich dergleichen nicht anzutreffen hoffte, zwischen Tannen und Felsen, ¸berraschte mich weniger ein reiner Frommsinn als ein erquicklich frisches Obst. Die Gaben des Geistes sind ¸berall zu Hause, die Geschenke der Natur ¸ber den Erdboden sparsam ausgeteilt.”

“Ferner hat unser w¸rdiger Landherr von entfernten Orten manches Notwendige dem Gebirge n‰her gebracht; in diesen Geb‰uden am Fufle hin finden Sie Salz aufgespeichert und Gew¸rze vorr‰tig. F¸r Tabak und Branntwein l‰flt er andere sorgen; dies seien keine Bed¸rfnisse, sagt er, sondern Gel¸ste, und da w¸rden sich schon Unterh‰ndler genug finden.”

Angelangt am bestimmten Orte, einem ger‰umigen Fˆrsterhause im Walde, fand sich die Gesellschaft zusammen und bereits eine kleine Tafel gedeckt. “Setzen wir uns”, sagte Hersilie; “hier steht zwar der Stuhl des Oheims, aber gewifl wird er nicht kommen, wie gewˆhnlich. Es ist mir gewissermaflen lieb, dafl unser neuer Gast, wie ich hˆre, nicht lange bei uns verweilen wird: denn es m¸flte ihm verdriefllich sein, unser Personal kennen zu lernen, es ist das ewig in Romanen und Schauspielen wiederholte: ein wunderlicher Oheim, eine sanfte und eine muntere Nichte, eine kluge Tante, Hausgenossen nach bekannter Art; und k‰me nun gar der Vetter wieder, so lernte er einen phantastischen Reisenden kennen, der vielleicht einen noch sonderbarern Gesellen mitbr‰chte, und so w‰re das leidige St¸ck erfunden und in Wirklichkeit gesetzt.”

“Die Eigenheiten des Oheims haben wir zu ehren”, versetzte Juliette; “sie sind niemanden zur Last, gereichen vielmehr jedermann zur Bequemlichkeit. Eine bestimmte Tafelstunde ist ihm nun einmal verdriefllich, selten, dafl er sie einh‰lt, wie er denn versichert: eine der schˆnsten Erfindungen neuerer Zeit sei das Speisen nach der Karte.”

Unter manchen andern Gespr‰chen kamen sie auf die Neigung des werten Mannes, ¸berall Inschriften zu belieben. “Meine Schwester”, sagte Hersilie, “weifl sie s‰mtlich auszulegen, mit dem Kustode versteht sie’s um die Wette; ich aber finde, dafl man sie alle umkehren kann und dafl sie alsdann ebenso wahr sind, und vielleicht noch mehr. “–“Ich leugne nicht”, versetzte Wilhelm, “es sind Spr¸che darunter, die sich in sich selbst zu vernichten scheinen; so sah ich z. B. sehr auffallend angeschrieben: “Besitz und Gemeingut”; heben sich diese beiden Begriffe nicht auf?”

Hersilie fiel ein: “Dergleichen Inschriften, scheint es, hat der Oheim von den Orientalen genommen, die an allen W‰nden die Spr¸che des Korans mehr verehren als verstehen.” Juliette, ohne sich irren zu lassen, erwiderte auf obige Frage: “Umschreiben Sie die wenigen Worte, so wird der Sinn alsobald hervorleuchten.”

Nach einigen Zwischenreden fuhr Juliette fort, weiter aufzukl‰ren, wie es gemeint sei: “Jeder suche den Besitz, der ihm von der Natur, von dem Schicksal gegˆnnt ward, zu w¸rdigen, zu erhalten, zu steigern, er greife mit allen seinen Fertigkeiten so weit umher, als er zu reichen f‰hig ist; immer aber denke er dabei, wie er andere daran will teilnehmen lassen: denn nur insofern werden die Vermˆgenden gesch‰tzt, als andere durch sie genieflen.”

Indem man sich nun nach Beispielen umsah, fand sich der Freund erst in seinem Fache; man wetteiferte, man ¸berbot sich, um jene lakonischen Worte recht wahr zu finden. Warum, hiefl es, verehrt man den F¸rsten, als weil er einen jeden in T‰tigkeit setzen, fˆrdern, beg¸nstigen und seiner absoluten Gewalt gleichsam teilhaft machen kann? Warum schaut alles nach dem Reichen, als weil er, der Bed¸rftigste, ¸berall Teilnehmer an seinem ¸berflusse w¸nscht? Warum beneiden alle Menschen den Dichter? weil seine Natur die Mitteilung nˆtig macht, ja die Mitteilung selbst ist. Der Musiker ist gl¸cklicher als der Maler, er spendet willkommene Gaben aus, persˆnlich unmittelbar, anstatt dafl der letzte nur gibt, wenn die Gabe sich von ihm absonderte.

Nun hiefl es ferner im allgemeinen: Jede Art von Besitz soll der Mensch festhalten, er soll sich zum Mittelpunkt machen, von dem das Gemeingut ausgehen kann; er mufl Egoist sein, um nicht Egoist zu werden, zusammenhalten, damit er spenden kˆnne. Was soll es heiflen, Besitz und Gut an die Armen zu geben? Lˆblicher ist, sich f¸r sie als Verwalter betragen. Dies ist der Sinn der Worte “Besitz und Gemeingut”; das Kapital soll niemand angreifen, die Interessen werden ohnehin im Weltlaufe schon jedermann angehˆren.

Man hatte, wie sich im Gefolg des Gespr‰chs ergab, dem Oheim vorgeworfen, dafl ihm seine G¸ter nicht eintrugen, was sie sollten. Er versetzte dagegen: “Das Mindere der Einnahme betracht’ ich als Ausgabe, die mir Vergn¸gen macht, indem ich andern dadurch das Leben erleichtere; ich habe nicht einmal die M¸he, dafl diese Spende durch mich durchgeht, und so setzt sich alles wieder ins gleiche.”

Dergestalt unterhielten sich die Frauenzimmer mit dem neuen Freunde gar vielseitig, und bei immer wachsendem gegenseitigem Vertrauen sprachen sie ¸ber den zun‰chst erwarteten Vetter.

“Wir halten sein wunderliches Betragen f¸r abgeredet mit dem Oheim. Er l‰flt seit einigen Jahre nichts von sich hˆren, sendet anmutige, seinen Aufenthalt verbl¸mt andeutende Geschenke, schreibt nun auf einmal ganz aus der N‰he, will aber nicht eher zu uns kommen, bis wir ihm von unsern Zust‰nden Nachricht geben. Dies Betragen ist nicht nat¸rlich; was auch dahinterstecke, wir m¸ssen es vor seiner R¸ckkehr erfahren. Heute abend geben wir Ihnen einen Heft Briefe, woraus das Weitere zu ersehen ist.” Hersilie setzte hinzu: “Gestern machte ich Sie mit einer tˆrigen Landl‰uferin bekannt, heute sollen Sie von einem verr¸ckten Reisenden vernehmen.”–“Gestehe es nur”, f¸gte Juliette hinzu, “diese Mitteilung ist nicht ohne Absicht.”

Hersilie fragte soeben etwas ungeduldig, wo der Nachtisch bleibe, als die Meldung geschah, der Oheim erwarte die Gesellschaft, mit ihm die Nachkost in der groflen Laube zu genieflen. Auf dem Hinwege bemerkte man eine Feldk¸che, die sehr emsig ihre blank gereinigten Kasserollen, Sch¸sseln und Teller klappernd einzupacken besch‰ftigt war. In einer ger‰umigen Laube fand man den alten Herrn an einem runden, groflen, frischgedeckten Tisch, auf welchem soeben die schˆnsten Fr¸chte, willkommenes Backwerk und die besten S¸fligkeiten, indem sich jene niedersetzten, reichlich aufgetragen wurden. Auf die Frage des Oheims, was bisher begegnet, womit man sich unterhalten, fiel Hersilie vorschnell ein: “Unser guter Gast h‰tte wohl ¸ber ihre lakonischen Inschriften verwirrt werden kˆnnen, w‰re ihm Juliette nicht durch einen fortlaufenden Kommentar zu H¸lfe gekommen.”–“Du hast es immer mit Julietten zu tun”, versetzte der Oheim, “sie ist ein wackres M‰dchen, das noch etwas lernen und begreifen mag.”– “Ich mˆchte vieles gern vergessen, was ich weifl, und was ich begriffen habe, ist auch nicht viel wert”, versetzte Hersilie in Heiterkeit.

Hierauf nahm Wilhelm das Wort und sagte bed‰chtig: “Kurzgefaflte Spr¸che jeder Art weifl ich zu ehren, besonders wenn sie mich anregen, das Entgegengesetzte zu ¸berschauen und in ¸bereinstimmung zu bringen. “–“Ganz richtig”, erwiderte der Oheim, “hat doch der vern¸nftige Mann in seinem ganzen Leben noch keine andere Besch‰ftigung gehabt.”

Indessen besetzte sich die Tafelrunde nach und nach, so dafl Sp‰tere kaum Platz fanden. Die beiden Amtleute waren gekommen, J‰ger, Pferdeb‰ndiger, G‰rtner, Fˆrster und andere, denen man nicht gleich ihren Beruf ansehen konnte. Jeder hatte etwas von dem letzten Augenblick zu erz‰hlen und mitzuteilen, das sich der alte Herr gefallen liefl, auch wohl durch teilnehmende Fragen hervorrief, zuletzt aber aufstand und, die Gesellschaft, die sich nicht r¸hren sollte, begr¸flend, mit den beiden Amtleuten sich entfernte. Das Obst hatten sich alle, das Zuckerwerk die jungen Leute, wenn sie auch ein wenig wild aussahen, gar wohl schmecken lassen. Einer nach dem andern stand auf, begr¸flte die Bleibenden und ging davon.

Die Frauenzimmer, welche bemerkten, dafl der Gast auf das, was vorging, mit einiger Verwunderung achtgab, erkl‰rten sich folgendermaflen: “Sie sehen hier abermals die Wirkung der Eigenheiten unsers trefflichen Oheims; er behauptet: keine Erfindung des Jahrhunderts verdiene mehr Bewunderung, als dafl man in Gasth‰usern, an besonderen kleinen Tischchen, nach der Karte speisen kˆnne; sobald er dies gewahr worden, habe er f¸r sich und andere dies auch in seiner Familie einzuf¸hren gesucht. Wenn er vom besten Humor ist, mag er gern die Schrecknisse eines Familientisches lebhaft schildern, wo jedes Glied mit fremden Gedanken besch‰ftigt sich niedersetzt, ungern hˆrt, in Zerstreuung spricht, muffig schweigt und, wenn gar das Ungl¸ck kleine Kinder heranf¸hrt, mit augenblicklicher P‰dagogik die unzeitigste Miflstimmung hervorbringt. “So manches ¸bel”, sagt er, “mufl man tragen, von diesem habe ich mich zu befreien gewuflt.” Selten erscheint er an unserm Tische und besetzt den Stuhl nur augenblicklich, der f¸r ihn leer steht. Seine Feldk¸che f¸hrt er mit sich umher, speist gewˆhnlich allein, andere mˆgen f¸r sich sorgen. Wenn er aber einmal Fr¸hst¸ck, Nachtisch oder sonst Erfrischung anbietet, dann versammeln sich alle zerstreuten Angehˆrigen, genieflen das Bescherte, wie Sie gesehen haben. Das macht ihm Vergn¸gen; aber niemand darf kommen, der nicht Appetit mitbringt, jeder mufl aufstehen, der sich gelabt hat, und nur so ist er gewifl, immer von Genieflenden umgeben zu sein. “Will man die Menschen ergˆtzen”, hˆrte ich ihn sagen, “so mufl man ihnen das zu verleihen suchen, was sie selten oder nie zu erlangen im Falle sind.””

Auf dem R¸ckwege brachte ein unerwarteter Schlag die Gesellschaft in einige Gem¸tsbewegung. Hersilie sagte zu dem neben ihr reitenden Felix: “Sieh dort, was mˆgen das f¸r Blumen sein? sie decken die ganze Sommerseite des H¸gels, ich hab’ sie noch nie gesehen.” Sogleich regte Felix sein Pferd an, sprengte auf die Stelle los und war im Zur¸ckkommen mit einem ganzen B¸schel bl¸hender Kronen, die er von weitem sch¸ttelte, als er auf einmal mit dem Pferde verschwand. Er war in einen Graben gest¸rzt. Sogleich lˆsten sich zwei Reiter von der Gesellschaft, nach dem Punkte hinsprengend.

Wilhelm wollte aus dem Wagen, Juliette verbat es: “H¸lfe ist schon bei ihm, und unser Gesetz ist in solchen F‰llen, dafl nur der Helfende sich von der Stelle regen darf; der Chirurg ist schon dorten.” Hersilie hielt ihr Pferd an: “Jawohl”, sagte sie, “Leib‰rzte braucht man nur selten, Wund‰rzte jeden Augenblick.” Schon sprengte Felix mit verbundenem Kopfe wieder heran, die bl¸hende Beute festhaltend und hoch emporzeigend. Mit Selbstgef‰lligkeit reichte er den Straufl seiner Herrin zu, dagegen gab ihm Hersilie ein buntes, leichtes Halstuch. “Die weifle Binde kleidet dich nicht”, sagte sie, “diese wird schon lustiger aussehen.” Und so kamen sie zwar beruhigt, aber teilnehmender gestimmt nach Hause.

Es war sp‰t geworden, man trennte sich in freundlicher Hoffnung morgenden Wiedersehens; der hier folgende Briefwechsel aber erhielt unsern Freund noch einige Stunden nachdenklich und wach.

Lenardo an die Tante

Endlich erhalten Sie nach drei Jahren den ersten Brief von mir, liebe Tante, unserer Abrede gem‰fl, die freilich wunderlich genug war. Ich wollte die Welt sehen und mich ihr hingeben und wollte f¸r diese Zeit meine Heimat vergessen, von der ich kam, zu der ich wieder zur¸ckzukehren hoffte. Den ganzen Eindruck wollte ich behalten, und das einzelne sollte mich in die Ferne nicht irremachen. Indessen sind die nˆtigen Lebenszeichen von Zeit zu Zeit hin und her gegangen. Ich habe Geld erhalten, und kleine Gaben f¸r meine N‰chsten sind Ihnen indessen zur Austeilung ¸berliefert worden. An den ¸berschickten Waren konnten Sie sehen, wo und wie ich mich befand. An den Weinen hat der Onkel meinen jedesmaligen Aufenthalt gewifl herausgekostet; dann die Spitzen, die Quodlibets, die Stahlwaren haben meinen Weg, durch Brabant ¸ber Paris nach London, f¸r die Frauenzimmer bezeichnet; und so werde ich auf Ihren Schreib-, N‰h–und Teetischen, an Ihren NegligÈs und Festkleidern gar manches Merkzeichen finden, woran ich meine Reiseerz‰hlung kn¸pfen kann. Sie haben mich begleitet, ohne von mir zu hˆren, und sind vielleicht nicht einmal neugierig, etwas weiter zu erfahren. Mir hingegen ist hˆchst nˆtig, durch Ihre G¸te zu vernehmen, wie es in dem Kreise steht, in den ich wieder einzutreten im Begriff bin. Ich mˆchte wirklich aus der Fremde wie ein Fremder hineinkommen, der, um angenehm zu sein, sich erst erkundigt, was man in dem Hause will und mag, und sich nicht einbildet, dafl man ihn wegen seiner schˆnen Augen oder Haare gerade nach seiner eigenen Weise empfangen m¸sse. Schreiben Sie mir daher vom guten Onkel, von den lieben Nichten, von sich selbst, von unsern Verwandten, n‰hern und fernern, auch von alten und neuen Bedienten. Genug, lassen Sie Ihre ge¸bte Feder, die Sie f¸r Ihren Neffen so lange nicht eingetaucht, auch einmal zu seinen Gunsten auf dem Papiere hinwalten. Ihr unterrichtendes Schreiben soll zugleich mein Kreditiv sein, mit dem ich mich einstelle, sobald ich es erhalten habe. Es h‰ngt also von Ihnen ab, mich in Ihren Armen zu sehen. Man ver‰ndert sich viel weniger, als man glaubt, und die Zust‰nde bleiben sich auch meistens sehr ‰hnlich. Nicht was sich ver‰ndert hat, sondern was geblieben ist, was allm‰hlich zu–und abnahm, will ich auf einmal wieder erkennen und mich selbst in einem bekannten Spiegel wieder erblicken. Gr¸flen Sie herzlich alle die Unsrigen und glauben Sie, dafl in der wunderlichen Art meines Auflenbleibens und Zur¸ckkommens so viel W‰rme enthalten sei als manchmal nicht in stetiger Teilnahme und lebhafter Mitteilung. Tausend Gr¸fle jedem und allen! Nachschrift

Vers‰umen Sie nicht, beste Tante, mir auch von unsern Gesch‰ftsm‰nnern ein Wort zu sagen, wie es mit unsern Gerichtshaltern und Pachtern steht. Was ist mit Valerinen geworden, der Tochter des Pachters, den unser Onkel kurz vor meiner Abreise, zwar mit Recht, aber doch, d¸nkt mich, mit ziemlicher H‰rte austrieb? Sie sehen, ich erinnere mich noch manches Umstandes; ich weifl wohl noch alles. ¸ber das Vergangene sollen Sie mich examinieren, wenn Sie mir das Gegenw‰rtige mitgeteilt haben. Die Tante an Julietten

Endlich, liebe Kinder, ein Brief von dem dreij‰hrigen Schweiger. Was doch die wunderlichen Menschen wunderlich sind! Er glaubt, seine Waren und Zeichen seien so gut als ein einziges gutes Wort, das der Freund dem Freunde sagen oder schreiben kann. Er bildet sich wirklich ein, im Vorschufl zu stehen, und will nun von unserer Seite das zuerst geleistet haben, was er uns von der seinigen so hart und unfreundlich versagte. Was sollen wir tun? Ich f¸r meinen Teil w¸rde gleich in einem langen Brief seinen W¸nschen entgegenkommen, wenn sich mein Kopfweh nicht anmeldete, das mich gegenw‰rtiges Blatt kaum zu Ende schreiben l‰flt. Wir verlangen ihn alle zu sehen. ¸bernehmt, meine Lieben, doch das Gesch‰ft. Bin ich hergestellt, eh Ihr geendet habt, so will ich das Meinige beitragen. W‰hlt Euch die Personen und die Verh‰ltnisse, wie Ihr sie am liebsten beschreibt. Teilt Euch darein. Ihr werdet alles besser machen als ich selbst. Der Bote bringt mir doch von Euch ein Wort zur¸ck? Juliette an die Tante

Wir haben gleich gelesen, ¸berlegt und sagen mit dem Boten unsere Meinung, jede besonders, wenn wir erst zusammen versichert haben, dafl wir nicht so gutm¸tig sind wie unsere liebe Tante gegen den immer verzogenen Neffen. Nachdem er seine Karten drei Jahre vor uns verborgen gehalten hat und noch verborgen h‰lt, sollen wir die unsrigen auflegen und ein offenes Spiel gegen ein verdecktes spielen. Das ist keinesweges billig, und doch mag es hingehen; denn der Feinste betriegt sich oft, gerade weil er zu viel sichert. Nur ¸ber die Art und Weise sind wir nicht einig, was und wie man’s ihm senden soll. Zu schreiben, wie man ¸ber die Seinigen denkt, das ist f¸r uns wenigstens eine wunderliche Aufgabe. Gewˆhnlich denkt man ¸ber sie nur in diesem und jenem Falle, wenn sie einem besonderes Vergn¸gen oder Verdrufl machen. ¸brigens l‰flt jeder den andern gew‰hren. Sie kˆnnten es allein, liebe Tante; denn Sie haben die Einsicht und die Billigkeit zugleich. Hersilie, die, wie Sie wissen, leicht zu entz¸nden ist, hat mir in der Geschwindigkeit die ganze Familie aus dem Stegreif ins Lustige rezensiert; ich wollte, dafl es auf dem Papier st¸nde, um Ihnen selbst bei Ihren ¸beln ein L‰cheln abzugewinnen; aber nicht, dafl man es ihm schickte. Mein Vorschlag ist jedoch, ihm unsere Korrespondenz dieser drei Jahre mitzuteilen; da mag er sich durchlesen, wenn er Mut hat, oder mag kommen, um zu sehen, was er nicht lesen mag. Ihre Briefe an mich, liebe Tante, sind in der besten Ordnung und stehen gleich zu Befehl. Dieser Meinung tritt Hersilie nicht bei; sie entschuldigt sich mit der Unordnung ihrer Papiere u.s.w., wie sie Ihnen selbst sagen wird. Hersilie an die Tante

Ich will und mufl sehr kurz sein, liebe Tante, denn der Bote zeigt sich unartig ungeduldig. Ich finde es eine ¸berm‰flige Gutm¸tigkeit und gar nicht am Platz, Lenardon unsere Briefe mitzuteilen. Was braucht er zu wissen, was wir Gutes von ihm gesagt haben, was braucht er zu wissen, was wir Bˆses von ihm sagten, um aus dem letzten noch mehr als dem ersten herauszufinden, dafl wir ihm gut sind! Halten Sie ihn kurz, ich bitte Sie. Es ist so was Abgemessenes und Anmaflliches in dieser Forderung, in diesem Betragen, wie es die Herren meistens haben, wenn sie aus fremden L‰ndern kommen. Sie halten die daheim Gebliebenen immer nicht f¸r voll. Entschuldigen Sie sich mit Ihrem Kopfweh. Er wird schon kommen; und wenn er nicht k‰me, so warten wir noch ein wenig. Vielleicht f‰llt es ihm alsdann ein, auf eine sonderbare, geheime Weise sich bei uns zu introduzieren, uns unerkannt kennen zu lernen, und was nicht alles in den Plan eines so klugen Mannes eingreifen kˆnnte. Das m¸flte doch h¸bsch und wunderbar sein! das d¸rfte allerlei Verh‰ltnisse hervorbringen, die bei einem so diplomatischen Eintritt in seine Familie, wie er ihn jetzt vorhat, sich unmˆglich entwickeln kˆnnen.

Der Bote! der Bote! Ziehen Sie Ihre alten Leute besser, oder schicken Sie junge. Diesem ist weder mit Schmeichelei noch mit Wein beizukommen. Leben Sie tausendmal wohl! Nachschrift um Nachschrift

Sagen Sie mir, was will der Vetter in seiner Nachschrift mit Valerinen? Diese Frage ist mir doppelt aufgefallen. Es ist die einzige Person, die er mit Namen nennt. Wir andern sind ihm Nichten, Tanten, Gesch‰ftstr‰ger; keine Personen, sondern Rubriken. Valerine, die Tochter unseres Gerichtshalters! Freilich ein blondes, schˆnes Kind, das dem Herrn Vetter vor seiner Abreise mag in die Augen geleuchtet haben. Sie ist verheiratet, gut und gl¸cklich; das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber er weifl es so wenig, als er sonst etwas von uns weifl. Vergessen Sie ja nicht, ihm gleichfalls in einer Nachschrift zu melden: Valerine sei t‰glich schˆner geworden und habe auch deshalb eine sehr gute Partie getan. Sie sei die Frau eines reichen Gutsbesitzers. Verheiratet sei die schˆne Blondine. Machen Sie es ihm recht deutlich. Nun aber, liebe Tante, ist das noch nicht alles. Wie er sich der blonden Schˆnheit so genau erinnern und sie mit der Tochter des liederlichen Pachters, einer wilden Hummel von Br¸nette, verwechseln kann, die Nachodine hiefl und die wer weifl wohin geraten ist, das bleibt mir vˆllig unbegreiflich und intrigiert mich ganz besonders. Denn es scheint doch, der Herr Vetter, der sein gutes Ged‰chtnis r¸hmt, verwechselt Namen und Personen auf eine sonderbare Weise. Vielleicht f¸hlt er diesen Mangel und will das Erloschene durch Ihre Schilderung wieder auffrischen. Halten Sie ihn kurz, ich bitte Sie; aber suchen Sie zu erfahren, wie es mit den Valerinen und Nachodinen steht und was f¸r Inen, Trinen vielleicht noch alle sich in seiner Einbildungskraft erhalten haben, indessen die Etten und Ilien daraus verschwunden sind. Der Bote! der verw¸nschte Bote! Die Tante den Nichten. (Diktiert)

Was soll man sich viel verstellen gegen die, mit denen man sein Leben zuzubringen hat! Lenardo mit allen seinen Eigenheiten verdient Zutrauen. Ich schicke ihm Eure beiden Briefe; daraus lernt er Euch kennen, und ich hoffe, wir andern werden unbewuflt eine Gelegenheit ergreifen, uns auch n‰chstens ebenso vor ihm darzustellen. Leber wohl! ich leide sehr. Hersilie an die Tante

Was soll man sich viel verstellen gegen die, mit denen man sein Leben zubringt! Lenardo ist ein verzogener Neffe. Es ist abscheulich, dafl Sie ihm unsere Briefe schicken. Er wird uns daraus nicht kennen lernen, und ich w¸nsche mir nur Gelegenheit, mich n‰chstens von einer andern Seite darzustellen. Sie machen andere viel leiden, indem Sie leiden und blind lieben. Baldige Besserung Ihrer Leiden! Ihrer Liebe ist nicht zu helfen. Die Tante an Hersilien

Dein letztes Zettelchen h‰tte ich auch mit an Lenardo eingepackt, wenn ich ¸berhaupt bei dem Vorsatz geblieben w‰re, den mir meine inkorrigible Neigung, mein Leiden und die Bequemlichkeit eingegeben hatten. Eure Briefe sind nicht fort. Wilhelm an Natalien

Der Mensch ist ein geselliges, gespr‰chiges Wesen; seine Lust ist grofl, wenn er F‰higkeiten aus¸bt, die ihm gegeben sind, und wenn auch weiter nichts dabei herausk‰me. Wie oft beklagt man sich in Gesellschaft, dafl einer den andern nicht zum Worte kommen l‰flt, und ebenso kann man sagen, dafl einer den andern nicht zum Schreiben kommen liefle, wenn nicht das Schreiben gewˆhnlich ein Gesch‰ft w‰re, das man einsam und allein abtun mufl.

Wie viel die Menschen schreiben, davon hat man gar keinen Begriff. Von dem, was davon gedruckt wird, will ich gar nicht reden, ob es gleich schon genug ist. Was aber an Briefen und Nachrichten und Geschichten, Anekdoten, Beschreibungen von gegenw‰rtigen Zust‰nden einzelner Menschen in Briefen und grˆfleren Aufs‰tzen in der Stille zirkuliert, davon kann man sich nur eine Vorstellung machen, wenn man in gebildeten Familien eine Zeitlang lebt, wie es mir jetzt geht. In der Sph‰re, in der ich mich gegenw‰rtig befinde, bringt man beinahe so viel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen, womit man sich besch‰ftigt, als man Zeit sich zu besch‰ftigen selbst hatte. Diese Bemerkung, die sich mir seit einigen Tagen aufdringt, mache ich um so lieber, als mir die Schreibseligkeit meiner neuen Freunde Gelegenheit verschafft, ihre Verh‰ltnisse geschwind und nach allen Seiten hin kennen zu lernen. Man vertraut mir, man gibt mir einen Pack Briefe, ein paar Hefte Reisejournale, die Konfessionen eines Gem¸ts, das noch nicht mit sich selbst einig ist, und so bin ich in kurzem ¸berall zu Hause. Ich kenne die n‰chste Gesellschaft; ich kenne die Personen, deren Bekanntschaft ich machen werde, und weifl von ihnen beinahe mehr als sie selbst, weil sie denn doch in ihren Zust‰nden befangen sind und ich an ihnen vorbeischwebe, immer an deiner Hand, mich mit dir ¸ber alles besprechend. Auch ist es meine erste Bedingung, ehe ich ein Vertrauen annehme, dafl ich dir alles mitteilen d¸rfe. Hier also einige Briefe, die dich in den Kreis einf¸hren werden, in dem ich mich gegenw‰rtig herumdrehe, ohne mein Gel¸bde zu brechen oder zu umgehen.

Siebentes Kapitel

Am fr¸hsten Morgen fand sich unser Freund allein in die Galerie und ergˆtzte sich an so mancher bekannten Gestalt; ¸ber die Unbekannten gab ihm ein vorgefundener Katalog den erw¸nschten Aufschlufl. Das Portr‰t wie die Biographie haben ein ganz eigenes Interesse; der bedeutende Mensch, den man sich ohne Umgebung nicht denken kann, tritt einzeln abgesondert heraus und stellt sich vor uns wie vor einen Spiegel; ihm sollen wir entschiedene Aufmerksamkeit zuwenden, wir sollen uns ausschliefllich mit ihm besch‰ftigen, wie er behaglich vor dem Spiegelglas mit sich besch‰ftigst ist. Ein Feldherr ist es, der jetzt das ganze Heer repr‰sentiert, hinter den so Kaiser als Kˆnige, f¸r die er k‰mpft, ins Tr¸be zur¸cktreten. Der gewandte Hofmann steht vor uns, eben als wenn er uns den Hof machte, wir denken nicht an die grofle Welt, f¸r die er sich eigentlich so anmutig ausgebildet hat. ¸berraschend war sodann unserm Beschauer die ƒhnlichkeit mancher l‰ngst vor¸bergegangenen mit lebendigen, ihm bekannten und leibhaftig gesehenen Menschen, ja ƒhnlichkeit mit ihm selbst! Und warum sollten sich nur Zwillingsmen‰chmen aus einer Mutter entwickeln? Sollte die grofle Mutter der Gˆtter und Menschen nicht auch das gleiche Gebild aus ihrem fruchtbaren Schofle gleichzeitig oder in Pausen hervorbringen kˆnnen?

Endlich durfte denn auch der gef¸hlvolle Beschauer sich nicht leugnen, dafl manches anziehende, manches Abneigung erweckende Bild vor seinen Augen vor¸berschwebe.

In solchem Betrachten ¸berraschte ihn der Hausherr, mit dem er sich ¸ber diese Gegenst‰nde freim¸tig unterhielt und hiernach dessen Gunst immer mehr zu gewinnen schien. Denn er ward freundlich in die innern Zimmer gef¸hrt, wo er kˆstliche Bilder bedeutender M‰nner des sechzehnten Jahrhunderts sah, in vollst‰ndiger Gegenwart, wie sie f¸r sich leibten und lebten, ohne sich etwa im Spiegel oder im Zuschauer zu beschauen, sich selbst gelassen und gen¸gend, nur durch ihr Dasein wirkend, nicht durch irgendein Wollen oder Vornehmen.

Der Hausherr, zufrieden, dafl der Gast eine so reich herangebrachte Vergangenheit vollkommen zu sch‰tzen wuflte, liefl ihn Handschriften sehen von manchen Personen, ¸ber die sie vorher in der Galerie gesprochen hatten; sogar zuletzt Reliquien, von denen man gewifl war, dafl der fr¸here Besitzer sich ihrer bedient, sie ber¸hrt hatte.

“Dies ist meine Art von Poesie”, sagte der Hausherr l‰chelnd; “meine Einbildungskraft mufl sich an etwas festhalten; ich mag kaum glauben, dafl etwas gewesen sei, was nicht noch da ist. ¸ber solche Heilt¸mer vergangener Zeit suche ich mir die strengsten Zeugnisse zu verschaffen, sonst w¸rden sie nicht aufgenommen. Am sch‰rfsten werden schriftliche ¸berlieferungen gepr¸ft; denn ich glaube wohl, dafl der Mˆnch die Chronik geschrieben hat, wovon er aber zeugt, daran glaube ich selten.” Zuletzt legte er Wilhelmen ein weifles Blatt vor mit Ersuchen um einige Zeilen, doch ohne Unterschrift; worauf der Gast durch eine Tapetent¸re sich in den Saal entlassen und an der Seite des Kustode fand.

“Es freut mich”, sagte dieser, “dafl Sie unserm Herrn wert sind; schon dafl Sie zu dieser T¸re herauskommen, ist ein Beweis davon. Wissen Sie aber, worf¸r er Sie h‰lt? Er glaubt einen praktischen P‰dagogen in Ihnen zu sehen, den Knaben vermutet er von vornehmem Hause, Ihrer F¸hrung anvertraut, um mit rechtem Sinn sogleich in die Welt und ihre mannigfaltigen Zust‰nde nach Grunds‰tzen fr¸hzeitig eingeweiht zu werden.”–“Er tut mir zu viel Ehre an”, sagte der Freund, “doch will ich dies Wort nicht vergebens gehˆrt haben.”

Beim Fr¸hst¸ck, wo er seinen Felix schon um die Frauenzimmer besch‰ftigt fand, erˆffneten sie ihm den Wunsch: er mˆge, da er nun einmal nicht zu halten sei, sich zu der edlen Tante Makarie begeben und vielleicht von da zum Vetter, um das wunderliche Zaudern aufzukl‰ren. Er werde dadurch sogleich zum Gliede ihrer Familie, erzeige ihnen allen einen entschiedenen Dienst und trete mit Lenardo ohne grofle Vorbereitung in ein zutrauliches Verh‰ltnis.

Er jedoch versetzte dagegen: “Wohin Sie mich senden, begeb’ ich mich gern; ich ging aus, zu schauen und zu denken; bei Ihnen habe ich mehr erfahren und gelernt, als ich hoffen durfte, und bin ¸berzeugt, auf dem n‰chsten eingeleiteten Wege werd’ ich mehr, als ich erwarten kann, gewahr werden und lernen.”

“Und du artiger Taugenichts! Was wirst denn du lernen?” fragte Hersilie, worauf der Knabe sehr keck erwiderte: “Ich lerne schreiben, damit ich dir einen Brief schicken kann, und reiten wie keiner, damit ich immer gleich wieder bei dir bin.” Hierauf sagte Hersilie bedenklich: “Mit meinen zeitb¸rtigen Verehrern hat es mir niemals recht gl¸cken wollen, es scheint, dafl die folgende Generation mich n‰chstens entsch‰digen will.”

Nun aber empfinden wir mit unserm Freunde, wie schmerzlich die Stunde des Abschieds herannaht, und mˆgen uns gern von den Eigenheiten seines trefflichen Wirtes, von den Seltsamkeiten des auflerordentlichen Mannes einen deutlichen Begriff machen. Um ihn aber nicht falsch zu beurteilen, m¸ssen wir auf das Herkommen, auf das Herankommen dieser schon zu hohen Jahren gelangten w¸rdigen Person unsere Aufmerksamkeit richten. Was wir ausfragen konnten, ist folgendes:

Sein Groflvater lebte als t‰tiges Glied einer Gesandtschaft in England, gerade in den letzten Jahren des erhabenen William Penn. Das hohe Wohlwollen, die reinen Absichten, die unverr¸ckte T‰tigkeit eines so vorz¸glichen Mannes, der Konflikt, in den er deshalb mit der Welt geriet, die Gefahren und Bedr‰ngnisse, unter denen der Edle zu erliegen schien, erregten in dem empf‰nglichen Geiste des jungen Mannes ein entschiedenes Interesse; er verbr¸derte sich mit der Angelegenheit und zog endlich selbst nach Amerika. Der Vater unseres Herrn ist in Philadelphia geboren, und beide r¸hmten sich, beigetragen zu haben, dafl eine allgemein freiere Religions¸bung in den Kolonien stattfand.

Hier entwickelte sich die Maxime, dafl eine in sich abgeschlossene, in Sitten und Religion herkˆmmlich ¸bereinstimmende Nation vor aller fremden Einwirkung, vor aller Neuerung sich wohl zu h¸ten habe; dafl aber da, wo man auf frischem Boden viele Glieder von allen Seiten her zusammenberufen will, mˆglichst unbedingte T‰tigkeit im Erwerb und freier Spielraum der allgemein-sittlichen und religiˆsen Vorstellungen zu vergˆnnen sei.

Der lebhafte Trieb nach Amerika im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts war grofl, indem ein jeder, der sich diesseits einigermaflen unbequem befand, sich dr¸ben in Freiheit zu setzen hoffte; dieser Trieb ward gen‰hrt durch w¸nschenswerte Besitzungen, die man erlangen konnte, ehe sich noch die Bevˆlkerung weiter nach Westen verbreitete. Ganze sogenannte Grafschaften standen noch zu Kauf an der Grenze des bewohnten Landes, auch der Vater unseres Herrn hatte sich dort bedeutend angesiedelt.

Wie aber in den Sˆhnen sich oft ein Widerspruch hervortut gegen v‰terliche Gesinnungen und Einrichtungen, so zeigte sich’s auch hier. Unser Hausherr, als J¸ngling nach Europa gelangt, fand sich hier ganz anders; diese unsch‰tzbare Kultur, seit mehreren tausend Jahren entsprungen, gewachsen, ausgebreitet, ged‰mpft, gedr¸ckt, nie ganz erdr¸ckt, wieder aufatmend, sich neu belebend, und nach wie vor in unendlichen T‰tigkeiten hervortretend, gab ihm ganz andere Begriffe, wohin die Menschheit gelangen kann. Er zog vor, an den groflen, un¸bersehlichen Vorteilen sein Anteil hinzunehmen und lieber in der groflen, geregelt t‰tigen Masse mitwirkend sich zu verlieren, als dr¸ben ¸ber dem Meere um Jahrhunderte versp‰tet den Orpheus und Lykurg zu spielen; er sagte: “¸berall bedarf der Mensch Geduld, ¸berall mufl er R¸cksicht nehmen, und ich will mich doch lieber mit meinem Kˆnige abfinden, dafl er mir diese oder jene Gerechtsame zugestehe, lieber mich mit meinen Nachbarn vergleichen, dafl sie mir gewisse Beschr‰nkungen erlassen, wenn ich ihnen von einer andern Seite nachgebe, als dafl ich mich mit den Irokesen herumschlage, um sie zu vertreiben, oder sie durch Kontrakte betriege, um sie zu verdr‰ngen aus ihren S¸mpfen, wo man von Moskitos zu Tode gepeinigt wird.”

Er ¸bernahm die Familieng¸ter, wuflte sie freisinnig zu behandeln, sie wirtschaftlich einzurichten, weite, unn¸tz scheinende Nachbardistrikte kl¸glich anzuschlieflen und so sich innerhalb der kultivierten Welt, die in einem gewissen Sinne auch gar oft eine Wildnis genannt werden kann, ein m‰fliges Gebiet zu erwerben und zu bilden, das f¸r die beschr‰nkten Zust‰nde immer noch utopisch genug ist.

Religionsfreiheit ist daher in diesem Bezirk nat¸rlich, der ˆffentliche Kultus wird als ein freies Bekenntnis angesehen, dafl man in Leben und Tod zusammengehˆre; hiernach aber wird sehr darauf gesehen, dafl niemand sich absondere.

Man wird in den einzelnen Ansiedelungen m‰flig grofle Geb‰ude gewahr; dies ist der Raum, den der Grundbesitzer jeder Gemeinde schuldig ist; hier kommen die ƒltesten zusammen, um sich zu beraten, hier versammeln sich die Glieder, um Belehrung und fromme Ermunterung zu vernehmen. Aber auch zu heiterm Ergˆtzen ist dieser Raum bestimmt; hier werden die hochzeitlichen T‰nze aufgef¸hrt und der Feiertag mit Musik geschlossen.

Hierauf kann uns die Natur selbst f¸hren. Bei heiterer Witterung sehen wir gewˆhnlich unter derselben Linde die ƒltesten im Rat, die Gemeinde zur Erbauung und die Jugend im Tanze sich schwenkend. Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schˆn, Ernst und Heiligkeit m‰fligen die Lust, und nur durch M‰fligung erhalten wir uns.

Ist die Gemeinde anderes Sinnes und wohlhabend genug, so steht es ihr frei, verschiedene Baulichkeiten den verschiedenen Zwecken zu widmen.

Wenn aber dies alles aufs ˆffentliche und gemeinsam Sittliche berechnet ist, so bleibt die eigentliche Religion ein Inneres, ja Individuelles, denn sie hat ganz allein mit dem Gewissen zu tun, dieses soll erregt, soll beschwichtigt werden. Erregt, wenn es stumpf, unt‰tig, unwirksam dahinbr¸tet, beschwichtigt, wenn es durch reuige Unruhe das Leben zu verbittern droht. Denn es ist ganz nah mit der Sorge verwandt, die in den Kummer ¸berzugehen droht, wenn wir uns oder andern durch eigene Schuld ein ¸bel zugezogen haben.

Da wir aber zu Betrachtungen, wie sie hier gefordert werden, nicht immer aufgelegt sind, auch nicht immer aufgeregt sein mˆgen, so ist hiezu der Sonntag bestimmt, wo alles, was den Menschen dr¸ckt, in religiˆser, sittlicher, geselliger, ˆkonomischer Beziehung, zur Sprache kommen mufl.

“Wenn Sie eine Zeitlang bei uns blieben”, sagte Juliette, “so w¸rde auch unser Sonntag Ihnen nicht miflfallen. ¸bermorgen fr¸h w¸rden Sie eine grofle Stille bemerken; jeder bleibt einsam und widmet sich einer vorgeschriebenen Betrachtung. Der Mensch ist ein beschr‰nktes Wesen; unsere Beschr‰nkung zu ¸berdenken, ist der Sonntag gewidmet. Sind es kˆrperliche Leiden, die wir im Lebenstaumel der Woche vielleicht gering achteten, so m¸ssen wir am Anfang der neuen alsobald den Arzt aufsuchen; ist unsere Beschr‰nkung ˆkonomisch und sonst b¸rgerlich, so sind unsere Beamten verpflichtet, ihre Sitzungen zu halten; ist es geistig, sittlich, was uns verd¸stert, so haben wir uns an einen Freund, an einen Wohldenkenden zu wenden, dessen Rat, dessen Einwirkung zu erbitten: genug, es ist das Gesetz, dafl niemand eine Angelegenheit, die ihn beunruhigt oder qu‰lt, in die neue Woche hin¸bernehmen d¸rfe. Von dr¸ckenden Pflichten kann uns nur die gewissenhafteste Aus¸bung befreien, und was gar nicht aufzulˆsen ist, ¸berlassen wir zuletzt Gott als dem allbedingenden und allbefreienden Wesen. Auch der Oheim selbst unterl‰flt nicht solche Pr¸fung, es sind sogar F‰lle, wo er mit uns vertraulich ¸ber eine Angelegenheit gesprochen hat, die er im Augenblick nicht ¸berwinden konnte; am meisten aber bespricht er sich mit unserer edlen Tante, die er von Zeit zu Zeit besuchend angeht. Auch pflegt er Sonntag abends zu fragen, ob alles rein gebeichtet und abgetan worden. Sie sehen hieraus, dafl wir alle Sorgfalt anwenden, um nicht in Ihren Orden, nicht in die Gemeinschaft der Entsagenden aufgenommen zu werden.”

“Es ist ein sauberes Leben!” rief Hersilie; “wenn ich mich alle acht Tage resigniere, so hab’ ich es freilich bei dreihundertundf¸nfundsechzigen zugute.”

Vor dem Abschiede jedoch erhielt unser Freund von dem j¸ngern Beamten ein Paket mit beiliegendem Schreiben, aus welchem wir folgende Stelle ausheben:

“Mir will scheinen, dafl bei jeder Nation ein anderer Sinn vorwalte, dessen Befriedigung sie allein gl¸cklich macht, und dies bemerkt man ja schon an verschiedenen Menschen. Der eine, der sein Ohr mit vollen, anmutig geregelten Tˆnen gef¸llt, Geist und Seele dadurch angeregt w¸nscht, dankt er mir’s, wenn ich ihm das trefflichste Gem‰lde vor Augen stelle? Ein Gem‰ldefreund will schauen, er wird ablehnen, durch Gedicht oder Roman seine Einbildungskraft erregen zu lassen. Wer ist denn so begabt, dafl er vielseitig genieflen kˆnne?

Sie aber, vor¸bergehender Freund, sind mir als ein solcher erschienen, und wenn Sie die Nettigkeit einer vornehm reichen franzˆsischen Verirrung zu sch‰tzen wuflten, so hoffe ich, Sie werden die einfache, treue Rechtlichkeit deutscher Zust‰nde nicht verschm‰hen und mir verzeihen, wenn ich nach meiner Art und Denkweise, nach Herankommen und Stellung kein anmutigeres Bild finde, als wie sie uns der deutsche Mittelstand in seinen reinen H‰uslichkeiten sehen l‰flt.

Lassen Sie sich’s gefallen und gedenken mein.”

Achtes Kapitel Wer ist der Verr‰ter?

“Nein! nein!” rief er aus, als er heftig und eilig ins angewiesene Schlafzimmer trat und das Licht niedersetzte; “nein! es ist nicht mˆglich! Aber wohin soll ich mich wenden? Das erstemal denk’ ich anders als er, das erstemal empfind’ ich, will ich anders.– O mein Vater! Kˆnntest du unsichtbar gegenw‰rtig sein, mich durch und durch schauen, du w¸rdest dich ¸berzeugen, dafl ich noch derselbe bin, immer der treue, gehorsame, liebevolle Sohn.–Nein zu sagen! des Vaters liebstem, lange gehegtem Wunsch zu widerstreben! wie soll ich’s offenbaren? wie soll ich’s ausdr¸cken? Nein, ich kann Julien nicht heiraten. –Indem ich’s ausspreche, erschrecke ich. Und wie soll ich vor ihn treten, es ihm erˆffnen, dem guten, lieben Vater? Er blickt mich staunend an und schweigt, er sch¸ttelt den Kopf; der einsichtige, kluge, gelehrte Mann weifl keine Worte zu finden. Weh mir!– O ich w¸flte wohl, wem ich diese Pein, diese Verlegenheit vertraute, wen ich mir zum F¸rsprecher ausgriffe! Aus allen dich, Lucinde! und dir mˆcht’ ich zuerst sagen, wie ich dich liebe, wie ich mich dir hingebe, und dich flehentlich bitten: “Vertritt mich, und kannst du mich lieben, willst du mein sein, so vertritt uns beide!””

Dieses kurze, herzlich-leidenschaftliche Selbstgespr‰ch aufzukl‰ren, wird es aber viele Worte kosten.

Professor N. zu N. hatte einen einzigen Knaben von wundersamer Schˆnheit, den er bis in das achte Jahr der Vorsorge seiner Gattin, der w¸rdigsten Frau, ¸berliefl; diese leitete die Stunden und Tage des Kindes zum Leben, Lernen und zu allem guten Betragen. Sie starb, und im Augenblicke f¸hlte der Vater, dafl er diese Sorgfalt persˆnlich nicht weiter fortsetzen kˆnne. Bisher war alles ¸bereinkunft zwischen den Eltern; sie arbeiteten auf einen Zweck, beschlossen zusammen f¸r die n‰chste Zeit, was zu tun sei, und die Mutter verstand alles weislich auszuf¸hren. Doppelt und dreifach war nun die Sorge des Witwers, welcher wohl wuflte und t‰glich vor Augen sah, dafl f¸r Sˆhne der Professoren auf Akademien selbst nur durch ein Wunder eine gl¸ckliche Bildung zu hoffen sei.

In dieser Verlegenheit wendete er sich an seinen Freund, den Oberamtmann zu R., mit dem er schon fr¸here Plane n‰herer Familienverbindungen durchgesprochen hatte. Dieser wuflte zu raten und zu helfen, dafl der Sohn in eine der guten Lehranstalten aufgenommen wurde, die in Deutschland bl¸hten und worin f¸r den ganzen Menschen, f¸r Leib, Seele und Geist, mˆglichst gesorgt ward.

Untergebracht war nun der Sohn, der Vater jedoch fand sich gar zu allein: seiner Gattin beraubt, der lieblichen Gegenwart des Knaben entfremdet, den er, ohne selbsteigenes Bem¸hen, so erw¸nscht heraufgebildet gesehn. Auch hier kam die Freundschaft des Oberamtmanns zustatten; die Entfernung ihrer Wohnorte verschwand vor der Neigung, der Lust, sich zu bewegen, sich zu zerstreuen. Hier fand nun der verwaiste Gelehrte in einem gleichfalls mutterlosen Familienkreis zwei schˆne, verschiedenartig liebensw¸rdige Tˆchter heranwachsen; wo denn beide V‰ter sich immer mehr und mehr best‰rkten in dem Gedanken, in der Aussicht, ihre H‰user dereinst aufs erfreulichste verbunden zu sehn.

Sie lebten in einem gl¸cklichen F¸rstenlande; der t¸chtige Mann war seiner Stelle lebensl‰nglich gewifl und ein gew¸nschter Nachfolger wahrscheinlich. Nun sollte, nach einem verst‰ndigen Familien–und Ministerialplan, sich Lucidor zu dem wichtigen Posten des k¸nftigen Schwiegervaters bilden. Dies gelang ihm auch von Stufe zu Stufe. Man vers‰umte nichts, ihm alle Kenntnisse zu ¸berliefern, alle F‰higkeiten an ihm zu entwickeln, deren der Staat jederzeit bedarf: die Pflege des strengen gerichtlichen Rechts, des l‰fllichern, wo Klugheit und Gewandtheit dem Aus¸benden zur Hand geht; der Kalk¸l zum Tagesgebrauch, die hˆheren ¸bersichten nicht ausgeschlossen, aber alles unmittelbar am Leben, wie es gewifl und unausbleiblich zu gebrauchen w‰re.

In diesem Sinne hatte Lucidor seine Schuljahre vollbracht und ward nun durch Vater und Gˆnner zur Akademie vorbereitet. Er zeigte das schˆnste Talent zu allem und verdankte der Natur auch noch das seltene Gl¸ck, aus Liebe zum Vater, aus Ehrfurcht f¸r den Freund seine F‰higkeiten gerade dahin lenken zu wollen, wohin man deutete, erst aus Gehorsam, dann aus ¸berzeugung. Auf eine ausw‰rtige Akademie ward er gesendet und ging daselbst, sowohl nach eigener brieflicher Rechenschaft als nach Zeugnis seiner Lehrer und Aufseher, den Gang, der ihn zum Ziele f¸hren sollte. Nur konnte man nicht billigen, dafl er in einigen F‰llen zu ungeduldig brav gewesen. Der Vater sch¸ttelte hier¸ber den Kopf, der Oberamtmann nickte. Wer h‰tte sich nicht einen solchen Sohn gew¸nscht!

Indessen wuchsen die Tˆchter heran, Julie und Lucinde. Jene, die j¸ngere, neckisch, lieblich, unst‰t, hˆchst unterhaltend; die andere zu bezeichnen schwer, weil sie in Geradheit und Reinheit dasjenige darstellte, was wir an allen Frauen w¸nschenswert finden. Man besuchte sich wechselseitig, und im Hause des Professors fand Julie die unerschˆpflichste Unterhaltung.

Geographie, die er durch Topographie zu beleben wuflte, gehˆrte zu seinem Fach, und sobald Julie nur einen Band gewahr worden, dergleichen aus der Homannischen Offizin eine ganze Reihe dastanden, so wurden s‰mtliche St‰dte gemustert, beurteilt, vorgezogen oder zur¸ckgewiesen; alle H‰fen besonders erlangten ihre Gunst; andere St‰dte, welche nur einigermaflen ihren Beifall erhalten wollten, muflten sich mit vielen T¸rmen, Kuppeln und Minaretten fleiflig hervorheben.

Der Vater liefl sie wochenlang bei dem gepr¸ften Freunde; sie nahm wirklich zu an Wissenschaft und Einsicht und kannte so ziemlich die bewohnte Welt nach Hauptbez¸gen, Punkten und Orten. Auch war sie auf Trachten fremder Nationen sehr aufmerksam, und wenn ihr Pflegvater manchmal scherzhaft fragte: ob ihr denn von den vielen jungen, h¸bschen Leuten, die da vor dem Fenster hin und wider gingen, nicht einer oder der andere wirklich gefalle? so sagte sie: “Ja freilich, wenn er recht seltsam aussieht!” Da nun unsere jungen Studierenden es niemals daran fehlen lassen, so hatte sie oft Gelegenheit, an einem oder dem andern teilzunehmen; sie erinnerte sich an ihm irgendeiner fremden Nationaltracht, versicherte jedoch zuletzt, es m¸sse wenigstens ein Grieche, vˆllig nationell ausstaffiert, herbeikommen, wenn sie ihm vorz¸gliche Aufmerksamkeit widmen sollte; deswegen sie sich auch auf die Leipziger Messe w¸nschte, wo dergleichen auf der Strafle zu sehen w‰ren.

Nach seinen trocknen und manchmal verdriefllichen Arbeiten hatte nun unser Lehrer keine gl¸cklichern Augenblicke, als wenn er sie scherzend unterrichtete und dabei heimlich triumphierte, sich eine so liebensw¸rdige, immer unterhaltene, immer unterhaltende Schwiegertochter zu erziehen. Die beiden V‰ter waren ¸brigens einverstanden, dafl die M‰dchen nichts von der Absicht vermuten sollten, auch Lucidorn hielt man sie verborgen.

So waren Jahre vergangen, wie sie denn gar leicht vergehen: Lucidor stellte sich dar, vollendet, alle Pr¸fungen bestehend, selbst zur Freude der obern Vorgesetzten, die nichts mehr w¸nschten, als die Hoffnung alter, w¸rdiger, beg¸nstigter, gunstwerter Diener mit gutem Gewissen erf¸llen zu kˆnnen.

Und so war denn die Angelegenheit mit ordnungsgem‰flem Schritt endlich dahin gediehen, dafl Lucidor, nachdem er sich in untergeordneten Stellen musterhaft betragen, nunmehr einen gar vorteilhaften Sitz nach Verdienst und Wunsch erlangen sollte, gerade mittewegs zwischen der Akademie und dem Oberamtmann gelegen.

Der Vater sprach nunmehr mit dem Sohn von Julien, auf die er bisher nur hingedeutet hatte, als von dessen Braut und Gattin, ohne weiteren Zweifel und Bedingung, das Gl¸ck preisend, solch ein lebendiges Kleinod sich angeeignet zu haben. Er sah seine Schwiegertochter im Geiste schon wieder von Zeit zu Zeit bei sich, mit Karten, Planen und St‰dtebildern besch‰ftigt; der Sohn dagegen erinnerte sich des allerliebsten, heitern Wesens, das ihn zu kindlicher Zeit durch Neckerei wie durch Freundlichkeit immer ergˆtzt hatte. Nun sollte Lucidor zu dem Oberamtmann hin¸berreiten, die herangewachsene Schˆne n‰her betrachten, sich einige Wochen, zu Gewohnheit und Bekanntschaft, mit dem Gesamthause ergehen. W¸rden die jungen Leute, wie zu hoffen, bald einig, so sollte man’s melden, der Vater w¸rde sogleich erscheinen, damit ein feierliches Verlˆbnis das gehoffte Gl¸ck f¸r ewig sicherstelle.

Lucidor kommt an, er wird freundlichst empfangen, ein Zimmer ihm angewiesen, er richtet sich ein und erscheint. Da findet er denn, aufler den uns schon bekannten Familiengliedern, noch einen halberwachsenen Sohn, verzogen, geradezu, aber gescheit und gutm¸tig, so dafl, wenn man ihn f¸r den lustigen Rat nehmen wollte, er gar nicht ¸bel zum Ganzen paflte. Dann gehˆrte zum Haus ein sehr alter, aber gesunder, frohm¸tiger Mann, still, fein, klug, auslebend nun hie und da auszuhelfen. Gleich nach Lucidor kam noch ein Fremder hinzu, nicht mehr jung, von bedeutendem Ansehn, w¸rdig, lebensgewandt und durch Kenntnis der weitesten Weltgegenden hˆchst unterhaltend. Sie hieflen ihn Antoni.

Julie empfing ihren angek¸ndigten Br‰utigam schicklich, aber zuvorkommend, Lucinde dagegen machte die Ehre des Hauses wie jene ihrer Person. So verging der Tag ausgezeichnet angenehm f¸r alle, nur f¸r Lucidorn nicht; er, ohnehin schweigsam, muflte von Zeit zu Zeit, um nicht gar zu verstummen, sich fragend verhalten; wobei denn niemand zum Vorteil erscheint.

Zerstreut war er durchaus: denn er hatte vom ersten Augenblick an nicht Abneigung noch Widerwillen, aber Entfremdung gegen Julien gef¸hlt; Lucinde dagegen zog ihn an, dafl er zitterte, wenn sie ihn mit ihren vollen, reinen, ruhigen Augen ansah.

So bedr‰ngt, erreichte er den ersten Abend sein Schlafzimmer und ergofl sich in jenem Monolog, mit dem wir begonnen haben. Um aber auch diesen zu erkl‰ren, und wie die Heftigkeit einer solchen Redef¸lle zu demjenigen paflt, was wir schon von ihm wissen, wird eine kurze Mitteilung nˆtig.

Lucidor war von tiefem Gem¸t und hatte meist etwas anders im Sinn, als was die Gegenwart erheischte; deswegen Unterhaltung und Gespr‰ch ihm nie recht gl¸cken wollte; er f¸hlte das und wurde schweigsam, aufler wenn von bestimmten F‰chern die Rede war, die er durchstudiert hatte, davon ihm jederzeit zu Diensten stand, was er bedurfte. Dazu kam, dafl er, fr¸her auf der Schule, sp‰ter auf der Universit‰t, sich an Freunden betrogen und seinen Herzensergufl ungl¸cklich vergeudet hatte; jede Mitteilung war ihm daher bedenklich; Bedenken aber hebt jede Mitteilung auf. Zu seinem Vater war er nur gewohnt unisono zu sprechen, und sein volles Herz ergofl sich daher in Monologen, sobald er allein war.

Den andern Morgen hatte er sich zusammengenommen und w‰re doch beinahe aufler Fassung ger¸ckt, als ihm Julie noch freundlicher, heiterer und freier entgegenkam. Sie wuflte viel zu fragen, nach seinen Land–und Wasserfahrten, wie er, als Student, mit dem B¸ndelchen auf’m R¸cken die Schweiz durchstreift und durchstiegen, ja ¸ber die Alpen gekommen. Da wollte sie nun von der schˆnen Insel auf dem groflen s¸dlichen See vieles wissen; r¸ckw‰rts aber muflte der Rhein, von seinem ersten Ursprung an, erst durch hˆchst unerfreuliche Gegenden begleitet werden, und so hinabw‰rts durch manche Abwechselung; wo es denn freilich zuletzt, zwischen Mainz und Koblenz, noch der M¸he wert ist, den Flufl ehrenvoll aus seiner letzten Beschr‰nkung in die weite Welt, ins Meer zu entlassen.

Lucidor f¸hlte sich hiebei sehr erleichtert, erz‰hlte gern und gut, so dafl Julie entz¸ckt ausrief: so was m¸sse man selbander sehen. Wor¸ber denn Lucidor abermals erschrak, weil er darin eine Anspielung auf ihr gemeinsames Wandern durchs Leben zu sp¸ren glaubte.

Von seiner Erz‰hlerpflicht jedoch wurde er bald abgelˆst; denn der Fremde, den sie Antoni hieflen, verdunkelte gar geschwind alle Bergquellen, Felsufer, eingezw‰ngte, freigelassene Fl¸sse: nun hier ging’s unmittelbar nach Genua; Livorno lag nicht weit, das Interessanteste im Lande nahm man auf den Raub so mit; Neapel muflte man, ehe man st¸rbe, gesehen haben, dann aber blieb freilich Konstantinopel noch ¸brig, das doch auch nicht zu vers‰umen sei. Die Beschreibung, die Antoni von der weiten Welt machte, rifl die Einbildungskraft aller mit sich fort, ob er gleich weniger Feuer darein zu legen hatte. Julie, ganz aufler sich, war aber noch keineswegs befriedigt, sie f¸hlte noch Lust nach Alexandrien, Kairo, besonders aber zu den Pyramiden, von denen sie ziemlich auslangende Kenntnisse durch ihres vermutlichen Schwiegervaters Unterricht gewonnen hatte.

Lucidor, des n‰chsten Abends (er hatte kaum die T¸re angezogen, das Licht noch nicht niedergesetzt), rief aus: “Nun besinne dich denn! es ist Ernst. Du hast viel Ernstes gelernt und durchdacht; was soll denn Rechtsgelehrsamkeit, wenn du jetzt nicht gleich als Rechtsmann handelst? Siehe dich als einen Bevollm‰chtigten an, vergifl dich selbst und tue, was du f¸r einen andern zu tun schuldig w‰rst. Es verschr‰nkt sich aufs f¸rchterlichste! Der Fremde ist offenbar um Lucindes willen da, sie bezeigt ihm die schˆnsten, edelsten gesellig-h‰uslichen Aufmerksamkeiten; die kleine N‰rrin mˆchte mit jedem durch die Welt laufen, f¸r nichts und wieder nichts. ¸berdies noch ist sie ein Schalk, ihr Anteil an St‰dten und L‰ndern ist eine Posse, wodurch sie uns zum Schweigen bringt. Warum aber seh’ ich diese Sache so verwirrt und verschr‰nkt an? Ist der Oberamtmann nicht selbst der verst‰ndigste, der einsichtigste, liebevollste Vermittler? Du willst ihm sagen, wie du f¸hlst und denkst, und er wird mitdenken, wenn auch nicht mitf¸hlen. Er vermag alles ¸ber den Vater. Und ist nicht eine wie die andere seine Tochter? Was will denn der Anton Reiser mit Lucinden, die f¸r das Haus geboren ist, um gl¸cklich zu sein und Gl¸ck zu schaffen? hefte sich doch das zapplige Quecksilber an den ewigen Juden, das wird eine allerliebste Partie werden.”

Des Morgens ging Lucidor festen Entschlusses hinab, mit dem Vater zu sprechen und ihn deshalb in bekannten freien Stunden unverz¸glich anzugehn. Wie grofl war sein Schmerz, seine Verlegenheit, als er vernahm: der Oberamtmann, in Gesch‰ften verreist, werde erst ¸bermorgen zur¸ckerwartet. Julie schien heute so recht ganz ihren Reisetag zu haben, sie hielt sich an den Weltwanderer und ¸berliefl mit einigen Scherzreden, die sich auf H‰uslichkeit bezogen, Lucidor an Lucinden. Hatte der Freund vorher das edle M‰dchen aus gewisser Ferne gesehen, nach einem allgemeinen Eindruck, und sie sich schon herzlichst angeeignet, so muflte er in der n‰chsten N‰he alles doppelt und dreifach entdecken, was ihn erst im allgemeinen anzog.

Der gute alte Hausfreund, an der Stelle des abwesenden Vaters, tat sich nun hervor; auch er hatte gelebt, geliebt und war, nach manchen Quetschungen des Lebens, noch endlich an der Seite des Jugendfreundes aufgefrischt und wohlbehalten. Er belebte das Gespr‰ch und verbreitete sich besonders ¸ber Verirrungen in der Wahl eines Gatten, erz‰hlte merkw¸rdige Beispiele von zeitiger und versp‰teter Erkl‰rung. Lucinde erschien in ihrem vˆlligen Glanze, sie gestand, dafl im Leben das Zuf‰llige jeder Art, und so auch in Verbindungen, das Allerbeste bewirken kˆnne; doch sei es schˆner, herzerhebender, wenn der Mensch sich sagen d¸rfte: er sei sein Gl¸ck sich selbst, der stillen, ruhigen ¸berzeugung seines Herzens, einem edlen Vorsatz und raschen Entschlusse schuldig geworden. Lucidorn standen die Tr‰nen in den Augen, als er Beifall gab, worauf die Frauenzimmer sich bald entfernten. Der alte Vorsitzende mochte sich in Wechselgeschichten gern ergehen, und so verbreitete sich die Unterhaltung in heitere Beispiele, die jedoch unsern Helden so nahe ber¸hrten, dafl nur ein so rein gebildeter J¸ngling nicht herauszubrechen ¸ber sich gewinnen konnte; das geschah aber, als er allein war.

“Ich habe mich gehalten!” rief er aus. “Mit solcher Verwirrung will ich meinen guten Vater nicht kr‰nken; ich habe an mich gehalten: denn ich sehe in diesem w¸rdigen Hausfreunde den Stellvertretenden beider V‰ter; zu ihm will ich reden, ihm alles entdecken, er wird’s gewifl vermitteln und hat beinahe schon ausgesprochen, was ich w¸nsche. Sollte er im einzelnen Falle schelten, was er ¸berhaupt billigt? Morgen fr¸h such’ ich ihn auf, ich mufl diesem Drange Luft machen.”

Beim Fr¸hst¸ck fand sich der Greis nicht ein; er hatte, hiefl es, gestern abend zu viel gesprochen, zu lange gesessen und einige Tropfen Wein ¸ber Gewohnheit getrunken. Man erz‰hlte viel zu seinem Lobe, und zwar gerade solche Reden und Handlungen, die Lucidorn zur Verzweiflung brachten, dafl er sich nicht sogleich an ihn gewendet. Dieses unangenehme Gef¸hl ward nur noch gesch‰rft, als er vernahm: bei solchen Anf‰llen lasse der gute Alte sich manchmal in acht Tagen gar nicht sehen.

Ein l‰ndlicher Aufenthalt hat f¸r geselliges Zusammensein gar grofle Vorteile, besonders wenn die Bewirtenden sich, als denkende, f¸hlende Personen, mehrere Jahre veranlaflt gefunden, der nat¸rlichen Anlage ihrer Umgebung zu H¸lfe zu kommen. So war es hier gegl¸ckt. Der Oberamtmann, erst unverheiratet, dann in einer langen, gl¸cklichen Ehe, selbst vermˆgend, an einem eintr‰glichen Posten, hatte nach eignem Blick und Einsicht, nach Liebhaberei seiner Frau, ja zuletzt nach W¸nschen und Grillen seiner Kinder erst grˆflere und kleinere abgesonderte Anlagen besorgt und beg¸nstigt, welche, mit Gef¸hl allm‰hlich durch Pflanzungen und Wege verbunden, eine allerliebste, verschiedentlich abweichende, charakteristische Szenenfolge dem Durchwandelnden darstellten. Eine solche Wallfahrt lieflen denn auch unsere jungen Familienglieder ihren Gast antreten, wie man seine Anlagen dem Fremden gerne vorzeigt, damit er das, was uns gewˆhnlich geworden, auffallend erblicke und den g¸nstigen Eindruck davon f¸r immer behalte.

Die n‰chste so wie die fernere Gegend war zu bescheidenen Anlagen und eigentlich l‰ndlichen Einzelnheiten hˆchst geeignet. Fruchtbare H¸gel wechselten mit wohlbew‰sserten Wiesengr¸nden, so dafl das Ganze von Zeit zu Zeit zu sehen war, ohne flach zu sein; und wenn Grund und Boden vorz¸glich dem Nutzen gewidmet erschien, so war doch das Anmutige, das Reizende nicht ausgeschlossen.

An die Haupt–und Wirtschaftsgeb‰ude f¸gten sich Lust, Obst–und Grasg‰rten, aus denen man sich unversehens in ein Hˆlzchen verlor, das ein breiter, fahrbarer Weg auf und ab, hin und wider durchschl‰ngelte. Hier in der Mitte war, auf der bedeutendsten Hˆhe, ein Saal erbaut, mit anstoflenden Gem‰chern. Wer zur Hauptt¸re hereintrat, sah im groflen Spiegel die g¸nstigste Aussicht, welche die Gegend nur gew‰hren mochte, und kehrte sich geschwind wieder um, an der Wirklichkeit von dem unerwarteten Bilde Erholung zu nehmen: denn das Herankommen war k¸nstlich genug eingerichtet und alles kl¸glich verdeckt, was ¸berraschung bewirken sollte. Niemand trat herein, ohne dafl er von dem Spiegel zur Natur und von der Natur zum Spiegel sich nicht gern hin und wider gewendet h‰tte.

Am schˆnsten, heitersten, l‰ngsten Tage einmal auf dem Wege, hielt man einen sinnigen Flurzug um und durch das Ganze. Hier wurde das Abendpl‰tzchen der guten Mutter bezeichnet, wo eine herrliche Buche rings umher sich freien Raum gehalten hatte. Bald nachher wurde Lucindens Morgenandacht von Julien halb neckisch angedeutet, in der N‰he eines W‰sserchens zwischen Pappeln und Erlen, an hinabstreichenden Wiesen, hinaufziehenden ƒckern. Es war nicht zu beschreiben, wie h¸bsch! schon ¸berall glaubte man es gesehen zu haben, aber nirgends in seiner Einfalt so bedeutend und so willkommen. Dagegen zeigte der Junker, auch halb wider Willen Juliens, die kleinlichen Lauben und kindischen G‰rtchenanstalten, die, n‰chst einer vertraulich gelegenen M¸hle, kaum noch zu bemerken; sie schrieben sich aus einer Zeit her, wo Julie, etwa in ihrem zehnten Jahre, sich in den Kopf gesetzt hatte, M¸llerin zu werden und, nach dem Abgang der beiden alten Leute, selbst einzutreten und sich einen braven M¸hlknappen auszusuchen.

“Das war zu einer Zeit”, rief Julie, “wo ich noch nichts von St‰dten wuflte, die an Fl¸ssen liegen, oder gar am Meer, von Genua nichts u.s. w. Ihr guter Vater, Lucidor, hat mich bekehrt, seit der Zeit komm’ ich nicht leicht hierher.” Sie setzte sich neckisch auf ein B‰nkchen, das sie kaum noch trug, unter einen Holunderstrauch, der sich zu tief gebeugt hatte. “Pfui ¸bers Hocken!” rief sie, sprang auf und lief mit dem lustigen Bruder davon.

Das zur¸ckgebliebene Paar unterhielt sich verst‰ndig, und in solchen F‰llen n‰hert sich der Verstand auch wohl dem Gef¸hl. Abwechselnd einfache, nat¸rliche Gegenst‰nde zu durchwandern, mit Ruhe zu betrachten, wie der verst‰ndige, kluge Mensch ihnen etwas abzugewinnen weifl, wie die Einsicht ins Vorhandene, zum Gef¸hl seiner Bed¸rfnisse sich gesellend, Wunder tut, um die Welt erst bewohnbar zu machen, dann zu bevˆlkern und endlich zu ¸bervˆlkern, das alles konnte hier im einzelnen zur Sprache kommen. Lucinde gab von allem Rechenschaft und konnte, so bescheiden sie war, nicht verbergen, dafl die bequemlich angenehmen Verbindungen entfernter Partien ihr Werk seien, unter Angabe, Leitung oder Verg¸nstigung einer verehrten Mutter.

Da sich aber denn doch der l‰ngste Tag endlich zum Abend bequemt, so muflte man auf R¸ckkehr denken, und als man auf einen angenehmen Umweg sann, verlangte der lustige Bruder: man solle den k¸rzern, obgleich nicht erfreulichen, wohl gar beschwerlichen Weg einschlagen. “Denn”, rief er aus, “ihr habt mit euren Anlagen und Anschl‰gen geprahlt, wie ihr die Gegend f¸r malerische Augen und f¸r z‰rtliche Herzen verschˆnert und verbessert; laflt mich aber auch zu Ehren kommen.”

Nun muflte man ¸ber geackerte Stellen und holprichte Pfade, ja wohl auch auf zuf‰llig hingeworfenen Steinen ¸ber Moorflecke wandern und sah, schon in einer gewissen Ferne, allerlei Maschinenwerk verworren aufget¸rmt. N‰her betrachtet, war ein grofler Lust–und Spielplatz, nicht ohne Verstand, mit einem gewissen Volkssinn eingerichtet. Und so standen hier, in gehˆrigen Entfernungen zusammengeordnet, das grofle Schaukelrad, wo die Auf–und Absteigenden immer gleich horizontal ruhig sitzenbleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel, Kegel–und Zellenbahnen, und was nur alles erdacht werden kann, um auf einem groflen Triftraum eine Menge Menschen verschiedentlichst und gleichm‰flig zu besch‰ftigen und zu erlustigen. “Dies”, rief er aus, “ist meine Erfindung, meine Anlage! und obgleich der Vater das Geld und ein gescheiter Kerl den Kopf dazu hergab, so h‰tte doch ohne mich, den ihr oft unvern¸nftig nennt, Verstand und Geld sich nicht zusammengefunden.”

So heiter gestimmt kamen alle vier mit Sonnenuntergang wieder nach Hause. Antoni fand sich ein; die Kleine jedoch, die an diesem bewegten Tage noch nicht genug hatte, liefl einspannen und fuhr ¸ber Land zu einer Freundin, in Verzweiflung, sie seit zwei Tagen nicht gesehen zu haben. Die vier Zur¸ckgebliebenen f¸hlten sich verlegen, ehe man sich’s versah, und es ward sogar ausgesprochen, dafl des Vaters Ausbleiben die Angehˆrigen beunruhige. Die Unterhaltung fing an zu stocken, als auf einmal der lustige Junker aufsprang und gar bald mit einem Buche zur¸ckkam, sich zum Vorlesen erbietend. Lucinde enthielt sich nicht zu fragen, wie er auf den Einfall komme, den er seit einem Jahre nicht gehabt; worauf er munter versetzte: “Mir f‰llt alles zur rechten Zeit ein, dessen kˆnnt ihr euch nicht r¸hmen.” Er las eine Folge echter M‰rchen, die den Menschen aus sich selbst hinausf¸hren, seinen W¸nschen schmeicheln und ihn jede Bedingung vergessen machen, zwischen welche wir, selbst in den gl¸cklichsten Momenten, doch immer noch eingeklemmt sind.

“Was beginne ich nun!” rief Lucidor, als er sich endlich allein fand: “die Stunde dr‰ngt; zu Antoni hab’ ich kein Vertrauen, er ist weltfremd, ich weifl nicht, wer er ist, wie er ins Haus kommt, noch was er will; um Lucinden scheint er sich zu bem¸hen, und was kˆnnte ich daher von ihm hoffen? Mir bleibt nichts ¸brig, als Lucinden selbst anzugehn; sie mufl es wissen, sie zuerst. Dies war ja mein erstes Gef¸hl; warum lassen wir uns auf Klugheitswege verleiten! Das Erste soll nun das Letzte sein, und ich hoffe, zum Ziel zu gelangen.”

Sonnabend morgen ging Lucidor, zeitig angekleidet, in seinem Zimmer auf und ab, was er Lucinden zu sagen h‰tte hin und her bedenkend, als er eine Art von scherzhaftem Streit vor seiner T¸re vernahm, die auch alsobald aufging. Da schob der lustige Junker einen Knaben vor sich hin, mit Kaffee und Backwerk f¸r den Gast; er selbst trug kalte K¸che und Wein. “Du sollst vorangehen”, rief der Junker, “denn der Gast mufl zuerst bedient werden, ich bin gewohnt, mich selbst zu bedienen. Mein Freund! heute komme ich etwas fr¸h und tumultuarisch; genieflen wir unser Fr¸hst¸ck in Ruhe, und dann wollen wir sehen, was wir anfangen: denn von der Gesellschaft haben wir wenig zu hoffen. Die Kleine ist von ihrer Freundin noch nicht zur¸ck; diese m¸ssen gegeneinander wenigstens alle vierzehn Tage ihr Herz aussch¸tten, wenn es nicht springen soll. Sonnabend ist Lucinde ganz unbrauchbar, sie liefert dem Vater p¸nktlich ihre Haushaltsrechnung; da hab’ ich mich auch einmischen sollen, aber Gott bewahre mich! Wenn ich weifl, was eine Sache kostet, so schmeckt mir kein Bissen. G‰ste werden auf morgen erwartet, der Alte hat sich noch nicht wieder ins Gleichgewicht gestellt, Antoni ist auf die Jagd, wir wollen das gleiche tun.”

Flinten, Taschen und Hunde waren bereit, als sie in den Hof kamen, und nun ging es an den Feldern weg, wo denn doch allenfalls ein junger Hase und ein armer, gleichg¸ltiger Vogel geschossen wurde. Indessen besprach man sich von h‰uslichen und gegenw‰rtig geselligen Verh‰ltnissen. Antoni ward genannt, und Lucidor verfehlte nicht, sich nach ihm n‰her zu erkundigen. Der lustige Junker, mit einiger Selbstgef‰lligkeit, versicherte: jenen wunderlichen Mann, so geheimnisvoll er auch tue, habe er schon durch und durch geblickt. “Er ist”, fuhr er fort, “gewifl der Sohn aus einem reichen Handelshause, das gerade in dem Augenblick fallierte, als er, in der F¸lle seiner Jugend, teil an groflen Gesch‰ften mit Kraft und Munterkeit zu nehmen, daneben aber die sich reichlich darbietenden Gen¸sse zu teilen gedachte. Von der Hˆhe seiner Hoffnungen heruntergest¸rzt, raffte er sich zusammen und leistete, andern dienend, dasjenige, was er f¸r sich und die Seinigen nicht mehr bewirken konnte. So durchreiste er die Welt, lernte sie und ihren wechselseitigen Verkehr aufs genaueste kennen und vergafl dabei seines Vorteils nicht. Unerm¸dete T‰tigkeit und erprobte Rechtlichkeit brachten und erhielten ihm von vielen ein unbedingtes Vertrauen. So erwarb er sich allerorten Bekannte und Freunde, ja es l‰flt sich gar wohl merken, dafl sein Vermˆgen so weit in der Welt umher verteilt ist, als seine Bekanntschaft reicht, weshalb denn auch seine Gegenwart in allen vier Teilen der Welt von Zeit zu Zeit nˆtig ist.”

Umst‰ndlicher und naiver hatte dies der lustige Junker erz‰hlt und so manche possenhafte Bemerkung eingeschlossen, eben als wenn er sein M‰rchen recht weitl‰ufig auszuspinnen ged‰chte.

“Wie lange steht er nicht schon mit meinem Vater in Verbindung! Die meinen, ich sehe nichts, weil ich mich um nichts bek¸mmere; aber eben deswegen seh’ ich’s nur desto besser, weil mich’s nichts angeht. Vieles Geld hat er bei meinem Vater niedergelegt, der es wieder sicher und vorteilhaft unterbrachte. Erst gestern steckte er dem Alten ein Juwelenk‰stchen zu; einfacher, schˆner und kostbarer hab’ ich nichts gesehen, obgleich nur mit einem Blick, denn es wird verheimlicht. Wahrscheinlich soll es der Braut zu Vergn¸gen, Lust und k¸nftiger Sicherheit verehrt werden. Antoni hat sein Zutrauen auf Lucinden gesetzt! Wenn ich sie aber so zusammen sehe, kann ich sie nicht f¸r ein wohl assortiertes Paar halten. Die Ruschliche w‰re besser f¸r ihn, ich glaube auch, sie nimmt ihn lieber als die ƒlteste; sie blickt auch wirklich manchmal nach dem alten Knasterbart so munter und teilnehmend hin¸ber, als wenn sie sich mit ihm in den Wagen setzen und auf und davon fliegen wolle.” Lucidor faflte sich zusammen; er wuflte nicht, was zu erwidern w‰re, alles, was er vernahm, hatte seinen innerlichen Beifall. Der Junker fuhr fort: “¸berhaupt hat das M‰dchen eine verkehrte Neigung zu alten Leuten; ich glaube, sie h‰tte ihren Vater so frisch weg geheiratet wie den Sohn.”

Lucidor folgte seinem Gef‰hrten, wo ihn dieser auch ¸ber Stock und Stein hinf¸hrte; beide vergaflen die Jagd, die ohnehin nicht ergiebig sein konnte. Sie kehrten auf einem Pachthofe ein, wo, gut aufgenommen, der eine Freund sich mit Essen, Trinken und Schw‰tzen unterhielt, der andere aber in Gedanken und ¸berlegungen sich versenkte, wie er die gemachte Entdeckung f¸r sich und seinen Vorteil benutzen mˆchte.

Lucidor hatte nach allen diesen Erz‰hlungen und Erˆffnungen so viel Vertrauen zu Antoni gewonnen, dafl er gleich beim Eintritt in den Hof nach ihm fragte und in den Garten eilte, wo er zu finden sein sollte. Er durchstrich die s‰mtlichen G‰nge des Parks bei heiterer Abendsonne; umsonst! Nirgends keine Seele war zu sehen; endlich trat er in die T¸re des groflen Saals, und, wundersam genug, die untergehende Sonne, aus dem Spiegel zur¸ckscheinend, blendete ihn dergestalt, dafl er die beiden Personen, die auf dem Kanapee saflen, nicht erkennen, wohl aber unterscheiden konnte, dafl einem Frauenzimmer von einer neben ihr sitzenden Mannsperson die Hand sehr feurig gek¸flt wurde. Wie grofl war daher sein Entsetzen, als er bei hergestellter Augenruhe Lucinden und Antoni vor sich sahe. Er h‰tte versinken mˆgen, stand aber wie angewurzelt, als ihn Lucinde freundlichst und unbefangen willkommen hiefl, zuruckte und ihn bat, zu ihrer rechten Seite zu sitzen. Unbewuflt liefl er sich nieder, und wie sie ihn anredete, nach dem heutigen Tage sich erkundigte, Vergebung bat h‰uslicher Abhaltungen, da konnte er ihre Stimme kaum ertragen. Antoni stand auf und empfahl sich Lucinden; als sie, sich gleichfalls erhebend, den Zur¸ckgebliebenen zum Spaziergang einlud. Neben ihr hergehend, war er schweigsam und verlegen; auch sie schien beunruhigt; und wenn er nur einigermaflen bei sich gewesen w‰re, so h‰tte ihm ein tiefes Atemholen verraten m¸ssen, dafl sie herzliche Seufzer zu verbergen habe. Sie beurlaubte sich zuletzt, als sie sich dem Hause n‰herten, er aber wandte sich, erst langsam, dann heftig, gegen das Freie. Der Park war ihm zu eng, er eilte durchs Feld, nur die Stimme seines Herzens vernehmend, ohne Sinn f¸r die Schˆnheiten des vollkommensten Abends. Als er sich allein sah und seine Gef¸hle sich im beruhigenden Tr‰nenergufl Luft machten, rief er aus:

“Schon einigemal im Leben, aber nie so grausam hab’ ich den Schmerz empfunden, der mich nun ganz elend macht: wenn das gew¸nschteste Gl¸ck endlich Hand in Hand, Arm in Arm zu uns tritt und zugleich sein Scheiden f¸r ewig ank¸ndet. Ich safl bei ihr, ging neben ihr, das bewegte Kleid ber¸hrte mich, und ich hatte sie schon verloren! Z‰hle dir das nicht vor, drˆsele dir’s nicht auf, schweig und entschliefle dich!”

Er hatte sich selbst den Mund verboten, er schwieg und sann, durch Felder, Wiesen und Busch, nicht immer auf den wegsamsten Pfaden hinschreitend. Nur als er sp‰t in sein Zimmer trat, hielt er sich nicht und rief: “Morgen fr¸h bin ich fort, solch einen Tag will ich nicht wieder erleben!”

Und so warf er sich angekleidet aufs Lager.–Gl¸ckliche, gesunde Jugend! Er schlief schon; die abm¸dende Bewegung des Tages hatte ihm die s¸fle Nachtruhe verdient. Aus trˆstlichen Morgentr‰umen jedoch weckte ihn die allerfr¸hste Sonne; es war eben der l‰ngste Tag, der ihm ¸berlang zu werden drohte. Wenn er die Anmut des beruhigenden Abendgestirns gar nicht empfunden, so f¸hlte er die aufregende Schˆnheit des Morgens nur, um zu verzweifeln. Er sah die Welt so herrlich als je, seinen Augen war sie es noch; sein Inneres aber widersprach: das gehˆrte ihm alles nicht mehr an, er hatte Lucinden verloren.

Neuntes Kapitel

Der Mantelsack war schnell gepackt, den er wollte liegenlassen; keinen Brief schrieb er dazu, nur mit wenig Worten sollte sein Ausbleiben vom Tisch, vielleicht auch vom Abend, durch den Reitknecht entschuldigt werden, den er ohnehin aufwecken muflte. Diesen aber fand er unten, schon vor dem Stalle, mit groflen Schritten auf und ab gehend. “Sie wollen doch nicht reiten?” rief der sonst gutm¸tige Mensch mit einigem Verdrufl. “Ihnen darf ich es wohl sagen, aber der junge Herr wird alle Tage unertr‰glicher. Hatte er sich doch gestern in der Gegend herumgetrieben, dafl man glauben sollte, er danke Gott, einen Sonntagmorgen zu ruhen. Kommt er nicht heute fr¸he vor Tag, rumort im Stalle, und wie ich aufspringe, sattelt und z‰umt er Ihr Pferd, ist durch keine Vorstellung abzuhalten; er schwingt sich darauf und ruft: “Bedenke nur das gute Werk, das ich tue! Dies Geschˆpf geht immer nur gelassen einen juristischen Trab, ich will sehen, dafl ich ihn zu einem raschen Lebensgalopp anrege.” Er sagte ungef‰hr so und verf¸hrte andere wunderliche Reden.”

Lucidor war doppelt und dreifach betroffen, er liebte das Pferd, als seinem eigenen Charakter, seiner Lebensweise zusagend; ihn verdrofl, das gute, verst‰ndige Geschˆpf in den H‰nden eines Wildfangs zu wissen. Sein Plan war zerstˆrt, seine Absicht, zu einem Universit‰tsfreunde, mit dem er in froher, herzlicher Verbindung gelebt, in dieser Krise zu fl¸chten. Das alte Zutrauen war erwacht, die dazwischenliegenden Meilen wurden nicht gerechnet, er glaubte schon bei dem wohlwollenden, verst‰ndigen Freunde Rat und Linderung zu finden. Diese Aussicht war nun abgeschnitten; doch sie war’s nicht, wenn er es wagte, auf frischen Wanderf¸flen, die ihm zu Gebote standen, sein Ziel zu erreichen.

Vor allen Dingen suchte er nun aus dem Park ins freie Feld, auf den Weg, der ihn zum Freunde f¸hren sollte, zu gelangen. Er war seiner Richtung nicht ganz gewifl, als ihm, linker Hand, ¸ber dem Geb¸sch hervorragend, auf wunderlichem Zimmerwerk die Einsiedelei, aus der man ihm fr¸her ein Geheimnis gemacht hatte, in die Augen fiel und er, jedoch zu seiner grˆflten Verwunderung, auf der Galerie unter dem chinesischen Dache den guten Alten, der einige Tage f¸r krank gehalten worden, munter um sich blickend erschaute. Dem freundlichsten Grufle, der dringenden Einladung heraufzukommen widerstand Lucidor mit Ausfl¸chten und eiligen Geb‰rden. Nur Teilnahme f¸r den guten Alten, der, die steile Treppe schwankenden Tritts heruntereilend, herabzust¸rzen drohte, konnte ihn vermˆgen, entgegenzusehen und sodann sich hinaufziehen zu lassen. Mit Verwunderung betrat er das anmutige S‰lchen: es hatte nur drei Fenster gegen das Land, eine allerliebste Aussicht; die ¸brigen W‰nde waren verziert oder vielmehr verdeckt von hundert und aber hundert Bildnissen, in Kupfer gestochen, allenfalls auch gezeichnet, auf die Wand nebeneinander in gewisser Ordnung aufgeklebt, durch farbige S‰ume und Zwischenr‰ume gesondert.

“Ich beg¸nstige Sie, mein Freund, wie nicht jeden; dies ist das Heiligtum, in dem ich meine letzten Tage vergn¸glich zubringe. Hier erhol’ ich mich von allen Fehlern, die mich die Gesellschaft begehen l‰flt, hier bring’ ich meine Di‰tfehler wieder ins Gleichgewicht.”

Lucidor besah sich das Ganze, und in der Geschichte wohl erfahren, sah er alsbald klar, dafl eine historische Neigung zugrunde liege.

“Hier oben in der Friese”, sagte der Alte, “finden Sie die Namen vortrefflicher M‰nner aus der Urzeit, dann aus der n‰heren auch nur die Namen, denn wie sie ausgesehen, mˆchte schwerlich auszumitteln sein. Hier aber im Hauptfelde geht eigentlich mein Leben an, hier sind die M‰nner, die ich noch nennen gehˆrt als Knabe. Denn etwa funfzig Jahre bleibt der Name vorz¸glicher Menschen in der Erinnerung des Volks, weiterhin verschwindet er oder wird m‰rchenhaft.–Obgleich von deutschen Eltern, bin ich in Holland geboren, und f¸r mich ist Wilhelm von Oranien, als Statthalter und Kˆnig von England, der Urvater aller auflerordentlichen M‰nner und Helden.

Nun sehen Sie aber Ludwig den Vierzehnten gleich neben ihm, als welcher”–wie gern h‰tte Lucidor den guten Alten unterbrochen, wenn es sich geschickt h‰tte, wie es sich uns, den Erz‰hlenden, wohl ziemen mag: denn ihn bedrohte die neue und neueste Geschichte, wie sich an den Bildern Friedrichs des Groflen und seiner Generale, nach denen er hinschielte, gar wohl bemerken liefl.

Ehrte nun auch der gute J¸ngling die lebendige Teilnahme des Alten an seiner n‰chsten Vor–und Mitzeit, konnten ihm einzelne individuelle Z¸ge und Ansichten als interessant nicht entgehen, so hatte er doch auf Akademien schon die neuere und neueste Geschichte gehˆrt, und was man einmal gehˆrt hat, glaubt man f¸r immer zu wissen. Sein Sinn stand in die Ferne, er hˆrte nicht, er sah kaum und war eben im Begriff, auf die ungeschickteste Weise zur T¸re hinaus und die lange, fatale Treppe hinunter zu poltern, als ein H‰ndeklatschen von unten heftig zu vernehmen war.

Indessen sich Lucidor zur¸ckhielt, fuhr der Kopf des Alten zum Fenster hinaus, und von unten ertˆnte eine wohlbekannte Stimme: “Kommen Sie herunter, um ‘s Himmels willen, aus Ihrem historischen Bildersaal, alter Herr! Schlieflen Sie Ihre Fasten und helfen mir unsern jungen Freund beg¸tigen–wenn er’s erf‰hrt. Lucidors Pferd hab’ ich etwas unvern¸nftig angegriffen, es hat ein Eisen verloren, und ich muflte es stehen lassen. Was wird er sagen? Es ist doch gar zu absurd, wenn man absurd ist.”

“Kommen Sie herauf!” sagte der Alte und wendete sich herein zu Lucidor: “Nun, was sagen Sie?” Lucidor schwieg, und der wilde Junker trat herein. Das Hin–und Widerreden gab eine lange Szene; genug, man beschlofl, den Reitknecht sogleich hinzuschicken, um f¸r das Pferd Sorge zu tragen.

Den Greis zur¸cklassend, eilten beide jungen Leute nach dem Hause, wohin sich Lucidor nicht ganz unwillig ziehen liefl; es mochte daraus werden, was wollte, wenigstens war in diesen Mauern der einzige Wunsch seines Herzens eingeschlossen. In solchem verzweifelten Falle vermissen wir ohnehin den Beistand unseres freien Willens und f¸hlen uns erleichtert f¸r einen Augenblick, wenn von irgendwoher Bestimmung und Nˆtigung eingreift. Jedoch fand er sich, da er sein Zimmer betrat, in dem wunderlichsten Zustande, eben als wenn jemand in ein Gasthofsgemach, das er soeben verliefl, unerw¸nscht wieder einzukehren genˆtigt ist, weil ihm eine Achse gebrochen.

Der lustige Junker machte sich nun ¸ber den Mantelsack, um alles recht ordentlich auszupacken, vorz¸glich legte er zusammen, was von festlichen Kleidungsst¸cken, obgleich reisem‰flig, vorhanden war; er nˆtigte Lucidorn, Schuh und Str¸mpfe anzuziehen, richtete dessen vollkrause, braune Locken zurecht und putzte ihn aufs beste heraus. Sodann rief er hinwegtretend, unsern Freund und sein Machwerk vom Kopf bis zum Fufle beschauend: “Nun seht Ihr doch, Freundchen, einem Menschen gleich, der einigen Anspruch auf h¸bsche Kinder macht, und ernsthaft genug dabei, um sich nach einer Braut umzusehn. Nur einen Augenblick! und Ihr sollt erfahren, wie ich mich hervorzutun weifl, wenn die Stunde schl‰gt. Das hab’ ich Offizieren abgelernt, nach denen die M‰dchen immer schielen, und da hab’ ich mich zu einer gewissen Soldateska selbst enrolliert, und nun sehen sie mich auch an und wieder an, weil keine weifl, was sie aus mir machen soll. Da entsteht nun aus dem Hin–und Hersehen, aus Verwunderung und Aufmerksamkeit oft etwas gar Artiges, das, w‰r’ es auch nicht dauerhaft, doch wert ist, dafl man ihm den Augenblick gˆnne.

Aber nun kommen Sie, Freund, und erweisen mir den gleichen Dienst! Wenn Sie mich St¸ck f¸r St¸ck in meine H¸lle schl¸pfen sehen, so werden Sie Witz und Erfindungsgabe dem leichtfertigen Knaben nicht absprechen.”

Nun zog er den Freund mit sich fort, durch lange, weitl‰ufige G‰nge des alten Schlosses. “Ich habe mich”, rief er aus, “ganz hinten hingebettet. Ohne mich verbergen zu wollen, bin ich gern allein: denn man kann’s den andern doch nicht recht machen.”

Sie kamen an der Kanzlei vorbei, eben als ein Diener heraustrat und ein Urvater-Schreibzeug, schwarz, grofl und vollst‰ndig, heraustrug; Papier war auch nicht vergessen.

“Ich weifl schon, was da wieder gekleckst werden soll”, rief der Junker; “geh hin und lafl mir den Schl¸ssel. Tun Sie einen Blick hinein, Lucidor! es unterh‰lt Sie wohl, bis ich angezogen bin. Einem Rechtsfreund ist ein solches Lokale nicht verhaflt wie einem Stallverwandten”; und so schob er Lucidorn in den Gerichtssaal.

Der J¸ngling f¸hlte sich sogleich in einem bekannten, ansprechenden Elemente: die Erinnerung der Tage, wo er, aufs Gesch‰ft erpicht, an solchem Tische safl, hˆrend und schreibend sich ¸bte. Auch blieb ihm nicht verborgen, dafl hier eine alte, stattliche Hauskapelle zum Dienste der Themis, bei ver‰nderten Religionsbegriffen, verwandelt sei. In den Reposituren fand er Rubriken und Akten, ihm fr¸her bekannt; er hatte selbst in diesen Angelegenheiten, von der Hauptstadt her, gearbeitet. Einen Faszikel aufschlagend, fiel ihm ein Reskript in die H‰nde, das er selbst mundiert, ein anderes, wovon er der Konzipient gewesen. Handschrift und Papier, Kanzleisiegel und des Vorsitzenden Unterschrift, alles rief ihm jene Zeit eines rechtlichen Strebens jugendlicher Hoffnung hervor. Und wenn er sich dann umsah und den Sessel des Oberamtmanns erblickte, ihm zugedacht und bestimmt, einen so schˆnen Platz, einen so w¸rdigen Wirkungskreis, den er zu verschm‰hen, zu entbehren Gefahr lief, das alles bedr‰ngte ihn doppelt und dreifach, indem die Gestalt Lucindens zu gleicher Zeit sich von ihm zu entfernen schien.

Er wollte das Freie suchen, fand sich aber gefangen. Der wunderliche Freund hatte, leichtsinnig oder schalkhaft, die T¸re verschlossen hinter sich gelassen; doch blieb unser Freund nicht lange in dieser peinlichsten Beklemmung, denn der andere kam wieder, entschuldigte sich und erregte wirklich guten Humor durch seine seltsame Gegenwart. Eine gewisse Verwegenheit der Farben und des Schnitts seiner Kleidung war durch nat¸rlichen Geschmack ged‰mpft; wie wir ja selbst tatouierten Indiern einen gewissen Beifall nicht versagen. “Heute”, rief er aus, “soll uns die Langeweile vergangener Tage verg¸tet werden; gute Freunde, muntere Freunde sind angekommen, h¸bsche M‰dchen, neckische, verliebte Wesen, und dann auch mein Vater, und Wunder ¸ber Wunder! Ihr Vater auch; das wird ein Fest werden, alles ist im Saale schon versammelt beim Fr¸hst¸ck.”

Lucidorn war’s auf einmal zumute, als wenn er in tiefe Nebel hineins‰he, alle die angemeldeten bekannten und unbekannten Gestalten erschienen ihm gespenstig; doch sein Charakter in Begleitung eines reinen Herzens hielt ihn aufrecht, in wenigen Sekunden f¸hlte er sich schon allem gewachsen. Nun folgte er dem eilenden Freunde mit sicherem Tritt, fest entschlossen, abzuwarten, es geschehe, was da wolle, sich zu erkl‰ren, es entstehe, was da wolle.

Und doch war er auf der Schwelle des Saals betroffen. In einem groflen Halbkreis rings an den Fenstern umher entdeckte er sogleich seinen Vater neben dem Oberamtmann, beide stattlich angezogen. Die Schwestern, Antoni und sonst noch Bekannte und Unbekannte ¸bersah er mit einem Blick, der ihm tr¸be werden wollte. Schwankend n‰herte er sich seinem Vater, der ihn hˆchst freundlich willkommen hiefl, jedoch mit einer gewissen Fˆrmlichkeit, die ein vertrauendes Ann‰hern kaum beg¸nstigte. Vor so vielen Personen stehend suchte er sich f¸r den Augenblick einen schicklichen Platz; er h‰tte sich neben Lucinden stellen kˆnnen, aber Julie, dem gespannten Anstand zuwider, machte eine Wendung, dafl er zu ihr treten muflte; Antoni blieb neben Lucinden.

In diesem bedeutenden Momente f¸hlte sich Lucidor abermals als Beauftragten, und gest‰hlt von seiner ganzen Rechtswissenschaft, rief er sich jene schˆne Maxime zu seinen eignen Gunsten heran: “Wir sollen anvertraute Gesch‰fte der Fremden wie unsere eigenen behandeln, warum nicht die unsrigen in eben dem Sinne?”–In Gesch‰ftsvortr‰gen wohl ge¸bt, durchlief er schnell, was er zu sagen habe. Indessen schien die Gesellschaft, in einen fˆrmlichen Halbzirkel gebildet, ihn zu ¸berfl¸geln. Den Inhalt seines Vortrags kannte er wohl, den Anfang konnte er nicht finden. Da bemerkte er, in einer Ecke aufgetischt, das grofle Tintenfafl, Kanzleiverwandte dabei; der Oberamtmann machte eine Bewegung, seine Rede vorzubereiten; Lucidor wollte ihm zuvorkommen, und in demselben Augenblicke dr¸ckte Julie ihm die Hand. Dies brachte ihn aus aller Fassung, er ¸berzeugte sich, dafl alles entschieden, alles f¸r ihn verloren sei.

Nun war an gegenw‰rtigen s‰mtlichen Lebensverh‰ltnissen, diesen Familienverbindungen, Gesellschafts–und Anstandsbez¸gen nichts mehr zu schonen; er sah vor sich hin, entzog seine Hand Julien und war so schnell zur T¸re hinaus, dafl die Versammlung ihn unversehens vermiflte und er sich selbst drauflen nicht wiederfinden konnte.

Scheu vor dem Tageslichte, das im hˆchsten Glanze ¸ber ihn herabschien, die Blicke begegnender Menschen vermeidend, aufsuchende f¸rchtend, schritt er vorw‰rts und gelangte zu dem groflen Gartensaal. Dort wollten ihm die Kniee versagen, er st¸rzte hinein und warf sich trostlos auf den Sofa unter dem Spiegel: mitten in der sittlich-b¸rgerlichen Gesellschaft in solcher Verworrenheit befangen, die sich wogenhaft um ihn, in ihm hin und her schlug. Sein vergangenes Dasein k‰mpfte mit dem gegenw‰rtigen, es war ein greulicher Augenblick.

Und so lag er eine Zeit, mit dem Gesichte in das Kissen versenkt, auf welchem gestern Lucindens Arm geruht hatte. Ganz in seinen Schmerz versunken, fuhr er, sich ber¸hrt f¸hlend, schnell in die Hˆhe, ohne die Ann‰herung irgendeiner Person gesp¸rt zu haben: da erblickt’ er Lucinden, die ihm nahe stand,

Vermutend, man habe sie gesendet, ihn abzuholen, ihr aufgetragen, ihn mit schicklichen, schwesterlichen Worten in die Gesellschaft, seinem widerlichen Schicksal entgegen zu f¸hren, rief er aus: “Sie h‰tte man nicht senden m¸ssen, Lucinde, denn Sie sind es, die mich von dort vertrieb; ich kehre nicht zur¸ck! Geben Sie mir, wenn Sie irgendeines Mitleids f‰hig sind, schaffen Sie mir Gelegenheit und Mittel zur Flucht. Denn, damit Sie von mir zeugen kˆnnen, wie unmˆglich es sei, mich zur¸ckzubringen, so nehmen Sie den Schl¸ssel zu meinem Betragen, das Ihnen und allen wahnsinnig vorkommen mufl. Hˆren Sie den Schwur, den ich mir im Innern getan und den ich unauflˆslich laut wiederhole: Nur mit Ihnen wollt’ ich leben, meine Jugend nutzen, genieflen, und so das Alter im treuen, redlichen Ablauf. Dies aber sei so fest und sicher als irgend etwas, was vor dem Altar je geschworen worden, was ich jetzt schwˆre, indem ich Sie verlasse, der bedauernsw¸rdigste aller Menschen.”

Er machte eine Bewegung zu entschl¸pfen, ihr, die so gedr‰ngt vor ihm stand; aber sie faflte ihn sanft in ihren Arm.–“Was machen Sie!” rief er aus. “Lucidor!” rief sie, “nicht zu bedauern, wie Sie wohl w‰hnen, Sie sind mein, ich die Ihre; ich halte Sie in meinen Armen, zaudern Sie nicht, die Ihrigen um mich zu schlagen. Ihr Vater ist alles zufrieden; Antoni heiratet meine Schwester.” Erstaunt zog er sich von ihr zur¸ck. “Das w‰re wahr?” Lucinde l‰chelte und nickte, er entzog sich ihren Armen. “Lassen Sie mich noch einmal in der Ferne sehen, was so nah, so n‰chst mir angehˆren soll.” Er faflte ihre H‰nde, Blick in Blick! “Lucinde, sind Sie mein?”–Sie versetzte: “Nun ja doch”, die s¸flesten Tr‰nen in dem treusten Auge; er umschlang sie und warf sein Haupt hinter das ihre, hing wie am Uferfelsen ein Schiffbr¸chiger; der Boden bebte noch unter ihm. Nun aber sein entz¸ckter Blick, sich wieder ˆffnend, fiel in den Spiegel. Da sah er sie in seinen Armen, sich von den ihren umschlungen; er blickte wieder und wieder hin. Solche Gef¸hle begleiten den Menschen durchs ganze Leben. Zugleich sah er auch auf der Spiegelfl‰che die Landschaft, die ihm gestern so greulich und ahnungsvoll erschienen war, gl‰nzender und herrlicher als je; und sich in solcher Stellung, auf solchem Hintergrunde! Genugsame Vergeltung aller Leiden.

“Wir sind nicht allein”, sagte Lucinde, und kaum hatte er sich von seinem Entz¸cken erholt, so erschienen geputzt und bekr‰nzt M‰dchen und Knaben, Kr‰nze tragend, den Ausgang versperrend. “Das sollte alles anders werden”, rief Lucinde; “wie artig war es eingerichtet, und nun geht’s tumultuarisch durcheinander!” Ein munterer Marsch tˆnte von weitem, und man sah die Gesellschaft den breiten Weg her feierlich heiter heranziehen. Er zauderte entgegenzusehen und schien seiner Schritte nur an ihrem Arm gewifl; sie blieb neben ihm, die feierliche Szene des Wiedersehens, des Danks f¸r eine schon vollendete Vergebung von Augenblick zu Augenblick erwartend.

Anders war’s jedoch von den launischen Gˆttern beschlossen; eines Posthorns lustig schmetternder Ton, von der Gegenseite, schien den ganzen Aufstand in Verwirrung zu setzen. “Wer mag kommen?” rief Lucinde. Lucidorn schauderte vor einer fremden Gegenwart, und auch der Wagen schien ganz fremd. Eine zweisitzige, neue, ganz neuste Reisechaise! Sie fuhr an den Saal an. Ein ausgezeichneter, anst‰ndiger Knabe sprang hinten herunter, ˆffnete den Schlag, aber niemand stieg heraus; die Chaise war leer, der Knabe stieg hinein, mit einigen geschickten Handgriffen warf er die Spriegel zur¸ck, und so war in einem Nu das niedlichste Geb‰ude zur lustigsten Spazierfahrt vor den Augen aller Anwesenden bereitet, die indessen herankamen. Antoni, den ¸brigen voreilend, f¸hrte Julien zu dem Wagen. “Versuchen Sie”, sprach er, “ob Ihnen dies Fuhrwerk gefallen kann, um darin mit mir auf den besten Wegen durch die Welt zu rollen; ich werde Sie keinen andern f¸hren, und wo es irgend not tut, wollen wir uns zu helfen wissen. ¸ber das Gebirg sollen uns Saumrosse tragen, und den Wagen dazu.”

“Sie sind allerliebst!” rief Julie. Der Knabe trat heran und zeigte mit Taschenspielergewandtheit alle Bequemlichkeiten, kleine Vorteile und Behendigkeiten des ganzen leichten Baues.

“Auf der Erde weifl ich keinen Dank”, rief Julie, “nur auf diesem kleinen, beweglichen Himmel, aus dieser Wolke, in die Sie mich erheben, will ich Ihnen herzlich danken.” Sie war schon eingesprungen, ihm Blick und Kuflhand freundlich zuwerfend. “Gegenw‰rtig d¸rfen Sie noch nicht zu mir herein, da ist aber ein anderer, den ich auf dieser Probefahrt mitzunehmen gedenke, er hat auch noch eine Probe zu bestehen.” Sie rief nach Lucidor, der, eben mit Vater und Schwiegervater in stummer Unterhaltung begriffen, sich gern in das leichte Fuhrwerk nˆtigen liefl, da er ein unausweichlich Bed¸rfnis f¸hlte, nur einen Augenblick auf irgendeine Weise sich zu zerstreuen. Er safl neben ihr, sie rief dem Postillon zu, wie er fahren solle. Flugs entfernten sie sich, in Staub geh¸llt, aus den Augen der verwundert Nachschauenden.

Julie setzte sich recht fest und bequem ins Eckchen.–

“R¸cken Sie nun auch dorthin, Herr Schwager, dafl wir uns recht bequem in die Augen sehen.”

Lucidor. Sie empfinden meine Verwirrung, meine Verlegenheit; ich bin noch immer wie im Traume, helfen Sie mir heraus.

Julie. Sehen Sie die h¸bschen Bauersleute, wie sie freundlich gr¸flen! Bei Ihrem Hiersein sind Sie ja nicht ins obere Dorf gekommen. Alles wohlhabende Leute, die mir alle gewogen sind. Es ist niemand zu reich, dem man nicht einmal wohlwollend einen bedeutenden Dienst erweisen kˆnne. Diesen Weg, den wir so bequem fahren, hat mein Vater angelegt und auch dieses Gute gestiftet.

Lucidor. Ich glaub’ es gern und geb’ es zu; aber was sollen die ƒuflerlichkeiten gegen die Verworrenheit meines Innern!

Julie. Nur Geduld, ich will Ihnen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeigen. Nun sind wir oben! Wie klar das ebene Land gegen das Gebirg hinliegt! Alle diese Dˆrfer verdanken meinem Vater gar viel, und Mutter und Tˆchtern wohl auch. Die Flur jenes St‰dtchens dort hinten macht erst die Grenze.

Lucidor. Ich finde Sie in einer wunderlichen Stimmung; Sie scheinen nicht recht zu sagen, was Sie sagen wollten.

Julie. Nun sehen Sie hier links hinunter, wie schˆn sich das alles entwickelt! Die Kirche mit ihren hohen Linden, das Amthaus mit seinen Pappeln hinter dem Dorfh¸gel her. Auch die G‰rten liegen vor uns und der Park.

Der Postillon fuhr sch‰rfer.

Julie. Jenen Saal dort droben kennen Sie; er sieht sich von hier aus ebenso gut an wie die Gegend von dort her. Hier am Baume wird gehalten; nun gerade hier spiegeln wir uns oben in der groflen Glasfl‰che, man sieht uns dort recht gut, wir aber kˆnnen uns nicht erkennen.–Fahre zu! Dort haben sich vor kurzem wahrscheinlich ein Paar Leute n‰her bespiegelt und, ich m¸flte mich sehr irren, mit grofler wechselseitiger Zufriedenheit.

Lucidor, verdriefllich, erwiderte nichts; sie fuhren eine Zeitlang stillschweigend vor sich hin, es ging sehr schnell. “Hier”, sagte Julie, “f‰ngt der schlechte Weg an, um den mˆgen Sie sich einmal verdient machen. Eh es hinabgeht, schauen Sie noch hin¸ber, die Buche meiner Mutter ragt mit ihrem herrlichen Gipfel ¸ber alles hervor. Du f‰hrst”, fuhr sie zum Kutschenden fort, “den schlechten Weg hin, wir nehmen den Fuflpfad durchs Tal und sind eher dr¸ben wie du.” Im Aussteigen rief sie aus: “Das gestehen Sie doch, der ewige Jude, der unruhige Anton Reiser, weifl noch seine Wallfahrten bequem genug einzurichten, f¸r sich und seine Genossen: es ist ein sehr schˆner, bequemer Wagen.”

Und so war sie auch schon den H¸gel drunten; Lucidor folgte sinnend und fand sie auf einer wohlgelegenen Bank sitzend, es war Lucindens Pl‰tzchen. Sie lud ihn zu sich.

Julie. Nun sitzen wir hier und gehen einander nichts an, das hat denn doch so sein sollen. Das kleine Quecksilber wollte Ihnen gar nicht anstehen. Nicht lieben konnten Sie ein solches Wesen, verhaflt war es Ihnen.

Lucidors Verwunderung nahm zu.

Julie. Aber freilich Lucinde! Sie ist der Inbegriff aller Vollkommenheiten, und die niedliche Schwester war ein f¸r allemal ausgestochen. Ich seh’ es, auf Ihren Lippen schwebt die Frage, wer uns so genau unterrichtet hat?

Lucidor. Es steckt ein Verrat dahinter!–

Julie. Jawohl! ein Verr‰ter ist im Spiele.

Lucidor. Nennen Sie ihn.

Julie. Der ist bald entlarvt. Sie selbst!–Sie haben die lˆbliche oder unlˆbliche Gewohnheit, mit sich selbst zu reden, und da will ich denn in unser aller Namen bekennen, dafl wir Sie wechselsweise behorcht haben.

Lucidor (aufspringend). Eine saubere Gastfreundschaft, auf diese Weise den Fremden eine Falle zu stellen!

Julie. Keineswegs; wir dachten nicht daran, Sie zu belauschen, so wenig als irgendeinen andern. Sie wissen, Ihr Bett steht in einem Verschlag der Wand, von der Gegenseite geht ein anderer herein, der gewˆhnlich nur zu h‰uslicher Niederlage dient. Da hatten wir einige Tage vorher unsern Alten genˆtigt zu schlafen, weil wir f¸r ihn in seiner abgelegenen Einsiedelei viele Sorge trugen; nun fuhren Sie gleich den ersten Abend mit einem solchen leidenschaftlichen Monolog ins Zeug, dessen Inhalt er uns den andern Morgen angelegentlichst entdeckte.

Lucidor hatte nicht Lust, sie zu unterbrechen. Er entfernte sich.

Julie (aufgestanden ihm folgend). Wie war uns mit dieser Erkl‰rung gedient! Denn ich gestehe gern: wenn Sie mir auch nicht gerade zuwider waren, so blieb doch der Zustand, der mich erwartete, mir keineswegs w¸nschenswert. Frau Oberamtm‰nnin zu sein, welche schreckliche Lage! Einen t¸chtigen, braven Mann zu haben, der den Leuten Recht sprechen soll und vor lauter Recht nicht zur Gerechtigkeit kommen kann! der es weder nach oben noch unten recht macht und, was das Schlimmste ist, sich selbst nicht. Ich weifl, was meine Mutter ausgestanden hat von der Unbestechlichkeit, Unersch¸tterlichkeit meines Vaters. Endlich, leider nach ihrem Tod, ging ihm eine gewisse Mildigkeit auf, er schien sich in die Welt zu finden, an ihr sich auszugleichen, die er sich bisher vergeblich bek‰mpft hatte.

Lucidor (hˆchst unzufrieden ¸ber den Vorfall, ‰rgerlich ¸ber die leichtsinnige Behandlung, stand still). F¸r den Scherz eines Abends mochte das hingehen, aber eine solche besch‰mende Mystifikation Tage und N‰chte lang gegen einen unbefangenen Gast zu ver¸ben, ist nicht verzeihlich.

Julie. Wir alle haben uns in die Schuld geteilt, wir haben Sie alle behorcht; ich aber allein b¸fle die Schuld des Horchens.

Lucidor. Alle! desto unverzeihlicher! Und wie konnten Sie mich den Tag ¸ber ohne Besch‰mung ansehen, den Sie des Nachts schm‰hlich-unerlaubt ¸berlisteten? Doch ich sehe jetzt ganz deutlich mit einem Blick, dafl Ihre Tagesanstalten nur darauf berechnet waren, mich zum besten zu haben. Eine lˆbliche Familie! und wo bleibt die Gerechtigkeitsliebe Ihres Vaters?–Und Lucinde!

Julie. Und Lucinde! Was war das f¸r ein Ton! Nicht wahr, Sie wollten sagen: wie tief es Sie schmerzt, von Lucinden ¸bel zu denken, Lucinden mit uns allen in eine Klasse zu werfen?

Lucidor. Lucinden begreif’ ich nicht.

Julie. Sie wollen sagen: diese reine, edle Seele, dieses ruhig gefaflte Wesen, die G¸te, das Wohlwollen selbst, diese Frau, wie sie sein sollte, verbindet sich mit einer leichtsinnigen Gesellschaft, mit einer ¸berhinfahrenden Schwester, einem verzogenen Jungen und gewissen geheimnisvollen Personen! das ist unbegreiflich.

Lucidor. Jawohl ist das unbegreiflich.

Julie. So begreifen Sie es denn! Lucinden wie uns allen waren die H‰nde gebunden. H‰tten Sie die Verlegenheit bemerken kˆnnen, wie sie sich kaum zur¸ckhielt, Ihnen alles zu offenbaren, Sie w¸rden sie doppelt und dreifach lieben, wenn nicht jede wahre Liebe an und f¸r sich zehn–und hundertfach w‰re; auch versichere ich Sie, uns allen ist der Spafl am Ende zu lang geworden.

Lucidor. Warum endigten Sie ihn nicht?

Julie. Das ist nun auch aufzukl‰ren. Nachdem Ihr erster Monolog dem Vater bekannt geworden und er gar bald bemerken konnte, dafl alle seine Kinder nichts gegen einen solchen Tausch einzuwenden h‰tten, so entschlofl er sich, alsobald zu Ihrem Vater zu reisen. Die Wichtigkeit des Gesch‰fts war ihm bedenklich. Ein Vater allein f¸hlt den Respekt, den man einem Vater schuldig ist. “Er mufl es zuerst wissen”, sagte der meine, “um nicht etwan hintendrein, wenn wir einig sind, eine ‰rgerlich-erzwungene Zustimmung zu geben. Ich kenne ihn genau, ich weifl, wie er einen Gedanken, eine Neigung, einen Vorsatz festh‰lt, und es ist mir bange genug. Er hat sich Julien, seine Karten und Prospekte so zusammen gedacht, dafl er sich schon vornahm, das alles zuletzt hierher zu stiften, wenn der Tag k‰me, wo das junge Paar sich hier niederliefle und Ort und Stelle so leicht nicht ver‰ndern kˆnnte: da wollt’ er alle Ferien uns zuwenden, und was er f¸r Liebes und Gutes im Sinne hatte. Er mufl zuerst erfahren, was die Natur uns f¸r einen Streich gespielt, da noch nichts eigentlich erkl‰rt, noch nichts entschieden ist.” Hierauf nahm er uns allen den feierlichsten Handschlag ab, dafl wie Sie beobachten und, es geschehe, was da wolle, Sie hinhalten sollten. Wie sich die R¸ckreise verzˆgert, wie es Kunst, M¸he und Beharrlichkeit gekostet, Ihres Vaters Einwilligung zu erlangen, das mˆgen Sie von ihm selbst hˆren. Genug, die Sache ist abgetan, Lucinde ist Ihnen gegˆnnt.–

Und so waren beide, vom ersten Sitze lebhaft sich entfernend, unterwegs anhaltend, immer fortsprechend und langsam weitergehend, ¸ber die Wiesen hin auf die Erhˆhung gekommen an einen andern wohlgebahnten Kunstweg. Der Wagen fuhr schnell heran; Augenblicks machte sie ihren Nachbar aufmerksam auf ein seltsames Schauspiel. Die ganze Maschinerie, worauf sich der Bruder so viel zugute tat, war belebt und bewegt; schon f¸hrten die R‰der eine Menschenzahl auf und nieder, schon wogten die Schaukeln, Mastb‰ume wurden erklettert, und was man nicht alles f¸r k¸hnen Schwung und Sprung ¸ber den H‰uptern einer unz‰hlbaren Menge gewagt sah! Alles das hatte der Junker in Bewegung gesetzt, damit nach Tafel die G‰ste frˆhlich unterhalten w¸rden. “Du f‰hrst noch durchs untere Dorf”, rief Julie, “die Leute wollen mir wohl, und sie sollen sehen, wie wohl es mir geht.”

Das Dorf war ˆde, die J¸ngern s‰mtlich hatten schon den Lustplatz ereilt, alte M‰nner und Frauen zeigten sich, durch das Posthorn erregt, an T¸r und Fenstern, alles gr¸flte, segnete, rief: “O das schˆne Paar!”

Julie. Nun, da haben Sie’s! Wir h‰tten am Ende doch wohl zusammengepaflt; es kann Sie noch reuen.

Lucidor. Jetzt aber, liebe Schw‰gerin!–