gewinnen, die ihm durch seines Vaters und seiner Tante Lob und Freundschaft erst recht wert geworden. Er bem¸hte sich aufrichtig um ein liebensw¸rdiges Weib, die seiner Leidenschaft weit ¸ber den gegenwâ°rtigen Zustand erhËht schien. Ihre Strenge mehr als ihr Verdienst und ihre SchËnheit entflammte ihn; er wagte zu reden, zu unternehmen, zu versprechen.
Der Vater, ohne es selbst zu wollen, gab seiner Bewerbung immer ein etwas vâ°terliches Ansehn, Er kannte sich, und als er seinen Rival erkannt hatte, hoffte er nicht, ¸ber ihn zu siegen, wenn er nicht zu Mitteln greifen wollte, die einem Manne von Grundsâ°tzen nicht geziemen. Dessenungeachtet verfolgte er seinen Weg, ob ihm gleich nicht unbekannt war, daï¬ G¸te, ja VermËgen selbst, nur Reizungen sind, denen sich ein Frauenzimmer mit Vorbedacht hingibt, die jedoch unwirksam bleiben, sobald Liebe sich mit den Reizen und in Begleitung der Jugend zeigt. Auch machte Herr von Revanne noch andere Fehler, die er spâ°ter bereute. Bei einer hochachtungsvollen Freundschaft sprach er von einer dauerhaften, geheimen, gesetzmâ°ï¬igen Verbindung. Er beklagte sich auch wohl und sprach das Wort Undankbarkeit aus. Gewiï¬ kannte er die nicht, die er liebte, als er eines Tages zu ihr sagte, daï¬ viele Wohltâ°ter ¸bles f¸r Gutes zur¸ckerhielten. Ihm antwortete die Unbekannte mit Geradheit: “Viele Wohltâ°ter mËchten ihren Beg¸nstigten sâ°mtliche Rechte gern abhandeln f¸r eine Linse.”
Die schËne Fremde, in die Bewerbung zweier Gegner verwickelt, durch unbekannte Beweggr¸nde geleitet, scheint keine andere Absicht gehabt zu haben, als sich und andern alberne Streiche zu ersparen, indem sie in diesen bedenklichen Umstâ°nden einen wunderlichen Ausweg ergriff. Der Sohn drâ°ngte mit der K¸hnheit seines Alters und drohte, wie gebrâ°uchlich, sein Leben der Unerbittlichen aufzuopfern. Der Vater, etwas weniger unvern¸nftig, war doch ebenso dringend; aufrichtig beide. Dieses liebensw¸rdige Wesen hâ°tte sich hier wohl eines verdienten Zustandes versichern kËnnen: denn beide Herren von Revanne beteuren, ihre Absicht sei gewesen, sie zu heiraten.
Aber an dem Beispiele dieses Mâ°dchens mËgen die Frauen lernen, daï¬ ein redliches Gem¸t, hâ°tte sich auch der Geist durch Eitelkeit oder wirklichen Wahnsinn verirrt, die Herzenswunden nicht unterhâ°lt, die es nicht heilen will. Die Pilgerin f¸hlte, daï¬ sie auf einem â°uï¬ersten Punkte stehe, wo es ihr wohl nicht leicht sein w¸rde, sich lange zu verteidigen. Sie war in der Gewalt zweier Liebenden, welche jede Zudringlichkeit durch die Reinheit ihrer Absichten entschuldigen konnten, indem sie im Sinne hatten, ihre Verwegenheit durch ein feierliches B¸ndnis zu rechtfertigen. So war es, und so begriff sie es.
Sie konnte sich hinter Frâ°ulein von Revanne verschanzen; sie unterlieï¬ es, ohne Zweifel aus Schonung, aus Achtung f¸r ihre Wohltâ°ter. Sie kommt nicht aus der Fassung, sie erdenkt ein Mittel, jedermann seine Tugend zu erhalten, indem sie die ihrige bezweifeln lâ°ï¬t. Sie ist wahnsinnig vor Treue, die ihr Liebhaber gewiï¬ nicht verdient, wenn er nicht alle die Aufopferungen f¸hlt, und sollten sie ihm auch unbekannt bleiben.
Eines Tages, als Herr von Revanne die Freundschaft, die Dankbarkeit, die sie ihm bezeigte, etwas zu lebhaft erwiderte, nahm sie auf einmal ein naives Wesen an, das ihm auffiel. “Ihre G¸te, mein Herr”, sagte sie, “â°ngstigt mich; und lassen Sie mich aufrichtig entdecken, warum. Ich f¸hle wohl, nur Ihnen bin ich meine ganze Dankbarkeit schuldig; aber freilich–“–“Grausames Mâ°dchen!” sagte Herr von Revanne, “ich verstehe Sie. Mein Sohn hat Ihr Herz ger¸hrt.”–“Ach! mein Herr, dabei ist es nicht geblieben. Ich kann nur durch meine Verwirrung ausdr¸cken–“–“Wie? Mademoiselle, Sie wâ°ren–“–“Ich denke wohl ja”, sagte sie, indem sie sich tief verneigte und eine Trâ°ne vorbrachte: denn niemals fehlt es Frauen an einer Trâ°ne bei ihren Schalkheiten, niemals an einer Entschuldigung ihres Unrechts.
So verliebt Herr von Revanne war, so muï¬te er doch diese neue Art von unschuldiger Aufrichtigkeit unter dem Mutterhâ°ubchen bewundern, und er fand die Verneigung sehr am Platze. –“Aber, Mademoiselle, das ist mir ganz unbegreiflich–“– “Mir auch”, sagte sie, und ihre Trâ°nen flossen reichlicher. Sie flossen so lange, bis Herr von Revanne, am Schluï¬ eines sehr verdrieï¬lichen Nachdenkens, mit ruhiger Miene das Wort wieder aufnahm und sagte: “Dies klâ°rt mich auf! Ich sehe, wie lâ°cherlich meine Forderungen sind. Ich mache Ihnen keine Vorw¸rfe, und als einzige Strafe f¸r den Schmerz, den Sie mir verursachen, verspreche ich Ihnen von seinem Erbteile so viel, als nËtig ist, um zu erfahren, ob er Sie so sehr liebt als ich.”–“Ach! mein Herr, erbarmen Sie sich meiner Unschuld und sagen ihm nichts davon.”
Verschwiegenheit fordern ist nicht das Mittel, sie zu erlangen. Nach diesen Schritten erwartete nun die unbekannte SchËne, ihren Liebhaber voll Verdruï¬ und hËchst aufgebracht vor sich zu sehen. Bald erschien er mit einem Blicke, der niederschmetternde Worte verk¸ndigte. Doch er stockte und konnte nichts weiter hervorbringen als: “Wie? Mademoiselle, ist es mËglich?”–“Nun was denn, mein Herr?” sagte sie mit einem Lâ°cheln, das bei einer solchen Gelegenheit zum Verzweifeln bringen kann.–“Wie? was denn? Gehen Sie, Mademoiselle, Sie sind mir ein schËnes Wesen! Aber wenigstens sollte man rechtmâ°ï¬ige Kinder nicht enterben; es ist schon genug, sie anzuklagen. Ja, Mademoiselle, ich durchdringe Ihr Komplott mit meinem Vater. Sie geben mir beide einen Sohn, und es ist mein Bruder, das bin ich gewiï¬!”
Mit ebenderselben ruhigen und heitern Stirne antwortete ihm die schËne Unkluge: “Von nichts sind Sie gewiï¬; es ist weder Ihr Sohn noch Ihr Bruder. Die Knaben sind bËsartig; ich habe keinen gewollt; es ist ein armes Mâ°dchen, das ich weiterf¸hren will, weiter, ganz weit von den Menschen, den BËsen, den Toren und den Ungetreuen.”
Darauf ihrem Herzen Luft machend: “Leben Sie wohl!” fuhr sie fort, “leben Sie wohl, lieber Revanne! Sie haben von Natur ein redliches Herz; erhalten Sie die Grundsâ°tze der Aufrichtigkeit. Diese sind nicht gefâ°hrlich bei einem gegr¸ndeten Reichtum. Sein Sie gut gegen Arme. Wer die Bitte bek¸mmerter Unschuld verachtet, wird einst selbst bitten und nicht erhËrt werden. Wer sich kein Bedenken macht, das Bedenken eines schutzlosen Mâ°dchens zu verachten, wird das Opfer werden von Frauen ohne Bedenken. Wer nicht f¸hlt, was ein ehrbares Mâ°dchen empfinden muï¬, wenn man um sie wirbt, der verdient sie nicht zu erhalten. Wer gegen alle Vernunft, gegen die Absichten, gegen den Plan seiner Familie, zugunsten seiner Leidenschaften Entw¸rfe schmiedet, verdient die Fr¸chte seiner Leidenschaft zu entbehren und der Achtung seiner Familie zu ermangeln. Ich glaube wohl, Sie haben mich aufrichtig geliebt; aber, mein lieber Revanne, die Katze weiï¬ wohl, wem sie den Bart leckt; und werden Sie jemals der Geliebte eines w¸rdigen Weibes, so erinnern Sie sich der M¸hle des Ungetreuen. Lernen Sie an meinem Beispiel sich auf die Standhaftigkeit und Verschwiegenheit Ihrer Geliebten verlassen. Sie wissen, ob ich untreu bin, Ihr Vater weiï¬ es auch. Ich gedachte durch die Welt zu rennen und mich allen Gefahren auszusetzen. Gewiï¬ diejenigen sind die grËï¬ten, die mich in diesem Hause bedrohen. Aber weil Sie jung sind, sage ich es Ihnen allein und im Vertrauen: Mâ°nner und Frauen sind nur mit Willen ungetreu; und das wollt’ ich dem Freunde von der M¸hle beweisen, der mich vielleicht wieder sieht, wenn sein Herz rein genug sein wird, zu vermissen, was er verloren hat.”
Der junge Revanne hËrte noch zu, da sie schon ausgesprochen hatte. Er stand wie vom Blitz getroffen; Trâ°nen Ëffneten zuletzt seine Augen, und in dieser R¸hrung lief er zur Tante, zum Vater, ihnen zu sagen: Mademoiselle gehe weg, Mademoiselle sei ein Engel, oder vielmehr ein Dâ°mon, herumirrend in der Welt, um alle Herzen zu peinigen. Aber die Pilgerin hatte so gut sich vorgesehen, daï¬ man sie nicht wiederfand. Und als Vater und Sohn sich erklâ°rt hatten, zweifelte man nicht mehr an ihrer Unschuld, ihren Talenten, ihrem Wahnsinn. So viel M¸he sich auch Herr von Revanne seit der Zeit gegeben, war es ihm doch nicht gelungen, sich die mindeste Aufklâ°rung ¸ber diese schËne Person zu verschaffen, die so fl¸chtig wie die Engel und so liebensw¸rdig erschienen war.
Sechstes Kapitel
Nach einer langen und gr¸ndlichen Ruhe, deren die Wanderer wohl bed¸rfen mochten, sprang Felix lebhaft aus dem Bette und eilte, sich anzuziehn; der Vater glaubte zu bemerken, mit mehr Sorgfalt als bisher. Nichts saï¬ ihm knapp noch nett genug, auch hâ°tte er alles neuer und frischer gew¸nscht. Er sprang nach dem Garten und haschte unterwegs nur etwas von der Vorkost, die der Diener f¸r die Gâ°ste brachte, weil erst nach einer Stunde die Frauenzimmer im Garten erscheinen w¸rden.
Der Diener war gewohnt, die Fremden zu unterhalten und manches im Hause vorzuzeigen; so auch f¸hrte er unsern Freund in eine Galerie, worin bloï¬ Portrâ°te aufgehangen und gestellt waren, alles Personen, die im achtzehnten Jahrhundert gewirkt hatten, eine groï¬e und herrliche Gesellschaft; Gemâ°lde sowie B¸sten, wo mËglich, von vortrefflichen Meistern. “Sie finden”, sagte der Kustode, “in dem ganzen Schloï¬ kein Bild, das, auch nur von ferne, auf Religion, ¸berlieferung, Mythologie, Legende oder Fabel hindeutete; unser Herr will, daï¬ die Einbildungskraft nur gefËrdert werde, um sich das Wahre zu vergegenwâ°rtigen. “Wir fabeln so genug”, pflegt er zu sagen, “als daï¬ wir diese gefâ°hrliche Eigenschaft unsers Geistes durch â°uï¬ere reizende Mittel noch steigern sollten.””
Die Frage Wilhelms: wann man ihm aufwarten kËnne? ward durch die Nachricht beantwortet: der Herr sei, nach seiner Gewohnheit, ganz fr¸h weggeritten. Er pflege zu sagen: “Aufmerksamkeit ist das Leben! “–“Sie werden diesen und andere Spr¸che, in denen er sich bespiegelt, in den Feldern ¸ber den T¸ren eingeschrieben sehen, wie wir hier z. B. gleich antreffen: “Vom N¸tzlichen durchs Wahre zum SchËnen.””
Die Frauenzimmer hatten schon unter den Linden das Fr¸hst¸ck bereitet, Felix eulenspiegelte um sie her und trachtete, in allerlei Torheiten und Verwegenheiten sich hervorzutun, die Aufmerksamkeit auf sich zu leiten, eine Abmahnung, einen Verweis von Hersilien zu erhaschen. Nun suchten die Schwestern durch Aufrichtigkeit und Mitteilung das Vertrauen des schweigsamen Gastes, der ihnen gefiel, zu gewinnen; sie erzâ°hlten von einem werten Vetter, der, drei Jahre abwesend, zunâ°chst erwartet werde, von einer w¸rdigen Tante, die, unfern in ihrem Schlosse wohnend, als ein Schutzgeist der Familie zu betrachten sei. In krankem Verfall des KËrpers, in bl¸hender Gesundheit des Geistes ward sie geschildert, als wenn die Stimme einer unsichtbar gewordenen Ursibylle rein gËttliche Worte ¸ber die menschlichen Dinge ganz einfach aussprâ°che.
Der neue Gast lenkte nun Gesprâ°ch und Frage auf die Gegenwart. Er w¸nschte den edlen Oheim in rein entschiedener Tâ°tigkeit gerne nâ°her zu kennen; er gedachte des angedeuteten Wegs vom N¸tzlichen durchs Wahre zum SchËnen und suchte die Worte auf seine Weise auszulegen, das ihm denn ganz gut gelang und Juliettens Beifall zu erwerben das Gl¸ck hatte.
Hersilie, die bisher lâ°chelnd schweigsam geblieben, versetzte dagegen: “Wir Frauen sind in einem besondern Zustande. Die Maximen der Mâ°nner hËren wir immerfort wiederholen, ja wir m¸ssen sie in goldnen Buchstaben ¸ber unsern Hâ°upten sehen, und doch w¸ï¬ten wir Mâ°dchen im stillen das Umgekehrte zu sagen, das auch gËlte, wie es gerade hier der Fall ist. Die SchËne findet Verehrer, auch Freier, und endlich wohl gar einen Mann; dann gelangt sie zum Wahren, das nicht immer hËchst erfreulich sein mag, und wenn sie klug ist, widmet sie sich dem N¸tzlichen, sorgt f¸r Haus und Kinder und verharrt dabei. So habe ich’s wenigstens oft gefunden. Wir Mâ°dchen haben Zeit zu beobachten, und da finden wir meist, was wir nicht suchten.”
Ein Bote vom Oheim traf ein mit der Nachricht, daï¬ sâ°mtliche Gesellschaft auf ein nahes Jagdhaus zu Tische geladen sei, man kËnne hin reiten und fahren. Hersilie erwâ°hlte zu reiten. Felix bat instâ°ndig, man mËge ihm auch ein Pferd geben. Man kam ¸berein, Juliette sollte mit Wilhelm fahren und Felix als Page seinen ersten Ausritt der Dame seines jungen Herzens zu verdanken haben.
Indessen fuhr Juliette mit dem neuen Freunde durch eine Reihe von Anlagen, welche sâ°mtlich auf Nutzen und Genuï¬ hindeuteten, ja die unzâ°hligen Fruchtbâ°ume machten zweifelhaft, ob das Obst alles verzehrt werden kËnne.
“Sie sind durch ein so wunderliches Vorzimmer in unsere Gesellschaft geraten und fanden manches wirklich Seltsame und Sonderbare, so daï¬ ich vermuten darf, Sie w¸nschen einen Zusammenhang von allem diesem zu wissen. Alles beruht auf Geist und Sinn meines trefflichen Oheims. Die krâ°ftigen Mannsjahre dieses Edlen fielen in die Zeit der Beccaria und Filangieri; die Maximen einer allgemeinen Menschlichkeit wirkten damals nach allen Seiten. Dies Allgemeine jedoch bildete sich der strebende Geist, der strenge Charakter nach Gesinnungen aus, die sich ganz aufs Praktische bezogen. Er verhehlte uns nicht, wie er jenen liberalen Wahlspruch: “Den Meisten das Beste!” nach seiner Art verwandelt und “Vielen das Erw¸nschte” zugedacht. Die Meisten lassen sich nicht finden noch kennen, was das Beste sei, noch weniger ausmitteln, Viele jedoch sind immer um uns her; was sie w¸nschen, erfahren wir, was sie w¸nschen sollten, ¸berlegen wir, und so lâ°ï¬t sich denn immer Bedeutendes tun und schaffen. In diesem Sinne”, fuhr sie fort, “ist alles, was Sie hier sehen, gepflanzt, gebaut, eingerichtet, und zwar um eines ganz nahen, leicht faï¬lichen Zweckes willen; alles dies geschah dem groï¬en, nahen Gebirg zuliebe. Der treffliche Mann, Kraft und VermËgen zusammenhaltend, sagte zu sich selbst: “Keinem Kinde da droben soll es an einer Kirsche, an einem Apfel fehlen, wornach sie mit Recht so l¸stern sind; der Hausfrau soll es nicht an Kohl noch an R¸ben oder sonst einem Gem¸se im Topf ermangeln, damit dem unseligen Kartoffelgenuï¬ nur einigermaï¬en das Gleichgewicht gehalten werde.” In diesem Sinne, auf diese Weise sucht er zu leisten, wozu ihm sein Besitztum Gelegenheit gibt, und so haben sich seit manchen Jahren Trâ°ger und Trâ°gerinnen gebildet, welche das Obst in die tiefsten Schluchten des Felsgebirges verkâ°uflich hintragen.”
“Ich habe selbst davon genossen wie ein Kind”, versetzte Wilhelm; “da, wo ich dergleichen nicht anzutreffen hoffte, zwischen Tannen und Felsen, ¸berraschte mich weniger ein reiner Frommsinn als ein erquicklich frisches Obst. Die Gaben des Geistes sind ¸berall zu Hause, die Geschenke der Natur ¸ber den Erdboden sparsam ausgeteilt.”
“Ferner hat unser w¸rdiger Landherr von entfernten Orten manches Notwendige dem Gebirge nâ°her gebracht; in diesen Gebâ°uden am Fuï¬e hin finden Sie Salz aufgespeichert und Gew¸rze vorrâ°tig. F¸r Tabak und Branntwein lâ°ï¬t er andere sorgen; dies seien keine Bed¸rfnisse, sagt er, sondern Gel¸ste, und da w¸rden sich schon Unterhâ°ndler genug finden.”
Angelangt am bestimmten Orte, einem gerâ°umigen FËrsterhause im Walde, fand sich die Gesellschaft zusammen und bereits eine kleine Tafel gedeckt. “Setzen wir uns”, sagte Hersilie; “hier steht zwar der Stuhl des Oheims, aber gewiï¬ wird er nicht kommen, wie gewËhnlich. Es ist mir gewissermaï¬en lieb, daï¬ unser neuer Gast, wie ich hËre, nicht lange bei uns verweilen wird: denn es m¸ï¬te ihm verdrieï¬lich sein, unser Personal kennen zu lernen, es ist das ewig in Romanen und Schauspielen wiederholte: ein wunderlicher Oheim, eine sanfte und eine muntere Nichte, eine kluge Tante, Hausgenossen nach bekannter Art; und kâ°me nun gar der Vetter wieder, so lernte er einen phantastischen Reisenden kennen, der vielleicht einen noch sonderbarern Gesellen mitbrâ°chte, und so wâ°re das leidige St¸ck erfunden und in Wirklichkeit gesetzt.”
“Die Eigenheiten des Oheims haben wir zu ehren”, versetzte Juliette; “sie sind niemanden zur Last, gereichen vielmehr jedermann zur Bequemlichkeit. Eine bestimmte Tafelstunde ist ihm nun einmal verdrieï¬lich, selten, daï¬ er sie einhâ°lt, wie er denn versichert: eine der schËnsten Erfindungen neuerer Zeit sei das Speisen nach der Karte.”
Unter manchen andern Gesprâ°chen kamen sie auf die Neigung des werten Mannes, ¸berall Inschriften zu belieben. “Meine Schwester”, sagte Hersilie, “weiï¬ sie sâ°mtlich auszulegen, mit dem Kustode versteht sie’s um die Wette; ich aber finde, daï¬ man sie alle umkehren kann und daï¬ sie alsdann ebenso wahr sind, und vielleicht noch mehr. “–“Ich leugne nicht”, versetzte Wilhelm, “es sind Spr¸che darunter, die sich in sich selbst zu vernichten scheinen; so sah ich z. B. sehr auffallend angeschrieben: “Besitz und Gemeingut”; heben sich diese beiden Begriffe nicht auf?”
Hersilie fiel ein: “Dergleichen Inschriften, scheint es, hat der Oheim von den Orientalen genommen, die an allen Wâ°nden die Spr¸che des Korans mehr verehren als verstehen.” Juliette, ohne sich irren zu lassen, erwiderte auf obige Frage: “Umschreiben Sie die wenigen Worte, so wird der Sinn alsobald hervorleuchten.”
Nach einigen Zwischenreden fuhr Juliette fort, weiter aufzuklâ°ren, wie es gemeint sei: “Jeder suche den Besitz, der ihm von der Natur, von dem Schicksal gegËnnt ward, zu w¸rdigen, zu erhalten, zu steigern, er greife mit allen seinen Fertigkeiten so weit umher, als er zu reichen fâ°hig ist; immer aber denke er dabei, wie er andere daran will teilnehmen lassen: denn nur insofern werden die VermËgenden geschâ°tzt, als andere durch sie genieï¬en.”
Indem man sich nun nach Beispielen umsah, fand sich der Freund erst in seinem Fache; man wetteiferte, man ¸berbot sich, um jene lakonischen Worte recht wahr zu finden. Warum, hieï¬ es, verehrt man den F¸rsten, als weil er einen jeden in Tâ°tigkeit setzen, fËrdern, beg¸nstigen und seiner absoluten Gewalt gleichsam teilhaft machen kann? Warum schaut alles nach dem Reichen, als weil er, der Bed¸rftigste, ¸berall Teilnehmer an seinem ¸berflusse w¸nscht? Warum beneiden alle Menschen den Dichter? weil seine Natur die Mitteilung nËtig macht, ja die Mitteilung selbst ist. Der Musiker ist gl¸cklicher als der Maler, er spendet willkommene Gaben aus, persËnlich unmittelbar, anstatt daï¬ der letzte nur gibt, wenn die Gabe sich von ihm absonderte.
Nun hieï¬ es ferner im allgemeinen: Jede Art von Besitz soll der Mensch festhalten, er soll sich zum Mittelpunkt machen, von dem das Gemeingut ausgehen kann; er muï¬ Egoist sein, um nicht Egoist zu werden, zusammenhalten, damit er spenden kËnne. Was soll es heiï¬en, Besitz und Gut an die Armen zu geben? LËblicher ist, sich f¸r sie als Verwalter betragen. Dies ist der Sinn der Worte “Besitz und Gemeingut”; das Kapital soll niemand angreifen, die Interessen werden ohnehin im Weltlaufe schon jedermann angehËren.
Man hatte, wie sich im Gefolg des Gesprâ°chs ergab, dem Oheim vorgeworfen, daï¬ ihm seine G¸ter nicht eintrugen, was sie sollten. Er versetzte dagegen: “Das Mindere der Einnahme betracht’ ich als Ausgabe, die mir Vergn¸gen macht, indem ich andern dadurch das Leben erleichtere; ich habe nicht einmal die M¸he, daï¬ diese Spende durch mich durchgeht, und so setzt sich alles wieder ins gleiche.”
Dergestalt unterhielten sich die Frauenzimmer mit dem neuen Freunde gar vielseitig, und bei immer wachsendem gegenseitigem Vertrauen sprachen sie ¸ber den zunâ°chst erwarteten Vetter.
“Wir halten sein wunderliches Betragen f¸r abgeredet mit dem Oheim. Er lâ°ï¬t seit einigen Jahre nichts von sich hËren, sendet anmutige, seinen Aufenthalt verbl¸mt andeutende Geschenke, schreibt nun auf einmal ganz aus der Nâ°he, will aber nicht eher zu uns kommen, bis wir ihm von unsern Zustâ°nden Nachricht geben. Dies Betragen ist nicht nat¸rlich; was auch dahinterstecke, wir m¸ssen es vor seiner R¸ckkehr erfahren. Heute abend geben wir Ihnen einen Heft Briefe, woraus das Weitere zu ersehen ist.” Hersilie setzte hinzu: “Gestern machte ich Sie mit einer tËrigen Landlâ°uferin bekannt, heute sollen Sie von einem verr¸ckten Reisenden vernehmen.”–“Gestehe es nur”, f¸gte Juliette hinzu, “diese Mitteilung ist nicht ohne Absicht.”
Hersilie fragte soeben etwas ungeduldig, wo der Nachtisch bleibe, als die Meldung geschah, der Oheim erwarte die Gesellschaft, mit ihm die Nachkost in der groï¬en Laube zu genieï¬en. Auf dem Hinwege bemerkte man eine Feldk¸che, die sehr emsig ihre blank gereinigten Kasserollen, Sch¸sseln und Teller klappernd einzupacken beschâ°ftigt war. In einer gerâ°umigen Laube fand man den alten Herrn an einem runden, groï¬en, frischgedeckten Tisch, auf welchem soeben die schËnsten Fr¸chte, willkommenes Backwerk und die besten S¸ï¬igkeiten, indem sich jene niedersetzten, reichlich aufgetragen wurden. Auf die Frage des Oheims, was bisher begegnet, womit man sich unterhalten, fiel Hersilie vorschnell ein: “Unser guter Gast hâ°tte wohl ¸ber ihre lakonischen Inschriften verwirrt werden kËnnen, wâ°re ihm Juliette nicht durch einen fortlaufenden Kommentar zu H¸lfe gekommen.”–“Du hast es immer mit Julietten zu tun”, versetzte der Oheim, “sie ist ein wackres Mâ°dchen, das noch etwas lernen und begreifen mag.”– “Ich mËchte vieles gern vergessen, was ich weiï¬, und was ich begriffen habe, ist auch nicht viel wert”, versetzte Hersilie in Heiterkeit.
Hierauf nahm Wilhelm das Wort und sagte bedâ°chtig: “Kurzgefaï¬te Spr¸che jeder Art weiï¬ ich zu ehren, besonders wenn sie mich anregen, das Entgegengesetzte zu ¸berschauen und in ¸bereinstimmung zu bringen. “–“Ganz richtig”, erwiderte der Oheim, “hat doch der vern¸nftige Mann in seinem ganzen Leben noch keine andere Beschâ°ftigung gehabt.”
Indessen besetzte sich die Tafelrunde nach und nach, so daï¬ Spâ°tere kaum Platz fanden. Die beiden Amtleute waren gekommen, Jâ°ger, Pferdebâ°ndiger, Gâ°rtner, FËrster und andere, denen man nicht gleich ihren Beruf ansehen konnte. Jeder hatte etwas von dem letzten Augenblick zu erzâ°hlen und mitzuteilen, das sich der alte Herr gefallen lieï¬, auch wohl durch teilnehmende Fragen hervorrief, zuletzt aber aufstand und, die Gesellschaft, die sich nicht r¸hren sollte, begr¸ï¬end, mit den beiden Amtleuten sich entfernte. Das Obst hatten sich alle, das Zuckerwerk die jungen Leute, wenn sie auch ein wenig wild aussahen, gar wohl schmecken lassen. Einer nach dem andern stand auf, begr¸ï¬te die Bleibenden und ging davon.
Die Frauenzimmer, welche bemerkten, daï¬ der Gast auf das, was vorging, mit einiger Verwunderung achtgab, erklâ°rten sich folgendermaï¬en: “Sie sehen hier abermals die Wirkung der Eigenheiten unsers trefflichen Oheims; er behauptet: keine Erfindung des Jahrhunderts verdiene mehr Bewunderung, als daï¬ man in Gasthâ°usern, an besonderen kleinen Tischchen, nach der Karte speisen kËnne; sobald er dies gewahr worden, habe er f¸r sich und andere dies auch in seiner Familie einzuf¸hren gesucht. Wenn er vom besten Humor ist, mag er gern die Schrecknisse eines Familientisches lebhaft schildern, wo jedes Glied mit fremden Gedanken beschâ°ftigt sich niedersetzt, ungern hËrt, in Zerstreuung spricht, muffig schweigt und, wenn gar das Ungl¸ck kleine Kinder heranf¸hrt, mit augenblicklicher Pâ°dagogik die unzeitigste Miï¬stimmung hervorbringt. “So manches ¸bel”, sagt er, “muï¬ man tragen, von diesem habe ich mich zu befreien gewuï¬t.” Selten erscheint er an unserm Tische und besetzt den Stuhl nur augenblicklich, der f¸r ihn leer steht. Seine Feldk¸che f¸hrt er mit sich umher, speist gewËhnlich allein, andere mËgen f¸r sich sorgen. Wenn er aber einmal Fr¸hst¸ck, Nachtisch oder sonst Erfrischung anbietet, dann versammeln sich alle zerstreuten AngehËrigen, genieï¬en das Bescherte, wie Sie gesehen haben. Das macht ihm Vergn¸gen; aber niemand darf kommen, der nicht Appetit mitbringt, jeder muï¬ aufstehen, der sich gelabt hat, und nur so ist er gewiï¬, immer von Genieï¬enden umgeben zu sein. “Will man die Menschen ergËtzen”, hËrte ich ihn sagen, “so muï¬ man ihnen das zu verleihen suchen, was sie selten oder nie zu erlangen im Falle sind.””
Auf dem R¸ckwege brachte ein unerwarteter Schlag die Gesellschaft in einige Gem¸tsbewegung. Hersilie sagte zu dem neben ihr reitenden Felix: “Sieh dort, was mËgen das f¸r Blumen sein? sie decken die ganze Sommerseite des H¸gels, ich hab’ sie noch nie gesehen.” Sogleich regte Felix sein Pferd an, sprengte auf die Stelle los und war im Zur¸ckkommen mit einem ganzen B¸schel bl¸hender Kronen, die er von weitem sch¸ttelte, als er auf einmal mit dem Pferde verschwand. Er war in einen Graben gest¸rzt. Sogleich lËsten sich zwei Reiter von der Gesellschaft, nach dem Punkte hinsprengend.
Wilhelm wollte aus dem Wagen, Juliette verbat es: “H¸lfe ist schon bei ihm, und unser Gesetz ist in solchen Fâ°llen, daï¬ nur der Helfende sich von der Stelle regen darf; der Chirurg ist schon dorten.” Hersilie hielt ihr Pferd an: “Jawohl”, sagte sie, “Leibâ°rzte braucht man nur selten, Wundâ°rzte jeden Augenblick.” Schon sprengte Felix mit verbundenem Kopfe wieder heran, die bl¸hende Beute festhaltend und hoch emporzeigend. Mit Selbstgefâ°lligkeit reichte er den Strauï¬ seiner Herrin zu, dagegen gab ihm Hersilie ein buntes, leichtes Halstuch. “Die weiï¬e Binde kleidet dich nicht”, sagte sie, “diese wird schon lustiger aussehen.” Und so kamen sie zwar beruhigt, aber teilnehmender gestimmt nach Hause.
Es war spâ°t geworden, man trennte sich in freundlicher Hoffnung morgenden Wiedersehens; der hier folgende Briefwechsel aber erhielt unsern Freund noch einige Stunden nachdenklich und wach.
Lenardo an die Tante
Endlich erhalten Sie nach drei Jahren den ersten Brief von mir, liebe Tante, unserer Abrede gemâ°ï¬, die freilich wunderlich genug war. Ich wollte die Welt sehen und mich ihr hingeben und wollte f¸r diese Zeit meine Heimat vergessen, von der ich kam, zu der ich wieder zur¸ckzukehren hoffte. Den ganzen Eindruck wollte ich behalten, und das einzelne sollte mich in die Ferne nicht irremachen. Indessen sind die nËtigen Lebenszeichen von Zeit zu Zeit hin und her gegangen. Ich habe Geld erhalten, und kleine Gaben f¸r meine Nâ°chsten sind Ihnen indessen zur Austeilung ¸berliefert worden. An den ¸berschickten Waren konnten Sie sehen, wo und wie ich mich befand. An den Weinen hat der Onkel meinen jedesmaligen Aufenthalt gewiï¬ herausgekostet; dann die Spitzen, die Quodlibets, die Stahlwaren haben meinen Weg, durch Brabant ¸ber Paris nach London, f¸r die Frauenzimmer bezeichnet; und so werde ich auf Ihren Schreib-, Nâ°h–und Teetischen, an Ihren NegligÃs und Festkleidern gar manches Merkzeichen finden, woran ich meine Reiseerzâ°hlung kn¸pfen kann. Sie haben mich begleitet, ohne von mir zu hËren, und sind vielleicht nicht einmal neugierig, etwas weiter zu erfahren. Mir hingegen ist hËchst nËtig, durch Ihre G¸te zu vernehmen, wie es in dem Kreise steht, in den ich wieder einzutreten im Begriff bin. Ich mËchte wirklich aus der Fremde wie ein Fremder hineinkommen, der, um angenehm zu sein, sich erst erkundigt, was man in dem Hause will und mag, und sich nicht einbildet, daï¬ man ihn wegen seiner schËnen Augen oder Haare gerade nach seiner eigenen Weise empfangen m¸sse. Schreiben Sie mir daher vom guten Onkel, von den lieben Nichten, von sich selbst, von unsern Verwandten, nâ°hern und fernern, auch von alten und neuen Bedienten. Genug, lassen Sie Ihre ge¸bte Feder, die Sie f¸r Ihren Neffen so lange nicht eingetaucht, auch einmal zu seinen Gunsten auf dem Papiere hinwalten. Ihr unterrichtendes Schreiben soll zugleich mein Kreditiv sein, mit dem ich mich einstelle, sobald ich es erhalten habe. Es hâ°ngt also von Ihnen ab, mich in Ihren Armen zu sehen. Man verâ°ndert sich viel weniger, als man glaubt, und die Zustâ°nde bleiben sich auch meistens sehr â°hnlich. Nicht was sich verâ°ndert hat, sondern was geblieben ist, was allmâ°hlich zu–und abnahm, will ich auf einmal wieder erkennen und mich selbst in einem bekannten Spiegel wieder erblicken. Gr¸ï¬en Sie herzlich alle die Unsrigen und glauben Sie, daï¬ in der wunderlichen Art meines Auï¬enbleibens und Zur¸ckkommens so viel Wâ°rme enthalten sei als manchmal nicht in stetiger Teilnahme und lebhafter Mitteilung. Tausend Gr¸ï¬e jedem und allen! Nachschrift
Versâ°umen Sie nicht, beste Tante, mir auch von unsern Geschâ°ftsmâ°nnern ein Wort zu sagen, wie es mit unsern Gerichtshaltern und Pachtern steht. Was ist mit Valerinen geworden, der Tochter des Pachters, den unser Onkel kurz vor meiner Abreise, zwar mit Recht, aber doch, d¸nkt mich, mit ziemlicher Hâ°rte austrieb? Sie sehen, ich erinnere mich noch manches Umstandes; ich weiï¬ wohl noch alles. ¸ber das Vergangene sollen Sie mich examinieren, wenn Sie mir das Gegenwâ°rtige mitgeteilt haben. Die Tante an Julietten
Endlich, liebe Kinder, ein Brief von dem dreijâ°hrigen Schweiger. Was doch die wunderlichen Menschen wunderlich sind! Er glaubt, seine Waren und Zeichen seien so gut als ein einziges gutes Wort, das der Freund dem Freunde sagen oder schreiben kann. Er bildet sich wirklich ein, im Vorschuï¬ zu stehen, und will nun von unserer Seite das zuerst geleistet haben, was er uns von der seinigen so hart und unfreundlich versagte. Was sollen wir tun? Ich f¸r meinen Teil w¸rde gleich in einem langen Brief seinen W¸nschen entgegenkommen, wenn sich mein Kopfweh nicht anmeldete, das mich gegenwâ°rtiges Blatt kaum zu Ende schreiben lâ°ï¬t. Wir verlangen ihn alle zu sehen. ¸bernehmt, meine Lieben, doch das Geschâ°ft. Bin ich hergestellt, eh Ihr geendet habt, so will ich das Meinige beitragen. Wâ°hlt Euch die Personen und die Verhâ°ltnisse, wie Ihr sie am liebsten beschreibt. Teilt Euch darein. Ihr werdet alles besser machen als ich selbst. Der Bote bringt mir doch von Euch ein Wort zur¸ck? Juliette an die Tante
Wir haben gleich gelesen, ¸berlegt und sagen mit dem Boten unsere Meinung, jede besonders, wenn wir erst zusammen versichert haben, daï¬ wir nicht so gutm¸tig sind wie unsere liebe Tante gegen den immer verzogenen Neffen. Nachdem er seine Karten drei Jahre vor uns verborgen gehalten hat und noch verborgen hâ°lt, sollen wir die unsrigen auflegen und ein offenes Spiel gegen ein verdecktes spielen. Das ist keinesweges billig, und doch mag es hingehen; denn der Feinste betriegt sich oft, gerade weil er zu viel sichert. Nur ¸ber die Art und Weise sind wir nicht einig, was und wie man’s ihm senden soll. Zu schreiben, wie man ¸ber die Seinigen denkt, das ist f¸r uns wenigstens eine wunderliche Aufgabe. GewËhnlich denkt man ¸ber sie nur in diesem und jenem Falle, wenn sie einem besonderes Vergn¸gen oder Verdruï¬ machen. ¸brigens lâ°ï¬t jeder den andern gewâ°hren. Sie kËnnten es allein, liebe Tante; denn Sie haben die Einsicht und die Billigkeit zugleich. Hersilie, die, wie Sie wissen, leicht zu entz¸nden ist, hat mir in der Geschwindigkeit die ganze Familie aus dem Stegreif ins Lustige rezensiert; ich wollte, daï¬ es auf dem Papier st¸nde, um Ihnen selbst bei Ihren ¸beln ein Lâ°cheln abzugewinnen; aber nicht, daï¬ man es ihm schickte. Mein Vorschlag ist jedoch, ihm unsere Korrespondenz dieser drei Jahre mitzuteilen; da mag er sich durchlesen, wenn er Mut hat, oder mag kommen, um zu sehen, was er nicht lesen mag. Ihre Briefe an mich, liebe Tante, sind in der besten Ordnung und stehen gleich zu Befehl. Dieser Meinung tritt Hersilie nicht bei; sie entschuldigt sich mit der Unordnung ihrer Papiere u.s.w., wie sie Ihnen selbst sagen wird. Hersilie an die Tante
Ich will und muï¬ sehr kurz sein, liebe Tante, denn der Bote zeigt sich unartig ungeduldig. Ich finde es eine ¸bermâ°ï¬ige Gutm¸tigkeit und gar nicht am Platz, Lenardon unsere Briefe mitzuteilen. Was braucht er zu wissen, was wir Gutes von ihm gesagt haben, was braucht er zu wissen, was wir BËses von ihm sagten, um aus dem letzten noch mehr als dem ersten herauszufinden, daï¬ wir ihm gut sind! Halten Sie ihn kurz, ich bitte Sie. Es ist so was Abgemessenes und Anmaï¬liches in dieser Forderung, in diesem Betragen, wie es die Herren meistens haben, wenn sie aus fremden Lâ°ndern kommen. Sie halten die daheim Gebliebenen immer nicht f¸r voll. Entschuldigen Sie sich mit Ihrem Kopfweh. Er wird schon kommen; und wenn er nicht kâ°me, so warten wir noch ein wenig. Vielleicht fâ°llt es ihm alsdann ein, auf eine sonderbare, geheime Weise sich bei uns zu introduzieren, uns unerkannt kennen zu lernen, und was nicht alles in den Plan eines so klugen Mannes eingreifen kËnnte. Das m¸ï¬te doch h¸bsch und wunderbar sein! das d¸rfte allerlei Verhâ°ltnisse hervorbringen, die bei einem so diplomatischen Eintritt in seine Familie, wie er ihn jetzt vorhat, sich unmËglich entwickeln kËnnen.
Der Bote! der Bote! Ziehen Sie Ihre alten Leute besser, oder schicken Sie junge. Diesem ist weder mit Schmeichelei noch mit Wein beizukommen. Leben Sie tausendmal wohl! Nachschrift um Nachschrift
Sagen Sie mir, was will der Vetter in seiner Nachschrift mit Valerinen? Diese Frage ist mir doppelt aufgefallen. Es ist die einzige Person, die er mit Namen nennt. Wir andern sind ihm Nichten, Tanten, Geschâ°ftstrâ°ger; keine Personen, sondern Rubriken. Valerine, die Tochter unseres Gerichtshalters! Freilich ein blondes, schËnes Kind, das dem Herrn Vetter vor seiner Abreise mag in die Augen geleuchtet haben. Sie ist verheiratet, gut und gl¸cklich; das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber er weiï¬ es so wenig, als er sonst etwas von uns weiï¬. Vergessen Sie ja nicht, ihm gleichfalls in einer Nachschrift zu melden: Valerine sei tâ°glich schËner geworden und habe auch deshalb eine sehr gute Partie getan. Sie sei die Frau eines reichen Gutsbesitzers. Verheiratet sei die schËne Blondine. Machen Sie es ihm recht deutlich. Nun aber, liebe Tante, ist das noch nicht alles. Wie er sich der blonden SchËnheit so genau erinnern und sie mit der Tochter des liederlichen Pachters, einer wilden Hummel von Br¸nette, verwechseln kann, die Nachodine hieï¬ und die wer weiï¬ wohin geraten ist, das bleibt mir vËllig unbegreiflich und intrigiert mich ganz besonders. Denn es scheint doch, der Herr Vetter, der sein gutes Gedâ°chtnis r¸hmt, verwechselt Namen und Personen auf eine sonderbare Weise. Vielleicht f¸hlt er diesen Mangel und will das Erloschene durch Ihre Schilderung wieder auffrischen. Halten Sie ihn kurz, ich bitte Sie; aber suchen Sie zu erfahren, wie es mit den Valerinen und Nachodinen steht und was f¸r Inen, Trinen vielleicht noch alle sich in seiner Einbildungskraft erhalten haben, indessen die Etten und Ilien daraus verschwunden sind. Der Bote! der verw¸nschte Bote! Die Tante den Nichten. (Diktiert)
Was soll man sich viel verstellen gegen die, mit denen man sein Leben zuzubringen hat! Lenardo mit allen seinen Eigenheiten verdient Zutrauen. Ich schicke ihm Eure beiden Briefe; daraus lernt er Euch kennen, und ich hoffe, wir andern werden unbewuï¬t eine Gelegenheit ergreifen, uns auch nâ°chstens ebenso vor ihm darzustellen. Leber wohl! ich leide sehr. Hersilie an die Tante
Was soll man sich viel verstellen gegen die, mit denen man sein Leben zubringt! Lenardo ist ein verzogener Neffe. Es ist abscheulich, daï¬ Sie ihm unsere Briefe schicken. Er wird uns daraus nicht kennen lernen, und ich w¸nsche mir nur Gelegenheit, mich nâ°chstens von einer andern Seite darzustellen. Sie machen andere viel leiden, indem Sie leiden und blind lieben. Baldige Besserung Ihrer Leiden! Ihrer Liebe ist nicht zu helfen. Die Tante an Hersilien
Dein letztes Zettelchen hâ°tte ich auch mit an Lenardo eingepackt, wenn ich ¸berhaupt bei dem Vorsatz geblieben wâ°re, den mir meine inkorrigible Neigung, mein Leiden und die Bequemlichkeit eingegeben hatten. Eure Briefe sind nicht fort. Wilhelm an Natalien
Der Mensch ist ein geselliges, gesprâ°chiges Wesen; seine Lust ist groï¬, wenn er Fâ°higkeiten aus¸bt, die ihm gegeben sind, und wenn auch weiter nichts dabei herauskâ°me. Wie oft beklagt man sich in Gesellschaft, daï¬ einer den andern nicht zum Worte kommen lâ°ï¬t, und ebenso kann man sagen, daï¬ einer den andern nicht zum Schreiben kommen lieï¬e, wenn nicht das Schreiben gewËhnlich ein Geschâ°ft wâ°re, das man einsam und allein abtun muï¬.
Wie viel die Menschen schreiben, davon hat man gar keinen Begriff. Von dem, was davon gedruckt wird, will ich gar nicht reden, ob es gleich schon genug ist. Was aber an Briefen und Nachrichten und Geschichten, Anekdoten, Beschreibungen von gegenwâ°rtigen Zustâ°nden einzelner Menschen in Briefen und grËï¬eren Aufsâ°tzen in der Stille zirkuliert, davon kann man sich nur eine Vorstellung machen, wenn man in gebildeten Familien eine Zeitlang lebt, wie es mir jetzt geht. In der Sphâ°re, in der ich mich gegenwâ°rtig befinde, bringt man beinahe so viel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen, womit man sich beschâ°ftigt, als man Zeit sich zu beschâ°ftigen selbst hatte. Diese Bemerkung, die sich mir seit einigen Tagen aufdringt, mache ich um so lieber, als mir die Schreibseligkeit meiner neuen Freunde Gelegenheit verschafft, ihre Verhâ°ltnisse geschwind und nach allen Seiten hin kennen zu lernen. Man vertraut mir, man gibt mir einen Pack Briefe, ein paar Hefte Reisejournale, die Konfessionen eines Gem¸ts, das noch nicht mit sich selbst einig ist, und so bin ich in kurzem ¸berall zu Hause. Ich kenne die nâ°chste Gesellschaft; ich kenne die Personen, deren Bekanntschaft ich machen werde, und weiï¬ von ihnen beinahe mehr als sie selbst, weil sie denn doch in ihren Zustâ°nden befangen sind und ich an ihnen vorbeischwebe, immer an deiner Hand, mich mit dir ¸ber alles besprechend. Auch ist es meine erste Bedingung, ehe ich ein Vertrauen annehme, daï¬ ich dir alles mitteilen d¸rfe. Hier also einige Briefe, die dich in den Kreis einf¸hren werden, in dem ich mich gegenwâ°rtig herumdrehe, ohne mein Gel¸bde zu brechen oder zu umgehen.
Siebentes Kapitel
Am fr¸hsten Morgen fand sich unser Freund allein in die Galerie und ergËtzte sich an so mancher bekannten Gestalt; ¸ber die Unbekannten gab ihm ein vorgefundener Katalog den erw¸nschten Aufschluï¬. Das Portrâ°t wie die Biographie haben ein ganz eigenes Interesse; der bedeutende Mensch, den man sich ohne Umgebung nicht denken kann, tritt einzeln abgesondert heraus und stellt sich vor uns wie vor einen Spiegel; ihm sollen wir entschiedene Aufmerksamkeit zuwenden, wir sollen uns ausschlieï¬lich mit ihm beschâ°ftigen, wie er behaglich vor dem Spiegelglas mit sich beschâ°ftigst ist. Ein Feldherr ist es, der jetzt das ganze Heer reprâ°sentiert, hinter den so Kaiser als KËnige, f¸r die er kâ°mpft, ins Tr¸be zur¸cktreten. Der gewandte Hofmann steht vor uns, eben als wenn er uns den Hof machte, wir denken nicht an die groï¬e Welt, f¸r die er sich eigentlich so anmutig ausgebildet hat. ¸berraschend war sodann unserm Beschauer die Æhnlichkeit mancher lâ°ngst vor¸bergegangenen mit lebendigen, ihm bekannten und leibhaftig gesehenen Menschen, ja Æhnlichkeit mit ihm selbst! Und warum sollten sich nur Zwillingsmenâ°chmen aus einer Mutter entwickeln? Sollte die groï¬e Mutter der GËtter und Menschen nicht auch das gleiche Gebild aus ihrem fruchtbaren Schoï¬e gleichzeitig oder in Pausen hervorbringen kËnnen?
Endlich durfte denn auch der gef¸hlvolle Beschauer sich nicht leugnen, daï¬ manches anziehende, manches Abneigung erweckende Bild vor seinen Augen vor¸berschwebe.
In solchem Betrachten ¸berraschte ihn der Hausherr, mit dem er sich ¸ber diese Gegenstâ°nde freim¸tig unterhielt und hiernach dessen Gunst immer mehr zu gewinnen schien. Denn er ward freundlich in die innern Zimmer gef¸hrt, wo er kËstliche Bilder bedeutender Mâ°nner des sechzehnten Jahrhunderts sah, in vollstâ°ndiger Gegenwart, wie sie f¸r sich leibten und lebten, ohne sich etwa im Spiegel oder im Zuschauer zu beschauen, sich selbst gelassen und gen¸gend, nur durch ihr Dasein wirkend, nicht durch irgendein Wollen oder Vornehmen.
Der Hausherr, zufrieden, daï¬ der Gast eine so reich herangebrachte Vergangenheit vollkommen zu schâ°tzen wuï¬te, lieï¬ ihn Handschriften sehen von manchen Personen, ¸ber die sie vorher in der Galerie gesprochen hatten; sogar zuletzt Reliquien, von denen man gewiï¬ war, daï¬ der fr¸here Besitzer sich ihrer bedient, sie ber¸hrt hatte.
“Dies ist meine Art von Poesie”, sagte der Hausherr lâ°chelnd; “meine Einbildungskraft muï¬ sich an etwas festhalten; ich mag kaum glauben, daï¬ etwas gewesen sei, was nicht noch da ist. ¸ber solche Heilt¸mer vergangener Zeit suche ich mir die strengsten Zeugnisse zu verschaffen, sonst w¸rden sie nicht aufgenommen. Am schâ°rfsten werden schriftliche ¸berlieferungen gepr¸ft; denn ich glaube wohl, daï¬ der MËnch die Chronik geschrieben hat, wovon er aber zeugt, daran glaube ich selten.” Zuletzt legte er Wilhelmen ein weiï¬es Blatt vor mit Ersuchen um einige Zeilen, doch ohne Unterschrift; worauf der Gast durch eine Tapetent¸re sich in den Saal entlassen und an der Seite des Kustode fand.
“Es freut mich”, sagte dieser, “daï¬ Sie unserm Herrn wert sind; schon daï¬ Sie zu dieser T¸re herauskommen, ist ein Beweis davon. Wissen Sie aber, worf¸r er Sie hâ°lt? Er glaubt einen praktischen Pâ°dagogen in Ihnen zu sehen, den Knaben vermutet er von vornehmem Hause, Ihrer F¸hrung anvertraut, um mit rechtem Sinn sogleich in die Welt und ihre mannigfaltigen Zustâ°nde nach Grundsâ°tzen fr¸hzeitig eingeweiht zu werden.”–“Er tut mir zu viel Ehre an”, sagte der Freund, “doch will ich dies Wort nicht vergebens gehËrt haben.”
Beim Fr¸hst¸ck, wo er seinen Felix schon um die Frauenzimmer beschâ°ftigt fand, erËffneten sie ihm den Wunsch: er mËge, da er nun einmal nicht zu halten sei, sich zu der edlen Tante Makarie begeben und vielleicht von da zum Vetter, um das wunderliche Zaudern aufzuklâ°ren. Er werde dadurch sogleich zum Gliede ihrer Familie, erzeige ihnen allen einen entschiedenen Dienst und trete mit Lenardo ohne groï¬e Vorbereitung in ein zutrauliches Verhâ°ltnis.
Er jedoch versetzte dagegen: “Wohin Sie mich senden, begeb’ ich mich gern; ich ging aus, zu schauen und zu denken; bei Ihnen habe ich mehr erfahren und gelernt, als ich hoffen durfte, und bin ¸berzeugt, auf dem nâ°chsten eingeleiteten Wege werd’ ich mehr, als ich erwarten kann, gewahr werden und lernen.”
“Und du artiger Taugenichts! Was wirst denn du lernen?” fragte Hersilie, worauf der Knabe sehr keck erwiderte: “Ich lerne schreiben, damit ich dir einen Brief schicken kann, und reiten wie keiner, damit ich immer gleich wieder bei dir bin.” Hierauf sagte Hersilie bedenklich: “Mit meinen zeitb¸rtigen Verehrern hat es mir niemals recht gl¸cken wollen, es scheint, daï¬ die folgende Generation mich nâ°chstens entschâ°digen will.”
Nun aber empfinden wir mit unserm Freunde, wie schmerzlich die Stunde des Abschieds herannaht, und mËgen uns gern von den Eigenheiten seines trefflichen Wirtes, von den Seltsamkeiten des auï¬erordentlichen Mannes einen deutlichen Begriff machen. Um ihn aber nicht falsch zu beurteilen, m¸ssen wir auf das Herkommen, auf das Herankommen dieser schon zu hohen Jahren gelangten w¸rdigen Person unsere Aufmerksamkeit richten. Was wir ausfragen konnten, ist folgendes:
Sein Groï¬vater lebte als tâ°tiges Glied einer Gesandtschaft in England, gerade in den letzten Jahren des erhabenen William Penn. Das hohe Wohlwollen, die reinen Absichten, die unverr¸ckte Tâ°tigkeit eines so vorz¸glichen Mannes, der Konflikt, in den er deshalb mit der Welt geriet, die Gefahren und Bedrâ°ngnisse, unter denen der Edle zu erliegen schien, erregten in dem empfâ°nglichen Geiste des jungen Mannes ein entschiedenes Interesse; er verbr¸derte sich mit der Angelegenheit und zog endlich selbst nach Amerika. Der Vater unseres Herrn ist in Philadelphia geboren, und beide r¸hmten sich, beigetragen zu haben, daï¬ eine allgemein freiere Religions¸bung in den Kolonien stattfand.
Hier entwickelte sich die Maxime, daï¬ eine in sich abgeschlossene, in Sitten und Religion herkËmmlich ¸bereinstimmende Nation vor aller fremden Einwirkung, vor aller Neuerung sich wohl zu h¸ten habe; daï¬ aber da, wo man auf frischem Boden viele Glieder von allen Seiten her zusammenberufen will, mËglichst unbedingte Tâ°tigkeit im Erwerb und freier Spielraum der allgemein-sittlichen und religiËsen Vorstellungen zu vergËnnen sei.
Der lebhafte Trieb nach Amerika im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts war groï¬, indem ein jeder, der sich diesseits einigermaï¬en unbequem befand, sich dr¸ben in Freiheit zu setzen hoffte; dieser Trieb ward genâ°hrt durch w¸nschenswerte Besitzungen, die man erlangen konnte, ehe sich noch die BevËlkerung weiter nach Westen verbreitete. Ganze sogenannte Grafschaften standen noch zu Kauf an der Grenze des bewohnten Landes, auch der Vater unseres Herrn hatte sich dort bedeutend angesiedelt.
Wie aber in den SËhnen sich oft ein Widerspruch hervortut gegen vâ°terliche Gesinnungen und Einrichtungen, so zeigte sich’s auch hier. Unser Hausherr, als J¸ngling nach Europa gelangt, fand sich hier ganz anders; diese unschâ°tzbare Kultur, seit mehreren tausend Jahren entsprungen, gewachsen, ausgebreitet, gedâ°mpft, gedr¸ckt, nie ganz erdr¸ckt, wieder aufatmend, sich neu belebend, und nach wie vor in unendlichen Tâ°tigkeiten hervortretend, gab ihm ganz andere Begriffe, wohin die Menschheit gelangen kann. Er zog vor, an den groï¬en, un¸bersehlichen Vorteilen sein Anteil hinzunehmen und lieber in der groï¬en, geregelt tâ°tigen Masse mitwirkend sich zu verlieren, als dr¸ben ¸ber dem Meere um Jahrhunderte verspâ°tet den Orpheus und Lykurg zu spielen; er sagte: “¸berall bedarf der Mensch Geduld, ¸berall muï¬ er R¸cksicht nehmen, und ich will mich doch lieber mit meinem KËnige abfinden, daï¬ er mir diese oder jene Gerechtsame zugestehe, lieber mich mit meinen Nachbarn vergleichen, daï¬ sie mir gewisse Beschrâ°nkungen erlassen, wenn ich ihnen von einer andern Seite nachgebe, als daï¬ ich mich mit den Irokesen herumschlage, um sie zu vertreiben, oder sie durch Kontrakte betriege, um sie zu verdrâ°ngen aus ihren S¸mpfen, wo man von Moskitos zu Tode gepeinigt wird.”
Er ¸bernahm die Familieng¸ter, wuï¬te sie freisinnig zu behandeln, sie wirtschaftlich einzurichten, weite, unn¸tz scheinende Nachbardistrikte kl¸glich anzuschlieï¬en und so sich innerhalb der kultivierten Welt, die in einem gewissen Sinne auch gar oft eine Wildnis genannt werden kann, ein mâ°ï¬iges Gebiet zu erwerben und zu bilden, das f¸r die beschrâ°nkten Zustâ°nde immer noch utopisch genug ist.
Religionsfreiheit ist daher in diesem Bezirk nat¸rlich, der Ëffentliche Kultus wird als ein freies Bekenntnis angesehen, daï¬ man in Leben und Tod zusammengehËre; hiernach aber wird sehr darauf gesehen, daï¬ niemand sich absondere.
Man wird in den einzelnen Ansiedelungen mâ°ï¬ig groï¬e Gebâ°ude gewahr; dies ist der Raum, den der Grundbesitzer jeder Gemeinde schuldig ist; hier kommen die Æltesten zusammen, um sich zu beraten, hier versammeln sich die Glieder, um Belehrung und fromme Ermunterung zu vernehmen. Aber auch zu heiterm ErgËtzen ist dieser Raum bestimmt; hier werden die hochzeitlichen Tâ°nze aufgef¸hrt und der Feiertag mit Musik geschlossen.
Hierauf kann uns die Natur selbst f¸hren. Bei heiterer Witterung sehen wir gewËhnlich unter derselben Linde die Æltesten im Rat, die Gemeinde zur Erbauung und die Jugend im Tanze sich schwenkend. Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schËn, Ernst und Heiligkeit mâ°ï¬igen die Lust, und nur durch Mâ°ï¬igung erhalten wir uns.
Ist die Gemeinde anderes Sinnes und wohlhabend genug, so steht es ihr frei, verschiedene Baulichkeiten den verschiedenen Zwecken zu widmen.
Wenn aber dies alles aufs Ëffentliche und gemeinsam Sittliche berechnet ist, so bleibt die eigentliche Religion ein Inneres, ja Individuelles, denn sie hat ganz allein mit dem Gewissen zu tun, dieses soll erregt, soll beschwichtigt werden. Erregt, wenn es stumpf, untâ°tig, unwirksam dahinbr¸tet, beschwichtigt, wenn es durch reuige Unruhe das Leben zu verbittern droht. Denn es ist ganz nah mit der Sorge verwandt, die in den Kummer ¸berzugehen droht, wenn wir uns oder andern durch eigene Schuld ein ¸bel zugezogen haben.
Da wir aber zu Betrachtungen, wie sie hier gefordert werden, nicht immer aufgelegt sind, auch nicht immer aufgeregt sein mËgen, so ist hiezu der Sonntag bestimmt, wo alles, was den Menschen dr¸ckt, in religiËser, sittlicher, geselliger, Ëkonomischer Beziehung, zur Sprache kommen muï¬.
“Wenn Sie eine Zeitlang bei uns blieben”, sagte Juliette, “so w¸rde auch unser Sonntag Ihnen nicht miï¬fallen. ¸bermorgen fr¸h w¸rden Sie eine groï¬e Stille bemerken; jeder bleibt einsam und widmet sich einer vorgeschriebenen Betrachtung. Der Mensch ist ein beschrâ°nktes Wesen; unsere Beschrâ°nkung zu ¸berdenken, ist der Sonntag gewidmet. Sind es kËrperliche Leiden, die wir im Lebenstaumel der Woche vielleicht gering achteten, so m¸ssen wir am Anfang der neuen alsobald den Arzt aufsuchen; ist unsere Beschrâ°nkung Ëkonomisch und sonst b¸rgerlich, so sind unsere Beamten verpflichtet, ihre Sitzungen zu halten; ist es geistig, sittlich, was uns verd¸stert, so haben wir uns an einen Freund, an einen Wohldenkenden zu wenden, dessen Rat, dessen Einwirkung zu erbitten: genug, es ist das Gesetz, daï¬ niemand eine Angelegenheit, die ihn beunruhigt oder quâ°lt, in die neue Woche hin¸bernehmen d¸rfe. Von dr¸ckenden Pflichten kann uns nur die gewissenhafteste Aus¸bung befreien, und was gar nicht aufzulËsen ist, ¸berlassen wir zuletzt Gott als dem allbedingenden und allbefreienden Wesen. Auch der Oheim selbst unterlâ°ï¬t nicht solche Pr¸fung, es sind sogar Fâ°lle, wo er mit uns vertraulich ¸ber eine Angelegenheit gesprochen hat, die er im Augenblick nicht ¸berwinden konnte; am meisten aber bespricht er sich mit unserer edlen Tante, die er von Zeit zu Zeit besuchend angeht. Auch pflegt er Sonntag abends zu fragen, ob alles rein gebeichtet und abgetan worden. Sie sehen hieraus, daï¬ wir alle Sorgfalt anwenden, um nicht in Ihren Orden, nicht in die Gemeinschaft der Entsagenden aufgenommen zu werden.”
“Es ist ein sauberes Leben!” rief Hersilie; “wenn ich mich alle acht Tage resigniere, so hab’ ich es freilich bei dreihundertundf¸nfundsechzigen zugute.”
Vor dem Abschiede jedoch erhielt unser Freund von dem j¸ngern Beamten ein Paket mit beiliegendem Schreiben, aus welchem wir folgende Stelle ausheben:
“Mir will scheinen, daï¬ bei jeder Nation ein anderer Sinn vorwalte, dessen Befriedigung sie allein gl¸cklich macht, und dies bemerkt man ja schon an verschiedenen Menschen. Der eine, der sein Ohr mit vollen, anmutig geregelten TËnen gef¸llt, Geist und Seele dadurch angeregt w¸nscht, dankt er mir’s, wenn ich ihm das trefflichste Gemâ°lde vor Augen stelle? Ein Gemâ°ldefreund will schauen, er wird ablehnen, durch Gedicht oder Roman seine Einbildungskraft erregen zu lassen. Wer ist denn so begabt, daï¬ er vielseitig genieï¬en kËnne?
Sie aber, vor¸bergehender Freund, sind mir als ein solcher erschienen, und wenn Sie die Nettigkeit einer vornehm reichen franzËsischen Verirrung zu schâ°tzen wuï¬ten, so hoffe ich, Sie werden die einfache, treue Rechtlichkeit deutscher Zustâ°nde nicht verschmâ°hen und mir verzeihen, wenn ich nach meiner Art und Denkweise, nach Herankommen und Stellung kein anmutigeres Bild finde, als wie sie uns der deutsche Mittelstand in seinen reinen Hâ°uslichkeiten sehen lâ°ï¬t.
Lassen Sie sich’s gefallen und gedenken mein.”
Achtes Kapitel Wer ist der Verrâ°ter?
“Nein! nein!” rief er aus, als er heftig und eilig ins angewiesene Schlafzimmer trat und das Licht niedersetzte; “nein! es ist nicht mËglich! Aber wohin soll ich mich wenden? Das erstemal denk’ ich anders als er, das erstemal empfind’ ich, will ich anders.– O mein Vater! KËnntest du unsichtbar gegenwâ°rtig sein, mich durch und durch schauen, du w¸rdest dich ¸berzeugen, daï¬ ich noch derselbe bin, immer der treue, gehorsame, liebevolle Sohn.–Nein zu sagen! des Vaters liebstem, lange gehegtem Wunsch zu widerstreben! wie soll ich’s offenbaren? wie soll ich’s ausdr¸cken? Nein, ich kann Julien nicht heiraten. –Indem ich’s ausspreche, erschrecke ich. Und wie soll ich vor ihn treten, es ihm erËffnen, dem guten, lieben Vater? Er blickt mich staunend an und schweigt, er sch¸ttelt den Kopf; der einsichtige, kluge, gelehrte Mann weiï¬ keine Worte zu finden. Weh mir!– O ich w¸ï¬te wohl, wem ich diese Pein, diese Verlegenheit vertraute, wen ich mir zum F¸rsprecher ausgriffe! Aus allen dich, Lucinde! und dir mËcht’ ich zuerst sagen, wie ich dich liebe, wie ich mich dir hingebe, und dich flehentlich bitten: “Vertritt mich, und kannst du mich lieben, willst du mein sein, so vertritt uns beide!””
Dieses kurze, herzlich-leidenschaftliche Selbstgesprâ°ch aufzuklâ°ren, wird es aber viele Worte kosten.
Professor N. zu N. hatte einen einzigen Knaben von wundersamer SchËnheit, den er bis in das achte Jahr der Vorsorge seiner Gattin, der w¸rdigsten Frau, ¸berlieï¬; diese leitete die Stunden und Tage des Kindes zum Leben, Lernen und zu allem guten Betragen. Sie starb, und im Augenblicke f¸hlte der Vater, daï¬ er diese Sorgfalt persËnlich nicht weiter fortsetzen kËnne. Bisher war alles ¸bereinkunft zwischen den Eltern; sie arbeiteten auf einen Zweck, beschlossen zusammen f¸r die nâ°chste Zeit, was zu tun sei, und die Mutter verstand alles weislich auszuf¸hren. Doppelt und dreifach war nun die Sorge des Witwers, welcher wohl wuï¬te und tâ°glich vor Augen sah, daï¬ f¸r SËhne der Professoren auf Akademien selbst nur durch ein Wunder eine gl¸ckliche Bildung zu hoffen sei.
In dieser Verlegenheit wendete er sich an seinen Freund, den Oberamtmann zu R., mit dem er schon fr¸here Plane nâ°herer Familienverbindungen durchgesprochen hatte. Dieser wuï¬te zu raten und zu helfen, daï¬ der Sohn in eine der guten Lehranstalten aufgenommen wurde, die in Deutschland bl¸hten und worin f¸r den ganzen Menschen, f¸r Leib, Seele und Geist, mËglichst gesorgt ward.
Untergebracht war nun der Sohn, der Vater jedoch fand sich gar zu allein: seiner Gattin beraubt, der lieblichen Gegenwart des Knaben entfremdet, den er, ohne selbsteigenes Bem¸hen, so erw¸nscht heraufgebildet gesehn. Auch hier kam die Freundschaft des Oberamtmanns zustatten; die Entfernung ihrer Wohnorte verschwand vor der Neigung, der Lust, sich zu bewegen, sich zu zerstreuen. Hier fand nun der verwaiste Gelehrte in einem gleichfalls mutterlosen Familienkreis zwei schËne, verschiedenartig liebensw¸rdige TËchter heranwachsen; wo denn beide Vâ°ter sich immer mehr und mehr bestâ°rkten in dem Gedanken, in der Aussicht, ihre Hâ°user dereinst aufs erfreulichste verbunden zu sehn.
Sie lebten in einem gl¸cklichen F¸rstenlande; der t¸chtige Mann war seiner Stelle lebenslâ°nglich gewiï¬ und ein gew¸nschter Nachfolger wahrscheinlich. Nun sollte, nach einem verstâ°ndigen Familien–und Ministerialplan, sich Lucidor zu dem wichtigen Posten des k¸nftigen Schwiegervaters bilden. Dies gelang ihm auch von Stufe zu Stufe. Man versâ°umte nichts, ihm alle Kenntnisse zu ¸berliefern, alle Fâ°higkeiten an ihm zu entwickeln, deren der Staat jederzeit bedarf: die Pflege des strengen gerichtlichen Rechts, des lâ°ï¬lichern, wo Klugheit und Gewandtheit dem Aus¸benden zur Hand geht; der Kalk¸l zum Tagesgebrauch, die hËheren ¸bersichten nicht ausgeschlossen, aber alles unmittelbar am Leben, wie es gewiï¬ und unausbleiblich zu gebrauchen wâ°re.
In diesem Sinne hatte Lucidor seine Schuljahre vollbracht und ward nun durch Vater und GËnner zur Akademie vorbereitet. Er zeigte das schËnste Talent zu allem und verdankte der Natur auch noch das seltene Gl¸ck, aus Liebe zum Vater, aus Ehrfurcht f¸r den Freund seine Fâ°higkeiten gerade dahin lenken zu wollen, wohin man deutete, erst aus Gehorsam, dann aus ¸berzeugung. Auf eine auswâ°rtige Akademie ward er gesendet und ging daselbst, sowohl nach eigener brieflicher Rechenschaft als nach Zeugnis seiner Lehrer und Aufseher, den Gang, der ihn zum Ziele f¸hren sollte. Nur konnte man nicht billigen, daï¬ er in einigen Fâ°llen zu ungeduldig brav gewesen. Der Vater sch¸ttelte hier¸ber den Kopf, der Oberamtmann nickte. Wer hâ°tte sich nicht einen solchen Sohn gew¸nscht!
Indessen wuchsen die TËchter heran, Julie und Lucinde. Jene, die j¸ngere, neckisch, lieblich, unstâ°t, hËchst unterhaltend; die andere zu bezeichnen schwer, weil sie in Geradheit und Reinheit dasjenige darstellte, was wir an allen Frauen w¸nschenswert finden. Man besuchte sich wechselseitig, und im Hause des Professors fand Julie die unerschËpflichste Unterhaltung.
Geographie, die er durch Topographie zu beleben wuï¬te, gehËrte zu seinem Fach, und sobald Julie nur einen Band gewahr worden, dergleichen aus der Homannischen Offizin eine ganze Reihe dastanden, so wurden sâ°mtliche Stâ°dte gemustert, beurteilt, vorgezogen oder zur¸ckgewiesen; alle Hâ°fen besonders erlangten ihre Gunst; andere Stâ°dte, welche nur einigermaï¬en ihren Beifall erhalten wollten, muï¬ten sich mit vielen T¸rmen, Kuppeln und Minaretten fleiï¬ig hervorheben.
Der Vater lieï¬ sie wochenlang bei dem gepr¸ften Freunde; sie nahm wirklich zu an Wissenschaft und Einsicht und kannte so ziemlich die bewohnte Welt nach Hauptbez¸gen, Punkten und Orten. Auch war sie auf Trachten fremder Nationen sehr aufmerksam, und wenn ihr Pflegvater manchmal scherzhaft fragte: ob ihr denn von den vielen jungen, h¸bschen Leuten, die da vor dem Fenster hin und wider gingen, nicht einer oder der andere wirklich gefalle? so sagte sie: “Ja freilich, wenn er recht seltsam aussieht!” Da nun unsere jungen Studierenden es niemals daran fehlen lassen, so hatte sie oft Gelegenheit, an einem oder dem andern teilzunehmen; sie erinnerte sich an ihm irgendeiner fremden Nationaltracht, versicherte jedoch zuletzt, es m¸sse wenigstens ein Grieche, vËllig nationell ausstaffiert, herbeikommen, wenn sie ihm vorz¸gliche Aufmerksamkeit widmen sollte; deswegen sie sich auch auf die Leipziger Messe w¸nschte, wo dergleichen auf der Straï¬e zu sehen wâ°ren.
Nach seinen trocknen und manchmal verdrieï¬lichen Arbeiten hatte nun unser Lehrer keine gl¸cklichern Augenblicke, als wenn er sie scherzend unterrichtete und dabei heimlich triumphierte, sich eine so liebensw¸rdige, immer unterhaltene, immer unterhaltende Schwiegertochter zu erziehen. Die beiden Vâ°ter waren ¸brigens einverstanden, daï¬ die Mâ°dchen nichts von der Absicht vermuten sollten, auch Lucidorn hielt man sie verborgen.
So waren Jahre vergangen, wie sie denn gar leicht vergehen: Lucidor stellte sich dar, vollendet, alle Pr¸fungen bestehend, selbst zur Freude der obern Vorgesetzten, die nichts mehr w¸nschten, als die Hoffnung alter, w¸rdiger, beg¸nstigter, gunstwerter Diener mit gutem Gewissen erf¸llen zu kËnnen.
Und so war denn die Angelegenheit mit ordnungsgemâ°ï¬em Schritt endlich dahin gediehen, daï¬ Lucidor, nachdem er sich in untergeordneten Stellen musterhaft betragen, nunmehr einen gar vorteilhaften Sitz nach Verdienst und Wunsch erlangen sollte, gerade mittewegs zwischen der Akademie und dem Oberamtmann gelegen.
Der Vater sprach nunmehr mit dem Sohn von Julien, auf die er bisher nur hingedeutet hatte, als von dessen Braut und Gattin, ohne weiteren Zweifel und Bedingung, das Gl¸ck preisend, solch ein lebendiges Kleinod sich angeeignet zu haben. Er sah seine Schwiegertochter im Geiste schon wieder von Zeit zu Zeit bei sich, mit Karten, Planen und Stâ°dtebildern beschâ°ftigt; der Sohn dagegen erinnerte sich des allerliebsten, heitern Wesens, das ihn zu kindlicher Zeit durch Neckerei wie durch Freundlichkeit immer ergËtzt hatte. Nun sollte Lucidor zu dem Oberamtmann hin¸berreiten, die herangewachsene SchËne nâ°her betrachten, sich einige Wochen, zu Gewohnheit und Bekanntschaft, mit dem Gesamthause ergehen. W¸rden die jungen Leute, wie zu hoffen, bald einig, so sollte man’s melden, der Vater w¸rde sogleich erscheinen, damit ein feierliches VerlËbnis das gehoffte Gl¸ck f¸r ewig sicherstelle.
Lucidor kommt an, er wird freundlichst empfangen, ein Zimmer ihm angewiesen, er richtet sich ein und erscheint. Da findet er denn, auï¬er den uns schon bekannten Familiengliedern, noch einen halberwachsenen Sohn, verzogen, geradezu, aber gescheit und gutm¸tig, so daï¬, wenn man ihn f¸r den lustigen Rat nehmen wollte, er gar nicht ¸bel zum Ganzen paï¬te. Dann gehËrte zum Haus ein sehr alter, aber gesunder, frohm¸tiger Mann, still, fein, klug, auslebend nun hie und da auszuhelfen. Gleich nach Lucidor kam noch ein Fremder hinzu, nicht mehr jung, von bedeutendem Ansehn, w¸rdig, lebensgewandt und durch Kenntnis der weitesten Weltgegenden hËchst unterhaltend. Sie hieï¬en ihn Antoni.
Julie empfing ihren angek¸ndigten Brâ°utigam schicklich, aber zuvorkommend, Lucinde dagegen machte die Ehre des Hauses wie jene ihrer Person. So verging der Tag ausgezeichnet angenehm f¸r alle, nur f¸r Lucidorn nicht; er, ohnehin schweigsam, muï¬te von Zeit zu Zeit, um nicht gar zu verstummen, sich fragend verhalten; wobei denn niemand zum Vorteil erscheint.
Zerstreut war er durchaus: denn er hatte vom ersten Augenblick an nicht Abneigung noch Widerwillen, aber Entfremdung gegen Julien gef¸hlt; Lucinde dagegen zog ihn an, daï¬ er zitterte, wenn sie ihn mit ihren vollen, reinen, ruhigen Augen ansah.
So bedrâ°ngt, erreichte er den ersten Abend sein Schlafzimmer und ergoï¬ sich in jenem Monolog, mit dem wir begonnen haben. Um aber auch diesen zu erklâ°ren, und wie die Heftigkeit einer solchen Redef¸lle zu demjenigen paï¬t, was wir schon von ihm wissen, wird eine kurze Mitteilung nËtig.
Lucidor war von tiefem Gem¸t und hatte meist etwas anders im Sinn, als was die Gegenwart erheischte; deswegen Unterhaltung und Gesprâ°ch ihm nie recht gl¸cken wollte; er f¸hlte das und wurde schweigsam, auï¬er wenn von bestimmten Fâ°chern die Rede war, die er durchstudiert hatte, davon ihm jederzeit zu Diensten stand, was er bedurfte. Dazu kam, daï¬ er, fr¸her auf der Schule, spâ°ter auf der Universitâ°t, sich an Freunden betrogen und seinen Herzenserguï¬ ungl¸cklich vergeudet hatte; jede Mitteilung war ihm daher bedenklich; Bedenken aber hebt jede Mitteilung auf. Zu seinem Vater war er nur gewohnt unisono zu sprechen, und sein volles Herz ergoï¬ sich daher in Monologen, sobald er allein war.
Den andern Morgen hatte er sich zusammengenommen und wâ°re doch beinahe auï¬er Fassung ger¸ckt, als ihm Julie noch freundlicher, heiterer und freier entgegenkam. Sie wuï¬te viel zu fragen, nach seinen Land–und Wasserfahrten, wie er, als Student, mit dem B¸ndelchen auf’m R¸cken die Schweiz durchstreift und durchstiegen, ja ¸ber die Alpen gekommen. Da wollte sie nun von der schËnen Insel auf dem groï¬en s¸dlichen See vieles wissen; r¸ckwâ°rts aber muï¬te der Rhein, von seinem ersten Ursprung an, erst durch hËchst unerfreuliche Gegenden begleitet werden, und so hinabwâ°rts durch manche Abwechselung; wo es denn freilich zuletzt, zwischen Mainz und Koblenz, noch der M¸he wert ist, den Fluï¬ ehrenvoll aus seiner letzten Beschrâ°nkung in die weite Welt, ins Meer zu entlassen.
Lucidor f¸hlte sich hiebei sehr erleichtert, erzâ°hlte gern und gut, so daï¬ Julie entz¸ckt ausrief: so was m¸sse man selbander sehen. Wor¸ber denn Lucidor abermals erschrak, weil er darin eine Anspielung auf ihr gemeinsames Wandern durchs Leben zu sp¸ren glaubte.
Von seiner Erzâ°hlerpflicht jedoch wurde er bald abgelËst; denn der Fremde, den sie Antoni hieï¬en, verdunkelte gar geschwind alle Bergquellen, Felsufer, eingezwâ°ngte, freigelassene Fl¸sse: nun hier ging’s unmittelbar nach Genua; Livorno lag nicht weit, das Interessanteste im Lande nahm man auf den Raub so mit; Neapel muï¬te man, ehe man st¸rbe, gesehen haben, dann aber blieb freilich Konstantinopel noch ¸brig, das doch auch nicht zu versâ°umen sei. Die Beschreibung, die Antoni von der weiten Welt machte, riï¬ die Einbildungskraft aller mit sich fort, ob er gleich weniger Feuer darein zu legen hatte. Julie, ganz auï¬er sich, war aber noch keineswegs befriedigt, sie f¸hlte noch Lust nach Alexandrien, Kairo, besonders aber zu den Pyramiden, von denen sie ziemlich auslangende Kenntnisse durch ihres vermutlichen Schwiegervaters Unterricht gewonnen hatte.
Lucidor, des nâ°chsten Abends (er hatte kaum die T¸re angezogen, das Licht noch nicht niedergesetzt), rief aus: “Nun besinne dich denn! es ist Ernst. Du hast viel Ernstes gelernt und durchdacht; was soll denn Rechtsgelehrsamkeit, wenn du jetzt nicht gleich als Rechtsmann handelst? Siehe dich als einen Bevollmâ°chtigten an, vergiï¬ dich selbst und tue, was du f¸r einen andern zu tun schuldig wâ°rst. Es verschrâ°nkt sich aufs f¸rchterlichste! Der Fremde ist offenbar um Lucindes willen da, sie bezeigt ihm die schËnsten, edelsten gesellig-hâ°uslichen Aufmerksamkeiten; die kleine Nâ°rrin mËchte mit jedem durch die Welt laufen, f¸r nichts und wieder nichts. ¸berdies noch ist sie ein Schalk, ihr Anteil an Stâ°dten und Lâ°ndern ist eine Posse, wodurch sie uns zum Schweigen bringt. Warum aber seh’ ich diese Sache so verwirrt und verschrâ°nkt an? Ist der Oberamtmann nicht selbst der verstâ°ndigste, der einsichtigste, liebevollste Vermittler? Du willst ihm sagen, wie du f¸hlst und denkst, und er wird mitdenken, wenn auch nicht mitf¸hlen. Er vermag alles ¸ber den Vater. Und ist nicht eine wie die andere seine Tochter? Was will denn der Anton Reiser mit Lucinden, die f¸r das Haus geboren ist, um gl¸cklich zu sein und Gl¸ck zu schaffen? hefte sich doch das zapplige Quecksilber an den ewigen Juden, das wird eine allerliebste Partie werden.”
Des Morgens ging Lucidor festen Entschlusses hinab, mit dem Vater zu sprechen und ihn deshalb in bekannten freien Stunden unverz¸glich anzugehn. Wie groï¬ war sein Schmerz, seine Verlegenheit, als er vernahm: der Oberamtmann, in Geschâ°ften verreist, werde erst ¸bermorgen zur¸ckerwartet. Julie schien heute so recht ganz ihren Reisetag zu haben, sie hielt sich an den Weltwanderer und ¸berlieï¬ mit einigen Scherzreden, die sich auf Hâ°uslichkeit bezogen, Lucidor an Lucinden. Hatte der Freund vorher das edle Mâ°dchen aus gewisser Ferne gesehen, nach einem allgemeinen Eindruck, und sie sich schon herzlichst angeeignet, so muï¬te er in der nâ°chsten Nâ°he alles doppelt und dreifach entdecken, was ihn erst im allgemeinen anzog.
Der gute alte Hausfreund, an der Stelle des abwesenden Vaters, tat sich nun hervor; auch er hatte gelebt, geliebt und war, nach manchen Quetschungen des Lebens, noch endlich an der Seite des Jugendfreundes aufgefrischt und wohlbehalten. Er belebte das Gesprâ°ch und verbreitete sich besonders ¸ber Verirrungen in der Wahl eines Gatten, erzâ°hlte merkw¸rdige Beispiele von zeitiger und verspâ°teter Erklâ°rung. Lucinde erschien in ihrem vËlligen Glanze, sie gestand, daï¬ im Leben das Zufâ°llige jeder Art, und so auch in Verbindungen, das Allerbeste bewirken kËnne; doch sei es schËner, herzerhebender, wenn der Mensch sich sagen d¸rfte: er sei sein Gl¸ck sich selbst, der stillen, ruhigen ¸berzeugung seines Herzens, einem edlen Vorsatz und raschen Entschlusse schuldig geworden. Lucidorn standen die Trâ°nen in den Augen, als er Beifall gab, worauf die Frauenzimmer sich bald entfernten. Der alte Vorsitzende mochte sich in Wechselgeschichten gern ergehen, und so verbreitete sich die Unterhaltung in heitere Beispiele, die jedoch unsern Helden so nahe ber¸hrten, daï¬ nur ein so rein gebildeter J¸ngling nicht herauszubrechen ¸ber sich gewinnen konnte; das geschah aber, als er allein war.
“Ich habe mich gehalten!” rief er aus. “Mit solcher Verwirrung will ich meinen guten Vater nicht krâ°nken; ich habe an mich gehalten: denn ich sehe in diesem w¸rdigen Hausfreunde den Stellvertretenden beider Vâ°ter; zu ihm will ich reden, ihm alles entdecken, er wird’s gewiï¬ vermitteln und hat beinahe schon ausgesprochen, was ich w¸nsche. Sollte er im einzelnen Falle schelten, was er ¸berhaupt billigt? Morgen fr¸h such’ ich ihn auf, ich muï¬ diesem Drange Luft machen.”
Beim Fr¸hst¸ck fand sich der Greis nicht ein; er hatte, hieï¬ es, gestern abend zu viel gesprochen, zu lange gesessen und einige Tropfen Wein ¸ber Gewohnheit getrunken. Man erzâ°hlte viel zu seinem Lobe, und zwar gerade solche Reden und Handlungen, die Lucidorn zur Verzweiflung brachten, daï¬ er sich nicht sogleich an ihn gewendet. Dieses unangenehme Gef¸hl ward nur noch geschâ°rft, als er vernahm: bei solchen Anfâ°llen lasse der gute Alte sich manchmal in acht Tagen gar nicht sehen.
Ein lâ°ndlicher Aufenthalt hat f¸r geselliges Zusammensein gar groï¬e Vorteile, besonders wenn die Bewirtenden sich, als denkende, f¸hlende Personen, mehrere Jahre veranlaï¬t gefunden, der nat¸rlichen Anlage ihrer Umgebung zu H¸lfe zu kommen. So war es hier gegl¸ckt. Der Oberamtmann, erst unverheiratet, dann in einer langen, gl¸cklichen Ehe, selbst vermËgend, an einem eintrâ°glichen Posten, hatte nach eignem Blick und Einsicht, nach Liebhaberei seiner Frau, ja zuletzt nach W¸nschen und Grillen seiner Kinder erst grËï¬ere und kleinere abgesonderte Anlagen besorgt und beg¸nstigt, welche, mit Gef¸hl allmâ°hlich durch Pflanzungen und Wege verbunden, eine allerliebste, verschiedentlich abweichende, charakteristische Szenenfolge dem Durchwandelnden darstellten. Eine solche Wallfahrt lieï¬en denn auch unsere jungen Familienglieder ihren Gast antreten, wie man seine Anlagen dem Fremden gerne vorzeigt, damit er das, was uns gewËhnlich geworden, auffallend erblicke und den g¸nstigen Eindruck davon f¸r immer behalte.
Die nâ°chste so wie die fernere Gegend war zu bescheidenen Anlagen und eigentlich lâ°ndlichen Einzelnheiten hËchst geeignet. Fruchtbare H¸gel wechselten mit wohlbewâ°sserten Wiesengr¸nden, so daï¬ das Ganze von Zeit zu Zeit zu sehen war, ohne flach zu sein; und wenn Grund und Boden vorz¸glich dem Nutzen gewidmet erschien, so war doch das Anmutige, das Reizende nicht ausgeschlossen.
An die Haupt–und Wirtschaftsgebâ°ude f¸gten sich Lust, Obst–und Grasgâ°rten, aus denen man sich unversehens in ein HËlzchen verlor, das ein breiter, fahrbarer Weg auf und ab, hin und wider durchschlâ°ngelte. Hier in der Mitte war, auf der bedeutendsten HËhe, ein Saal erbaut, mit anstoï¬enden Gemâ°chern. Wer zur Hauptt¸re hereintrat, sah im groï¬en Spiegel die g¸nstigste Aussicht, welche die Gegend nur gewâ°hren mochte, und kehrte sich geschwind wieder um, an der Wirklichkeit von dem unerwarteten Bilde Erholung zu nehmen: denn das Herankommen war k¸nstlich genug eingerichtet und alles kl¸glich verdeckt, was ¸berraschung bewirken sollte. Niemand trat herein, ohne daï¬ er von dem Spiegel zur Natur und von der Natur zum Spiegel sich nicht gern hin und wider gewendet hâ°tte.
Am schËnsten, heitersten, lâ°ngsten Tage einmal auf dem Wege, hielt man einen sinnigen Flurzug um und durch das Ganze. Hier wurde das Abendplâ°tzchen der guten Mutter bezeichnet, wo eine herrliche Buche rings umher sich freien Raum gehalten hatte. Bald nachher wurde Lucindens Morgenandacht von Julien halb neckisch angedeutet, in der Nâ°he eines Wâ°sserchens zwischen Pappeln und Erlen, an hinabstreichenden Wiesen, hinaufziehenden Æckern. Es war nicht zu beschreiben, wie h¸bsch! schon ¸berall glaubte man es gesehen zu haben, aber nirgends in seiner Einfalt so bedeutend und so willkommen. Dagegen zeigte der Junker, auch halb wider Willen Juliens, die kleinlichen Lauben und kindischen Gâ°rtchenanstalten, die, nâ°chst einer vertraulich gelegenen M¸hle, kaum noch zu bemerken; sie schrieben sich aus einer Zeit her, wo Julie, etwa in ihrem zehnten Jahre, sich in den Kopf gesetzt hatte, M¸llerin zu werden und, nach dem Abgang der beiden alten Leute, selbst einzutreten und sich einen braven M¸hlknappen auszusuchen.
“Das war zu einer Zeit”, rief Julie, “wo ich noch nichts von Stâ°dten wuï¬te, die an Fl¸ssen liegen, oder gar am Meer, von Genua nichts u.s. w. Ihr guter Vater, Lucidor, hat mich bekehrt, seit der Zeit komm’ ich nicht leicht hierher.” Sie setzte sich neckisch auf ein Bâ°nkchen, das sie kaum noch trug, unter einen Holunderstrauch, der sich zu tief gebeugt hatte. “Pfui ¸bers Hocken!” rief sie, sprang auf und lief mit dem lustigen Bruder davon.
Das zur¸ckgebliebene Paar unterhielt sich verstâ°ndig, und in solchen Fâ°llen nâ°hert sich der Verstand auch wohl dem Gef¸hl. Abwechselnd einfache, nat¸rliche Gegenstâ°nde zu durchwandern, mit Ruhe zu betrachten, wie der verstâ°ndige, kluge Mensch ihnen etwas abzugewinnen weiï¬, wie die Einsicht ins Vorhandene, zum Gef¸hl seiner Bed¸rfnisse sich gesellend, Wunder tut, um die Welt erst bewohnbar zu machen, dann zu bevËlkern und endlich zu ¸bervËlkern, das alles konnte hier im einzelnen zur Sprache kommen. Lucinde gab von allem Rechenschaft und konnte, so bescheiden sie war, nicht verbergen, daï¬ die bequemlich angenehmen Verbindungen entfernter Partien ihr Werk seien, unter Angabe, Leitung oder Verg¸nstigung einer verehrten Mutter.
Da sich aber denn doch der lâ°ngste Tag endlich zum Abend bequemt, so muï¬te man auf R¸ckkehr denken, und als man auf einen angenehmen Umweg sann, verlangte der lustige Bruder: man solle den k¸rzern, obgleich nicht erfreulichen, wohl gar beschwerlichen Weg einschlagen. “Denn”, rief er aus, “ihr habt mit euren Anlagen und Anschlâ°gen geprahlt, wie ihr die Gegend f¸r malerische Augen und f¸r zâ°rtliche Herzen verschËnert und verbessert; laï¬t mich aber auch zu Ehren kommen.”
Nun muï¬te man ¸ber geackerte Stellen und holprichte Pfade, ja wohl auch auf zufâ°llig hingeworfenen Steinen ¸ber Moorflecke wandern und sah, schon in einer gewissen Ferne, allerlei Maschinenwerk verworren aufget¸rmt. Nâ°her betrachtet, war ein groï¬er Lust–und Spielplatz, nicht ohne Verstand, mit einem gewissen Volkssinn eingerichtet. Und so standen hier, in gehËrigen Entfernungen zusammengeordnet, das groï¬e Schaukelrad, wo die Auf–und Absteigenden immer gleich horizontal ruhig sitzenbleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel, Kegel–und Zellenbahnen, und was nur alles erdacht werden kann, um auf einem groï¬en Triftraum eine Menge Menschen verschiedentlichst und gleichmâ°ï¬ig zu beschâ°ftigen und zu erlustigen. “Dies”, rief er aus, “ist meine Erfindung, meine Anlage! und obgleich der Vater das Geld und ein gescheiter Kerl den Kopf dazu hergab, so hâ°tte doch ohne mich, den ihr oft unvern¸nftig nennt, Verstand und Geld sich nicht zusammengefunden.”
So heiter gestimmt kamen alle vier mit Sonnenuntergang wieder nach Hause. Antoni fand sich ein; die Kleine jedoch, die an diesem bewegten Tage noch nicht genug hatte, lieï¬ einspannen und fuhr ¸ber Land zu einer Freundin, in Verzweiflung, sie seit zwei Tagen nicht gesehen zu haben. Die vier Zur¸ckgebliebenen f¸hlten sich verlegen, ehe man sich’s versah, und es ward sogar ausgesprochen, daï¬ des Vaters Ausbleiben die AngehËrigen beunruhige. Die Unterhaltung fing an zu stocken, als auf einmal der lustige Junker aufsprang und gar bald mit einem Buche zur¸ckkam, sich zum Vorlesen erbietend. Lucinde enthielt sich nicht zu fragen, wie er auf den Einfall komme, den er seit einem Jahre nicht gehabt; worauf er munter versetzte: “Mir fâ°llt alles zur rechten Zeit ein, dessen kËnnt ihr euch nicht r¸hmen.” Er las eine Folge echter Mâ°rchen, die den Menschen aus sich selbst hinausf¸hren, seinen W¸nschen schmeicheln und ihn jede Bedingung vergessen machen, zwischen welche wir, selbst in den gl¸cklichsten Momenten, doch immer noch eingeklemmt sind.
“Was beginne ich nun!” rief Lucidor, als er sich endlich allein fand: “die Stunde drâ°ngt; zu Antoni hab’ ich kein Vertrauen, er ist weltfremd, ich weiï¬ nicht, wer er ist, wie er ins Haus kommt, noch was er will; um Lucinden scheint er sich zu bem¸hen, und was kËnnte ich daher von ihm hoffen? Mir bleibt nichts ¸brig, als Lucinden selbst anzugehn; sie muï¬ es wissen, sie zuerst. Dies war ja mein erstes Gef¸hl; warum lassen wir uns auf Klugheitswege verleiten! Das Erste soll nun das Letzte sein, und ich hoffe, zum Ziel zu gelangen.”
Sonnabend morgen ging Lucidor, zeitig angekleidet, in seinem Zimmer auf und ab, was er Lucinden zu sagen hâ°tte hin und her bedenkend, als er eine Art von scherzhaftem Streit vor seiner T¸re vernahm, die auch alsobald aufging. Da schob der lustige Junker einen Knaben vor sich hin, mit Kaffee und Backwerk f¸r den Gast; er selbst trug kalte K¸che und Wein. “Du sollst vorangehen”, rief der Junker, “denn der Gast muï¬ zuerst bedient werden, ich bin gewohnt, mich selbst zu bedienen. Mein Freund! heute komme ich etwas fr¸h und tumultuarisch; genieï¬en wir unser Fr¸hst¸ck in Ruhe, und dann wollen wir sehen, was wir anfangen: denn von der Gesellschaft haben wir wenig zu hoffen. Die Kleine ist von ihrer Freundin noch nicht zur¸ck; diese m¸ssen gegeneinander wenigstens alle vierzehn Tage ihr Herz aussch¸tten, wenn es nicht springen soll. Sonnabend ist Lucinde ganz unbrauchbar, sie liefert dem Vater p¸nktlich ihre Haushaltsrechnung; da hab’ ich mich auch einmischen sollen, aber Gott bewahre mich! Wenn ich weiï¬, was eine Sache kostet, so schmeckt mir kein Bissen. Gâ°ste werden auf morgen erwartet, der Alte hat sich noch nicht wieder ins Gleichgewicht gestellt, Antoni ist auf die Jagd, wir wollen das gleiche tun.”
Flinten, Taschen und Hunde waren bereit, als sie in den Hof kamen, und nun ging es an den Feldern weg, wo denn doch allenfalls ein junger Hase und ein armer, gleichg¸ltiger Vogel geschossen wurde. Indessen besprach man sich von hâ°uslichen und gegenwâ°rtig geselligen Verhâ°ltnissen. Antoni ward genannt, und Lucidor verfehlte nicht, sich nach ihm nâ°her zu erkundigen. Der lustige Junker, mit einiger Selbstgefâ°lligkeit, versicherte: jenen wunderlichen Mann, so geheimnisvoll er auch tue, habe er schon durch und durch geblickt. “Er ist”, fuhr er fort, “gewiï¬ der Sohn aus einem reichen Handelshause, das gerade in dem Augenblick fallierte, als er, in der F¸lle seiner Jugend, teil an groï¬en Geschâ°ften mit Kraft und Munterkeit zu nehmen, daneben aber die sich reichlich darbietenden Gen¸sse zu teilen gedachte. Von der HËhe seiner Hoffnungen heruntergest¸rzt, raffte er sich zusammen und leistete, andern dienend, dasjenige, was er f¸r sich und die Seinigen nicht mehr bewirken konnte. So durchreiste er die Welt, lernte sie und ihren wechselseitigen Verkehr aufs genaueste kennen und vergaï¬ dabei seines Vorteils nicht. Unerm¸dete Tâ°tigkeit und erprobte Rechtlichkeit brachten und erhielten ihm von vielen ein unbedingtes Vertrauen. So erwarb er sich allerorten Bekannte und Freunde, ja es lâ°ï¬t sich gar wohl merken, daï¬ sein VermËgen so weit in der Welt umher verteilt ist, als seine Bekanntschaft reicht, weshalb denn auch seine Gegenwart in allen vier Teilen der Welt von Zeit zu Zeit nËtig ist.”
Umstâ°ndlicher und naiver hatte dies der lustige Junker erzâ°hlt und so manche possenhafte Bemerkung eingeschlossen, eben als wenn er sein Mâ°rchen recht weitlâ°ufig auszuspinnen gedâ°chte.
“Wie lange steht er nicht schon mit meinem Vater in Verbindung! Die meinen, ich sehe nichts, weil ich mich um nichts bek¸mmere; aber eben deswegen seh’ ich’s nur desto besser, weil mich’s nichts angeht. Vieles Geld hat er bei meinem Vater niedergelegt, der es wieder sicher und vorteilhaft unterbrachte. Erst gestern steckte er dem Alten ein Juwelenkâ°stchen zu; einfacher, schËner und kostbarer hab’ ich nichts gesehen, obgleich nur mit einem Blick, denn es wird verheimlicht. Wahrscheinlich soll es der Braut zu Vergn¸gen, Lust und k¸nftiger Sicherheit verehrt werden. Antoni hat sein Zutrauen auf Lucinden gesetzt! Wenn ich sie aber so zusammen sehe, kann ich sie nicht f¸r ein wohl assortiertes Paar halten. Die Ruschliche wâ°re besser f¸r ihn, ich glaube auch, sie nimmt ihn lieber als die Ælteste; sie blickt auch wirklich manchmal nach dem alten Knasterbart so munter und teilnehmend hin¸ber, als wenn sie sich mit ihm in den Wagen setzen und auf und davon fliegen wolle.” Lucidor faï¬te sich zusammen; er wuï¬te nicht, was zu erwidern wâ°re, alles, was er vernahm, hatte seinen innerlichen Beifall. Der Junker fuhr fort: “¸berhaupt hat das Mâ°dchen eine verkehrte Neigung zu alten Leuten; ich glaube, sie hâ°tte ihren Vater so frisch weg geheiratet wie den Sohn.”
Lucidor folgte seinem Gefâ°hrten, wo ihn dieser auch ¸ber Stock und Stein hinf¸hrte; beide vergaï¬en die Jagd, die ohnehin nicht ergiebig sein konnte. Sie kehrten auf einem Pachthofe ein, wo, gut aufgenommen, der eine Freund sich mit Essen, Trinken und Schwâ°tzen unterhielt, der andere aber in Gedanken und ¸berlegungen sich versenkte, wie er die gemachte Entdeckung f¸r sich und seinen Vorteil benutzen mËchte.
Lucidor hatte nach allen diesen Erzâ°hlungen und ErËffnungen so viel Vertrauen zu Antoni gewonnen, daï¬ er gleich beim Eintritt in den Hof nach ihm fragte und in den Garten eilte, wo er zu finden sein sollte. Er durchstrich die sâ°mtlichen Gâ°nge des Parks bei heiterer Abendsonne; umsonst! Nirgends keine Seele war zu sehen; endlich trat er in die T¸re des groï¬en Saals, und, wundersam genug, die untergehende Sonne, aus dem Spiegel zur¸ckscheinend, blendete ihn dergestalt, daï¬ er die beiden Personen, die auf dem Kanapee saï¬en, nicht erkennen, wohl aber unterscheiden konnte, daï¬ einem Frauenzimmer von einer neben ihr sitzenden Mannsperson die Hand sehr feurig gek¸ï¬t wurde. Wie groï¬ war daher sein Entsetzen, als er bei hergestellter Augenruhe Lucinden und Antoni vor sich sahe. Er hâ°tte versinken mËgen, stand aber wie angewurzelt, als ihn Lucinde freundlichst und unbefangen willkommen hieï¬, zuruckte und ihn bat, zu ihrer rechten Seite zu sitzen. Unbewuï¬t lieï¬ er sich nieder, und wie sie ihn anredete, nach dem heutigen Tage sich erkundigte, Vergebung bat hâ°uslicher Abhaltungen, da konnte er ihre Stimme kaum ertragen. Antoni stand auf und empfahl sich Lucinden; als sie, sich gleichfalls erhebend, den Zur¸ckgebliebenen zum Spaziergang einlud. Neben ihr hergehend, war er schweigsam und verlegen; auch sie schien beunruhigt; und wenn er nur einigermaï¬en bei sich gewesen wâ°re, so hâ°tte ihm ein tiefes Atemholen verraten m¸ssen, daï¬ sie herzliche Seufzer zu verbergen habe. Sie beurlaubte sich zuletzt, als sie sich dem Hause nâ°herten, er aber wandte sich, erst langsam, dann heftig, gegen das Freie. Der Park war ihm zu eng, er eilte durchs Feld, nur die Stimme seines Herzens vernehmend, ohne Sinn f¸r die SchËnheiten des vollkommensten Abends. Als er sich allein sah und seine Gef¸hle sich im beruhigenden Trâ°nenerguï¬ Luft machten, rief er aus:
“Schon einigemal im Leben, aber nie so grausam hab’ ich den Schmerz empfunden, der mich nun ganz elend macht: wenn das gew¸nschteste Gl¸ck endlich Hand in Hand, Arm in Arm zu uns tritt und zugleich sein Scheiden f¸r ewig ank¸ndet. Ich saï¬ bei ihr, ging neben ihr, das bewegte Kleid ber¸hrte mich, und ich hatte sie schon verloren! Zâ°hle dir das nicht vor, drËsele dir’s nicht auf, schweig und entschlieï¬e dich!”
Er hatte sich selbst den Mund verboten, er schwieg und sann, durch Felder, Wiesen und Busch, nicht immer auf den wegsamsten Pfaden hinschreitend. Nur als er spâ°t in sein Zimmer trat, hielt er sich nicht und rief: “Morgen fr¸h bin ich fort, solch einen Tag will ich nicht wieder erleben!”
Und so warf er sich angekleidet aufs Lager.–Gl¸ckliche, gesunde Jugend! Er schlief schon; die abm¸dende Bewegung des Tages hatte ihm die s¸ï¬e Nachtruhe verdient. Aus trËstlichen Morgentrâ°umen jedoch weckte ihn die allerfr¸hste Sonne; es war eben der lâ°ngste Tag, der ihm ¸berlang zu werden drohte. Wenn er die Anmut des beruhigenden Abendgestirns gar nicht empfunden, so f¸hlte er die aufregende SchËnheit des Morgens nur, um zu verzweifeln. Er sah die Welt so herrlich als je, seinen Augen war sie es noch; sein Inneres aber widersprach: das gehËrte ihm alles nicht mehr an, er hatte Lucinden verloren.
Neuntes Kapitel
Der Mantelsack war schnell gepackt, den er wollte liegenlassen; keinen Brief schrieb er dazu, nur mit wenig Worten sollte sein Ausbleiben vom Tisch, vielleicht auch vom Abend, durch den Reitknecht entschuldigt werden, den er ohnehin aufwecken muï¬te. Diesen aber fand er unten, schon vor dem Stalle, mit groï¬en Schritten auf und ab gehend. “Sie wollen doch nicht reiten?” rief der sonst gutm¸tige Mensch mit einigem Verdruï¬. “Ihnen darf ich es wohl sagen, aber der junge Herr wird alle Tage unertrâ°glicher. Hatte er sich doch gestern in der Gegend herumgetrieben, daï¬ man glauben sollte, er danke Gott, einen Sonntagmorgen zu ruhen. Kommt er nicht heute fr¸he vor Tag, rumort im Stalle, und wie ich aufspringe, sattelt und zâ°umt er Ihr Pferd, ist durch keine Vorstellung abzuhalten; er schwingt sich darauf und ruft: “Bedenke nur das gute Werk, das ich tue! Dies GeschËpf geht immer nur gelassen einen juristischen Trab, ich will sehen, daï¬ ich ihn zu einem raschen Lebensgalopp anrege.” Er sagte ungefâ°hr so und verf¸hrte andere wunderliche Reden.”
Lucidor war doppelt und dreifach betroffen, er liebte das Pferd, als seinem eigenen Charakter, seiner Lebensweise zusagend; ihn verdroï¬, das gute, verstâ°ndige GeschËpf in den Hâ°nden eines Wildfangs zu wissen. Sein Plan war zerstËrt, seine Absicht, zu einem Universitâ°tsfreunde, mit dem er in froher, herzlicher Verbindung gelebt, in dieser Krise zu fl¸chten. Das alte Zutrauen war erwacht, die dazwischenliegenden Meilen wurden nicht gerechnet, er glaubte schon bei dem wohlwollenden, verstâ°ndigen Freunde Rat und Linderung zu finden. Diese Aussicht war nun abgeschnitten; doch sie war’s nicht, wenn er es wagte, auf frischen Wanderf¸ï¬en, die ihm zu Gebote standen, sein Ziel zu erreichen.
Vor allen Dingen suchte er nun aus dem Park ins freie Feld, auf den Weg, der ihn zum Freunde f¸hren sollte, zu gelangen. Er war seiner Richtung nicht ganz gewiï¬, als ihm, linker Hand, ¸ber dem Geb¸sch hervorragend, auf wunderlichem Zimmerwerk die Einsiedelei, aus der man ihm fr¸her ein Geheimnis gemacht hatte, in die Augen fiel und er, jedoch zu seiner grËï¬ten Verwunderung, auf der Galerie unter dem chinesischen Dache den guten Alten, der einige Tage f¸r krank gehalten worden, munter um sich blickend erschaute. Dem freundlichsten Gruï¬e, der dringenden Einladung heraufzukommen widerstand Lucidor mit Ausfl¸chten und eiligen Gebâ°rden. Nur Teilnahme f¸r den guten Alten, der, die steile Treppe schwankenden Tritts heruntereilend, herabzust¸rzen drohte, konnte ihn vermËgen, entgegenzusehen und sodann sich hinaufziehen zu lassen. Mit Verwunderung betrat er das anmutige Sâ°lchen: es hatte nur drei Fenster gegen das Land, eine allerliebste Aussicht; die ¸brigen Wâ°nde waren verziert oder vielmehr verdeckt von hundert und aber hundert Bildnissen, in Kupfer gestochen, allenfalls auch gezeichnet, auf die Wand nebeneinander in gewisser Ordnung aufgeklebt, durch farbige Sâ°ume und Zwischenrâ°ume gesondert.
“Ich beg¸nstige Sie, mein Freund, wie nicht jeden; dies ist das Heiligtum, in dem ich meine letzten Tage vergn¸glich zubringe. Hier erhol’ ich mich von allen Fehlern, die mich die Gesellschaft begehen lâ°ï¬t, hier bring’ ich meine Diâ°tfehler wieder ins Gleichgewicht.”
Lucidor besah sich das Ganze, und in der Geschichte wohl erfahren, sah er alsbald klar, daï¬ eine historische Neigung zugrunde liege.
“Hier oben in der Friese”, sagte der Alte, “finden Sie die Namen vortrefflicher Mâ°nner aus der Urzeit, dann aus der nâ°heren auch nur die Namen, denn wie sie ausgesehen, mËchte schwerlich auszumitteln sein. Hier aber im Hauptfelde geht eigentlich mein Leben an, hier sind die Mâ°nner, die ich noch nennen gehËrt als Knabe. Denn etwa funfzig Jahre bleibt der Name vorz¸glicher Menschen in der Erinnerung des Volks, weiterhin verschwindet er oder wird mâ°rchenhaft.–Obgleich von deutschen Eltern, bin ich in Holland geboren, und f¸r mich ist Wilhelm von Oranien, als Statthalter und KËnig von England, der Urvater aller auï¬erordentlichen Mâ°nner und Helden.
Nun sehen Sie aber Ludwig den Vierzehnten gleich neben ihm, als welcher”–wie gern hâ°tte Lucidor den guten Alten unterbrochen, wenn es sich geschickt hâ°tte, wie es sich uns, den Erzâ°hlenden, wohl ziemen mag: denn ihn bedrohte die neue und neueste Geschichte, wie sich an den Bildern Friedrichs des Groï¬en und seiner Generale, nach denen er hinschielte, gar wohl bemerken lieï¬.
Ehrte nun auch der gute J¸ngling die lebendige Teilnahme des Alten an seiner nâ°chsten Vor–und Mitzeit, konnten ihm einzelne individuelle Z¸ge und Ansichten als interessant nicht entgehen, so hatte er doch auf Akademien schon die neuere und neueste Geschichte gehËrt, und was man einmal gehËrt hat, glaubt man f¸r immer zu wissen. Sein Sinn stand in die Ferne, er hËrte nicht, er sah kaum und war eben im Begriff, auf die ungeschickteste Weise zur T¸re hinaus und die lange, fatale Treppe hinunter zu poltern, als ein Hâ°ndeklatschen von unten heftig zu vernehmen war.
Indessen sich Lucidor zur¸ckhielt, fuhr der Kopf des Alten zum Fenster hinaus, und von unten ertËnte eine wohlbekannte Stimme: “Kommen Sie herunter, um ‘s Himmels willen, aus Ihrem historischen Bildersaal, alter Herr! Schlieï¬en Sie Ihre Fasten und helfen mir unsern jungen Freund beg¸tigen–wenn er’s erfâ°hrt. Lucidors Pferd hab’ ich etwas unvern¸nftig angegriffen, es hat ein Eisen verloren, und ich muï¬te es stehen lassen. Was wird er sagen? Es ist doch gar zu absurd, wenn man absurd ist.”
“Kommen Sie herauf!” sagte der Alte und wendete sich herein zu Lucidor: “Nun, was sagen Sie?” Lucidor schwieg, und der wilde Junker trat herein. Das Hin–und Widerreden gab eine lange Szene; genug, man beschloï¬, den Reitknecht sogleich hinzuschicken, um f¸r das Pferd Sorge zu tragen.
Den Greis zur¸cklassend, eilten beide jungen Leute nach dem Hause, wohin sich Lucidor nicht ganz unwillig ziehen lieï¬; es mochte daraus werden, was wollte, wenigstens war in diesen Mauern der einzige Wunsch seines Herzens eingeschlossen. In solchem verzweifelten Falle vermissen wir ohnehin den Beistand unseres freien Willens und f¸hlen uns erleichtert f¸r einen Augenblick, wenn von irgendwoher Bestimmung und NËtigung eingreift. Jedoch fand er sich, da er sein Zimmer betrat, in dem wunderlichsten Zustande, eben als wenn jemand in ein Gasthofsgemach, das er soeben verlieï¬, unerw¸nscht wieder einzukehren genËtigt ist, weil ihm eine Achse gebrochen.
Der lustige Junker machte sich nun ¸ber den Mantelsack, um alles recht ordentlich auszupacken, vorz¸glich legte er zusammen, was von festlichen Kleidungsst¸cken, obgleich reisemâ°ï¬ig, vorhanden war; er nËtigte Lucidorn, Schuh und Str¸mpfe anzuziehen, richtete dessen vollkrause, braune Locken zurecht und putzte ihn aufs beste heraus. Sodann rief er hinwegtretend, unsern Freund und sein Machwerk vom Kopf bis zum Fuï¬e beschauend: “Nun seht Ihr doch, Freundchen, einem Menschen gleich, der einigen Anspruch auf h¸bsche Kinder macht, und ernsthaft genug dabei, um sich nach einer Braut umzusehn. Nur einen Augenblick! und Ihr sollt erfahren, wie ich mich hervorzutun weiï¬, wenn die Stunde schlâ°gt. Das hab’ ich Offizieren abgelernt, nach denen die Mâ°dchen immer schielen, und da hab’ ich mich zu einer gewissen Soldateska selbst enrolliert, und nun sehen sie mich auch an und wieder an, weil keine weiï¬, was sie aus mir machen soll. Da entsteht nun aus dem Hin–und Hersehen, aus Verwunderung und Aufmerksamkeit oft etwas gar Artiges, das, wâ°r’ es auch nicht dauerhaft, doch wert ist, daï¬ man ihm den Augenblick gËnne.
Aber nun kommen Sie, Freund, und erweisen mir den gleichen Dienst! Wenn Sie mich St¸ck f¸r St¸ck in meine H¸lle schl¸pfen sehen, so werden Sie Witz und Erfindungsgabe dem leichtfertigen Knaben nicht absprechen.”
Nun zog er den Freund mit sich fort, durch lange, weitlâ°ufige Gâ°nge des alten Schlosses. “Ich habe mich”, rief er aus, “ganz hinten hingebettet. Ohne mich verbergen zu wollen, bin ich gern allein: denn man kann’s den andern doch nicht recht machen.”
Sie kamen an der Kanzlei vorbei, eben als ein Diener heraustrat und ein Urvater-Schreibzeug, schwarz, groï¬ und vollstâ°ndig, heraustrug; Papier war auch nicht vergessen.
“Ich weiï¬ schon, was da wieder gekleckst werden soll”, rief der Junker; “geh hin und laï¬ mir den Schl¸ssel. Tun Sie einen Blick hinein, Lucidor! es unterhâ°lt Sie wohl, bis ich angezogen bin. Einem Rechtsfreund ist ein solches Lokale nicht verhaï¬t wie einem Stallverwandten”; und so schob er Lucidorn in den Gerichtssaal.
Der J¸ngling f¸hlte sich sogleich in einem bekannten, ansprechenden Elemente: die Erinnerung der Tage, wo er, aufs Geschâ°ft erpicht, an solchem Tische saï¬, hËrend und schreibend sich ¸bte. Auch blieb ihm nicht verborgen, daï¬ hier eine alte, stattliche Hauskapelle zum Dienste der Themis, bei verâ°nderten Religionsbegriffen, verwandelt sei. In den Reposituren fand er Rubriken und Akten, ihm fr¸her bekannt; er hatte selbst in diesen Angelegenheiten, von der Hauptstadt her, gearbeitet. Einen Faszikel aufschlagend, fiel ihm ein Reskript in die Hâ°nde, das er selbst mundiert, ein anderes, wovon er der Konzipient gewesen. Handschrift und Papier, Kanzleisiegel und des Vorsitzenden Unterschrift, alles rief ihm jene Zeit eines rechtlichen Strebens jugendlicher Hoffnung hervor. Und wenn er sich dann umsah und den Sessel des Oberamtmanns erblickte, ihm zugedacht und bestimmt, einen so schËnen Platz, einen so w¸rdigen Wirkungskreis, den er zu verschmâ°hen, zu entbehren Gefahr lief, das alles bedrâ°ngte ihn doppelt und dreifach, indem die Gestalt Lucindens zu gleicher Zeit sich von ihm zu entfernen schien.
Er wollte das Freie suchen, fand sich aber gefangen. Der wunderliche Freund hatte, leichtsinnig oder schalkhaft, die T¸re verschlossen hinter sich gelassen; doch blieb unser Freund nicht lange in dieser peinlichsten Beklemmung, denn der andere kam wieder, entschuldigte sich und erregte wirklich guten Humor durch seine seltsame Gegenwart. Eine gewisse Verwegenheit der Farben und des Schnitts seiner Kleidung war durch nat¸rlichen Geschmack gedâ°mpft; wie wir ja selbst tatouierten Indiern einen gewissen Beifall nicht versagen. “Heute”, rief er aus, “soll uns die Langeweile vergangener Tage verg¸tet werden; gute Freunde, muntere Freunde sind angekommen, h¸bsche Mâ°dchen, neckische, verliebte Wesen, und dann auch mein Vater, und Wunder ¸ber Wunder! Ihr Vater auch; das wird ein Fest werden, alles ist im Saale schon versammelt beim Fr¸hst¸ck.”
Lucidorn war’s auf einmal zumute, als wenn er in tiefe Nebel hineinsâ°he, alle die angemeldeten bekannten und unbekannten Gestalten erschienen ihm gespenstig; doch sein Charakter in Begleitung eines reinen Herzens hielt ihn aufrecht, in wenigen Sekunden f¸hlte er sich schon allem gewachsen. Nun folgte er dem eilenden Freunde mit sicherem Tritt, fest entschlossen, abzuwarten, es geschehe, was da wolle, sich zu erklâ°ren, es entstehe, was da wolle.
Und doch war er auf der Schwelle des Saals betroffen. In einem groï¬en Halbkreis rings an den Fenstern umher entdeckte er sogleich seinen Vater neben dem Oberamtmann, beide stattlich angezogen. Die Schwestern, Antoni und sonst noch Bekannte und Unbekannte ¸bersah er mit einem Blick, der ihm tr¸be werden wollte. Schwankend nâ°herte er sich seinem Vater, der ihn hËchst freundlich willkommen hieï¬, jedoch mit einer gewissen FËrmlichkeit, die ein vertrauendes Annâ°hern kaum beg¸nstigte. Vor so vielen Personen stehend suchte er sich f¸r den Augenblick einen schicklichen Platz; er hâ°tte sich neben Lucinden stellen kËnnen, aber Julie, dem gespannten Anstand zuwider, machte eine Wendung, daï¬ er zu ihr treten muï¬te; Antoni blieb neben Lucinden.
In diesem bedeutenden Momente f¸hlte sich Lucidor abermals als Beauftragten, und gestâ°hlt von seiner ganzen Rechtswissenschaft, rief er sich jene schËne Maxime zu seinen eignen Gunsten heran: “Wir sollen anvertraute Geschâ°fte der Fremden wie unsere eigenen behandeln, warum nicht die unsrigen in eben dem Sinne?”–In Geschâ°ftsvortrâ°gen wohl ge¸bt, durchlief er schnell, was er zu sagen habe. Indessen schien die Gesellschaft, in einen fËrmlichen Halbzirkel gebildet, ihn zu ¸berfl¸geln. Den Inhalt seines Vortrags kannte er wohl, den Anfang konnte er nicht finden. Da bemerkte er, in einer Ecke aufgetischt, das groï¬e Tintenfaï¬, Kanzleiverwandte dabei; der Oberamtmann machte eine Bewegung, seine Rede vorzubereiten; Lucidor wollte ihm zuvorkommen, und in demselben Augenblicke dr¸ckte Julie ihm die Hand. Dies brachte ihn aus aller Fassung, er ¸berzeugte sich, daï¬ alles entschieden, alles f¸r ihn verloren sei.
Nun war an gegenwâ°rtigen sâ°mtlichen Lebensverhâ°ltnissen, diesen Familienverbindungen, Gesellschafts–und Anstandsbez¸gen nichts mehr zu schonen; er sah vor sich hin, entzog seine Hand Julien und war so schnell zur T¸re hinaus, daï¬ die Versammlung ihn unversehens vermiï¬te und er sich selbst drauï¬en nicht wiederfinden konnte.
Scheu vor dem Tageslichte, das im hËchsten Glanze ¸ber ihn herabschien, die Blicke begegnender Menschen vermeidend, aufsuchende f¸rchtend, schritt er vorwâ°rts und gelangte zu dem groï¬en Gartensaal. Dort wollten ihm die Kniee versagen, er st¸rzte hinein und warf sich trostlos auf den Sofa unter dem Spiegel: mitten in der sittlich-b¸rgerlichen Gesellschaft in solcher Verworrenheit befangen, die sich wogenhaft um ihn, in ihm hin und her schlug. Sein vergangenes Dasein kâ°mpfte mit dem gegenwâ°rtigen, es war ein greulicher Augenblick.
Und so lag er eine Zeit, mit dem Gesichte in das Kissen versenkt, auf welchem gestern Lucindens Arm geruht hatte. Ganz in seinen Schmerz versunken, fuhr er, sich ber¸hrt f¸hlend, schnell in die HËhe, ohne die Annâ°herung irgendeiner Person gesp¸rt zu haben: da erblickt’ er Lucinden, die ihm nahe stand,
Vermutend, man habe sie gesendet, ihn abzuholen, ihr aufgetragen, ihn mit schicklichen, schwesterlichen Worten in die Gesellschaft, seinem widerlichen Schicksal entgegen zu f¸hren, rief er aus: “Sie hâ°tte man nicht senden m¸ssen, Lucinde, denn Sie sind es, die mich von dort vertrieb; ich kehre nicht zur¸ck! Geben Sie mir, wenn Sie irgendeines Mitleids fâ°hig sind, schaffen Sie mir Gelegenheit und Mittel zur Flucht. Denn, damit Sie von mir zeugen kËnnen, wie unmËglich es sei, mich zur¸ckzubringen, so nehmen Sie den Schl¸ssel zu meinem Betragen, das Ihnen und allen wahnsinnig vorkommen muï¬. HËren Sie den Schwur, den ich mir im Innern getan und den ich unauflËslich laut wiederhole: Nur mit Ihnen wollt’ ich leben, meine Jugend nutzen, genieï¬en, und so das Alter im treuen, redlichen Ablauf. Dies aber sei so fest und sicher als irgend etwas, was vor dem Altar je geschworen worden, was ich jetzt schwËre, indem ich Sie verlasse, der bedauernsw¸rdigste aller Menschen.”
Er machte eine Bewegung zu entschl¸pfen, ihr, die so gedrâ°ngt vor ihm stand; aber sie faï¬te ihn sanft in ihren Arm.–“Was machen Sie!” rief er aus. “Lucidor!” rief sie, “nicht zu bedauern, wie Sie wohl wâ°hnen, Sie sind mein, ich die Ihre; ich halte Sie in meinen Armen, zaudern Sie nicht, die Ihrigen um mich zu schlagen. Ihr Vater ist alles zufrieden; Antoni heiratet meine Schwester.” Erstaunt zog er sich von ihr zur¸ck. “Das wâ°re wahr?” Lucinde lâ°chelte und nickte, er entzog sich ihren Armen. “Lassen Sie mich noch einmal in der Ferne sehen, was so nah, so nâ°chst mir angehËren soll.” Er faï¬te ihre Hâ°nde, Blick in Blick! “Lucinde, sind Sie mein?”–Sie versetzte: “Nun ja doch”, die s¸ï¬esten Trâ°nen in dem treusten Auge; er umschlang sie und warf sein Haupt hinter das ihre, hing wie am Uferfelsen ein Schiffbr¸chiger; der Boden bebte noch unter ihm. Nun aber sein entz¸ckter Blick, sich wieder Ëffnend, fiel in den Spiegel. Da sah er sie in seinen Armen, sich von den ihren umschlungen; er blickte wieder und wieder hin. Solche Gef¸hle begleiten den Menschen durchs ganze Leben. Zugleich sah er auch auf der Spiegelflâ°che die Landschaft, die ihm gestern so greulich und ahnungsvoll erschienen war, glâ°nzender und herrlicher als je; und sich in solcher Stellung, auf solchem Hintergrunde! Genugsame Vergeltung aller Leiden.
“Wir sind nicht allein”, sagte Lucinde, und kaum hatte er sich von seinem Entz¸cken erholt, so erschienen geputzt und bekrâ°nzt Mâ°dchen und Knaben, Krâ°nze tragend, den Ausgang versperrend. “Das sollte alles anders werden”, rief Lucinde; “wie artig war es eingerichtet, und nun geht’s tumultuarisch durcheinander!” Ein munterer Marsch tËnte von weitem, und man sah die Gesellschaft den breiten Weg her feierlich heiter heranziehen. Er zauderte entgegenzusehen und schien seiner Schritte nur an ihrem Arm gewiï¬; sie blieb neben ihm, die feierliche Szene des Wiedersehens, des Danks f¸r eine schon vollendete Vergebung von Augenblick zu Augenblick erwartend.
Anders war’s jedoch von den launischen GËttern beschlossen; eines Posthorns lustig schmetternder Ton, von der Gegenseite, schien den ganzen Aufstand in Verwirrung zu setzen. “Wer mag kommen?” rief Lucinde. Lucidorn schauderte vor einer fremden Gegenwart, und auch der Wagen schien ganz fremd. Eine zweisitzige, neue, ganz neuste Reisechaise! Sie fuhr an den Saal an. Ein ausgezeichneter, anstâ°ndiger Knabe sprang hinten herunter, Ëffnete den Schlag, aber niemand stieg heraus; die Chaise war leer, der Knabe stieg hinein, mit einigen geschickten Handgriffen warf er die Spriegel zur¸ck, und so war in einem Nu das niedlichste Gebâ°ude zur lustigsten Spazierfahrt vor den Augen aller Anwesenden bereitet, die indessen herankamen. Antoni, den ¸brigen voreilend, f¸hrte Julien zu dem Wagen. “Versuchen Sie”, sprach er, “ob Ihnen dies Fuhrwerk gefallen kann, um darin mit mir auf den besten Wegen durch die Welt zu rollen; ich werde Sie keinen andern f¸hren, und wo es irgend not tut, wollen wir uns zu helfen wissen. ¸ber das Gebirg sollen uns Saumrosse tragen, und den Wagen dazu.”
“Sie sind allerliebst!” rief Julie. Der Knabe trat heran und zeigte mit Taschenspielergewandtheit alle Bequemlichkeiten, kleine Vorteile und Behendigkeiten des ganzen leichten Baues.
“Auf der Erde weiï¬ ich keinen Dank”, rief Julie, “nur auf diesem kleinen, beweglichen Himmel, aus dieser Wolke, in die Sie mich erheben, will ich Ihnen herzlich danken.” Sie war schon eingesprungen, ihm Blick und Kuï¬hand freundlich zuwerfend. “Gegenwâ°rtig d¸rfen Sie noch nicht zu mir herein, da ist aber ein anderer, den ich auf dieser Probefahrt mitzunehmen gedenke, er hat auch noch eine Probe zu bestehen.” Sie rief nach Lucidor, der, eben mit Vater und Schwiegervater in stummer Unterhaltung begriffen, sich gern in das leichte Fuhrwerk nËtigen lieï¬, da er ein unausweichlich Bed¸rfnis f¸hlte, nur einen Augenblick auf irgendeine Weise sich zu zerstreuen. Er saï¬ neben ihr, sie rief dem Postillon zu, wie er fahren solle. Flugs entfernten sie sich, in Staub geh¸llt, aus den Augen der verwundert Nachschauenden.
Julie setzte sich recht fest und bequem ins Eckchen.–
“R¸cken Sie nun auch dorthin, Herr Schwager, daï¬ wir uns recht bequem in die Augen sehen.”
Lucidor. Sie empfinden meine Verwirrung, meine Verlegenheit; ich bin noch immer wie im Traume, helfen Sie mir heraus.
Julie. Sehen Sie die h¸bschen Bauersleute, wie sie freundlich gr¸ï¬en! Bei Ihrem Hiersein sind Sie ja nicht ins obere Dorf gekommen. Alles wohlhabende Leute, die mir alle gewogen sind. Es ist niemand zu reich, dem man nicht einmal wohlwollend einen bedeutenden Dienst erweisen kËnne. Diesen Weg, den wir so bequem fahren, hat mein Vater angelegt und auch dieses Gute gestiftet.
Lucidor. Ich glaub’ es gern und geb’ es zu; aber was sollen die Æuï¬erlichkeiten gegen die Verworrenheit meines Innern!
Julie. Nur Geduld, ich will Ihnen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeigen. Nun sind wir oben! Wie klar das ebene Land gegen das Gebirg hinliegt! Alle diese DËrfer verdanken meinem Vater gar viel, und Mutter und TËchtern wohl auch. Die Flur jenes Stâ°dtchens dort hinten macht erst die Grenze.
Lucidor. Ich finde Sie in einer wunderlichen Stimmung; Sie scheinen nicht recht zu sagen, was Sie sagen wollten.
Julie. Nun sehen Sie hier links hinunter, wie schËn sich das alles entwickelt! Die Kirche mit ihren hohen Linden, das Amthaus mit seinen Pappeln hinter dem Dorfh¸gel her. Auch die Gâ°rten liegen vor uns und der Park.
Der Postillon fuhr schâ°rfer.
Julie. Jenen Saal dort droben kennen Sie; er sieht sich von hier aus ebenso gut an wie die Gegend von dort her. Hier am Baume wird gehalten; nun gerade hier spiegeln wir uns oben in der groï¬en Glasflâ°che, man sieht uns dort recht gut, wir aber kËnnen uns nicht erkennen.–Fahre zu! Dort haben sich vor kurzem wahrscheinlich ein Paar Leute nâ°her bespiegelt und, ich m¸ï¬te mich sehr irren, mit groï¬er wechselseitiger Zufriedenheit.
Lucidor, verdrieï¬lich, erwiderte nichts; sie fuhren eine Zeitlang stillschweigend vor sich hin, es ging sehr schnell. “Hier”, sagte Julie, “fâ°ngt der schlechte Weg an, um den mËgen Sie sich einmal verdient machen. Eh es hinabgeht, schauen Sie noch hin¸ber, die Buche meiner Mutter ragt mit ihrem herrlichen Gipfel ¸ber alles hervor. Du fâ°hrst”, fuhr sie zum Kutschenden fort, “den schlechten Weg hin, wir nehmen den Fuï¬pfad durchs Tal und sind eher dr¸ben wie du.” Im Aussteigen rief sie aus: “Das gestehen Sie doch, der ewige Jude, der unruhige Anton Reiser, weiï¬ noch seine Wallfahrten bequem genug einzurichten, f¸r sich und seine Genossen: es ist ein sehr schËner, bequemer Wagen.”
Und so war sie auch schon den H¸gel drunten; Lucidor folgte sinnend und fand sie auf einer wohlgelegenen Bank sitzend, es war Lucindens Plâ°tzchen. Sie lud ihn zu sich.
Julie. Nun sitzen wir hier und gehen einander nichts an, das hat denn doch so sein sollen. Das kleine Quecksilber wollte Ihnen gar nicht anstehen. Nicht lieben konnten Sie ein solches Wesen, verhaï¬t war es Ihnen.
Lucidors Verwunderung nahm zu.
Julie. Aber freilich Lucinde! Sie ist der Inbegriff aller Vollkommenheiten, und die niedliche Schwester war ein f¸r allemal ausgestochen. Ich seh’ es, auf Ihren Lippen schwebt die Frage, wer uns so genau unterrichtet hat?
Lucidor. Es steckt ein Verrat dahinter!–
Julie. Jawohl! ein Verrâ°ter ist im Spiele.
Lucidor. Nennen Sie ihn.
Julie. Der ist bald entlarvt. Sie selbst!–Sie haben die lËbliche oder unlËbliche Gewohnheit, mit sich selbst zu reden, und da will ich denn in unser aller Namen bekennen, daï¬ wir Sie wechselsweise behorcht haben.
Lucidor (aufspringend). Eine saubere Gastfreundschaft, auf diese Weise den Fremden eine Falle zu stellen!
Julie. Keineswegs; wir dachten nicht daran, Sie zu belauschen, so wenig als irgendeinen andern. Sie wissen, Ihr Bett steht in einem Verschlag der Wand, von der Gegenseite geht ein anderer herein, der gewËhnlich nur zu hâ°uslicher Niederlage dient. Da hatten wir einige Tage vorher unsern Alten genËtigt zu schlafen, weil wir f¸r ihn in seiner abgelegenen Einsiedelei viele Sorge trugen; nun fuhren Sie gleich den ersten Abend mit einem solchen leidenschaftlichen Monolog ins Zeug, dessen Inhalt er uns den andern Morgen angelegentlichst entdeckte.
Lucidor hatte nicht Lust, sie zu unterbrechen. Er entfernte sich.
Julie (aufgestanden ihm folgend). Wie war uns mit dieser Erklâ°rung gedient! Denn ich gestehe gern: wenn Sie mir auch nicht gerade zuwider waren, so blieb doch der Zustand, der mich erwartete, mir keineswegs w¸nschenswert. Frau Oberamtmâ°nnin zu sein, welche schreckliche Lage! Einen t¸chtigen, braven Mann zu haben, der den Leuten Recht sprechen soll und vor lauter Recht nicht zur Gerechtigkeit kommen kann! der es weder nach oben noch unten recht macht und, was das Schlimmste ist, sich selbst nicht. Ich weiï¬, was meine Mutter ausgestanden hat von der Unbestechlichkeit, Unersch¸tterlichkeit meines Vaters. Endlich, leider nach ihrem Tod, ging ihm eine gewisse Mildigkeit auf, er schien sich in die Welt zu finden, an ihr sich auszugleichen, die er sich bisher vergeblich bekâ°mpft hatte.
Lucidor (hËchst unzufrieden ¸ber den Vorfall, â°rgerlich ¸ber die leichtsinnige Behandlung, stand still). F¸r den Scherz eines Abends mochte das hingehen, aber eine solche beschâ°mende Mystifikation Tage und Nâ°chte lang gegen einen unbefangenen Gast zu ver¸ben, ist nicht verzeihlich.
Julie. Wir alle haben uns in die Schuld geteilt, wir haben Sie alle behorcht; ich aber allein b¸ï¬e die Schuld des Horchens.
Lucidor. Alle! desto unverzeihlicher! Und wie konnten Sie mich den Tag ¸ber ohne Beschâ°mung ansehen, den Sie des Nachts schmâ°hlich-unerlaubt ¸berlisteten? Doch ich sehe jetzt ganz deutlich mit einem Blick, daï¬ Ihre Tagesanstalten nur darauf berechnet waren, mich zum besten zu haben. Eine lËbliche Familie! und wo bleibt die Gerechtigkeitsliebe Ihres Vaters?–Und Lucinde!
Julie. Und Lucinde! Was war das f¸r ein Ton! Nicht wahr, Sie wollten sagen: wie tief es Sie schmerzt, von Lucinden ¸bel zu denken, Lucinden mit uns allen in eine Klasse zu werfen?
Lucidor. Lucinden begreif’ ich nicht.
Julie. Sie wollen sagen: diese reine, edle Seele, dieses ruhig gefaï¬te Wesen, die G¸te, das Wohlwollen selbst, diese Frau, wie sie sein sollte, verbindet sich mit einer leichtsinnigen Gesellschaft, mit einer ¸berhinfahrenden Schwester, einem verzogenen Jungen und gewissen geheimnisvollen Personen! das ist unbegreiflich.
Lucidor. Jawohl ist das unbegreiflich.
Julie. So begreifen Sie es denn! Lucinden wie uns allen waren die Hâ°nde gebunden. Hâ°tten Sie die Verlegenheit bemerken kËnnen, wie sie sich kaum zur¸ckhielt, Ihnen alles zu offenbaren, Sie w¸rden sie doppelt und dreifach lieben, wenn nicht jede wahre Liebe an und f¸r sich zehn–und hundertfach wâ°re; auch versichere ich Sie, uns allen ist der Spaï¬ am Ende zu lang geworden.
Lucidor. Warum endigten Sie ihn nicht?
Julie. Das ist nun auch aufzuklâ°ren. Nachdem Ihr erster Monolog dem Vater bekannt geworden und er gar bald bemerken konnte, daï¬ alle seine Kinder nichts gegen einen solchen Tausch einzuwenden hâ°tten, so entschloï¬ er sich, alsobald zu Ihrem Vater zu reisen. Die Wichtigkeit des Geschâ°fts war ihm bedenklich. Ein Vater allein f¸hlt den Respekt, den man einem Vater schuldig ist. “Er muï¬ es zuerst wissen”, sagte der meine, “um nicht etwan hintendrein, wenn wir einig sind, eine â°rgerlich-erzwungene Zustimmung zu geben. Ich kenne ihn genau, ich weiï¬, wie er einen Gedanken, eine Neigung, einen Vorsatz festhâ°lt, und es ist mir bange genug. Er hat sich Julien, seine Karten und Prospekte so zusammen gedacht, daï¬ er sich schon vornahm, das alles zuletzt hierher zu stiften, wenn der Tag kâ°me, wo das junge Paar sich hier niederlieï¬e und Ort und Stelle so leicht nicht verâ°ndern kËnnte: da wollt’ er alle Ferien uns zuwenden, und was er f¸r Liebes und Gutes im Sinne hatte. Er muï¬ zuerst erfahren, was die Natur uns f¸r einen Streich gespielt, da noch nichts eigentlich erklâ°rt, noch nichts entschieden ist.” Hierauf nahm er uns allen den feierlichsten Handschlag ab, daï¬ wie Sie beobachten und, es geschehe, was da wolle, Sie hinhalten sollten. Wie sich die R¸ckreise verzËgert, wie es Kunst, M¸he und Beharrlichkeit gekostet, Ihres Vaters Einwilligung zu erlangen, das mËgen Sie von ihm selbst hËren. Genug, die Sache ist abgetan, Lucinde ist Ihnen gegËnnt.–
Und so waren beide, vom ersten Sitze lebhaft sich entfernend, unterwegs anhaltend, immer fortsprechend und langsam weitergehend, ¸ber die Wiesen hin auf die ErhËhung gekommen an einen andern wohlgebahnten Kunstweg. Der Wagen fuhr schnell heran; Augenblicks machte sie ihren Nachbar aufmerksam auf ein seltsames Schauspiel. Die ganze Maschinerie, worauf sich der Bruder so viel zugute tat, war belebt und bewegt; schon f¸hrten die Râ°der eine Menschenzahl auf und nieder, schon wogten die Schaukeln, Mastbâ°ume wurden erklettert, und was man nicht alles f¸r k¸hnen Schwung und Sprung ¸ber den Hâ°uptern einer unzâ°hlbaren Menge gewagt sah! Alles das hatte der Junker in Bewegung gesetzt, damit nach Tafel die Gâ°ste frËhlich unterhalten w¸rden. “Du fâ°hrst noch durchs untere Dorf”, rief Julie, “die Leute wollen mir wohl, und sie sollen sehen, wie wohl es mir geht.”
Das Dorf war Ëde, die J¸ngern sâ°mtlich hatten schon den Lustplatz ereilt, alte Mâ°nner und Frauen zeigten sich, durch das Posthorn erregt, an T¸r und Fenstern, alles gr¸ï¬te, segnete, rief: “O das schËne Paar!”
Julie. Nun, da haben Sie’s! Wir hâ°tten am Ende doch wohl zusammengepaï¬t; es kann Sie noch reuen.
Lucidor. Jetzt aber, liebe Schwâ°gerin!–