stockte und schwieg. Ihr Freund, der nichts Allgemeines sagen wollte und nichts Besonderes zu sagen wuï¬te, dr¸ckte ihre Hand und sah sie eine Zeitlang an. Endlich nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf, das er vor sich auf dem Tischchen liegen fand; es waren Shakespeares Werke und “Hamlet” aufgeschlagen.
Serlo, der eben zur T¸r hereinkam, nach dem Befinden seiner Schwester fragte, schaute in das Buch, das unser Freund in der Hand hielt, und rief aus: “Find ich Sie wieder ¸ber Ihrem “Hamlet”? Eben recht! Es sind mir gar manche Zweifel aufgestoï¬en, die das kanonische Ansehn, das Sie dem St¸cke so gerne geben mËchten, sehr zu vermindern scheinen. Haben doch die Englâ°nder selbst bekannt, daï¬ das Hauptinteresse sich mit dem dritten Akt schlËsse, daï¬ die zwei letzten Akte nur k¸mmerlich das Ganze zusammenhielten; und es ist doch wahr, das St¸ck will gegen das Ende weder gehen noch r¸cken.”
“Es ist sehr mËglich”, sagte Wilhelm, “daï¬ einige Glieder einer Nation, die so viel Meisterst¸cke aufzuweisen hat, durch Vorurteile und Beschrâ°nktheit auf falsche Urteile geleitet werden; aber das kann uns nicht hindern, mit eignen Augen zu sehen und gerecht zu sein. Ich bin weit entfernt, den Plan dieses St¸cks zu tadeln, ich glaube vielmehr, daï¬ kein grËï¬erer ersonnen worden sei; ja, er ist nicht ersonnen, es ist so.”
“Wie wollen Sie das auslegen?” fragte Serlo.
“Ich will nichts auslegen”, versetzte Wilhelm, “ich will Ihnen nur vorstellen, was ich mir denke.”
Aurelie hob sich von ihrem Kissen auf, st¸tzte sich auf ihre Hand und sah unsern Freund an, der mit der grËï¬ten Versicherung, daï¬ er recht habe, also zu reden fortfuhr: “Es gefâ°llt uns so wohl, es schmeichelt so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der durch sich selbst handelt, der liebt und haï¬t, wenn es ihm sein Herz gebietet, der unternimmt und ausf¸hrt, alle Hindernisse abwendet und zu einem groï¬en Zwecke gelangt. Geschichtschreiber und Dichter mËchten uns gerne ¸berreden, daï¬ ein so stolzes Los dem Menschen fallen kËnne. Hier werden wir anders belehrt; der Held hat keinen Plan, aber das St¸ck ist planvoll. Hier wird nicht etwa nach einer starr und eigensinnig durchgef¸hrten Idee von Rache ein BËsewicht bestraft, nein, es geschieht eine ungeheure Tat, sie wâ°lzt sich in ihren Folgen fort, reiï¬t Unschuldige mit; der Verbrecher scheint dem Abgrunde, der ihm bestimmt ist, ausweichen zu wollen und st¸rzt hinein, eben da, wo er seinen Weg gl¸cklich auszulaufen gedenkt. Denn das ist die Eigenschaft der Greueltat, daï¬ sie auch BËses ¸ber den Unschuldigen, wie der guten Handlung, daï¬ sie viele Vorteile auch ¸ber den Unverdienten ausbreitet, ohne daï¬ der Urheber von beiden oft weder bestraft noch belohnt wird. Hier in unserm St¸cke wie wunderbar! Das Fegefeuer sendet seinen Geist und fordert Rache, aber vergebens. Alle Umstâ°nde kommen zusammen und treiben die Rache, vergebens! Weder Irdischen noch Unterirdischen kann gelingen, was dem Schicksal allein vorbehalten ist. Die Gerichtsstunde kommt. Der BËse fâ°llt mit dem Guten. Ein Geschlecht wird weggemâ°ht, und das andere sproï¬t auf.”
Nach einer Pause, in der sie einander ansahen, nahm Serlo das Wort: “Sie machen der Vorsehung kein sonderlich Kompliment, indem Sie den Dichter erheben, und dann scheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres Dichters, wie andere zu Ehren der Vorsehung, ihm Endzweck und Plane unterzuschieben, an die er nicht gedacht hat.”
IV. Buch, 16. Kapitel
Sechzehntes Kapitel
“Lassen Sie mich”, sagte Aurelie, “nun auch eine Frage tun. Ich habe Opheliens Rolle wieder angesehen, ich bin zufrieden damit und getraue mir, sie unter gewissen Umstâ°nden zu spielen. Aber sagen Sie mir, hâ°tte der Dichter seiner Wahnsinnigen nicht andere Liedchen unterlegen sollen? KËnnte man nicht Fragmente aus melancholischen Balladen wâ°hlen? Was sollen Zweideutigkeiten und l¸sterne Albernheiten in dem Munde dieses edlen Mâ°dchens?”
“Beste Freundin”, versetzte Wilhelm, “ich kann auch hier nicht ein Jota nachgeben, Auch in diesen Sonderbarkeiten, auch in dieser anscheinenden Unschicklichkeit liegt ein groï¬er Sinn. Wissen wir doch gleich zu Anfange des St¸cks, womit das Gem¸t des guten Kindes beschâ°ftigt ist. Stille lebte sie vor sich hin, aber kaum verbarg sie ihre Sehnsucht, ihre W¸nsche. Heimlich klangen die TËne der L¸sternheit in ihrer Seele, und wie oft mag sie versucht haben, gleich einer unvorsichtigen Wâ°rterin, ihre Sinnlichkeit zur Ruhe zu singen mit Liedchen, die sie nur mehr wachhalten muï¬ten. Zuletzt, da ihr jede Gewalt ¸ber sich selbst entrissen ist, da ihr Herz auf der Zunge schwebt, wird diese Zunge ihre Verrâ°terin, und in der Unschuld des Wahnsinns ergËtzt sie sich vor KËnig und KËnigin an dem Nachklange ihrer geliebten losen Lieder: vom Mâ°dchen, das gewonnen ward; vom Mâ°dchen, das zum Knaben schleicht, und so weiter.”
Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf einmal eine wunderbare Szene vor seinen Augen entstand, die er sich auf keine Weise erklâ°ren konnte.
Serlo war einigemal in der Stube auf und ab gegangen, ohne daï¬ er irgendeine Absicht merken lieï¬. Auf einmal trat er an Aureliens Putztisch, griff schnell nach etwas, das darauf lag, und eilte mit seiner Beute der T¸re zu. Aurelie bemerkte kaum seine Handlung, als sie auffuhr, sich ihm in den Weg warf, ihn mit unglaublicher Leidenschaft angriff und geschickt genug war, ein Ende des geraubten Gegenstandes zu fassen. Sie rangen und balgten sich sehr hartnâ°ckig, drehten und wanden sich sehr lebhaft miteinander herum; er lachte, sie ereiferte sich, und als Wilhelm hinzueilte, sie auseinanderzubringen und zu besâ°nftigen, sah er auf einmal Aurelien mit einem bloï¬en Dolch in der Hand auf die Seite springen, indem Serlo die Scheide, die ihm zur¸ckgeblieben war, verdrieï¬lich auf den Boden warf. Wilhelm trat erstaunt zur¸ck, und seine stumme Verwunderung schien nach der Ursache zu fragen, warum ein so sonderbarer Streit ¸ber einen so wunderbaren Hausrat habe unter ihnen entstehen kËnnen.
“Sie sollen”, sprach Serlo, “Schiedsrichter zwischen uns beiden sein. Was hat sie mit dem scharfen Stahle zu tun? Lassen Sie sich ihn zeigen. Dieser Dolch ziemt keiner Schauspielerin; spitz und scharf wie Nadel und Messer! Zu was die Posse? Heftig, wie sie ist, tut sie sich noch einmal von ungefâ°hr ein Leides. Ich habe einen innerlichen Haï¬ gegen solche Sonderbarkeiten: ein ernstlicher Gedanke dieser Art ist toll, und ein so gefâ°hrliches Spielwerk ist abgeschmackt.”
“Ich habe ihn wieder!” rief Aurelie, indem sie die blanke Klinge in die HËhe hielt; “ich will meinen treuen Freund nun besser verwahren. Verzeih mir”, rief sie aus, indem sie den Stahl k¸ï¬te, “daï¬ ich dich so vernachlâ°ssigt habe!”
Serlo schien im Ernste bËse zu werden. “Nimm es, wie du willst, Bruder”, fuhr sie fort; “kannst du denn wissen, ob mir nicht etwa unter dieser Form ein kËstlicher Talisman beschert ist; ob ich nicht H¸lfe und Rat zur schlimmsten Zeit bei ihm finde; muï¬ denn alles schâ°dlich sein, was gefâ°hrlich aussieht?”
“Dergleichen Reden, in denen kein Sinn ist, kËnnen mich toll machen!” sagte Serlo und verlieï¬ mit heimlichem Grimme das Zimmer. Aurelie verwahrte den Dolch sorgfâ°ltig in der Scheide und steckte ihn zu sich. “Lassen Sie uns das Gesprâ°ch fortsetzen, das der ungl¸ckliche Bruder gestËrt hat”, fiel sie ein, als Wilhelm einige Fragen ¸ber den sonderbaren Streit vorbrachte.
“Ich muï¬ Ihre Schilderung Opheliens wohl gelten lassen”, fuhr sie fort, “ich will die Absicht des Dichters nicht verkennen; nur kann ich sie mehr bedauern als mit ihr empfinden, Nun aber erlauben Sie mir eine Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen Zeit oft Gelegenheit gegeben haben. Mit Bewunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung und besonders dramatische Dichtung beurteilen; die tiefsten Abgr¸nde der Erfindung sind Ihnen nicht verborgen, und die feinsten Z¸ge der Ausf¸hrung sind Ihnen bemerkbar. Ohne die Gegenstâ°nde jemals in der Natur erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahrheit im Bilde; es scheint eine Vorempfindung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmonische Ber¸hrung der Dichtkunst erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig”, fuhr sie fort, “von auï¬en kommt nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so wenig kennt, so von Grund aus verkennt wie Sie. Erlauben Sie mir, es zu sagen: wenn man Sie Ihren Shakespeare erklâ°ren hËrt, glaubt man, Sie kâ°men eben aus dem Rate der GËtter und hâ°tten zugehËrt, wie man sich daselbst beredet, Menschen zu bilden; wenn Sie dagegen mit Leuten umgehen, seh ich in Ihnen gleichsam das erste, groï¬ geborne Kind der SchËpfung, das mit sonderlicher Verwunderung und erbaulicher Gutm¸tigkeit LËwen und Affen, Schafe und Elefanten anstaunt und sie treuherzig als seinesgleichen anspricht, weil sie eben auch da sind und sich bewegen.”
“Die Ahnung meines sch¸lerhaften Wesens, werte Freundin”, versetzte er, “ist mir Ëfters lâ°stig, und ich werde Ihnen danken, wenn Sie mir ¸ber die Welt zu mehrerer Klarheit verhelfen wollen. Ich habe von Jugend auf die Augen meines Geistes mehr nach innen als nach auï¬en gerichtet, und da ist es sehr nat¸rlich, daï¬ ich den Menschen bis auf einen gewissen Grad habe kennenlernen, ohne die Menschen im mindesten zu verstehen und zu begreifen.”
“Gewiﬔ, sagte Aurelie,.ich hatte Sie anfangs in Verdacht, als wollten Sie uns zum besten haben, da Sie von den Leuten, die Sie meinem Bruder zugeschickt haben, so manches Gute sagten, wenn ich Ihre Briefe mit den Verdiensten dieser Menschen zusammenhielt.”
Die Bemerkung Aureliens, so wahr sie sein mochte und so gern ihr Freund diesen Mangel bei sich gestand, f¸hrte doch etwas Dr¸ckendes, ja sogar Beleidigendes mit sich, daï¬ er still ward und sich zusammennahm, teils um keine Empfindlichkeit merken zu lassen, teils in seinem Busen nach der Wahrheit dieses Vorwurfs zu forschen.
“Sie d¸rfen nicht dar¸ber betreten sein”, fuhr Aurelie fort, “zum Lichte des Verstandes kËnnen wir immer gelangen; aber die F¸lle des Herzens kann uns niemand geben. Sind Sie zum K¸nstler bestimmt, so kËnnen Sie diese Dunkelheit und Unschuld nicht lange genug bewahren; sie ist die schËne H¸lle ¸ber der jungen Knospe; Ungl¸cks genug, wenn wir zu fr¸h herausgetrieben werden. Gewiï¬, es ist gut, wenn wir die nicht immer kennen, f¸r die wir arbeiten.
Oh! ich war auch einmal in diesem gl¸cklichen Zustande, als ich mit dem hËchsten Begriff von mir selbst und meiner Nation die B¸hne betrat. Was waren die Deutschen nicht in meiner Einbildung, was konnten sie nicht sein! Zu dieser Nation sprach ich, ¸ber die mich ein kleines Ger¸st erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennte, deren Glanz und Dampf mich hinderte, die Gegenstâ°nde vor mir genau zu unterscheiden. Wie willkommen war mir der Klang des Beifalls, der aus der Menge herauftËnte; wie dankbar nahm ich das Geschenk an, das mir einstimmig von so vielen Hâ°nden dargebracht wurde! Lange wiegte ich mich so hin; wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf mich zur¸ck; ich war mit meinem Publikum in dem besten Vernehmen; ich glaubte eine vollkommene Harmonie zu f¸hlen und jederzeit die Edelsten und Besten der Nation vor mir zu sehen.
Ungl¸cklicherweise war es nicht die Schauspielerin allein, deren Naturell und Kunst die Theaterfreunde interessierte, sie machten auch Anspr¸che an das junge, lebhafte Mâ°dchen. Sie gaben mir nicht undeutlich zu verstehen, daï¬ meine Pflicht sei, die Empfindungen, die ich in ihnen rege gemacht, auch persËnlich mit ihnen zu teilen. Leider war das nicht meine Sache; ich w¸nschte ihre Gem¸ter zu erheben, aber an das, was sie ihr Herz nannten, hatte ich nicht den mindesten Anspruch; und nun wurden mir alle Stâ°nde, Alter und Charaktere einer um den andern zur Last, und nichts war mir verdrieï¬licher, als daï¬ ich mich nicht wie ein anderes ehrliches Mâ°dchen in mein Zimmer verschlieï¬en und so mir manche M¸he ersparen konnte.
Die Mâ°nner zeigten sich meist, wie ich sie bei meiner Tante zu sehen gewohnt war, und sie w¸rden mir auch diesmal nur wieder Abscheu erregt haben, wenn mich nicht ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhalten hâ°tten. Da ich nicht vermeiden konnte, sie bald auf dem Theater, bald an Ëffentlichen Orten, bald zu Hause zu sehen, nahm ich mir vor, sie alle auszulauern, und mein Bruder half mir wacker dazu. Und wenn Sie denken, daï¬ vom beweglichen Ladendiener und dem eingebildeten Kaufmannssohn bis zum gewandten, abwiegenden Weltmann, dem k¸hnen Soldaten und dem raschen Prinzen alle nach und nach bei mir vorbeigegangen sind und jeder nach seiner Art seinen Roman anzukn¸pfen gedachte, so werden Sie mir verzeihen, wenn ich mir einbildete, mit meiner Nation ziemlich bekannt zu sein.
Den phantastisch aufgestutzten Studenten, den dem¸tig-stolz verlegenen Gelehrten, den schwankf¸ï¬igen, gen¸gsamen Domherrn, den steifen, aufmerksamen Geschâ°ftsmann, den derben Landbaron, den freundlich glatt-platten Hofmann, den jungen, aus der Bahn schreitenden Geistlichen, den gelassenen sowie den schnellen und tâ°tig spekulierenden Kaufmann, alle habe ich in Bewegung gesehen, und beim Himmel! wenige fanden sich darunter, die mir nur ein gemeines Interesse einzuflËï¬en imstande gewesen wâ°ren; vielmehr war es mir â°uï¬erst verdrieï¬lich, den Beifall der Toren im einzelnen mit Beschwerlichkeit und Langerweile einzukassieren, der mir im ganzen so wohl behagt hatte, den ich mir im groï¬en so gerne zueignete.
Wenn ich ¸ber mein Spiel ein vern¸nftiges Kompliment erwartete, wenn ich hoffte, sie sollten einen Autor loben, den ich hochschâ°tzte, so machten sie eine alberne Anmerkung ¸ber die andere und nannten ein abgeschmacktes St¸ck, in welchem sie w¸nschten mich spielen zu sehen. Wenn ich in der Gesellschaft herumhorchte, ob nicht etwa ein edler, geistreicher, witziger Zug nachklâ°nge und zur rechten Zeit wieder zum Vorschein kâ°me, konnte ich selten eine Spur vernehmen. Ein Fehler, der vorgekommen war, wenn ein Schauspieler sich versprach oder irgendeinen Provinzialism hËren lieï¬, das waren die wichtigen Punkte, an denen sie sich festhielten, von denen sie nicht loskommen konnten. Ich wuï¬te zuletzt nicht, wohin ich mich wenden sollte; sie d¸nkten sich zu klug, sich unterhalten zu lassen, und sie glaubten mich wundersam zu unterhalten, wenn sie an mir herumtâ°tschelten. Ich fing an, sie alle von Herzen zu verachten, und es war mir eben, als wenn die ganze Nation sich recht vorsâ°tzlich bei mir durch ihre Abgesandten habe prostituieren wollen. Sie kam mir im ganzen so linkisch vor, so ¸bel erzogen, so schlecht unterrichtet, so leer von gefâ°lligem Wesen, so geschmacklos. Oft rief ich aus: “Es kann doch kein Deutscher einen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat!”
Sie sehen, wie verblendet, wie hypochondrisch ungerecht ich war, und je lâ°nger es wâ°hrte, desto mehr nahm meine Krankheit zu. Ich hâ°tte mich umbringen kËnnen; allein ich verfiel auf ein ander Extrem: ich verheiratete mich, oder vielmehr ich lieï¬ mich verheiraten. Mein Bruder, der das Theater ¸bernommen hatte, w¸nschte sehr, einen Geh¸lfen zu haben. Seine Wahl fiel auf einen jungen Mann, der mir nicht zuwider war, dem alles mangelte, was mein Bruder besaï¬: Genie, Leben, Geist und rasches Wesen; an dem sich aber auch alles fand, was jenem abging: Liebe zur Ordnung, Fleiï¬, eine kËstliche Gabe, hauszuhalten und mit Gelde umzugehen.
Er ist mein Mann geworden, ohne daï¬ ich weiï¬, wie; wir haben zusammen gelebt, ohne daï¬ ich recht weiï¬, warum. Genug, unsre Sachen gingen gut. Wir nahmen viel ein, davon war die Tâ°tigkeit meines Bruders Ursache; wir kamen gut aus, und das war das Verdienst meines Mannes. Ich dachte nicht mehr an Welt und Nation. Mit der Welt hatte ich nichts zu teilen, und den Begriff von Nation hatte ich verloren. Wenn ich auftrat, tat ich’s, um zu leben; ich Ëffnete den Mund nur, weil ich nicht schweigen durfte, weil ich doch herausgekommen war, um zu reden.
Doch, daï¬ ich es nicht zu arg mache, eigentlich hatte ich mich ganz in die Absicht meines Bruders ergeben; ihm war um Beifall und Geld zu tun: denn, unter uns, er hËrt sich gerne loben und braucht viel. Ich spielte nun nicht mehr nach meinem Gef¸hl, nach meiner ¸berzeugung, sondern wie er mich anwies, und wenn ich es ihm zu Danke gemacht hatte, war ich zufrieden. Er richtete sich nach allen Schwâ°chen des Publikums; es ging Geld ein, er konnte nach seiner Willk¸r leben, und wir hatten gute Tage mit ihm.
Ich war indessen in einen handwerksmâ°ï¬igen Schlendrian gefallen. Ich zog meine Tage ohne Freude und Anteil hin, meine Ehe war kinderlos und dauerte nur kurze Zeit. Mein Mann ward krank, seine Krâ°fte nahmen sichtbar ab, die Sorge f¸r ihn unterbrach meine allgemeine Gleichg¸ltigkeit. In diesen Tagen machte ich eine Bekanntschaft, mit der ein neues Leben f¸r mich anfing, ein neues und schnelleres, denn es wird bald zu Ende sein.”
Sie schwieg eine Zeitlang stille, dann fuhr sie fort: “Auf einmal stockt meine geschwâ°tzige Laune, und ich getraue mir den Mund nicht weiter aufzutun. Lassen Sie mich ein wenig ausruhen; Sie sollen nicht weggehen, ohne ausf¸hrlich all mein Ungl¸ck zu wissen. Rufen Sie doch indessen Mignon herein und hËren, was sie will.”
Das Kind war wâ°hrend Aureliens Erzâ°hlung einigemal im Zimmer gewesen. Da man bei seinem Eintritt leiser sprach, war es wieder weggeschlichen, saï¬ auf dem Saale still und wartete. Als man sie wieder hereinkommen hieï¬, brachte sie ein Buch mit, das man bald an Form und Einband f¸r einen kleinen geographischen Atlas erkannte. Sie hatte bei dem Pfarrer unterwegs mit groï¬er Verwunderung die ersten Landkarten gesehen, ihn viel dar¸ber gefragt und sich, soweit es gehen wollte, unterrichtet. Ihr Verlangen, etwas zu lernen, schien durch diese neue Kenntnis noch viel lebhafter zu werden. Sie bat Wilhelmen instâ°ndig, ihr das Buch zu kaufen. Sie habe dem Bildermann ihre groï¬en silbernen Schnallen daf¸r eingesetzt und wolle sie, weil es heute abend so spâ°t geworden, morgen fr¸h wieder einlËsen. Es ward ihr bewilligt, und sie fing nun an, dasjenige, was sie wuï¬te, teils herzusagen, teils nach ihrer Art die wunderlichsten Fragen zu tun. Man konnte auch hier wieder bemerken, daï¬ bei einer groï¬en Anstrengung sie nur schwer und m¸hsam begriff. So war auch ihre Handschrift, mit der sie sich viele M¸he gab. Sie sprach noch immer sehr gebrochen Deutsch, und nur wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither r¸hrte, schien sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschlieï¬en und mitteilen konnte.
Wir m¸ssen, da wir gegenwâ°rtig von ihr sprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in die sie seit einiger Zeit unsern Freund Ëfters versetzte. Wenn sie kam oder ging, guten Morgen oder gute Nacht sagte, schloï¬ sie ihn so fest in ihre Arme und k¸ï¬te ihn mit solcher Inbrunst, daï¬ ihm die Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur oft angst und bange machte. Die zuckende Lebhaftigkeit schien sich in ihrem Betragen tâ°glich zu vermehren, und ihr ganzes Wesen bewegte sich in einer rastlosen Stille. Sie konnte nicht sein, ohne einen Bindfaden in den Hâ°nden zu drehen, ein Tuch zu kneten, Papier oder HËlzchen zu kauen. Jedes ihrer Spiele schien nur eine innere heftige Ersch¸tterung abzuleiten. Das einzige, was ihr einige Heiterkeit zu geben schien, war die Nâ°he des kleinen Felix, mit dem sie sich sehr artig abzugeben wuï¬te.
Aurelie, die nach einiger Ruhe gestimmt war, sich mit ihrem Freunde ¸ber einen Gegenstand, der ihr so sehr am Herzen lag, endlich zu erklâ°ren, ward ¸ber die Beharrlichkeit der Kleinen diesmal ungeduldig und gab ihr zu verstehen, daï¬ sie sich wegbegeben sollte, und man muï¬te sie endlich, da alles nicht helfen wollte, ausdr¸cklich und wider ihren Willen fortschicken.
“Jetzt oder niemals”, sagte Aurelie, “muï¬ ich Ihnen den Rest meiner Geschichte erzâ°hlen. Wâ°re mein zâ°rtlich geliebter, ungerechter Freund nur wenige Meilen von hier, ich w¸rde sagen: “Setzen Sie sich zu Pferde, suchen Sie auf irgendeine Weise Bekanntschaft mit ihm, und wenn Sie zur¸ckkehren, so haben Sie mit gewiï¬ verziehen und bedauern mich von Herzen.” Jetzt kann ich Ihnen nur mit Worten sagen, wie liebensw¸rdig er war und wie sehr ich ihn liebte.
Eben zu der kritischen Zeit, da ich f¸r die Tage meines Mannes besorgt sein muï¬te, lernt ich ihn kennen. Er war eben aus Amerika zur¸ckgekommen, wo er in Gesellschaft einiger Franzosen mit vieler Distinktion unter den Fahnen der Vereinigten Staaten gedient hatte.
Er begegnete mir mit einem gelaï¬nen Anstande, mit einer offnen Gutm¸tigkeit, sprach ¸ber mich selbst, meine Lage, mein Spiel wie ein alter Bekannter, so teilnehmend und so deutlich, daï¬ ich mich zum erstenmal freuen konnte, meine Existenz in einem andern Wesen so klar wiederzuerkennen. Seine Urteile waren richtig, ohne absprechend, treffend, ohne lieblos zu sein. Er zeigte keine Hâ°rte, und sein Mutwille war zugleich gefâ°llig. Er schien des guten Gl¸cks bei Frauen gewohnt zu sein, das machte mich aufmerksam; er war keinesweges schmeichelnd und andringend, das machte mich sorglos.
In der Stadt ging er mit wenigen um, war meist zu Pferde, besuchte seine vielen Bekannten in der Gegend und besorgte die Geschâ°fte seines Hauses. Kam er zur¸ck, so stieg er bei mir ab, behandelte meinen immer krâ°nkern Mann mit warmer Sorge, schaffte dem Leidenden durch einen geschickten Arzt Linderung, und wie er an allem, was mich betraf, teilnahm, lieï¬ er mich auch an seinem Schicksale teilnehmen. Er erzâ°hlte mir die Geschichte seiner Kampagne, seiner un¸berwindlichen Neigung zum Soldatenstande, seine Familienverhâ°ltnisse; er vertraute mir seine gegenwâ°rtigen Beschâ°ftigungen. Genug, er hatte nichts Geheimes vor mir; er entwickelte mir sein Innerstes, lieï¬ mich in die verborgensten Winkel seiner Seele sehen; ich lernte seine Fâ°higkeiten, seine Leidenschaften kennen. Es war das erste Mal in meinem Leben, daï¬ ich eines herzlichen, geistreichen Umgangs genoï¬. Ich war von ihm angezogen, von ihm hingerissen, eh ich ¸ber mich selbst Betrachtungen anstellen konnte.
Inzwischen verlor ich meinen Mann, ungefâ°hr wie ich ihn genommen hatte. Die Last der theatralischen Geschâ°fte fiel nun ganz auf mich. Mein Bruder, unverbesserlich auf dem Theater, war in der Haushaltung niemals n¸tze; ich besorgte alles und studierte dabei meine Rollen fleiï¬iger als jemals. Ich spielte wieder wie vor alters, ja mit ganz anderer Kraft und neuem Leben, zwar durch ihn und um seinetwillen, doch nicht immer gelang es mir zum besten, wenn ich meinen edlen Freund im Schauspiel wuï¬te; aber einigemal behorchte er mich, und wie angenehm mich sein unvermuteter Beifall ¸berraschte, kËnnen Sie denken.
Gewiï¬, ich bin ein seltsames GeschËpf. Bei jeder Rolle, die ich spielte, war es mir eigentlich nur immer zumute, als wenn ich ihn lobte und zu seinen Ehren sprâ°che; denn das war die Stimmung meines Herzens, die Worte mochten ¸brigens sein, wie sie wollten. Wuï¬t ich ihn unter den ZuhËrern, so getraute ich mich nicht, mit der ganzen Gewalt zu sprechen, eben als wenn ich ihm meine Liebe, mein Lob nicht geradezu ins Gesicht aufdringen wollte; war er abwesend, dann hatte ich freies Spiel, ich tat mein Bestes mit einer gewissen Ruhe, mit einer unbeschreiblichen Zufriedenheit. Der Beifall freute mich wieder, und wenn ich dem Publikum Vergn¸gen machte, hâ°tte ich immer zugleich hinunterrufen mËgen: “Das seid ihr ihm schuldig!”
Ja, mir war wie durch ein Wunder das Verhâ°ltnis zum Publikum, zur ganzen Nation verâ°ndert. Sie erschien mir auf einmal wieder in dem vorteilhaftesten Lichte, und ich erstaunte recht ¸ber meine bisherige Verblendung.
“Wie unverstâ°ndig”, sagt ich oft zu mir selbst, “war es, als du ehemals auf eine Nation schaltest, eben weil es eine Nation ist. M¸ssen denn, kËnnen denn einzelne Menschen so interessant sein? Keinesweges! Es fragt sich, ob unter der groï¬en Masse eine Menge von Anlagen, Krâ°ften und Fâ°higkeiten verteilt sei, die durch g¸nstige Umstâ°nde entwickelt, durch vorz¸gliche Menschen zu einem gemeinsamen Endzwecke geleitet werden kËnnen.” Ich freute mich nun, so wenig hervorstechende Originalitâ°t unter meinen Landsleuten zu finden; ich freute mich, daï¬ sie eine Richtung von auï¬en anzunehmen nicht verschmâ°hten; ich freute mich, einen Anf¸hrer gefunden zu haben.
Lothar–lassen Sie mich meinen Freund mit seinem geliebten Vornamen nennen–hatte mir immer die Deutschen von der Seite der Tapferkeit vorgestellt und mir gezeigt, daï¬ keine bravere Nation in der Welt sei, wenn sie recht gef¸hrt werde, und ich schâ°mte mich, an die erste Eigenschaft eines Volks niemals gedacht zu haben. Ihm war die Geschichte bekannt, und mit den meisten verdienstvollen Mâ°nnern seines Zeitalters stand er in Verhâ°ltnissen. So jung er war, hatte er ein Auge auf die hervorkeimende hoffnungsvolle Jugend seines Vaterlandes, auf die stillen Arbeiten in so vielen Fâ°chern beschâ°ftigter und tâ°tiger Mâ°nner. Er lieï¬ mich einen ¸berblick ¸ber Deutschland tun, was es sei und was es sein kËnne, und ich schâ°mte mich, eine Nation nach der verworrenen Menge beurteilt zu haben, die sich in eine Theatergarderobe drâ°ngen mag. Er machte mir’s zur Pflicht, auch in meinem Fache wahr, geistreich und belebend zu sein. Nun schien ich mir selbst inspiriert, sooft ich auf das Theater trat. Mittelmâ°ï¬ige Stellen wurden zu Gold in meinem Munde, und hâ°tte mir damals ein Dichter zweckmâ°ï¬ig beigestanden, ich hâ°tte die wunderbarsten Wirkungen hervorgebracht.
So lebte die junge Witwe monatelang fort. Er konnte mich nicht entbehren, und ich war hËchst ungl¸cklich, wenn er auï¬enblieb. Er zeigte mir die Briefe seiner Verwandten, seiner vortrefflichen Schwester. Er nahm an den kleinsten Umstâ°nden meiner Verhâ°ltnisse teil; inniger, vollkommener ist keine Einigkeit zu denken. Der Name der Liebe ward nicht genannt. Er ging und kam, kam und ging–und nun, mein Freund, ist es hohe Zeit, daï¬ Sie auch gehen.”
IV. Buch, 17. Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Wilhelm konnte nun nicht lâ°nger den Besuch bei seinen Handelsfreunden aufschieben. Er ging nicht ohne Verlegenheit dahin; denn er wuï¬te, daï¬ er Briefe von den Seinigen daselbst antreffen werde. Er f¸rchtete sich vor den Vorw¸rfen, die sie enthalten muï¬ten; wahrscheinlich hatte man auch dem Handelshause Nachricht von der Verlegenheit gegeben, in der man sich seinetwegen befand. Er scheute sich nach so vielen ritterlichen Abenteuern vor dem sch¸lerhaften Ansehen, in dem er erscheinen w¸rde, und nahm sich vor, recht trotzig zu tun und auf diese Weise seine Verlegenheit zu verbergen.
Allein zu seiner groï¬en Verwunderung und Zufriedenheit ging alles sehr gut und leidlich ab. In dem groï¬en, lebhaften und beschâ°ftigten Comptoir hatte man kaum Zeit, seine Briefe aufzusuchen; seines lâ°ngern Auï¬enbleibens ward nur im Vorbeigehn gedacht. Und als er die Briefe seines Vaters und seines Freundes Werner erËffnete, fand er sie sâ°mtlich sehr leidlichen Inhalts. Der Alte, in Hoffnung eines weitlâ°ufigen Journals, dessen F¸hrung er dem Sohne beim Abschiede sorgfâ°ltig empfohlen und wozu er ihm ein tabellarisches Schema mitgegeben, schien ¸ber das Stillschweigen der ersten Zeit ziemlich beruhigt, so wie er sich nur ¸ber das Râ°tselhafte des ersten und einzigen, vom Schlosse des Grafen noch abgesandten Briefes beschwerte. Werner scherzte nur auf seine Art, erzâ°hlte lustige Stadtgeschichten und bat sich Nachricht von Freunden und Bekannten aus, die Wilhelm nunmehr in der groï¬en Handelsstadt hâ°ufig w¸rde kennenlernen. Unser Freund, der auï¬erordentlich erfreut war, um einen so wohlfeilen Preis loszukommen, antwortete sogleich in einigen sehr muntern Briefen und versprach dem Vater ein ausf¸hrliches Reisejournal mit allen verlangten geographischen, statistischen und merkantilischen Bemerkungen. Er hatte vieles auf der Reise gesehen und hoffte, daraus ein leidliches Heft zusammenschreiben zu kËnnen. Er merkte nicht, daï¬ er beinah in ebendem Falle war, in dem er sich befand, als er, um ein Schauspiel, das weder geschrieben, noch weniger memoriert war, aufzuf¸hren, Lichter angez¸ndet und Zuschauer herbeigerufen hatte. Als er daher wirklich anfing, an seine Komposition zu gehen, ward er leider gewahr, daï¬ er von Empfindungen und Gedanken, von manchen Erfahrungen des Herzens und Geistes sprechen und erzâ°hlen konnte, nur nicht von â°uï¬ern Gegenstâ°nden, denen er, wie er nun merkte, nicht die mindeste Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
In dieser Verlegenheit kamen die Kenntnisse seines Freundes Laertes ihm gut zustatten. Die Gewohnheit hatte beide jungen Leute, so unâ°hnlich sie sich waren, zusammen verbunden, und jener war, bei allen seinen Fehlern, mit seinen Sonderbarkeiten wirklich ein interessanter Mensch. Mit einer heitern, gl¸cklichen Sinnlichkeit begabt, hâ°tte er alt werden kËnnen, ohne ¸ber seinen Zustand irgend nachzudenken. Nun hatte ihm aber sein Ungl¸ck und seine Krankheit das reine Gef¸hl der Jugend geraubt und ihm dagegen einen Blick auf die Vergâ°nglichkeit, auf das Zerst¸ckelte unsers Daseins erËffnet. Daraus war eine launichte, rhapsodische Art, ¸ber die Gegenstâ°nde zu denken oder vielmehr ihre unmittelbaren Eindr¸cke zu â°uï¬ern, entstanden. Er war nicht gern allein, trieb sich auf allen Kaffeehâ°usern, an allen Wirtstischen herum, und wenn er ja zu Hause blieb, waren Reisebeschreibungen seine liebste, ja seine einzige Lekt¸re. Diese konnte er nun, da er eine groï¬e Leihbibliothek fand, nach Wunsch befriedigen, und bald spukte die halbe Welt in seinem guten Gedâ°chtnisse.
Wie leicht konnte er daher seinem Freunde Mut einsprechen, als dieser ihm den vËlligen Mangel an Vorrat zu der von ihm so feierlich versprochenen Relation entdeckte. “Da wollen wir ein Kunstst¸ck machen”, sagte jener, “das seinesgleichen nicht haben soll.
Ist nicht Deutschland von einem Ende zum andern durchreist, durchkreuzt, durchzogen, durchkrochen und durchflogen? Und hat nicht jeder deutsche Reisende den herrlichen Vorteil, sich seine groï¬en oder kleinen Ausgaben vom Publikum wiedererstatten zu lassen? Gib mir nur deine Reiseroute, ehe du zu uns kamst: das andere weiï¬ ich. Die Quellen und H¸lfsmittel zu deinem Werke will ich dir aufsuchen; an Quadratmeilen, die nicht gemessen sind, und an Volksmenge, die nicht gezâ°hlt ist, m¸ssen wir’s nicht fehlen lassen. Die Eink¸nfte der Lâ°nder nehmen wir aus Taschenb¸chern und Tabellen, die, wie bekannt, die zuverlâ°ssigsten Dokumente sind. Darauf gr¸nden wir unsre politischen Raisonnements; an Seitenblicken auf die Regierungen soll’s nicht fehlen. Ein paar F¸rsten beschreiben wir als wahre Vâ°ter des Vaterlandes, damit man uns desto eher glaubt, wenn wir einigen andern etwas anhâ°ngen; und wenn wir nicht geradezu durch den Wohnort einiger ber¸hmten Leute durchreisen, so begegnen wir ihnen in einem Wirtshause, lassen sie uns im Vertrauen das albernste Zeug sagen. Besonders vergessen wir nicht, eine Liebesgeschichte mit irgendeinem naiven Mâ°dchen auf das anmutigste einzuflechten, und es soll ein Werk geben, das nicht allein Vater und Mutter mit Entz¸cken erf¸llen soll, sondern das dir auch jeder Buchhâ°ndler mit Vergn¸gen bezahlt.”
Man schritt zum Werke, und beide Freunde hatten viel Lust an ihrer Arbeit, indes Wilhelm abends im Schauspiel und in dem Umgange mit Serlo und Aurelien die grËï¬te Zufriedenheit fand und seine Ideen, die nur zu lange sich in einem engen Kreise herumgedreht hatten, tâ°glich weiter ausbreitete.
IV. Buch, 18. Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Nicht ohne das grËï¬te Interesse vernahm er st¸ckweise den Lebenslauf Serlos: denn es war nicht die Art dieses seltnen Mannes, vertraulich zu sein und ¸ber irgend etwas im Zusammenhange zu sprechen. Er war, man darf sagen, auf dem Theater geboren und gesâ°ugt. Schon als stummes Kind muï¬te er durch seine bloï¬e Gegenwart die Zuschauer r¸hren, weil auch schon damals die Verfasser diese nat¸rlichen und unschuldigen H¸lfsmittel kannten, und sein erstes “Vater” und “Mutter” brachte in beliebten St¸cken ihm schon den grËï¬ten Beifall zuwege, ehe er wuï¬te, was das Hâ°ndeklatschen bedeute. Als Amor kam er zitternd mehr als einmal im Flugwerke herunter, entwickelte sich als Harlekin aus dem Ei und machte als kleiner Essenkehrer schon fr¸h die artigsten Streiche.
Leider muï¬te er den Beifall, den er an glâ°nzenden Abenden erhielt, in den Zwischenzeiten sehr teuer bezahlen. Sein Vater, ¸berzeugt, daï¬ nur durch Schlâ°ge die Aufmerksamkeit der Kinder erregt und festgehalten werden kËnne, pr¸gelte ihn beim Einstudieren einer jeden Rolle zu abgemessenen Zeiten; nicht, weil das Kind ungeschickt war, sondern damit es sich desto gewisser und anhaltender geschickt zeigen mËge. So gab man ehemals, indem ein Grenzstein gesetzt wurde, den umstehenden Kindern t¸chtige Ohrfeigen, und die â°ltesten Leute erinnern sich noch genau des Ortes und der Stelle. Er wuchs heran und zeigte auï¬erordentliche Fâ°higkeiten des Geistes und Fertigkeiten des KËrpers und dabei eine groï¬e Biegsamkeit sowohl in seiner Vorstellungsart als in Handlungen und Gebâ°rden. Seine Nachahmungsgabe ¸berstieg allen Glauben. Schon als Knabe ahmte er Personen nach, so daï¬ man sie zu sehen glaubte, ob sie ihm schon an Gestalt, Alter und Wesen vËllig unâ°hnlich und untereinander verschieden waren. Dabei fehlte es ihm nicht an der Gabe, sich in die Welt zu schicken, und sobald er sich einigermaï¬en seiner Krâ°fte bewuï¬t war, fand er nichts nat¸rlicher, als seinem Vater zu entfliehen, der, wie die Vernunft des Knaben zunahm und seine Geschicklichkeit sich vermehrte, ihnen noch durch harte Begegnung nachzuhelfen f¸r nËtig fand.
Wie gl¸cklich f¸hlte sich der lose Knabe nun in der freien Welt, da ihm seine Eulenspiegelspossen ¸berall eine gute Aufnahme verschafften. Sein guter Stern f¸hrte ihn zuerst in der Fastnachtszeit in ein Kloster, wo er, weil eben der Pater, der die Umgâ°nge zu besorgen und durch geistliche Maskeraden die christliche Gemeinde zu ergËtzen hatte, gestorben war, als ein h¸lfreicher Schutzengel auftrat. Auch ¸bernahm er sogleich die Rolle Gabriels in der Verk¸ndigung und miï¬fiel dem h¸bschen Mâ°dchen nicht, die als Maria seinen obligeanten Gruï¬ mit â°uï¬erlicher Demut und innerlichem Stolze sehr zierlich aufnahm. Er spielte darauf sukzessive in den Mysterien die wichtigsten Rollen und wuï¬te sich nicht wenig, da er endlich gar als Heiland der Welt verspottet, geschlagen und ans Kreuz geheftet wurde.
Einige Kriegsknechte mochten bei dieser Gelegenheit ihre Rollen gar zu nat¸rlich spielen; daher er sie, um sich auf die schicklichste Weise an ihnen zu râ°chen, bei Gelegenheit des j¸ngsten Gerichts in die prâ°chtigsten Kleider von Kaisern und KËnigen steckte und ihnen in dem Augenblicke, da sie, mit ihren Rollen sehr wohl zufrieden, auch in dem Himmel allen andern vorauszugehen den Schritt nahmen, unvermutet in Teufelsgestalt begegnete und sie mit der Ofengabel, zur herzlichsten Erbauung sâ°mtlicher Zuschauer und Bettler, weidlich durchdrosch und unbarmherzig zur¸ck in die Grube st¸rzte, wo sie sich von einem hervordringenden Feuer aufs ¸belste empfangen sahen.
Er war klug genug, einzusehen, daï¬ die gekrËnten Hâ°upter sein freches Unternehmen nicht wohl vermerken und selbst vor seinem privilegierten Anklâ°ger- und Schergenamte keinen Respekt haben w¸rden; er machte sich daher, noch ehe das Tausendjâ°hrige Reich anging, in aller Stille davon und ward in einer benachbarten Stadt von einer Gesellschaft, die man damals “Kinder der Freude” nannte, mit offnen Armen aufgenommen. Es waren verstâ°ndige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen, daï¬ die Summe unsrer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern daï¬ immer ein wunderlicher Bruch ¸brigbleibe. Diesen hinderlichen und, wenn er sich in die ganze Masse verteilt, gefâ°hrlichen Bruch suchten sie zu bestimmten Zeiten vorsâ°tzlich loszuwerden. Sie waren einen Tag der Woche recht ausf¸hrlich Narren und straften an demselben wechselseitig durch allegorische Vorstellungen, was sie wâ°hrend der ¸brigen Tage an sich und andern Nâ°rrisches bemerkt hatten. War diese Art gleich roher als eine Folge von Ausbildung, in welcher der sittliche Mensch sich tâ°glich zu bemerken, zu warnen und zu strafen pflegt, so war sie doch lustiger und sicherer: denn indem man einen gewissen Schoï¬narren nicht verleugnete, so traktierte man ihn auch nur f¸r das, was er war, anstatt daï¬ er auf dem andern Wege, durch H¸lfe des Selbstbetrugs, oft im Hause zur Herrschaft gelangt und die Vernunft zur heimlichen Knechtschaft zwingt, die sich einbildet, ihn lange verjagt zu haben. Die Narrenmaske ging in der Gesellschaft herum, und jedem war erlaubt, sie an seinem Tage mit eigenen oder fremden Attributen charakteristisch auszuzieren. In der Karnavalszeit nahm man sich die grËï¬te Freiheit und wetteiferte mit der Bem¸hung der Geistlichen, das Volk zu unterhalten und anzuziehen. Die feierlichen und allegorischen Aufz¸ge von Tugenden und Lastern, K¸nsten und Wissenschaften, Weltteilen und Jahrszeiten versinnlichten dem Volke eine Menge Begriffe und gaben ihm Ideen entfernter Gegenstâ°nde, und so waren diese Scherze nicht ohne Nutzen, da von einer andern Seite die geistlichen Mummereien nur einen abgeschmackten Aberglauben noch mehr befestigten.
Der junge Serlo war auch hier wieder ganz in seinem Elemente; eigentliche Erfindungskraft hatte er nicht, dagegen aber das grËï¬te Geschick, was er vor sich fand zu nutzen, zurechtzustellen und scheinbar zu machen. Seine Einfâ°lle, seine Nachahmungsgabe, ja sein beiï¬ender Witz, den er wenigstens einen Tag in der Woche vËllig frei, selbst gegen seine Wohltâ°ter, ¸ben durfte, machte ihn der ganzen Gesellschaft wert, ja unentbehrlich.
Doch trieb ihn seine Unruhe bald aus dieser vorteilhaften Lage in andere Gegenden seines Vaterlandes, wo er wieder eine neue Schule durchzugehen hatte. Er kam in den gebildeten, aber auch bildlosen Teil von Deutschland, wo es zur Verehrung des Guten und SchËnen zwar nicht an Wahrheit, aber oft an Geist gebricht; er konnte mit seinen Masken nichts mehr ausrichten; er muï¬te suchen, auf Herz und Gem¸t zu wirken. Nur kurze Zeit hielt er sich bei kleinen und groï¬en Gesellschaften auf und merkte bei dieser Gelegenheit sâ°mtlichen St¸cken und Schauspielern ihre Eigenheiten ab. Die Monotonie, die damals auf dem deutschen Theater herrschte, den albernen Fall und Klang der Alexandriner, den geschraubt-platten Dialog, die Trockenheit und Gemeinheit der unmittelbaren Sittenprediger hatte er bald gefaï¬t und zugleich bemerkt, was r¸hrte und gefiel.
Nicht eine Rolle der gangbaren St¸cke, sondern die ganzen St¸cke blieben leicht in seinem Gedâ°chtnis und zugleich der eigent¸mliche Ton des Schauspielers, der sie mit Beifall vorgetragen hatte. Nun kam er zufâ°lligerweise auf seinen Streifereien, da ihm das Geld vËllig ausgegangen war, zu dem Einfall, allein ganze St¸cke besonders auf EdelhËfen und in DËrfern vorzustellen und sich dadurch ¸berall sogleich Unterhalt und Nachtquartier zu verschaffen. In jeder Schenke, jedem Zimmer und Garten war sein Theater gleich aufgeschlagen; mit einem schelmischen Ernst und anscheinenden Enthusiasmus wuï¬te er die Einbildungskraft seiner Zuschauer zu gewinnen, ihre Sinne zu tâ°uschen und vor ihren offenen Augen einen alten Schrank zu einer Burg und einen Fâ°cher zum Dolche umzuschaffen. Seine Jugendwâ°rme ersetzte den Mangel eines tiefen Gef¸hls; seine Heftigkeit schien Stâ°rke und seine Schmeichelei Zâ°rtlichkeit. Diejenigen, die das Theater schon kannten, erinnerte er an alles, was sie gesehen und gehËrt hatten, und in den ¸brigen erregte er eine Ahnung von etwas Wunderbarem und den Wunsch, nâ°her damit bekannt zu werden. Was an einem Orte Wirkung tat, verfehlte er nicht am andern zu wiederholen und hatte die herzlichste Schadenfreude, wenn er alle Menschen auf gleiche Weise aus dem Stegreife zum besten haben konnte.
Bei seinem lebhaften, freien und durch nichts gehinderten Geist verbesserte er sich, indem er Rollen und St¸cke oft wiederholte, sehr geschwind. Bald rezitierte und spielte er dem Sinne gemâ°ï¬er als die Muster, die er anfangs nur nachgeahmt hatte. Auf diesem Wege kam er nach und nach dazu, nat¸rlich zu spielen und doch immer verstellt zu sein. Er schien hingerissen und lauerte auf den Effekt, und sein grËï¬ter Stolz war, die Menschen stufenweise in Bewegung zu setzen. Selbst das tolle Handwerk, das er trieb, nËtigte ihn bald, mit einer gewissen Mâ°ï¬igung zu verfahren, und so lernte er, teils gezwungen, teils aus Instinkt, das, wovon so wenig Schauspieler einen Begriff zu haben scheinen: mit Organ und Gebâ°rden Ëkonomisch zu sein.
So wuï¬te er selbst rohe und unfreundliche Menschen zu bâ°ndigen und f¸r sich zu interessieren. Da er ¸berall mit Nahrung und Obdach zufrieden war, jedes Geschenk dankbar annahm, das man ihm reichte, ja manchmal gar das Geld, wenn er dessen nach seiner Meinung genug hatte, ausschlug, so schickte man ihn mit Empfehlungsschreiben einander zu, und so wanderte er eine ganze Zeit von einem Edelhofe zum andern, wo er manches Vergn¸gen erregte, manches genoï¬ und nicht ohne die angenehmsten und artigsten Abenteuer blieb.
Bei der innerlichen Kâ°lte seines Gem¸tes liebte er eigentlich niemand; bei der Klarheit seines Blicks konnte er niemand achten, denn er sah nur immer die â°uï¬ern Eigenheiten der Menschen und trug sie in seine mimische Sammlung ein. Dabei aber war seine Selbstigkeit â°uï¬erst beleidigt, wenn er nicht jedem gefiel und wenn er nicht ¸berall Beifall erregte. Wie dieser zu erlangen sei, darauf hatte er nach und nach so genau achtgegeben und hatte seinen Sinn so geschâ°rft, daï¬ er nicht allein bei seinen Darstellungen, sondern auch im gemeinen Leben nicht mehr anders als schmeicheln konnte. Und so arbeitete seine Gem¸tsart, sein Talent und seine Lebensart dergestalt wechselsweise gegeneinander, daï¬ er sich unvermerkt zu einem vollkommnen Schauspieler ausgebildet sah. Ja, durch eine seltsam scheinende, aber ganz nat¸rliche Wirkung und Gegenwirkung stieg durch Einsicht und ¸bung seine Rezitation, Deklamation und sein Gebâ°rdenspiel zu einer hohen Stufe von Wahrheit, Freiheit und Offenheit, indem er im Leben und Umgang immer heimlicher, k¸nstlicher, ja verstellt und â°ngstlich zu werden schien.
Von seinen Schicksalen und Abenteuern sprechen wir vielleicht an einem andern Orte und bemerken hier nur soviel: daï¬ er in spâ°tern Zeiten, da er schon ein gemachter Mann, im Besitz von entschiedenem Namen und in einer sehr guten, obgleich nicht festen Lage war, sich angewËhnt hatte, im Gesprâ°ch auf eine feine Weise teils ironisch, teils spËttisch den Sophisten zu machen und dadurch fast jede ernsthafte Unterhaltung zu zerstËren. Besonders gebrauchte er diese Manier gegen Wilhelm, sobald dieser, wie es ihm oft begegnete, ein allgemeines theoretisches Gesprâ°ch anzukn¸pfen Lust hatte. Dessenungeachtet waren sie sehr gern beisammen, indem durch ihre beiderseitige Denkart die Unterhaltung lebhaft werden muï¬te. Wilhelm w¸nschte alles aus den Begriffen, die er gefaï¬t hatte, zu entwickeln und wollte die Kunst in einem Zusammenhange behandelt haben. Er wollte ausgesprochene Regeln festsetzen, bestimmen, was recht, schËn und gut sei und was Beifall verdiene; genug, er behandelte alles auf das ernstlichste. Serlo hingegen nahm die Sache sehr leicht, und indem er niemals direkt auf eine Frage antwortete, wuï¬te er durch eine Geschichte oder einen Schwank die artigste und vergn¸glichste Erlâ°uterung beizubringen und die Gesellschaft zu unterrichten, indem er sie erheiterte.
IV. Buch, 19. Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Indem nun Wilhelm auf diese Weise sehr angenehme Stunden zubrachte, befanden sich Melina und die ¸brigen in einer desto verdrieï¬lichern Lage. Sie erschienen unserm Freunde manchmal wie bËse Geister und machten ihm nicht bloï¬ durch ihre Gegenwart, sondern auch oft durch flâ°mische Gesichter und bittre Reden einen verdrieï¬lichen Augenblick. Serlo hatte sie nicht einmal zu Gastrollen gelassen, geschweige daï¬ er ihnen Hoffnung zum Engagement gemacht hâ°tte, und hatte dessenungeachtet nach und nach ihre sâ°mtlichen Fâ°higkeiten kennengelernt. Sooft sich Schauspieler bei ihm gesellig versammelten, hatte er die Gewohnheit, lesen zu lassen und manchmal selbst mitzulesen. Er nahm St¸cke vor, die noch gegeben werden sollten, die lange nicht gegeben waren, und zwar meistens nur teilweise. So lieï¬ er auch nach einer ersten Auff¸hrung Stellen, bei denen er etwas zu erinnern hatte, wiederholen, vermehrte dadurch die Einsicht der Schauspieler und verstâ°rkte ihre Sicherheit, den rechten Punkt zu treffen. Und wie ein geringer aber richtiger Verstand mehr als ein verworrenes und ungelâ°utertes Genie zur Zufriedenheit anderer wirken kann, so erhub er mittelmâ°ï¬ige Talente durch die deutliche Einsicht, die er ihnen unmerklich verschaffte, zu einer bewundernsw¸rdigen Fâ°higkeit. Nicht wenig trug dazu bei, daï¬ er auch Gedichte lesen lieï¬ und in ihnen das Gef¸hl jenes Reizes erhielt, den ein wohlvorgetragener Rhythmus in unsrer Seele erregt, anstatt daï¬ man bei andern Gesellschaften schon anfing, nur diejenige Prosa vorzutragen, wozu einem jeden der Schnabel gewachsen war.
Bei solchen Gelegenheiten hatte er auch die sâ°mtlichen angekommenen Schauspieler kennenlernen, das, was sie waren und was sie werden konnten, beurteilt und sich in der Stille vorgenommen, von ihren Talenten bei einer Revolution, die seiner Gesellschaft drohete, sogleich Vorteil zu ziehen. Er lieï¬ die Sache eine Weile auf sich beruhen, lehnte alle Interzessionen Wilhelms f¸r sie mit Achselzucken ab, bis er seine Zeit ersah und seinem jungen Freunde ganz unerwartet den Vorschlag tat: er solle doch selbst bei ihm aufs Theater gehen, und unter dieser Bedingung wolle er auch die ¸brigen engagieren.
“Die Leute m¸ssen also doch so unbrauchbar nicht sein, wie Sie mir solche bisher geschildert haben”, versetzte ihm Wilhelm, “wenn sie jetzt auf einmal zusammen angenommen werden kËnnen, und ich dâ°chte, ihre Talente m¸ï¬ten auch ohne mich dieselbigen bleiben.”
Serlo erËffnete ihm darauf unter dem Siegel der Verschwiegenheit seine Lage: wie sein erster Liebhaber Miene mache, ihn bei der Erneuerung des Kontrakts zu steigern, und wie er nicht gesinnt sei, ihm nachzugeben, besonders da die Gunst des Publikums gegen ihn so groï¬ nicht mehr sei. Lieï¬e er diesen gehen, so w¸rde sein ganzer Anhang ihm folgen, wodurch denn die Gesellschaft einige gute, aber auch einige mittelmâ°ï¬ige Glieder verlËre. Hierauf zeigte er Wilhelmen, was er dagegen an ihm, an Laertes, dem alten Polterer und selbst an Frau Melina zu gewinnen hoffe. Ja, er versprach, dem armen Pedanten als Juden, Minister und ¸berhaupt als BËsewicht einen entschiedenen Beifall zu verschaffen.
Wilhelm stutzte und vernahm den Vortrag nicht ohne Unruhe, und nur, um etwas zu sagen, versetzte er, nachdem er tief Atem geholt hatte: “Sie sprechen auf eine sehr freundliche Weise nur von dem Guten, was Sie an uns finden und von uns hoffen; wie sieht es denn aber mit den schwachen Seiten aus, die Ihrem Scharfsinne gewiï¬ nicht entgangen sind?”
“Die wollen wir bald durch Fleiï¬, ¸bung und Nachdenken zu starken Seiten machen”, versetzte Serlo. “Es ist unter euch allen, die ihr denn doch nur Naturalisten und Pfuscher seid, keiner, der nicht mehr oder weniger Hoffnung von sich gâ°be; denn soviel ich alle beurteilen kann, so ist kein einziger Stock darunter, und StËcke allein sind die Unverbesserlichen, sie mËgen nun aus Eigend¸nkel, Dummheit oder Hypochondrie ungelenk und unbiegsam sein.”
Serlo legte darauf mit wenigen Worten die Bedingungen dar, die er machen kËnne und wolle, bat Wilhelmen um schleunige Entscheidung und verlieï¬ ihn in nicht geringer Unruhe.
Bei der wunderlichen und gleichsam nur zum Scherz unternommenen Arbeit jener fingierten Reisebeschreibung, die er mit Laertes zusammensetzte, war er auf die Zustâ°nde und das tâ°gliche Leben der wirklichen Welt aufmerksamer geworden, als er sonst gewesen war. Er begriff jetzt selbst erst die Absicht des Vaters, als er ihm die F¸hrung des Journals so lebhaft empfohlen. Er f¸hlte zum ersten Male, wie angenehm und n¸tzlich es sein kËnne, sich zur Mittelsperson so vieler Gewerbe und Bed¸rfnisse zu machen und bis in die tiefsten Gebirge und Wâ°lder des festen Landes Leben und Tâ°tigkeit verbreiten zu helfen. Die lebhafte Handelsstadt, in der er sich befand, gab ihm bei der Unruhe des Laertes, der ihn ¸berall mit herumschleppte, den anschaulichsten Begriff eines groï¬en Mittelpunktes, woher alles ausflieï¬t und wohin alles zur¸ckkehrt, und es war das erste Mal, daï¬ sein Geist im Anschauen dieser Art von Tâ°tigkeit sich wirklich ergËtzte. In diesem Zustande hatte ihm Serlo den Antrag getan und seine W¸nsche, seine Neigung, sein Zutrauen auf ein angebornes Talent und seine Verpflichtung gegen die h¸lflose Gesellschaft wieder rege gemacht.
“Da steh ich nun”, sagte er zu sich selbst, “abermals am Scheidewege zwischen den beiden Frauen, die mir in meiner Jugend erschienen. Die eine sieht nicht mehr so k¸mmerlich aus wie damals, und die andere nicht so prâ°chtig. Der einen wie der andern zu folgen, f¸hlst du eine Art von innerm Beruf, und von beiden Seiten sind die â°uï¬ern Anlâ°sse stark genug; es scheint dir unmËglich, dich zu entscheiden; du w¸nschest, daï¬ irgendein ¸bergewicht von auï¬en deine Wahl bestimmen mËge, und doch, wenn du dich recht untersuchst, so sind es nur â°uï¬ere Umstâ°nde, die dir eine Neigung zu Gewerb, Erwerb und Besitz einflËï¬en, aber dein innerstes Bed¸rfnis erzeugt und nâ°hrt den Wunsch, die Anlagen, die in dir zum Guten und SchËnen ruhen mËgen, sie seien kËrperlich oder geistig, immer mehr zu entwickeln und auszubilden. Und muï¬ ich nicht das Schicksal verehren, das mich ohne mein Zutun hierher an das Ziel aller meiner W¸nsche f¸hrt? Geschieht nicht alles, was ich mir ehemals ausgedacht und vorgesetzt, nun zufâ°llig, ohne mein Mitwirken? Sonderbar genug! Der Mensch scheint mit nichts vertrauter zu sein als mit seinen Hoffnungen und W¸nschen, die er lange im Herzen nâ°hrt und bewahrt, und doch, wenn sie ihm nun begegnen, wenn sie sich ihm gleichsam aufdringen, erkennt er sie nicht und weicht vor ihnen zur¸ck. Alles, was ich mir vor jener ungl¸cklichen Nacht, die mich von Marianen entfernte, nur trâ°umen lieï¬, steht vor mir und bietet sich mir selbst an. Hierher wollte ich fl¸chten und bin sachte hergeleitet worden; bei Serlo wollte ich unterzukommen suchen, er sucht nun mich und bietet mir Bedingungen an, die ich als Anfâ°nger nie erwarten konnte. War es denn bloï¬ Liebe zu Marianen, die mich ans Theater fesselte? oder war es Liebe zur Kunst, die mich an das Mâ°dchen festkn¸pfte? War jene Aussicht, jener Ausweg nach der B¸hne bloï¬ einem unordentlichen, unruhigen Menschen willkommen, der ein Leben fortzusetzen w¸nschte, das ihm die Verhâ°ltnisse der b¸rgerlichen Welt nicht gestatteten, oder war es alles anders, reiner, w¸rdiger? Und was sollte dich bewegen kËnnen, deine damaligen Gesinnungen zu â°ndern? Hast du nicht vielmehr bisher selbst unwissend deinen Plan verfolgt? Ist nicht jetzt der letzte Schritt noch mehr zu billigen, da keine Nebenabsichten dabei im Spiele sind und da du zugleich ein feierlich gegebenes Wort halten und dich auf eine edle Weise von einer schweren Schuld befreien kannst?”
Alles, was in seinem Herzen und seiner Einbildungskraft sich bewegte, wechselte nun auf das lebhafteste gegeneinander ab. Daï¬ er seine Mignon behalten kËnne, daï¬ er den Harfner nicht zu verstoï¬en brauche, war kein kleines Gewicht auf der Waagschale, und doch schwankte sie noch hin und wider, als er seine Freundin Aurelie gewohnterweise zu besuchen ging.
IV. Buch, 20. Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Er fand sie auf ihrem Ruhebette; sie schien stille. “Glauben Sie noch, morgen spielen zu kËnnen?” fragte er. “O ja”, versetzte sie lebhaft; “Sie wissen, daran hindert mich nichts.–Wenn ich nur ein Mittel w¸ï¬te, den Beifall unsers Parterres von mir abzulehnen; sie meinen es gut und werden mich noch umbringen. Vorgestern dacht ich, das Herz m¸ï¬te mir reiï¬en! Sonst konnt ich es wohl leiden, wenn ich mir selbst gefiel; wenn ich lange studiert und mich vorbereitet hatte, dann freute ich mich, wenn das willkommene Zeichen, nun sei es gelungen, von allen Enden widertËnte. Jetzo sag ich nicht, was ich will, nicht, wie ich’s will; ich werde hingerissen; ich verwirre mich, und mein Spiel macht einen weit grËï¬ern Eindruck. Der Beifall wird lauter, und ich denke: W¸ï¬tet ihr, was euch entz¸ckt! Die dunkeln, heftigen, unbestimmten Anklâ°nge r¸hren euch, zwingen euch Bewundrung ab, und ihr f¸hlt nicht, daï¬ es die SchmerzenstËne der Ungl¸cklichen sind, der ihr euer Wohlwollen geschenkt habt.
Heute fr¸h hab ich gelernt, jetzt wiederholt und versucht. Ich bin m¸de, zerbrochen, und morgen geht es wieder von vorn an. Morgen abend soll gespielt werden. So schlepp ich mich hin und her; es ist mir langweilig aufzustehen und verdrieï¬lich, zu Bette zu gehen. Alles macht einen ewigen Zirkel in mir. Dann treten die leidigen TrËstungen vor mir auf, dann werf ich sie weg und verw¸nsche sie. Ich will mich nicht ergeben, nicht der Notwendigkeit ergeben–warum soll das notwendig sein, was mich zugrunde richtet? KËnnte es nicht auch anders sein? Ich muï¬ es eben bezahlen, daï¬ ich eine Deutsche bin; es ist der Charakter der Deutschen, daï¬ sie ¸ber allem schwer werden, daï¬ alles ¸ber ihnen schwer wird.”
“O meine Freundin”, fiel Wilhelm ein, “kËnnten Sie doch aufhËren, selbst den Dolch zu schâ°rfen, mit dem Sie sich unablâ°ssig verwunden! Bleibt Ihnen denn nichts? Ist denn Ihre Jugend, Ihre Gestalt, Ihre Gesundheit, sind Ihre Talente nichts? Wenn Sie ein Gut ohne Ihr Verschulden verloren haben, m¸ssen Sie denn alles ¸brige hinterdreinwerfen? Ist das auch notwendig?”
Sie schwieg einige Augenblicke, dann fuhr sie auf: “Ich weiï¬ es wohl, daï¬ es Zeitverderb ist, nichts als Zeitverderb ist die Liebe! Was hâ°tte ich nicht tun kËnnen! tun sollen! Nun ist alles rein zu nichts geworden. Ich bin ein armes verliebtes GeschËpf, nichts als verliebt! Haben Sie Mitleiden mit mir, bei Gott, ich bin ein armes GeschËpf!”
Sie versank in sich, und nach einer kurzen Pause rief sie heftig aus: “Ihr seid gewohnt, daï¬ sich euch alles an den Hals wirft. Nein, ihr kËnnt es nicht f¸hlen, kein Mann ist imstande, den Wert eines Weibes zu f¸hlen, das sich zu ehren weiï¬! Bei allen heiligen Engeln, bei allen Bildern der Seligkeit, die sich ein reines, gutm¸tiges Herz erschafft, es ist nichts Himmlischeres als ein weibliches Wesen, das sich dem geliebten Manne hingibt! Wir sind kalt, stolz, hoch, klar, klug, wenn wir verdienen, Weiber zu heiï¬en, und alle diese Vorz¸ge legen wir euch zu F¸ï¬en, sobald wir lieben, sobald wir hoffen, Gegenliebe zu erwerben. O wie hab ich mein ganzes Dasein so mit Wissen und Willen weggeworfen! Aber nun will ich auch verzweifeln, absichtlich verzweifeln. Es soll kein Blutstropfen in mir sein, der nicht gestraft wird, keine Faser, die ich nicht peinigen will. Lâ°cheln Sie nur, lachen Sie nur ¸ber den theatralischen Aufwand von Leidenschaft!”
Fern war von unserm Freunde jede Anwandlung des Lachens. Der entsetzliche, halb nat¸rliche, halb erzwungene Zustand seiner Freundin peinigte ihn nur zu sehr. Er empfand die Foltern der ungl¸cklichen Anspannung mit: sein Gehirn zerr¸ttete sich, und sein Blut war in einer fieberhaften Bewegung.
Sie war aufgestanden und ging in der Stube hin und wider. “Ich sage mir alles vor”, rief sie aus, “warum ich ihn nicht lieben sollte. Ich weiï¬ auch, daï¬ er es nicht wert ist; ich wende mein Gem¸t ab, dahin und dorthin, beschâ°ftige mich, wie es nur gehen will. Bald nehm ich eine Rolle vor, wenn ich sie auch nicht zu spielen habe; ich ¸be die alten, die ich durch und durch kenne, fleiï¬iger und fleiï¬iger ins einzelne und ¸be und ¸be–mein Freund, mein Vertrauter, welche entsetzliche Arbeit ist es, sich mit Gewalt von sich selbst zu entfernen! Mein Verstand leidet, mein Gehirn ist so angespannt; um mich vom Wahnsinne zu retten, ¸berlaï¬ ich mich wieder dem Gef¸hle, daï¬ ich ihn liebe.–Ja, ich liebe ihn, ich liebe ihn!” rief sie unter tausend Trâ°nen, “ich liebe ihn, und so will ich sterben.”
Er faï¬te sie bei der Hand und bat sie auf das anstâ°ndigste, sich nicht selbst aufzureiben. “Oh”, sagte er, “Wie sonderbar ist es, daï¬ dem Menschen nicht allein so manches UnmËgliche, sondern auch so manches MËgliche versagt ist. Sie waren nicht bestimmt, ein treues Herz zu finden, das Ihre ganze Gl¸ckseligkeit w¸rde gemacht haben. Ich war dazu bestimmt, das ganze Heil meines Lebens an eine Ungl¸ckliche festzukn¸pfen, die ich durch die Schwere meiner Treue wie ein Rohr zu Boden zog, ja vielleicht gar zerbrach.”
Er hatte Aurelien seine Geschichte mit Marianen vertraut und konnte sich also jetzt darauf beziehen. Sie sah ihm starr in die Augen und fragte: “KËnnen Sie sagen, daï¬ Sie noch niemals ein Weib betrogen, daï¬ Sie keiner mit leichtsinniger Galanterie, mit frevelhafter Beteurung, mit herzlockenden Schw¸ren ihre Gunst abzuschmeicheln gesucht?”
“Das kann ich”, versetzte Wilhelm, “und zwar ohne Ruhmredigkeit: denn mein Leben war sehr einfach, und ich bin selten in die Versuchung geraten zu versuchen. Und welche Warnung, meine schËne, meine edle Freundin, ist mir der traurige Zustand, in den ich Sie versetzt sehe! Nehmen Sie ein Gel¸bde von mir, das meinem Herzen ganz angemessen ist, das durch die R¸hrung, die Sie mir einflËï¬ten, sich bei mir zur Sprache und Form bestimmt und durch diesen Augenblick geheiligt wird: jeder fl¸chtigen Neigung will ich widerstehen und selbst die ernstlichsten in meinem Busen bewahren; kein weibliches GeschËpf soll ein Bekenntnis der Liebe von meinen Lippen vernehmen, dem ich nicht mein ganzes Leben widmen kann!”
Sie sah ihn mit einer wilden Gleichg¸ltigkeit an und entfernte sich, als er ihr die Hand reichte, um einige Schritte. “Es ist nichts daran gelegen!” rief sie, “so viel Weibertrâ°nen mehr oder weniger, die See wird darum doch nicht wachsen. Doch”, fuhr sie fort, “unter Tausenden eine gerettet, das ist doch etwas, unter Tausenden einen Redlichen gefunden, das ist anzunehmen! Wissen Sie auch, was Sie versprechen?”
“Ich weiï¬ es”, versetzte Wilhelm lâ°chelnd und hielt seine Hand hin.
“Ich nehm es an”, versetzte sie und machte eine Bewegung mit ihrer Rechten, so daï¬ er glaubte, sie w¸rde die seine fassen; aber schnell fuhr sie in die Tasche, riï¬ den Dolch blitzgeschwind heraus und fuhr mit Spitze und Schneide ihm rasch ¸ber die Hand weg. Er zog sie schnell zur¸ck, aber schon lief das Blut herunter.
“Man muï¬ euch Mâ°nner scharf zeichnen, wenn ihr merken sollt!” rief sie mit einer wilden Heiterkeit aus, die bald in eine hastige Geschâ°ftigkeit ¸berging. Sie nahm ihr Schnupftuch und umwickelte seine Hand damit, um das erste hervordringende Blut zu stillen. “Verzeihen Sie einer Halbwahnsinnigen”, rief sie aus, “und lassen Sie sich diese Tropfen Bluts nicht reuen. Ich bin versËhnt, ich bin wieder bei mir selber. Auf meinen Knien will ich Abbitte tun, lassen Sie mir den Trost, Sie zu heilen.”
Sie eilte nach ihrem Schranke, holte Leinwand und einiges Gerâ°t, stillte das Blut und besah die Wunde sorgfâ°ltig. Der Schnitt ging durch den Ballen gerade unter dem Daumen, teilte die Lebenslinie und lief gegen den kleinen Finger aus. Sie verband ihn still und mit einer nachdenklichen Bedeutsamkeit in sich gekehrt. Er fragte einigemal: “Beste, wie konnten Sie Ihren Freund verletzen?”
“Still”, erwiderte sie, indem sie den Finger auf den Mund legte, “still!”