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Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 4
Johann Wolfgang von Goethe
Viertes Buch
Erstes Kapitel
Laertes stand nachdenklich am Fenster und blickte, auf seinen Arm gest¸tzt, in das Feld hinaus. Philine schlich ¸ber den groï¬en Saal herbei, lehnte sich auf den Freund und verspottete sein ernsthaftes Ansehen.
“Lache nur nicht”, versetzte er, “es ist abscheulich, wie die Zeit vergeht, wie alles sich verâ°ndert und ein Ende nimmt! Sieh nur, hier stand vor kurzem noch ein schËnes Lager, wie lustig sahen die Zelte aus! wie lebhaft ging es darin zu! wie sorgfâ°ltig bewachte man den ganzen Bezirk! und nun ist alles auf einmal verschwunden. Nur kurze Zeit werden das zertretene Stroh und die eingegrabenen KochlËcher noch eine Spur zeigen; dann wird alles bald umgepfl¸gt sein, und die Gegenwart so vieler tausend r¸stiger Menschen in dieser Gegend wird nur noch in den KËpfen einiger alten Leute spuken.”
Philine fing an zu singen und zog ihren Freund zu einem Tanze in den Saal. “Laï¬ uns”, rief sie, “da wir der Zeit nicht nachlaufen kËnnen, wenn sie vor¸ber ist, sie wenigstens als eine schËne GËttin, indem sie bei uns vorbeizieht, frËhlich und zierlich verehren!”
Sie hatten kaum einige Wendungen gemacht, als Madame Melina durch den Saal ging. Philine war boshaft genug, sie gleichfalls zum Tanze einzuladen und sie dadurch an die Miï¬gestalt zu erinnern, in welche sie durch ihre Schwangerschaft versetzt war.
“Wenn ich nur”, sagte Philine hinter ihrem R¸cken, “keine Frau mehr guter Hoffnung sehen sollte!”
“Sie hofft doch”, sagte Laertes.
“Aber es kleidet sie so hâ°ï¬lich. Hast du die vordere Wackelfalte des verk¸rzten Rocks gesehen, die immer vorausspaziert, wenn sie sich bewegt? Sie hat gar keine Art noch Geschick, sich nur ein biï¬chen zu mustern und ihren Zustand zu verbergen.”
“Laï¬ nur”, sagte Laertes, “die Zeit wird ihr schon zu H¸lfe kommen.”
“Es wâ°re doch immer h¸bscher”, rief Philine, “wenn man die Kinder von den Bâ°umen sch¸ttelte.”
Der Baron trat herein und sagte ihnen etwas Freundliches im Namen des Grafen und der Grâ°fin, die ganz fr¸h abgereist waren, und machte ihnen einige Geschenke. Er ging darauf zu Wilhelmen, der sich im Nebenzimmer mit Mignon beschâ°ftigte. Das Kind hatte sich sehr freundlich und zutâ°tig bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geschwistern und Verwandten gefragt und ihn dadurch an seine Pflicht erinnert, den Seinigen von sich einige Nachricht zu geben.
Der Baron brachte ihm nebst einem Abschiedsgruï¬e von den Herrschaften die Versicherung, wie sehr der Graf mit ihm, seinem Spiele, seinen poetischen Arbeiten und seinen theatralischen Bem¸hungen zufrieden gewesen sei. Er zog darauf zum Beweis dieser Gesinnung einen Beutel hervor, durch dessen schËnes Gewebe die reizende Farbe neuer Goldst¸cke durchschimmerte; Wilhelm trat zur¸ck und weigerte sich, ihn anzunehmen.
“Sehen Sie”, fuhr der Baron fort, “diese Gabe als einen Ersatz f¸r Ihre Zeit, als eine Erkenntlichkeit f¸r Ihre M¸he, nicht als eine Belohnung Ihres Talents an. Wenn uns dieses einen guten Namen und die Neigung der Menschen verschafft, so ist billig, daï¬ wir durch Fleiï¬ und Anstrengung zugleich die Mittel erwerben, unsre Bed¸rfnisse zu befriedigen, da wir doch einmal nicht ganz Geist sind. Wâ°ren wir in der Stadt, wo alles zu finden ist, so hâ°tte man diese kleine Summe in eine Uhr, einen Ring oder sonst etwas verwandelt; nun gebe ich aber den Zauberstab unmittelbar in Ihre Hâ°nde; schaffen Sie sich ein Kleinod daf¸r, das Ihnen am liebsten und am dienlichsten ist, und verwahren Sie es zu unserm Andenken. Dabei halten Sie ja den Beutel in Ehren. Die Damen haben ihn selbst gestrickt, und ihre Absicht war, durch das Gefâ°ï¬ dem Inhalt die annehmlichste Form zu geben.”
“Vergeben Sie”, versetzte Wilhelm, “meiner Verlegenheit und meinen Zweifeln, dieses Geschenk anzunehmen. Es vernichtet gleichsam das wenige, was ich getan habe, und hindert das freie Spiel einer gl¸cklichen Erinnerung. Geld ist eine schËne Sache, wo etwas abgetan werden soll, und ich w¸nschte nicht, in dem Andenken Ihres Hauses so ganz abgetan zu sein.”
“Das ist nicht der Fall”, versetzte der Baron; “aber indem Sie selbst zart empfinden, werden Sie nicht verlangen, daï¬ der Graf sich vËllig als Ihren Schuldner denken soll: ein Mann, der seinen grËï¬ten Ehrgeiz darein setzt, aufmerksam und gerecht zu sein. Ihm ist nicht entgangen, welche M¸he Sie sich gegeben und wie Sie seinen Absichten ganz Ihre Zeit gewidmet haben, ja er weiï¬, daï¬ Sie, um gewisse Anstalten zu beschleunigen, Ihr eignes Geld nicht schonten. Wie will ich wieder vor ihm erscheinen, wenn ich ihn nicht versichern kann, daï¬ seine Erkenntlichkeit Ihnen Vergn¸gen gemacht hat.”
“Wenn ich nur an mich selbst denken, wenn ich nur meinen eigenen Empfindungen folgen d¸rfte”, versetzte Wilhelm, “w¸rde ich mich, ungeachtet aller Gr¸nde, hartnâ°ckig weigern, diese Gabe, so schËn und ehrenvoll sie ist, anzunehmen; aber ich leugne nicht, daï¬ sie mich in dem Augenblicke, in dem sie mich in Verlegenheit setzt, aus einer Verlegenheit reiï¬t, in der ich mich bisher gegen die Meinigen befand und die mir manchen stillen Kummer verursachte. Ich habe sowohl mit dem Gelde als mit der Zeit, von denen ich Rechenschaft zu geben habe, nicht zum besten hausgehalten; nun wird es mir durch den Edelmut des Herrn Grafen mËglich, den Meinigen getrost von dem Gl¸cke Nachricht zu geben, zu dem mich dieser sonderbare Seitenweg gef¸hrt hat. Ich opfre die Delikatesse, die uns wie ein zartes Gewissen bei solchen Gelegenheiten warnt, einer hËhern Pflicht auf, und um meinem Vater mutig unter die Augen treten zu kËnnen, steh ich beschâ°mt vor den Ihrigen.”
“Es ist sonderbar”, versetzte der Baron, “welch ein wunderlich Bedenken man sich macht, Geld von Freunden und GËnnern anzunehmen, von denen man jede andere Gabe mit Dank und Freude empfangen w¸rde. Die menschliche Natur hat mehr â°hnliche Eigenheiten, solche Skrupel gern zu erzeugen und sorgfâ°ltig zu nâ°hren.”
“Ist es nicht das nâ°mliche mit allen Ehrenpunkten?” fragte Wilhelm.
“Ach ja”, versetzte der Baron, “und andern Vorurteilen. Wir wollen sie nicht ausjâ°ten, um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich mit auszuraufen. Aber mich freut immer, wenn einzelne Personen f¸hlen, ¸ber was man sich hinaussetzen kann und soll, und ich denke mit Vergn¸gen an die Geschichte des geistreichen Dichters, der f¸r ein Hoftheater einige St¸cke verfertigte, welche den ganzen Beifall des Monarchen erhielten. “Ich muï¬ ihn ansehnlich belohnen”, sagte der groï¬m¸tige F¸rst; “man forsche an ihm, ob ihm irgendein Kleinod Vergn¸gen macht oder ob er nicht verschmâ°ht, Geld anzunehmen.” Nach seiner scherzhaften Art antwortete der Dichter dem abgeordneten Hofmann: “Ich danke lebhaft f¸r die gnâ°digen Gesinnungen, und da der Kaiser alle Tage Geld von uns nimmt, so sehe ich nicht ein, warum ich mich schâ°men sollte, Geld von ihm anzunehmen.””
Der Baron hatte kaum das Zimmer verlassen, als Wilhelm eifrig die Barschaft zâ°hlte, die ihm so unvermutet und, wie er glaubte, so unverdient zugekommen war. Es schien, als ob ihm der Wert und die W¸rde des Goldes, die uns in spâ°tern Jahren erst f¸hlbar werden, ahnungsweise zum erstenmal entgegenblickten, als die schËnen, blinkenden St¸cke aus dem zierlichen Beutel hervorrollten. Er machte seine Rechnung und fand, daï¬ er, besonders da Melina den Vorschuï¬ sogleich wieder zu bezahlen versprochen hatte, ebensoviel, ja noch mehr in Kassa habe als an jenem Tage, da Philine ihm den ersten Strauï¬ abfordern lieï¬. Mit heimlicher Zufriedenheit blickte er auf sein Talent, mit einem kleinen Stolze auf das Gl¸ck, das ihn geleitet und begleitet hatte. Er ergriff nunmehr mit Zuversicht die Feder, um einen Brief zu schreiben, der auf einmal die Familie aus aller Verlegenheit und sein bisheriges Betragen in das beste Licht setzen sollte. Er vermied eine eigentliche Erzâ°hlung und lieï¬ nur in bedeutenden und mystischen Ausdr¸cken dasjenige, was ihm begegnet sein kËnnte, erraten. Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er seinem Talent schuldig war, die Gunst der Groï¬en, die Neigung der Frauen, die Bekanntschaft in einem weiten Kreise, die Ausbildung seiner kËrperlichen und geistigen Anlagen, die Hoffnung f¸r die Zukunft bildeten ein solches wunderliches Luftgemâ°lde, daï¬ Fata Morgagna selbst es nicht seltsamer hâ°tte durcheinanderwirken kËnnen.
In dieser gl¸cklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief geschlossen war, ein langes Selbstgesprâ°ch zu unterhalten, in welchem er den Inhalt des Schreibens rekapitulierte und sich eine tâ°tige und w¸rdige Zukunft ausmalte. Das Beispiel so vieler edlen Krieger hatte ihn angefeuert, die Shakespearische Dichtung hatte ihm eine neue Welt erËffnet, und von den Lippen der schËnen Grâ°fin hatte er ein unaussprechliches Feuer in sich gesogen. Das alles konnte, das sollte nicht ohne Wirkung bleiben.
Der Stallmeister kam und fragte, ob sie mit Einpacken fertig seien. Leider hatte auï¬er Melina noch niemand daran gedacht. Nun sollte man eilig aufbrechen. Der Graf hatte versprochen, die ganze Gesellschaft einige Tagereisen weit transportieren zu lassen, die Pferde waren eben bereit und konnten nicht lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach seinem Koffer; Madame Melina hatte sich ihn zunutze gemacht; er verlangte nach seinem Gelde, Herr Melina hatte es ganz unten in den Koffer mit groï¬er Sorgfalt gepackt. Philine sagte: “Ich habe in dem meinigen noch Platz”, nahm Wilhelms Kleider und befahl Mignon, das ¸brige nachzubringen. Wilhelm muï¬te es, nicht ohne Widerwillen, geschehen lassen.
Indem man aufpackte und alles zubereitete, sagte Melina: “Es ist mir verdrieï¬lich, daï¬ wir wie Seiltâ°nzer und Marktschreier reisen; ich w¸nschte, daï¬ Mignon Weiberkleider anzËge und daï¬ der Harfenspieler sich noch geschwinde den Bart scheren lieï¬e.” Mignon hielt sich fest an Wilhelm und sagte mit groï¬er Lebhaftigkeit: “Ich bin ein Knabe: ich will kein Mâ°dchen sein!” Der Alte schwieg, und Philine machte bei dieser Gelegenheit ¸ber die Eigenheit des Grafen, ihres Besch¸tzers, einige lustige Anmerkungen. “Wenn der Harfner seinen Bart abschneidet”, sagte sie, “so mag er ihn nur sorgfâ°ltig auf Band nâ°hen und bewahren, daï¬ er ihn gleich wieder vornehmen kann, sobald er dem Herrn Grafen irgendwo in der Welt begegnet: denn dieser Bart allein hat ihm die Gnade dieses Herrn verschafft.”
Als man in sie drang und eine Erklâ°rung dieser sonderbaren â°uï¬erung verlangte, lieï¬ sie sich folgendergestalt vernehmen: “Der Graf glaubt, daï¬ es zur Illusion sehr viel beitrage, wenn der Schauspieler auch im gemeinen Leben seine Rolle fortspielt und seinen Charakter souteniert; deswegen war er dem Pedanten so g¸nstig, und er fand, es sei recht gescheit, daï¬ der Harfner seinen falschen Bart nicht allein abends auf dem Theater, sondern auch bestâ°ndig bei Tage trage, und freute sich sehr ¸ber das nat¸rliche Aussehen der Maskerade.”
Als die andern ¸ber diesen Irrtum und ¸ber die sonderbaren Meinungen des Grafen spotteten, ging der Harfner mit Wilhelm beiseite, nahm von ihm Abschied und bat mit Trâ°nen, ihn ja sogleich zu entlassen. Wilhelm redete ihm zu und versicherte, daï¬ er ihn gegen jedermann sch¸tzen werde, daï¬ ihm niemand ein Haar kr¸mmen, viel weniger ohne seinen Willen abschneiden solle.
Der Alte war sehr bewegt, und in seinen Augen gl¸hte ein sonderbares Feuer. “Nicht dieser Anlaï¬ treibt mich hinweg”, rief er aus; “schon lange mache ich mir stille Vorw¸rfe, daï¬ ich um Sie bleibe. Ich sollte nirgends verweilen, denn das Ungl¸ck ereilt mich und beschâ°digt die, die sich zu mir gesellen. F¸rchten Sie alles, wenn Sie mich nicht entlassen, aber fragen Sie mich nicht, ich gehËre nicht mir zu, ich kann nicht bleiben.”
“Wem gehËrst du an? Wer kann eine solche Gewalt ¸ber dich aus¸ben?”
“Mein Herr, lassen Sie mir mein schaudervolles Geheimnis, und geben Sie mich los! Die Rache, die mich verfolgt, ist nicht des irdischen Richters; ich gehËre einem unerbittlichen Schicksale; ich kann nicht bleiben, und ich darf nicht!”
“In diesem Zustande, in dem ich dich sehe, werde ich dich gewiï¬ nicht lassen.”
“Es ist Hochverrat an Ihnen, mein Wohltâ°ter, wenn ich zaudre. Ich bin sicher bei Ihnen, aber Sie sind in Gefahr. Sie wissen nicht, wen Sie in Ihrer Nâ°he hegen. Ich bin schuldig, aber ungl¸cklicher als schuldig. Meine Gegenwart verscheucht das Gl¸ck, und die gute Tat wird ohnmâ°chtig, wenn ich dazutrete. Fl¸chtig und unstet sollt ich sein, daï¬ mein ungl¸cklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur langsam verfolgt und nur dann sich merken lâ°ï¬t, wenn ich mein Haupt niederlegen und ruhen will. Dankbarer kann ich mich nicht bezeigen, als wenn ich Sie verlasse.”
“Sonderbarer Mensch! du kannst mir das Vertrauen in dich so wenig nehmen als die Hoffnung, dich gl¸cklich zu sehen. Ich will in die Geheimnisse deines Aberglaubens nicht eindringen; aber wenn du ja in Ahnung wunderbarer Verkn¸pfungen und Vorbedeutungen lebst, so sage ich dir zu deinem Trost und zu deiner Aufmunterung: geselle dich zu meinem Gl¸cke, und wir wollen sehen, welcher Genius der stâ°rkste ist, dein schwarzer oder mein weiï¬er!”
Wilhelm ergriff diese Gelegenheit, um ihm noch mancherlei TrËstliches zu sagen; denn er hatte schon seit einiger Zeit in seinem wunderbaren Begleiter einen Menschen zu sehen geglaubt, der durch Zufall oder Schickung eine groï¬e Schuld auf sich geladen hat und nun die Erinnerung derselben immer mit sich fortschleppt. Noch vor wenigen Tagen hatte Wilhelm seinen Gesang behorcht und folgende Zeilen wohl bemerkt:
Ihm fâ°rbt der Morgensonne Licht
Den reinen Horizont mit Flammen,
Und ¸ber seinem schuld’gen Haupte bricht Das schËne Bild der ganzen Welt zusammen.
Der Alte mochte nun sagen, was er wollte, so hatte Wilhelm immer ein stâ°rker Argument, wuï¬te alles zum besten zu kehren und zu wenden, wuï¬te so brav, so herzlich und trËstlich zu sprechen, daï¬ der Alte selbst wieder aufzuleben und seinen Grillen zu entsagen schien.
IV. Buch, 2. Kapitel
Zweites Kapitel
Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen, aber wohlhabenden Stadt mit seiner Gesellschaft unterzukommen. Schon befanden sie sich an dem Orte, wohin sie die Pferde des Grafen gebracht hatten, und sahen sich nach andern Wagen und Pferden um, mit denen sie weiterzukommen hofften. Melina hatte den Transport ¸bernommen und zeigte sich nach seiner Gewohnheit ¸brigens sehr karg. Dagegen hatte Wilhelm die schËnen Dukaten der Grâ°fin in der Tasche, auf deren frËhliche Verwendung er das grËï¬te Recht zu haben glaubte, und sehr leicht vergaï¬ er, daï¬ er sie in der stattlichen Bilanz, die er den Seinigen zuschickte, schon sehr ruhmredig aufgef¸hrt hatte.
Sein Freund Shakespeare, den er mit groï¬er Freude auch als seinen Paten anerkannte und sich nur um so lieber Wilhelm nennen lieï¬, hatte ihm einen Prinzen bekannt gemacht, der sich unter geringer, ja sogar schlechter Gesellschaft eine Zeitlang aufhâ°lt und ungeachtet seiner edlen Natur an der Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit solcher ganz sinnlichen Bursche sich ergËtzt. HËchst willkommen war ihm das Ideal, womit er seinen gegenwâ°rtigen Zustand vergleichen konnte, und der Selbstbetrug, wozu er eine fast un¸berwindliche Neigung sp¸rte, ward ihm dadurch auï¬erordentlich erleichtert.
Er fing nun an, ¸ber seine Kleidung nachzudenken. Er fand, daï¬ ein Westchen, ¸ber das man im Notfall einen kurzen Mantel w¸rfe, f¸r einen Wanderer eine sehr angemessene Tracht sei. Lange, gestrickte Beinkleider und ein Paar Schn¸rstiefeln schienen die wahre Tracht eines Fuï¬gâ°ngers. Dann verschaffte er sich eine schËne seidne Schâ°rpe, die er zuerst unter dem Vorwande, den Leib warm zu halten, umband; dagegen befreite er seinen Hals von der Knechtschaft einer Binde und lieï¬ sich einige Streifen Nesseltuch ans Hemde heften, die aber etwas breit gerieten und das vËllige Ansehen eines antiken Kragens erhielten. Das schËne seidne Halstuch, das gerettete Andenken Marianens, lag nur locker gekn¸pft unter der nesseltuchnen Krause. Ein runder Hut mit einem bunten Bande und einer groï¬en Feder machte die Maskerade vollkommen.
Die Frauen beteuerten, diese Tracht lasse ihm vorz¸glich gut. Philine stellte sich ganz bezaubert dar¸ber und bat sich seine schËnen Haare aus, die er, um dem nat¸rlichen Ideal nur desto nâ°herzukommen, unbarmherzig abgeschnitten hatte. Sie empfahl sich dadurch nicht ¸bel, und unser Freund, der durch seine Freigebigkeit sich das Recht erworben hatte, auf Prinz Harrys Manier mit den ¸brigen umzugehen, kam bald selbst in den Geschmack, einige tolle Streiche anzugeben und zu befËrdern. Man focht, man tanzte, man erfand allerlei Spiele, und in der FrËhlichkeit des Herzens genoï¬ man des leidlichen Weins, den man angetroffen hatte, in starkem Maï¬e, und Philine lauerte in der Unordnung dieser Lebensart dem sprËden Helden auf, f¸r den sein guter Genius Sorge tragen mËge.
Eine vorz¸gliche Unterhaltung, mit der sich die Gesellschaft besonders ergËtzte, bestand in einem extemporierten Spiel, in welchem sie ihre bisherigen GËnner und Wohltâ°ter nachahmten und durchzogen. Einige unter ihnen hatten sich sehr gut die Eigenheiten des â°uï¬ern Anstandes verschiedner vornehmer Personen gemerkt, und die Nachbildung derselben ward von der ¸brigen Gesellschaft mit dem grËï¬ten Beifall aufgenommen, und als Philine aus dem geheimen Archiv ihrer Erfahrungen einige besondere Liebeserklâ°rungen, die an sie geschehen waren, vorbrachte, wuï¬te man sich vor Lachen und Schadenfreude kaum zu lassen.
Wilhelm schalt ihre Undankbarkeit; allein man setzte ihm entgegen, daï¬ sie das, was sie dort erhalten, genugsam abverdient und daï¬ Â¸berhaupt das Betragen gegen so verdienstvolle Leute, wie sie sich zu sein r¸hmten, nicht das beste gewesen sei. Nun beschwerte man sich, mit wie wenig Achtung man ihnen begegnet, wie sehr man sie zur¸ckgesetzt habe. Das Spotten, Necken und Nachahmen ging wieder an, und man ward immer bitterer und ungerechter.
“Ich w¸nschte”, sagte Wilhelm darauf, “daï¬ durch eure â°uï¬erungen weder Neid noch Eigenliebe durchschiene und daï¬ ihr jene Personen und ihre Verhâ°ltnisse aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtetet. Es ist eine eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reicht¸mer eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich, wenn ich mich so ausdr¸cken darf, von allem Beiwesen der Menschheit von Jugend auf reichlich umgeben findet, gewËhnt sich meist, diese G¸ter als das Erste und GrËï¬te zu betrachten, und der Wert einer von der Natur schËn ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch untereinander ist nach â°uï¬ern Vorz¸gen abgemessen; sie erlauben jedem, seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen.”
Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unmâ°ï¬igen Beifall. Man fand abscheulich, daï¬ der Mann von Verdienst immer zur¸ckstehen m¸sse und daï¬ in der groï¬en Welt keine Spur von nat¸rlichem und herzlichem Umgang zu finden sei. Sie kamen besonders ¸ber diesen letzten Punkt aus dem Hundertsten ins Tausendste.
“Scheltet sie nicht dar¸ber”, rief Wilhelm aus, “bedauert sie vielmehr! Denn von jenem Gl¸ck, das wir als das hËchste erkennen, das aus dem innern Reichtum der Natur flieï¬t, haben sie selten eine erhËhte Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es gegËnnt, das Gl¸ck der Freundschaft in reichem Maï¬e zu genieï¬en. Wir kËnnen unsre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch Gunst befËrdern, noch durch Geschenke begl¸cken. Wir haben nichts als uns selbst. Dieses ganze Selbst m¸ssen wir hingeben und, wenn es einigen Wert haben soll, dem Freunde das Gut auf ewig versichern. Welch ein Genuï¬, welch ein Gl¸ck f¸r den Geber und Empfâ°nger! In welchen seligen Zustand versetzt uns die Treue! Sie gibt dem vor¸bergehenden Menschenleben eine himmlische Gewiï¬heit; sie macht das Hauptkapital unsers Reichtums aus.”
Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten genâ°hert, schlang ihre zarten Arme um ihn und blieb mit dem KËpfchen an seine Brust gelehnt stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort: “Wie leicht wird es einem Groï¬en, die Gem¸ter zu gewinnen! wie leicht eignet er sich die Herzen zu! Ein gefâ°lliges, bequemes, nur einigermaï¬en menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten. Uns kommt alles seltner, wird alles schwerer, und wie nat¸rlich ist es, daï¬ wir auf das, was wir erwerben und leisten, einen grËï¬ern Wert legen. Welche r¸hrenden Beispiele von treuen Dienern, die sich f¸r ihre Herren aufopferten! Wie schËn hat uns Shakespeare solche geschildert! Die Treue ist in diesem Falle ein Bestreben einer edlen Seele, einem GrËï¬ern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anhâ°nglichkeit und Liebe wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur f¸r den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie kleiden ihn schËn. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht versucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu ¸berheben. Ja, in diesem Sinne glaube ich behaupten zu kËnnen, daï¬ ein Groï¬er wohl Freunde haben, aber nicht Freund sein kËnne.”
Mignon dr¸ckte sich immer fester an ihn.
“Nun gut”, versetzte einer aus der Gesellschaft. “Wir brauchen ihre Freundschaft nicht und haben sie niemals verlangt. Nur sollten sie sich besser auf K¸nste verstehen, die sie doch besch¸tzen wollen. Wenn wir am besten gespielt haben, hat uns niemand zugehËrt: alles war lauter Parteilichkeit. Wem man g¸nstig war, der gefiel, und man war dem nicht g¸nstig, der zu gefallen verdiente. Es war nicht erlaubt, wie oft das Alberne und Abgeschmackte Aufmerksamkeit und Beifall auf sich zog.”
“Wenn ich abrechne”, versetzte Wilhelm, “was Schadenfreude und Ironie gewesen sein mag, so denk ich, es geht in der Kunst wie in der Liebe. Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die Innigkeit erhalten, in der ein K¸nstler bleiben muï¬, wenn er etwas Vollkommenes hervorzubringen denkt, und die selbst demjenigen nicht fremd sein darf, der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie der K¸nstler ihn w¸nscht und hofft.
Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend: man muï¬ sie um ihrer selbst willen lieben oder sie ganz aufgeben. Und doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man sie gleich einem gefâ°hrlichen Geheimnis im verborgnen ¸ben kann.”
“Unterdessen, bis ein Kenner uns auffindet, kann man Hungers sterben”, rief einer aus der Ecke.
“Nicht eben sogleich”, versetzte Wilhelm. “Ich habe gesehen, solange einer lebt und sich r¸hrt, findet er immer seine Nahrung, und wenn sie auch gleich nicht die reichlichste ist. Und wor¸ber habt ihr euch denn zu beschweren? Sind wir nicht ganz unvermutet, eben da es mit uns am schlimmsten aussah, gut aufgenommen und bewirtet worden? Und jetzt, da es uns noch an nichts gebricht, fâ°llt es uns denn ein, etwas zu unserer ¸bung zu tun und nur einigermaï¬en weiterzustreben? Wir treiben fremde Dinge und entfernen, den Schulkindern â°hnlich, alles, was uns nur an unsre Lektion erinnern kËnnte.”
“Wahrhaftig”, sagte Philine, “es ist unverantwortlich! Laï¬t uns ein St¸ck wâ°hlen; wir wollen es auf der Stelle spielen. Jeder muï¬ sein mËglichstes tun, als wenn er vor dem grËï¬ten Auditorium st¸nde.”
Man ¸berlegte nicht lange; das St¸ck ward bestimmt. Es war eines derer, die damals in Deutschland groï¬en Beifall fanden und nun verschollen sind. Einige pfiffen eine Symphonie, jeder besann sich schnell auf seine Rolle, man fing an und spielte mit der grËï¬ten Aufmerksamkeit das St¸ck durch, und wirklich ¸ber Erwartung gut. Man applaudierte sich wechselsweise; man hatte sich selten so wohl gehalten.
Als sie fertig waren, empfanden sie alle ein ausnehmendes Vergn¸gen, teils ¸ber ihre wohlzugebrachte Zeit, teils weil jeder besonders mit sich zufrieden sein konnte. Wilhelm lieï¬ sich weitlâ°ufig zu ihrem Lobe heraus, und ihre Unterhaltung war heiter und frËhlich.
“Ihr solltet sehen”, rief unser Freund, “wie weit wir kommen m¸ï¬ten, wenn wir unsre ¸bungen auf diese Art fortsetzten und nicht bloï¬ auf Auswendiglernen, Probieren und Spielen uns mechanisch pflicht- und handwerksmâ°ï¬ig einschrâ°nkten. Wieviel mehr Lob verdienen die Tonk¸nstler, wie sehr ergËtzen sie sich, wie genau sind sie, wenn sie gemeinschaftlich ihre ¸bungen vornehmem Wie sind sie bem¸ht, ihre Instrumente ¸bereinzustimmen, wie genau halten sie Takt, wie zart wissen sie die Stâ°rke und Schwâ°che des Tons auszudr¸cken! Keinem fâ°llt es ein, sich bei dem Solo eines andern durch ein vorlautes Akkompagnieren Ehre zu machen. Jeder sucht in dem Geist und Sinne des Komponisten zu spielen und jeder das, was ihm aufgetragen ist, es mag viel oder wenig sein, gut auszudr¸cken. Sollten wir nicht ebenso genau und ebenso geistreich zu Werke gehen, da wir eine Kunst treiben, die noch viel zarter als jede Art von Musik ist, da wir die gewËhnlichsten und seltensten â°uï¬erungen der Menschheit geschmackvoll und ergËtzend darzustellen berufen sind? Kann etwas abscheulicher sein, als in den Proben zu sudeln und sich bei der Vorstellung auf Laune und gut Gl¸ck zu verlassen? Wir sollten unser grËï¬tes Gl¸ck und Vergn¸gen dareinsetzen, miteinander ¸bereinzustimmen, um uns wechselsweise zu gefallen, und auch nur insofern den Beifall des Publikums zu schâ°tzen, als wir ihn uns gleichsam untereinander schon selbst garantiert hâ°tten. Warum ist der Kapellmeister seines Orchesters gewisser als der Direktor seines Schauspiels? Weil dort jeder sich seines Miï¬griffs, der das â°uï¬ere Ohr beleidigt, schâ°men muï¬; aber wie selten hab ich einen Schauspieler verzeihliche und unverzeihliche Miï¬griffe, durch die das innere Ohr so schnËde beleidigt wird, anerkennen und sich ihrer schâ°men sehen! Ich w¸nschte nur, daï¬ das Theater so schmal wâ°re als der Draht eines Seiltâ°nzers, damit sich kein Ungeschickter hinaufwagte, anstatt daï¬ jetzo ein jeder sich Fâ°higkeit genug f¸hlt, darauf zu paradieren.”
Die Gesellschaft nahm diese Apostrophe gut auf, indem jeder ¸berzeugt war, daï¬ nicht von ihm die Rede sein kËnne, da er sich noch vor kurzem nebst den ¸brigen so gut gehalten. Man kam vielmehr ¸berein, daï¬ man in dem Sinne, wie man angefangen, auf dieser Reise und k¸nftig, wenn man zusammen bliebe, eine gesellige Bearbeitung wolle obwalten lassen. Man fand nur, daï¬, weil dieses eine Sache der guten Laune und des freien Willens sei, so m¸sse sich eigentlich kein Direktor dareinmischen. Man nahm als ausgemacht an, daï¬ unter guten Menschen die republikanische Form die beste sei; man behauptete, das Amt eines Direktors m¸sse herumgehen; er m¸sse von allen gewâ°hlt werden und eine Art von kleinem Senat ihm jederzeit beigesetzt bleiben. Sie waren so von diesem Gedanken eingenommen, daï¬ sie w¸nschten, ihn gleich ins Werk zu richten.
“Ich habe nichts dagegen”, sagte Melina, “wenn ihr auf der Reise einen solchen Versuch machen wollt; ich suspendiere meine Direktorschaft gern, bis wir wieder an Ort und Stelle kommen.” Er hoffte dabei zu sparen und manche Ausgaben der kleinen Republik oder dem Interimsdirektor aufzuwâ°lzen. Nun ging man sehr lebhaft zu Rate, wie man die Form des neuen Staates aufs beste einrichten wolle.
“Es ist ein wanderndes Reich”, sagte Laertes; “wir werden wenigstens keine Grenzstreitigkeiten haben.”
Man schritt sogleich zur Sache und erwâ°hlte Wilhelmen zum ersten Direktor. Der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten Sitz und Stimme, man schlug Gesetze vor, man verwarf, man genehmigte. Die Zeit ging unvermerkt unter diesem Spiele vor¸ber, und weil man sie angenehm zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas N¸tzliches getan und durch die neue Form eine neue Aussicht f¸r die vaterlâ°ndische B¸hne erËffnet zu haben.
IV. Buch, 3. Kapitel
Drittes Kapitel
Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Gesellschaft in so guter Disposition sah, sich auch mit ihr ¸ber das dichterische Verdienst der St¸cke unterhalten zu kËnnen. “Es ist nicht genug”, sagte er zu ihnen, als sie des andern Tages wieder zusammenkamen, “daï¬ der Schauspieler ein St¸ck nur so obenhin ansehe, dasselbe nach dem ersten Eindruck beurteile und ohne Pr¸fung sein Gefallen oder Miï¬fallen daran zu erkennen gebe. Dies ist dem Zuschauer wohl erlaubt, der ger¸hrt und unterhalten sein, aber eigentlich nicht urteilen will. Der Schauspieler dagegen soll von dem St¸cke und von den Ursachen seines Lobes und Tadels Rechenschaft geben kËnnen: und wie will er das, wenn er nicht in den Sinn seines Autors, wenn er nicht in die Absichten desselben einzudringen versteht? Ich habe den Fehler, ein St¸ck aus einer Rolle zu beurteilen, eine Rolle nur an sich und nicht im Zusammenhange mit dem St¸ck zu betrachten, an mir selbst in diesen Tagen so lebhaft bemerkt, daï¬ ich euch das Beispiel erzâ°hlen will, wenn ihr mir ein geneigtes GehËr gËnnen wollt.
Ihr kennt Shakespeares unvergleichlichen “Hamlet” aus einer Vorlesung, die euch schon auf dem Schlosse das grËï¬te Vergn¸gen machte. Wir setzten uns vor, das St¸ck zu spielen, und ich hatte, ohne zu wissen, was ich tat, die Rolle des Prinzen ¸bernommen; ich glaubte sie zu studieren, indem ich anfing, die stâ°rksten Stellen, die Selbstgesprâ°che und jene Auftritte zu memorieren, in denen Kraft der Seele, Erhebung des Geistes und Lebhaftigkeit freien Spielraum haben, wo das bewegte Gem¸t sich in einem gef¸hlvollen Ausdrucke zeigen kann.
Auch glaubte ich recht in den Geist der Rolle einzudringen, wenn ich die Last der tiefen Schwermut gleichsam selbst auf mich nâ°hme und unter diesem Druck meinem Vorbilde durch das seltsame Labyrinth so mancher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen suchte. So memorierte ich, und so ¸bte ich mich und glaubte nach und nach mit meinem Helden zu einer Person zu werden.
Allein je weiter ich kam, desto schwerer ward mir die Vorstellung des Ganzen, und mir schien zuletzt fast unmËglich, zu einer ¸bersicht zu gelangen. Nun ging ich das St¸ck in einer ununterbrochenen Folge durch, und auch da wollte mir leider manches nicht passen. Bald schienen sich die Charaktere, bald der Ausdruck zu widersprechen, und ich verzweifelte fast, einen Ton zu finden, in welchem ich meine ganze Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen kËnnte. In diesen Irrgâ°ngen bem¸hte ich mich lange vergebens, bis ich mich endlich auf einem ganz besondern Wege meinem Ziele zu nâ°hern hoffte.
Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in fr¸her Zeit vor dem Tode seines Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabhâ°ngig von dieser traurigen Begebenheit, unabhâ°ngig von den nachfolgenden schrecklichen Ereignissen dieser interessante J¸ngling gewesen war und was er ohne sie vielleicht geworden wâ°re.
Zart und edel entsprossen, wuchs die kËnigliche Blume unter den unmittelbaren Einfl¸ssen der Majestâ°t hervor; der Begriff des Rechts und der f¸rstlichen W¸rde, das Gef¸hl des Guten und Anstâ°ndigen mit dem Bewuï¬tsein der HËhe seiner Geburt entwickelten sich zugleich in ihm. Er war ein F¸rst, ein geborner F¸rst, und w¸nschte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert gut sein mËchte. Angenehm von Gestalt, gesittet von Natur, gefâ°llig von Herzen aus, sollte er das Muster der Jugend sein und die Freude der Welt werden.
Ohne irgendeine hervorstechende Leidenschaft war seine Liebe zu Ophelien ein stilles Vorgef¸hl s¸ï¬er Bed¸rfnisse; sein Eifer zu ritterlichen ¸bungen war nicht ganz original; vielmehr muï¬te diese Lust durch das Lob, das man dem Dritten beilegte, geschâ°rft und erhËht werden; rein f¸hlend, kannte er die Redlichen und wuï¬te die Ruhe zu schâ°tzen, die ein aufrichtiges Gem¸t an dem offnen Busen eines Freundes genieï¬t. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in K¸nsten und Wissenschaften das Gute und SchËne erkennen und w¸rdigen gelernt; das Abgeschmackte war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele der Haï¬ aufkeimen konnte, so war es nur ebenso viel, als nËtig ist, um bewegliche und falsche HËflinge zu verachten und spËttisch mit ihnen zu spielen. Er war gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen einfach, weder im M¸ï¬iggange behaglich noch allzu begierig nach Beschâ°ftigung. Ein akademisches Hinschlendern schien er auch bei Hofe fortzusetzen. Er besaï¬ mehr FrËhlichkeit der Laune als des Herzens, war ein guter Gesellschafter, nachgiebig, bescheiden, besorgt, und konnte eine Beleidigung vergeben und vergessen; aber niemals konnte er sich mit dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des Guten, des Anstâ°ndigen ¸berschritt.
Wenn wir das St¸ck wieder zusammen lesen werden, kËnnt ihr beurteilen, ob ich auf dem rechten Wege bin. Wenigstens hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stellen belegen zu kËnnen.”
Man gab der Schilderung lauten Beifall; man glaubte vorauszusehen, daï¬ sich nun die Handelsweise Hamlets gar gut werde erklâ°ren lassen; man freute sich ¸ber diese Art, in den Geist des Schriftstellers einzudringen. Jeder nahm sich vor, auch irgendein St¸ck auf diese Art zu studieren und den Sinn des Verfassers zu entwickeln.
IV. Buch, 4. Kapitel
Viertes Kapitel
Nur einige Tage muï¬te die Gesellschaft an dem Orte liegenbleiben, und sogleich zeigten sich f¸r verschiedene Glieder derselben nicht unangenehme Abenteuer, besonders aber ward Laertes von einer Dame angereizt, die in der Nachbarschaft ein Gut hatte, gegen die er sich aber â°uï¬erst kalt, ja unartig betrug und dar¸ber von Philinen viele SpËttereien erdulden muï¬te. Sie ergriff die Gelegenheit, unserm Freund die ungl¸ckliche Liebesgeschichte zu erzâ°hlen, ¸ber die der arme J¸ngling dem ganzen weiblichen Geschlechte feind geworden war. “Wer wird ihm ¸belnehmen”, rief sie aus, “daï¬ er ein Geschlecht haï¬t, das ihm so ¸bel mitgespielt hat und ihm alle ¸bel, die sonst Mâ°nner von Weibern zu bef¸rchten haben, in einem sehr konzentrierten Tranke zu verschlucken gab? Stellen Sie sich vor: binnen vierundzwanzig Stunden war er Liebhaber, Brâ°utigam, Ehmann, Hahnrei, Patient und Witwer! Ich w¸ï¬te nicht, wie man’s einem â°rger machen wollte.”
Laertes lief halb lachend, halb verdrieï¬lich zur Stube hinaus, und Philine fing in ihrer allerliebsten Art die Geschichte zu erzâ°hlen an, wie Laertes als ein junger Mensch von achtzehn Jahren, eben als er bei einer Theatergesellschaft eingetroffen, ein schËnes vierzehnjâ°hriges Mâ°dchen gefunden, die eben mit ihrem Vater, der sich mit dem Direktor entzweiet, abzureisen willens gewesen. Er habe sich aus dem Stegreife sterblich verliebt, dem Vater alle mËglichen Vorstellungen getan zu bleiben und endlich versprochen, das Mâ°dchen zu heiraten. Nach einigen angenehmen Stunden des Brautstandes sei er getraut worden, habe eine gl¸ckliche Nacht als Ehmann zugebracht, darauf habe ihn seine Frau des andern Morgens, als er in der Probe gewesen, nach Standesgeb¸hr mit einem HËrnerschmuck beehrt; weil er aber aus allzugroï¬er Zâ°rtlichkeit viel zu fr¸h nach Hause geeilt, habe er leider einen â°ltern Liebhaber an seiner Stelle gefunden, habe mit unsinniger Leidenschaft dreingeschlagen, Liebhaber und Vater herausgefordert und sei mit einer leidlichen Wunde davongekommen. Vater und Tochter seien darauf noch in der Nacht abgereist, und er sei leider auf eine doppelte Weise verwundet zur¸ckgeblieben. Sein Ungl¸ck habe ihn zu dem schlechtesten Feldscher von der Welt gef¸hrt, und der Arme sei leider mit schwarzen Zâ°hnen und triefenden Augen aus diesem Abenteuer geschieden. Er sei zu bedauern, weil er ¸brigens der bravste Junge sei, den Gottes Erdboden tr¸ge. “Besonders”, sagte sie, “tut es mir leid, daï¬ der arme Narr nun die Weiber haï¬t: denn wer die Weiber haï¬t, wie kann der leben?”
Melina unterbrach sie mit der Nachricht, daï¬ alles zum Transport vËllig bereit sei und daï¬ sie morgen fr¸h abfahren kËnnten. Er ¸berreichte ihnen eine Disposition, wie sie fahren sollten.
“Wenn mich ein guter Freund auf den Schoï¬ nimmt”, sagte Philine, “so bin ich zufrieden, daï¬ wir eng und erbâ°rmlich sitzen; ¸brigens ist mir alles einerlei.”
“Es tut nichts”, sagte Laertes, der auch herbeikam.
“Es ist verdrieï¬lich!” sagte Wilhelm und eilte weg. Er fand f¸r sein Geld noch einen gar bequemen Wagen, den Melina verleugnet hatte. Eine andere Einteilung ward gemacht, und man freute sich, bequem abreisen zu kËnnen, als die bedenkliche Nachricht einlief: daï¬ auf dem Wege, den sie nehmen wollten, sich ein Freikorps sehen lasse, von dem man nicht viel Gutes erwartete.
An dem Orte selbst war man sehr auf diese Zeitung aufmerksam, wenn sie gleich nur schwankend und zweideutig war. Nach der Stellung der Armeen schien es unmËglich, daï¬ ein feindliches Korps sich habe durchschleichen oder daï¬ ein freundliches so weit habe zur¸ckbleiben kËnnen. Jedermann war eifrig, unsrer Gesellschaft die Gefahr, die auf sie wartete, recht gefâ°hrlich zu beschreiben und ihr einen andern Weg anzuraten.
Die meisten waren dar¸ber in Unruhe und Furcht gesetzt, und als nach der neuen republikanischen Form die sâ°mtlichen Glieder des Staats zusammengerufen wurden, um ¸ber diesen auï¬erordentlichen Fall zu beratschlagen, waren sie fast einstimmig der Meinung, daï¬ man das ¸bel vermeiden und am Orte bleiben oder ihm ausweichen und einen andern Weg erwâ°hlen m¸sse.
Nur Wilhelm, von Furcht nicht eingenommen, hielt f¸r schimpflich, einen Plan, in den man mit so viel ¸berlegung eingegangen war, nunmehr auf ein bloï¬es Ger¸cht aufzugeben. Er sprach ihnen Mut ein, und seine Gr¸nde waren mâ°nnlich und ¸berzeugend.
“Noch”, sagte er, “ist es nichts als ein Ger¸cht, und wie viele dergleichen entstehen im Kriege! Verstâ°ndige Leute sagen, daï¬ der Fall hËchst unwahrscheinlich, ja beinah unmËglich sei. Sollten wir uns in einer so wichtigen Sache bloï¬ durch ein so ungewisses Gerede bestimmen lassen? Die Route, welche uns der Herr Graf angegeben hat, auf die unser Paï¬ lautet, ist die k¸rzeste, und wir finden auf selbiger den besten Weg. Sie f¸hrt uns nach der Stadt, wo ihr Bekanntschaften, Freunde vor euch seht und eine gute Aufnahme zu hoffen habt. Der Umweg bringt uns auch dahin, aber in welche schlimmen Wege verwickelt er uns, wie weit f¸hrt er uns ab! KËnnen wir Hoffnung haben, uns in der spâ°ten Jahrszeit wieder herauszufinden, und was f¸r Zeit und Geld werden wir indessen versplittern!” Er sagte noch viel und trug die Sache von so mancherlei vorteilhaften Seiten vor, daï¬ ihre Furcht sich verringerte und ihr Mut zunahm. Er wuï¬te ihnen so viel von der Mannszucht der regelmâ°ï¬igen Truppen vorzusagen und ihnen die Marodeurs und das hergelaufene Gesindel so nichtsw¸rdig zu schildern und selbst die Gefahr so lieblich und lustig darzustellen, daï¬ alle Gem¸ter aufgeheitert wurden.
Laertes war vom ersten Moment an auf seiner Seite und versicherte, daï¬ er nicht wanken noch weichen wolle. Der alte Polterer fand wenigstens einige ¸bereinstimmende Ausdr¸cke in seiner Manier, Philine lachte sie alle zusammen aus, und da Madame Melina, die, ihrer hohen Schwangerschaft ungeachtet, ihre nat¸rliche Herzhaftigkeit nicht verloren hatte, den Vorschlag heroisch fand, so konnte Melina, der denn freilich auf dem nâ°chsten Wege, auf den er akkordiert hatte, viel zu sparen hoffte, nicht widerstehen, und man willigte in den Vorschlag von ganzem Herzen.
Nun fing man an, sich auf alle Fâ°lle zur Verteidigung einzurichten. Man kaufte groï¬e Hirschfâ°nger und hing sie an wohlgestickten Riemen ¸ber die Schultern. Wilhelm steckte noch ¸berdies ein Paar Terzerole in den G¸rtel; Laertes hatte ohnedem eine gute Flinte bei sich, und man machte sich mit einer hohen Freudigkeit auf den Weg.
Den zweiten Tag schlugen die Fuhrleute, die der Gegend wohl kundig waren, vor: sie wollten auf einem waldigen Bergplatze Mittagsruhe halten, weil das Dorf weit abgelegen sei und man bei guten Tagen gern diesen Weg nâ°hme.
Die Witterung war schËn, und jedermann stimmte leicht in den Vorschlag ein. Wilhelm eilte zu Fuï¬ durch das Gebirge voraus, und ¸ber seine sonderbare Gestalt muï¬te jeder, der ihm begegnete, stutzig werden. Er eilte mit schnellen und zufriedenen Schritten den Wald hinauf, Laertes pfiff hinter ihm drein, nur die Frauen lieï¬en sich in den Wagen fortschleppen. Mignon lief gleichfalls nebenher, stolz auf den Hirschfâ°nger, den man ihr, als die Gesellschaft sich bewaffnete, nicht abschlagen konnte. Um ihren Hut hatte sie die Perlenschnur gewunden, die Wilhelm von Marianens Reliquien ¸brigbehalten hatte. Friedrich der Blonde trug die Flinte des Laertes, der Harfner hatte das friedlichste Ansehen. Sein langes Kleid war in den G¸rtel gesteckt, und so ging er freier. Er st¸tzte sich auf einen knotigen Stab, sein Instrument war bei den Wagen zur¸ckgeblieben.
Nachdem sie nicht ganz ohne Beschwerlichkeit die HËhe erstiegen, erkannten sie sogleich den angezeigten Platz an den schËnen Buchen, die ihn umgaben und bedeckten. Eine groï¬e, sanft abhâ°ngige Waldwiese lud zum Bleiben ein; eine eingefaï¬te Quelle bot die lieblichste Erquickung dar, und es zeigte sich an der andern Seite durch Schluchten und Waldr¸cken eine ferne, schËne und hoffnungsvolle Aussicht. Da lagen DËrfer und M¸hlen in den Gr¸nden, Stâ°dtchen in der Ebene, und neue, in der Ferne eintretende Berge machten die Aussicht noch hoffnungsvoller, indem sie nur wie eine sanfte Beschrâ°nkung hereintraten.
Die ersten Ankommenden nahmen Besitz von der Gegend, ruhten im Schatten aus, machten ein Feuer an und erwarteten geschâ°ftig, singend die ¸brige Gesellschaft, welche nach und nach herbeikam und den Platz, das schËne Wetter, die unaussprechlich schËne Gegend mit einem Munde begr¸ï¬te.
IV. Buch, 5. Kapitel
F¸nftes Kapitel
Hatte man oft zwischen vier Wâ°nden gute und frËhliche Stunden zusammen genossen, so war man nat¸rlich noch viel aufgeweckter hier, wo die Freiheit des Himmels und die SchËnheit der Gegend jedes Gem¸t zu reinigen schien. Alle f¸hlten sich einander nâ°her, alle w¸nschten in einem so angenehmen Aufenthalt ihr ganzes Leben hinzubringen. Man beneidete die Jâ°ger, KËhler und Holzhauer, Leute, die ihr Beruf in diesen gl¸cklichen Wohnplâ°tzen festhâ°lt; ¸ber alles aber pries man die reizende Wirtschaft eines Zigeunerhaufens. Man beneidete die wunderlichen Gesellen, die in seligem M¸ï¬iggange alle abenteuerlichen Reize der Natur zu genieï¬en berechtigt sind; man freute sich, ihnen einigermaï¬en â°hnlich zu sein.
Indessen hatten die Frauen angefangen, Erdâ°pfel zu sieden und die mitgebrachten Speisen auszupacken und zu bereiten. Einige TËpfe standen beim Feuer, gruppenweise lagerte sich die Gesellschaft unter den Bâ°umen und B¸schen. Ihre seltsamen Kleidungen und die mancherlei Waffen gaben ihr ein fremdes Ansehen. Die Pferde wurden beiseite gef¸ttert, und wenn man die Kutschen hâ°tte verstecken wollen, so wâ°re der Anblick dieser kleinen Horde bis zur Illusion romantisch gewesen.
Wilhelm genoï¬ ein nie gef¸hltes Vergn¸gen. Er konnte hier eine wandernde Kolonie und sich als Anf¸hrer derselben denken. In diesem Sinne unterhielt er sich mit einem jeden und bildete den Wahn des Moments so poetisch als mËglich aus. Die Gef¸hle der Gesellschaft erhËhten sich; man aï¬, trank und jubilierte und bekannte wiederholt, niemals schËnere Augenblicke erlebt zu haben.
Nicht lange hatte das Vergn¸gen zugenommen, als bei den jungen Leuten die Tâ°tigkeit erwachte. Wilhelm und Laertes griffen zu den Rapieren und fingen diesmal in theatralischer Absicht ihre ¸bungen an. Sie wollten den Zweikampf darstellen, in welchem Hamlet und sein Gegner ein so tragisches Ende nehmen. Beide Freunde waren ¸berzeugt, daï¬ man in dieser wichtigen Szene nicht, wie es wohl auf Theatern zu geschehen pflegt, nur ungeschickt hin und wider stoï¬en d¸rfe: sie hofften ein Muster darzustellen, wie man bei der Auff¸hrung auch dem Kenner der Fechtkunst ein w¸rdiges Schauspiel zu geben habe. Man schloï¬ einen Kreis um sie her; beide fochten mit Eifer und Einsicht, das Interesse der Zuschauer wuchs mit jedem Gange.
Auf einmal aber fiel im nâ°chsten Busche ein Schuï¬ und gleich darauf noch einer, und die Gesellschaft fuhr erschreckt auseinander. Bald erblickte man bewaffnete Leute, die auf den Ort zudrangen, wo die Pferde nicht weit von den bepackten Kutschen ihr Futter einnahmen.
Ein allgemeiner Schrei entfuhr dem weiblichen Geschlechte, unsre Helden warfen die Rapiere weg, griffen nach den Pistolen, eilten den Râ°ubern entgegen und forderten unter lebhaften Drohungen Rechenschaft des Unternehmens.
Als man ihnen lakonisch mit ein paar Musketensch¸ssen antwortete, dr¸ckte Wilhelm seine Pistole auf einen Krauskopf ab, der den Wagen erstiegen hatte und die Stricke des Gepâ°ckes auseinanderschnitt. Wohlgetroffen st¸rzte er sogleich herunter; Laertes hatte auch nicht fehlgeschossen, und beide Freunde zogen beherzt ihre Seitengewehre, als ein Teil der râ°uberischen Bande mit Fluchen und Gebr¸ll auf sie losbrach, einige Sch¸sse auf sie tat und sich mit blinkenden Sâ°beln ihrer K¸hnheit entgegensetzte. Unsre jungen Helden hielten sich tapfer; sie riefen ihren ¸brigen Gesellen zu und munterten sie zu einer allgemeinen Verteidigung auf. Bald aber verlor Wilhelm den Anblick des Lichtes und das Bewuï¬tsein dessen, was vorging. Von einem Schuï¬, der ihn zwischen der Brust und dem linken Arm verwundete, von einem Hiebe, der ihm den Hut spaltete und fast bis auf die Hirnschale durchdrang, betâ°ubt, fiel er nieder und muï¬te das ungl¸ckliche Ende des ¸berfalls nur erst in der Folge aus der Erzâ°hlung vernehmen.
Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich in der wunderbarsten Lage. Das erste, was ihm durch die Dâ°mmerung, die noch vor seinen Augen lag, entgegenblickte, war das Gesicht Philinens, das sich ¸ber das seine her¸berneigte. Er f¸hlte sich schwach, und da er, um sich emporzurichten, eine Bewegung machte, fand er sich in Philinens Schoï¬, in den er auch wieder zur¸cksank. Sie saï¬ auf dem Rasen, hatte den Kopf des vor ihr ausgestreckten J¸nglings leise an sich gedr¸ckt und ihm in ihren Armen, soviel sie konnte, ein sanftes Lager bereitet. Mignon kniete mit zerstreuten, blutigen Haaren an seinen F¸ï¬en und umfaï¬te sie mit vielen Trâ°nen.
Als Wilhelm seine blutigen Kleider ansah, fragte er mit gebrochener Stimme, wo er sich befinde, was ihm und den andern begegnet sei. Philine bat ihn, ruhigzubleiben; die ¸brigen, sagte sie, seien alle in Sicherheit und niemand als er und Laertes verwundet. Weiter wollte sie nichts erzâ°hlen und bat ihn instâ°ndig, er mËchte sich ruhighalten, weil seine Wunden nur schlecht und in der Eile verbunden seien. Er reichte Mignon die Hand und erkundigte sich nach der Ursache der blutigen Locken des Kindes, das er auch verwundet glaubte.
Um ihn zu beruhigen, erzâ°hlte Philine: dieses gutherzige GeschËpf, da es seinen Freund verwundet gesehen, habe sich in der Geschwindigkeit auf nichts besonnen, um das Blut zu stillen, es habe seine eigenen Haare, die um den Kopf geflogen, genommen, um die Wunden zu stopfen, habe aber bald von dem vergeblichen Unternehmen abstehen m¸ssen. Nachher verband man ihn mit Schwamm und Moos, Philine hatte dazu ihr Halstuch hergegeben.
Wilhelm bemerkte, daï¬ Philine mit dem R¸cken gegen ihren Koffer saï¬, der noch ganz wohl verschlossen und unbeschâ°digt aussah. Er fragte, ob die andern auch so gl¸cklich gewesen, ihre Habseligkeiten zu retten. Sie antwortete mit Achselzucken und einem Blick auf die Wiese, wo zerbrochene Kasten, zerschlagene Koffer, zerschnittene Mantelsâ°cke und eine Menge kleiner Gerâ°tschaften zerstreut hin und wieder lagen. Kein Mensch war auf dem Platze zu sehen, und die wunderliche Gruppe fand sich in dieser Einsamkeit allein.
Wilhelm erfuhr nun immer mehr, als er wissen wollte: die ¸brigen Mâ°nner, die allenfalls noch Widerstand hâ°tten tun kËnnen, waren gleich in Schrecken gesetzt und bald ¸berwâ°ltigt; ein Teil floh, ein Teil sah mit Entsetzen dem Unfalle zu. Die Fuhrleute, die sich noch wegen ihrer Pferde am hartnâ°ckigsten gehalten hatten, wurden niedergeworfen und gebunden, und in kurzem war alles rein ausgepl¸ndert und weggeschleppt. Die beâ°ngstigten Reisenden fingen, sobald die Sorge f¸r ihr Leben vor¸ber war, ihren Verlust zu bejammern an, eilten mit mËglichstes Geschwindigkeit dem benachbarten Dorfe zu, f¸hrten den leicht verwundeten Laertes mit sich und brachten nur wenige Tr¸mmer ihrer Besitzt¸mer davon. Der Harfner hatte sein beschâ°digtes Instrument an einen Baum gelehnt und war mit nach dem Orte geeilt, einen Wundarzt aufzusuchen und seinem f¸r tot zur¸ckgelassenen Wohltâ°ter nach MËglichkeit beizuspringen.
IV. Buch, 6. Kapitel
Sechstes Kapitel
Unsre drei verungl¸ckten Abenteurer blieben indes noch eine Zeitlang in ihrer seltsamen Lage, niemand eilte ihnen zu H¸lfe. Der Abend kam herbei, die Nacht drohte hereinzubrechen; Philinens Gleichg¸ltigkeit fing an, in Unruhe ¸berzugehen, Mignon lief hin und wider, und die Ungeduld des Kindes nahm mit jedem Augenblicke zu. Endlich, da ihnen ihr Wunsch gewâ°hrt ward und Menschen sich ihnen nâ°herten, ¸berfiel sie ein neuer Schrecken. Sie hËrten ganz deutlich einen Trupp Pferde in dem Wege heraufkommen, den auch sie zur¸ckgelegt hatten, und f¸rchteten, daï¬ abermals eine Gesellschaft ungebetener Gâ°ste diesen Waldplatz besuchen mËchte, um Nachlese zu halten.
Wie angenehm wurden sie dagegen ¸berrascht, als ihnen aus den B¸schen, auf einem Schimmel reitend, ein Frauenzimmer zu Gesichte kam, die von einem â°ltlichen Herrn und einigen Kavalieren begleitet wurde; Reitknechte, Bedienten und ein Trupp Husaren folgten nach.
Philine, die zu dieser Erscheinung groï¬e Augen machte, war eben im Begriff zu rufen und die schËne Amazone um H¸lfe anzuflehen, als diese schon erstaunt ihre Augen nach der wunderbaren Gruppe wendete, sogleich ihr Pferd lenkte, herzuritt und stillehielt. Sie erkundigte sich eifrig nach dem Verwundeten, dessen Lage, in dem Schoï¬e der leichtfertigen Samariterin, ihr hËchst sonderbar vorzukommen schien.
“Ist es Ihr Mann?” fragte sie Philinen. “Es ist nur ein guter Freund”, versetzte diese mit einem Ton, der Wilhelmen hËchst zuwider war. Er hatte seine Augen auf die sanften, hohen, stillen, teilnehmenden Gesichtsz¸ge der Ankommenden geheftet; er glaubte nie etwas Edleres noch Liebensw¸rdigeres gesehen zu haben. Ein weiter Manns¸berrock verbarg ihm ihre Gestalt; sie hatte ihn, wie es schien, gegen die Einfl¸sse der k¸hlen Abendluft, von einem ihrer Gesellschafter geborgt.
Die Ritter waren indes auch nâ°her gekommen; einige stiegen ab, die Dame tat ein Gleiches und fragte mit menschenfreundlicher Teilnehmung nach allen Umstâ°nden des Unfalls, der die Reisenden betroffen hatte, besonders aber nach den Wunden des hingestreckten J¸nglings. Darauf wandte sie sich schnell um und ging mit einem alten Herrn seitwâ°rts nach den Wagen, welche langsam den Berg heraufkamen und auf dem Waldplatze stillehielten.
Nachdem die junge Dame eine kurze Zeit am Schlage der einen Kutsche gestanden und sich mit den Ankommenden unterhalten hatte, stieg ein Mann von untersetzter Gestalt heraus, den sie zu unserm verwundeten Helden f¸hrte. An dem Kâ°stchen, das er in der Hand hatte, und an der ledernen Tasche mit Instrumenten erkannte man ihn bald f¸r einen Wundarzt. Seine Manieren waren mehr rauh als einnehmend, doch seine Hand leicht und seine H¸lfe willkommen.
Er untersuchte genau, erklâ°rte, keine Wunde sei gefâ°hrlich, er wolle sie auf der Stelle verbinden, alsdann kËnne man den Kranken in das nâ°chste Dorf bringen.
Die Besorgnisse der jungen Dame schienen sich zu vermehren. “Sehen Sie nur,” sagte sie, nachdem sie einigemal hin und her gegangen war und den alten Herrn wieder herbeif¸hrte, “sehen Sie, wie man ihn zugerichtet hat! Und leidet er nicht um unsertwillen?” Wilhelm hËrte diese Worte und verstand sie nicht. Sie ging unruhig hin und wider; es schien, als kËnnte sie sich nicht von dem Anblick des Verwundeten losreiï¬en und als f¸rchtete sie zugleich den Wohlstand zu verletzen, wenn sie stehenbliebe zu der Zeit, da man ihn, wiewohl mit M¸he, zu entkleiden anfing. Der Chirurgus schnitt eben den linken â°rmel auf, als der alte Herr hinzutrat und ihr mit einem ernsthaften Tone die Notwendigkeit, ihre Reise fortzusetzen, vorstellte. Wilhelm hatte seine Augen auf sie gerichtet und war von ihren Blicken so eingenommen, daï¬ er kaum f¸hlte, was mit ihm vorging.
Philine war indessen aufgestanden, um der gnâ°digen Dame die Hand zu k¸ssen. Als sie nebeneinander standen, glaubte unser Freund nie einen solchen Abstand gesehn zu haben. Philine war ihm noch nie in einem so ung¸nstigen Lichte erschienen. Sie sollte, wie es ihm vorkam, sich jener edlen Natur nicht nahen, noch weniger sie ber¸hren.
Die Dame fragte Philinen Verschiedenes, aber leise. Endlich kehrte sie sich zu dem alten Herrn, der noch immer trocken dabeistand, und sagte: “Lieber Oheim, darf ich auf Ihre Kosten freigebig sein?” Sie zog sogleich den ¸berrock aus, und ihre Absicht, ihn dem Verwundeten und Unbekleideten hinzugeben, war nicht zu verkennen.
Wilhelm, den der heilsame Blick ihrer Augen bisher festgehalten hatte, war nun, als der ¸berrock fiel, von ihrer schËnen Gestalt ¸berrascht. Sie trat nâ°her herzu und legte den Rock sanft ¸ber ihn. In diesem Augenblicke, da er den Mund Ëffnen und einige Worte des Dankes stammeln wollte, wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daï¬ es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben und ¸ber ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glâ°nzendes Licht. Der Chirurgus ber¸hrte ihn eben unsanfter, indem er die Kugel, welche in der Wunde stak, herauszuziehen Anstalt machte. Die Heilige verschwand vor den Augen des Hinsinkenden; er verlor alles Bewuï¬tsein, und als er wieder zu sich kam, waren Reiter und Wagen, die SchËne samt ihren Begleitern verschwunden.
IV. Buch, 7. Kapitel
Siebentes Kapitel
Nachdem unser Freund verbunden und angekleidet war, eilte der Chirurgus weg, eben als der Harfenspieler mit einer Anzahl Bauern heraufkam. Sie bereiteten eilig aus abgehauenen â°sten und eingeflochtenem Reisig eine Trage, luden den Verwundeten darauf und brachten ihn unter Anf¸hrung eines reitenden Jâ°gers, den die Herrschaft zur¸ckgelassen hatte, sachte den Berg hinunter. Der Harfner, still und in sich gekehrt, trug sein beschâ°digtes Instrument, einige Leute schleppten Philinens Koffer, sie schlenderte mit einem B¸ndel nach, Mignon sprang bald voraus, bald zur Seite durch Busch und Wald und blickte sehnlich nach ihrem kranken Besch¸tzer hin¸ber.
Dieser lag, in seinen warmen ¸berrock geh¸llt, ruhig auf der Bahre. Eine elektrische Wâ°rme schien aus der feinen Wolle in seinen KËrper ¸berzugehen; genug, er f¸hlte sich in die behaglichste Empfindung versetzt. Die schËne Besitzerin des Kleides hatte mâ°chtig auf ihn gewirkt. Er sah noch den Rock von ihren Schultern fallen, die edelste Gestalt, von Strahlen umgeben, vor sich stehen, und seine Seele eilte der Verschwundenen durch Felsen und Wâ°lder auf dem Fuï¬e nach.
Nur mit sinkender Nacht kam der Zug im Dorfe vor dem Wirtshause an, in welchem sich die ¸brige Gesellschaft befand und verzweiflungsvoll den unersetzlichen Verlust beklagte. Die einzige, kleine Stube des Hauses war von Menschen vollgepfropft: einige lagen auf der Streue, andere hatten die Bâ°nke eingenommen, einige sich hinter den Ofen gedr¸ckt, und Frau Melina erwartete in einer benachbarten Kammer â°ngstlich ihre Niederkunft. Der Schrecken hatte sie beschleunigt, und unter dem Beistande der Wirtin, einer jungen, unerfahrnen Frau, konnte man wenig Gutes erwarten.
Als die neuen AnkËmmlinge hereingelassen zu werden verlangten, entstand ein allgemeines Murren. Man behauptete nun, daï¬ man allein auf Wilhelms Rat, unter seiner besondern Anf¸hrung diesen gefâ°hrlichen Weg unternommen und sich diesem Unfall ausgesetzt habe. Man warf die Schuld des ¸beln Ausgangs auf ihn, widersetzte sich an der T¸re seinem Eintritt und behauptete: er m¸sse anderswo unterzukommen suchen. Philinen begegnete man noch schnËder; der Harfenspieler und Mignon muï¬ten auch das Ihrige leiden.
Nicht lange hËrte der Jâ°ger, dem die Vorsorge f¸r die Verlassenen von seiner schËnen Herrschaft ernstlich anbefohlen war, dem Streite mit Geduld zu; er fuhr mit Fluchen und Drohen auf die Gesellschaft los, gebot ihnen zusammenzur¸cken und den Ankommenden Platz zu machen. Man fing an, sich zu bequemen. Er bereitete Wilhelmen einen Platz auf einem Tische, den er in eine Ecke schob; Philine lieï¬ ihren Koffer danebenstellen und setzte sich drauf. Jeder dr¸ckte sich, so gut er konnte, und der Jâ°ger begab sich weg, um zu sehen, ob er nicht ein bequemeres Quartier f¸r das Ehepaar ausmachen kËnne.
Kaum war er fort, als der Unwille wieder laut zu werden anfing und ein Vorwurf den andern drâ°ngte. Jedermann erzâ°hlte und erhËhte seinen Verlust, man schalt die Verwegenheit, durch die man so vieles eingeb¸ï¬t, man verhehlte sogar die Schadenfreude nicht, die man ¸ber die Wunden unseres Freundes empfand, man verhËhnte Philinen und wollte ihr die Art und Weise, wie sie ihren Koffer gerettet, zum Verbrechen machen. Aus allerlei Anz¸glichkeiten und Stichelreden hâ°tte man schlieï¬en sollen, sie habe sich wâ°hrend der Pl¸nderung und Niederlage um die Gunst des Anf¸hrers der Bande bem¸ht und habe ihn, wer weiï¬ durch welche K¸nste und Gefâ°lligkeiten, vermocht, ihren Koffer freizugeben. Man wollte sie eine ganze Weile vermiï¬t haben. Sie antwortete nichts und klapperte nur mit den groï¬en SchlËssern ihres Koffers, um ihre Neider recht von seiner Gegenwart zu ¸berzeugen und die Verzweiflung des Haufens durch ihr eigenes Gl¸ck zu vermehren.
IV. Buch, 8. Kapitel
Achtes Kapitel
Wilhelm, ob er gleich durch den starken Verlust des Blutes schwach und nach der Erscheinung jenes h¸lfreichen Engels mild und sanft geworden war, konnte sich doch zuletzt des Verdrusses ¸ber die harten und ungerechten Reden nicht enthalten, welche bei seinem Stillschweigen von der unzufriednen Gesellschaft immer erneuert wurden. Endlich f¸hlte er sich gestâ°rkt genug, um sich aufzurichten und ihnen die Unart vorzustellen, mit der sie ihren Freund und F¸hrer beunruhigten. Er hob sein verbundenes Haupt in die HËhe und fing, indem er sich mit einiger M¸he st¸tzte und gegen die Wand lehnte, folgendergestalt zu reden an:
“Ich vergebe dem Schmerze, den jeder ¸ber seinen Verlust empfindet, daï¬ ihr mich in einem Augenblicke beleidigt, wo ihr mich beklagen solltet, daï¬ ihr mir widersteht und mich von euch stoï¬t, das erstemal, da ich H¸lfe von euch erwarten kËnnte. F¸r die Dienste, die ich euch erzeigte, f¸r die Gefâ°lligkeiten, die ich euch erwies, habe ich mich durch euren Dank, durch euer freundschaftliches Betragen bisher genugsam belohnt gefunden; verleitet mich nicht, zwingt mein Gem¸t nicht, zur¸ckzugehen und zu ¸berdenken, was ich f¸r euch getan habe; diese Berechnung w¸rde mir nur peinlich werden. Der Zufall hat mich zu euch gef¸hrt, Umstâ°nde und eine heimliche Neigung haben mich bei euch gehalten. Ich nahm an euren Arbeiten, an euren Vergn¸gungen teil; meine wenigen Kenntnisse waren zu eurem Dienste. Gebt ihr mir jetzt auf eine bittre Weise den Unfall schuld, der uns betroffen hat, so erinnert ihr euch nicht, daï¬ der erste Vorschlag, diesen Weg zu nehmen, von fremden Leuten kam, von euch allen gepr¸ft und so gut von jedem als von mir gebilligt worden ist. Wâ°re unsre Reise gl¸cklich vollbracht, so w¸rde sich jeder wegen des guten Einfalls loben, daï¬ er diesen Weg angeraten, daï¬ er ihn vorgezogen; er w¸rde sich unsrer ¸berlegungen und seines ausge¸bten Stimmrechts mit Freuden erinnern; jetzo macht ihr mich allein verantwortlich, ihr zwingt mir eine Schuld auf, die ich willig ¸bernehmen wollte, wenn mich das reinste Bewuï¬tsein nicht freisprâ°che, ja wenn ich mich nicht auf euch selbst berufen kËnnte. Habt ihr gegen mich etwas zu sagen, so bringt es ordentlich vor, und ich werde mich zu verteidigen wissen; habt ihr nichts Gegr¸ndetes anzugeben, so schweigt, und quâ°lt mich nicht, jetzt, da ich der Ruhe so â°uï¬erst bed¸rftig bin.”
Statt aller Antwort fingen die Mâ°dchen an, abermals zu weinen und ihren Verlust umstâ°ndlich zu erzâ°hlen; Melina war ganz auï¬er Fassung: denn er hatte freilich am meisten, und mehr, als wir denken kËnnen, eingeb¸ï¬t. Wie ein Rasender stolperte er in dem engen Raume hin und her, stieï¬ den Kopf wider die Wand, fluchte und schalt auf das unziemlichste; und da nun gar zu gleicher Zeit die Wirtin aus der Kammer trat mit der Nachricht, daï¬ seine Frau mit einem toten Kinde niedergekommen, erlaubte er sich die heftigsten Ausbr¸che, und einstimmig mit ihm heulte, schrie, brummte und lâ°rmte alles durcheinander.
Wilhelm, der zugleich von mitleidiger Teilnehmung an ihrem Zustande und von Verdruï¬ Â¸ber ihre niedrige Gesinnung bis in sein Innerstes bewegt war, f¸hlte unerachtet der Schwâ°che seines KËrpers die ganze Kraft seiner Seele lebendig. “Fast”, rief er aus, “muï¬ ich euch verachten, so beklagenswert ihr auch sein mËgt. Kein Ungl¸ck berechtigt uns, einen Unschuldigen mit Vorw¸rfen zu beladen; habe ich teil an diesem falschen Schritte, so b¸ï¬e ich auch mein Teil. Ich liege verwundet hier, und wenn die Gesellschaft verloren hat, so verliere ich das meiste. Was an Garderobe geraubt worden, was an Dekorationen zugrunde gegangen, war mein: denn Sie, Herr Melina, haben mich noch nicht bezahlt, und ich spreche Sie von dieser Forderung hiemit vËllig frei.”
“Sie haben gut schenken”, rief Melina, “was niemand wiedersehen wird. Ihr Geld lag in meiner Frau Koffer, und es ist Ihre Schuld, daï¬ es Ihnen verlorengeht. Aber oh! wenn das alles wâ°re!” Er fing aufs neue zu stampfen, zu schimpfen und zu schreien an. Jedermann erinnerte sich der schËnen Kleider aus der Garderobe des Grafen, der Schnallen, Uhren, Dosen, H¸te, welche Melina von dem Kammerdiener so gl¸cklich gehandelt hatte. Jedem fielen seine eigenen, obgleich viel geringeren Schâ°tze dabei wieder ins Gedâ°chtnis; man blickte mit Verdruï¬ auf Philinens Koffer, man gab Wilhelmen zu verstehen, er habe wahrlich nicht ¸belgetan, sich mit dieser SchËnen zu assoziieren und durch ihr Gl¸ck auch seine Habseligkeiten zu retten.
“Glaubt ihr denn”, rief er endlich aus, “daï¬ ich etwas Eignes haben werde, solange ihr darbt, und ist es wohl das erste Mal, daï¬ ich in der Not mit euch redlich teile? Man Ëffne den Koffer, und was mein ist, will ich zum Ëffentlichen Bed¸rfnis niederlegen.”
,Es ist mein Koffer”, sagte Philine, “und ich werde ihn nicht eher aufmachen, bis es mir beliebt. Ihre paar Fittiche, die ich Ihnen aufgehoben, kËnnen wenig betragen, und wenn sie an die redlichsten Juden verkauft werden. Denken Sie an sich, was Ihre Heilung kosten, was Ihnen in einem fremden Lande begegnen kann.”
“Sie werden mir, Philine”, versetzte Wilhelm, “nichts vorenthalten, was mein ist, und das wenige wird uns aus der ersten Verlegenheit retten. Allein der Mensch besitzt noch manches, womit er seinen Freunden beistehen kann, das eben nicht klingende M¸nze zu sein braucht. Alles, was in mir ist, soll diesen Ungl¸cklichen gewidmet sein, die gewiï¬, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, ihr gegenwâ°rtiges Betragen bereuen werden. Ja”, fuhr er fort, “ich f¸hle, daï¬ ihr bed¸rft, und was ich vermag, will ich euch leisten; schenkt mir euer Vertrauen aufs neue, beruhigt euch f¸r diesen Augenblick, nehmet an, was ich euch verspreche! Wer will die Zusage im Namen aller von mir empfangen?”
Hier streckte er seine Hand aus und rief: “Ich verspreche, daï¬ ich nicht eher von euch weichen, euch nicht eher verlassen will, als bis ein jeder seinen Verlust doppelt und dreifach ersetzt sieht, bis ihr den Zustand, in dem ihr euch, durch wessen Schuld es wolle, befindet, vËllig vergessen und mit einem gl¸cklichern vertauscht habt.”
Er hielt seine Hand noch immer ausgestreckt, und niemand wollte sie fassen. “Ich versprach es noch einmal”, rief er aus, indem er auf sein Kissen zur¸cksank. Alle blieben stille; sie waren beschâ°mt, aber nicht getrËstet, und Philine, auf ihrem Koffer sitzend, knackte N¸sse auf, die sie in ihrer Tasche gefunden hatte.
IV. Buch, 9. Kapitel
Neuntes Kapitel
Der Jâ°ger kam mit einigen Leuten zur¸ck und machte Anstalt, den Verwundeten wegzuschaffen. Er hatte den Pfarrer des Orts beredet, das Ehepaar aufzunehmen; Philinens Koffer ward fortgetragen, und sie folgte mit nat¸rlichem Anstand. Mignon lief voraus, und da der Kranke im Pfarrhaus ankam, ward ihm ein weites Ehebette, das schon lange Zeit als Gast- und Ehrenbette bereitstand, eingegeben. Hier bemerkte man erst, daï¬ die Wunde aufgegangen war und stark geblutet hatte. Man muï¬te f¸r einen neuen Verband sorgen. Der Kranke verfiel in ein Fieber, Philine wartete ihn treulich, und als die M¸digkeit sie ¸bermeisterte, lËste sie der Harfenspieler ab; Mignon war mit dem festen Vorsatz zu wachen in einer Ecke eingeschlafen.
Des Morgens, als Wilhelm sich ein wenig erholt hatte, erfuhr er von dem Jâ°ger, daï¬ die Herrschaft, die ihnen gestern zu H¸lfe gekommen sei, vor kurzem ihre G¸ter verlassen habe, um den Kriegsbewegungen auszuweichen und sich bis zum Frieden in einer ruhigern Gegend aufzuhalten. Er nannte den â°ltlichen Herrn und seine Nichte, zeigte den Ort an, wohin sie sich zuerst begeben, erklâ°rte Wilhelmen, wie das Frâ°ulein ihm eingebunden, f¸r die Verlassenen Sorge zu tragen.
Der hereintretende Wundarzt unterbrach die lebhaften Danksagungen, in welche sich Wilhelm gegen den Jâ°ger ergoï¬, machte eine umstâ°ndliche Beschreibung der Wunden, versicherte, daï¬ sie leicht heilen w¸rden, wenn der Patient sich ruhighielte und sich abwartete.
Nachdem der Jâ°ger weggeritten war, erzâ°hlte Philine, daï¬ er ihr einen Beutel mit zwanzig Louisdorn zur¸ckgelassen, daï¬ er dem Geistlichen ein Douceur f¸r die Wohnung gegeben und die Kurkosten f¸r den Chirurgus bei ihm niedergelegt habe. Sie gelte durchaus f¸r Wilhelms Frau, introduziere sich ein f¸r allemal bei ihm in dieser Qualitâ°t und werde nicht zugeben, daï¬ er sich nach einer andern Wartung umsehe.
“Philine”, sagte Wilhelm, “ich bin Ihnen bei dem Unfall, der uns begegnet ist, schon manchen Dank schuldig geworden, und ich w¸nschte nicht, meine Verbindlichkeiten gegen Sie vermehrt zu sehen. Ich bin unruhig, solange Sie um mich sind: denn ich weiï¬ nichts, womit ich Ihnen die M¸he vergelten kann. Geben Sie mir meine Sachen, die Sie in Ihrem Koffer gerettet haben, heraus, schlieï¬en Sie sich an die ¸brige Gesellschaft an, suchen Sie ein ander Quartier, nehmen Sie meinen Dank, und die goldne Uhr als eine kleine Erkenntlichkeit; nur verlassen Sie mich; Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben.”
Sie lachte ihm ins Gesicht, als er geendigt hatte. “Du bist ein Tor”, sagte sie, “du wirst nicht klug werden. Ich weiï¬ besser, was dir gut ist; ich werde bleiben, ich werde mich nicht von der Stelle r¸hren. Auf den Dank der Mâ°nner habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?”
Sie blieb und hatte sich bald bei dem Pfarrer und seiner Familie eingeschmeichelt, indem sie immer lustig war, jedem etwas zu schenken, jedem nach dem Sinne zu reden wuï¬te und dabei immer tat, was sie wollte. Wilhelm befand sich nicht ¸bel; der Chirurgus, ein unwissender, aber nicht ungeschickter Mensch, lieï¬ die Natur walten, und so war der Patient bald auf dem Wege der Besserung. Sehnlich w¸nschte dieser sich wiederhergestellt zu sehen, um seine Plane, seine W¸nsche eifrig verfolgen zu kËnnen.
UnaufhËrlich rief er sich jene Begebenheit zur¸ck, welche einen unauslËschlichen Eindruck auf sein Gem¸t gemacht hatte. Er sah die schËne Amazone reitend aus den B¸schen hervorkommen, sie nâ°herte sich ihm, stieg ab, ging hin und wider und bem¸hte sich um seinetwillen. Er sah das umh¸llende Kleid von ihren Schultern fallen; ihr Gesicht, ihre Gestalt glâ°nzend verschwinden. Alle seine Jugendtrâ°ume kn¸pften sich an dieses Bild. Er glaubte nunmehr die edle, heldenm¸tige Chlorinde mit eignen Augen gesehen zu haben: ihm fiel der kranke KËnigssohn wieder ein, an dessen Lager die schËne, teilnehmende Prinzessin mit stiller Bescheidenheit herantritt.
“Sollten nicht”, sagte er manchmal im stillen zu sich selbst, “uns in der Jugend, wie im Schlafe, sie Bilder zuk¸nftiger Schicksale umschweben und unserm unbefangenen Auge ahnungsvoll sichtbar werden? Sollten die Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht schon von der Hand des Schicksals ausgestreut, sollte nicht ein Vorgenuï¬ der Fr¸chte, die wir einst zu brechen hoffen, mËglich sein?”
Sein Krankenlager gab ihm Zeit, jene Szene tausendmal zu wiederholen. Tausendmal rief er den Klang jener s¸ï¬en Stimme zur¸ck, und wie beneidete er Philinen, die jene h¸lfreiche Hand gek¸ï¬t hatte. Oft kam ihm die Geschichte wie ein Traum vor, und er w¸rde sie f¸r ein Mâ°rchen gehalten haben, wenn nicht das Kleid zur¸ckgeblieben wâ°re, das ihm die Gewiï¬heit der Erscheinung versicherte.
Mit der grËï¬ten Sorgfalt f¸r dieses Gewand war das lebhafteste Verlangen verbunden, sich damit zu bekleiden. Sobald er aufstand, warf er es ¸ber und bef¸rchtete den ganzen Tag, es mËchte durch einen Flecken oder auf sonst eine Weise beschâ°digt werden.
IV. Buch, 10. Kapitel
Zehntes Kapitel
Laertes besuchte seinen Freund. Er war bei jener lebhaften Szene im Wirtshause nicht gegenwâ°rtig gewesen, denn er lag in einer obern Kammer. ¸ber seinen Verlust war er sehr getrËstet und half sich mit seinem gewËhnlichen: “Was tut’s?” Er erzâ°hlte verschiedene lâ°cherliche Z¸ge von der Gesellschaft, besonders gab er Frau Melina schuld: sie beweine den Verlust ihrer Tochter nur deswegen, weil sie nicht das altdeutsche Vergn¸gen haben kËnne, eine Mechtilde taufen zu lassen. Was ihren Mann betreffe, so offenbare sich’s nun, daï¬ er viel Geld bei sich gehabt und auch schon damals des Vorschusses, den er Wilhelmen abgelockt, keineswegs bedurft habe. Melina wolle nunmehr mit dem nâ°chsten Postwagen abgehn und werde von Wilhelmen ein Empfehlungsschreiben an seinen Freund, den Direktor Serlo, verlangen, bei dessen Gesellschaft er, weil die eigne Unternehmung gescheitert, nun unterzukommen hoffe.
Mignon war einige Tage sehr still gewesen, und als man in sie drang, gestand sie endlich, daï¬ ihr rechter Arm verrenkt sei. “Das hast du deiner Verwegenheit zu danken”, sagte Philine und erzâ°hlte, wie das Kind im Gefechte seinen Hirschfâ°nger gezogen und, als es seinen Freund in Gefahr gesehen, wacker auf die Freibeuter zugehauen habe. Endlich sei es beim Arme ergriffen und auf die Seite geschleudert worden. Man schalt auf sie, daï¬ sie das ¸bel nicht eher entdeckt habe, doch merkte man wohl, daï¬ sie sich vor dem Chirurgus gescheut, der sie bisher immer f¸r einen Knaben gehalten hatte. Man suchte das ¸bel zu heben, und sie muï¬te den Arm in der Binde tragen. Hier¸ber war sie aufs neue empfindlich, weil sie den besten Teil der Pflege und Wartung ihres Freundes Philinen ¸berlassen muï¬te, und die angenehme S¸nderin zeigte sich nur um desto tâ°tiger und aufmerksamer.
Eines Morgens, als Wilhelm erwachte, fand er sich mit ihr in einer sonderbaren Nâ°he. Er war auf seinem weiten Lager in der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere Seite gerutscht. Philine lag quer ¸ber den vordern Teil hingestreckt; sie schien auf dem Bette sitzend und lesend eingeschlafen zu sein. Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen; sie war zur¸ck und mit dem Kopf nah an seine Brust gesunken, ¸ber die sich ihre blonden, aufgelËsten Haare in Wellen ausbreiteten. Die Unordnung des Schlafs erhËhte mehr als Kunst und Vorsatz ihre Reize; eine kindische lâ°chelnde Ruhe schwebte ¸ber ihrem Gesichte. Er sah sie eine Zeitlang an und schien sich selbst ¸ber das Vergn¸gen zu tadeln, womit er sie ansah, und wir wissen nicht, ob er seinen Zustand segnete oder tadelte, der ihm Ruhe und Mâ°ï¬igung zur Pflicht machte. Er hatte sie eine Zeitlang aufmerksam betrachtet, als sie sich zu regen anfing. Er schloï¬ die Augen sachte zu, doch konnte er nicht unterlassen zu blinzen und nach ihr zu sehen, als sie sich wieder zurechtputzte und wegging, nach dem Fr¸hst¸ck zu fragen.
Nach und nach hatten sich nun die sâ°mtlichen Schauspieler bei Wilhelmen gemeldet, hatten Empfehlungsschreiben und Reisegeld mehr oder weniger unartig und ungest¸m gefordert und immer mit Widerwillen Philinens erhalten. Vergebens stellte sie ihrem Freunde vor, daï¬ der Jâ°ger auch diesen Leuten eine ansehnliche Summe zur¸ckgelassen, daï¬ man ihn nur zum besten habe. Vielmehr kamen sie dar¸ber in einen lebhaften Zwist, und Wilhelm behauptete nunmehr ein f¸r allemal, daï¬ sie sich gleichfalls an die ¸brige Gesellschaft anschlieï¬en und ihr Gl¸ck bei Serlo versuchen sollte.
Nur einige Augenblicke verlieï¬ sie ihr Gleichmut, dann erholte sie sich schnell wieder und rief: “Wenn ich nur meinen Blonden wieder hâ°tte, so wollt ich mich um euch alle nichts k¸mmern.” Sie meinte Friedrichen, der sich vom Waldplatze verloren und nicht wieder gezeigt hatte.
Des andern Morgens brachte Mignon die Nachricht ans Bette, daï¬ Philine in der Nacht abgereist sei; im Nebenzimmer habe sie alles, was ihm gehËre, sehr ordentlich zusammengelegt. Er empfand ihre Abwesenheit; er hatte an ihr eine treue Wâ°rterin, eine muntere Gesellschafterin verloren; er war nicht mehr gewohnt, allein zu sein. Allein Mignon f¸llte die L¸cke bald wieder aus.
Seitdem jene leichtfertige SchËne in ihren freundlichen Bem¸hungen den Verwundeten umgab, hatte sich die Kleine nach und nach zur¸ckgezogen und war stille f¸r sich geblieben; nun aber, da sie wieder freies Feld gewann, trat sie mit Aufmerksamkeit und Liebe hervor, war eifrig, ihm zu dienen, und munter, ihn zu unterhalten.
IV. Buch, 11. Kapitel
Eilftes Kapitel
Mit lebhaften Schritten nahete er sich der Besserung; er hoffte nun, in wenig Tagen seine Reise antreten zu kËnnen. Er wollte nicht etwa planlos ein schlenderndes Leben fortsetzen, sondern zweckmâ°ï¬ige Schritte sollten k¸nftig seine Bahn bezeichnen. Zuerst wollte er die h¸lfreiche Herrschaft aufsuchen, um seine Dankbarkeit an den Tag zu legen, alsdann zu seinem Freunde, dem Direktor, eilen, um f¸r die verungl¸ckte Gesellschaft auf das beste zu sorgen, und zugleich die Handelsfreunde, an die er mit Adressen versehen war, besuchen und die ihm aufgetragnen Geschâ°fte verrichten. Er machte sich Hoffnung, daï¬ ihm das Gl¸ck wie vorher auch k¸nftig beistehen und ihm Gelegenheit verschaffen werde, durch eine gl¸ckliche Spekulation den Verlust zu ersetzen und die L¸cke seiner Kasse wieder auszuf¸llen.
Das Verlangen, seine Retterin wiederzusehen, wuchs mit jedem Tage. Um seine Reiseroute zu bestimmen, ging er mit dem Geistlichen zu Rate, der schËne geographische und statistische Kenntnisse hatte und eine artige B¸cher- und Kartensammlung besaï¬. Man suchte nach dem Orte, den die edle Familie wâ°hrend des Kriegs zu ihrem Sitz erwâ°hlt hatte, man suchte Nachrichten von ihr selbst auf; allein der Ort war in keiner Geographie, auf keiner Karte zu finden, und die genealogischen Handb¸cher sagten nichts von einer solchen Familie.
Wilhelm wurde unruhig, und als er seine Bek¸mmernis laut werden lieï¬, entdeckte ihm der Harfenspieler: er habe Ursache zu glauben, daï¬ der Jâ°ger, es sei aus welcher Ursache es wolle, den wahren Namen verschwiegen habe.
Wilhelm, der nun einmal sich in der Nâ°he der SchËnen glaubte, hoffte einige Nachricht von ihr zu erhalten, wenn er den Harfenspieler abschickte; aber auch diese Hoffnung ward getâ°uscht. Sosehr der Alte sich auch erkundigte, konnte er doch auf keine Spur kommen. In jenen Tagen waren verschiedene lebhafte Bewegungen und unvorhergesehene Durchmâ°rsche in diesen Gegenden vorgefallen; niemand hatte auf die reisende Gesellschaft besonders achtgegeben, so daï¬ der ausgesendete Bote, um nicht f¸r einen j¸dischen Spion angesehn zu werden, wieder zur¸ckgehen und ohne Ëlblatt vor seinem Herrn und Freund erscheinen muï¬te. Er legte strenge Rechenschaft ab, wie er den Auftrag auszurichten gesucht, und war bem¸ht, allen Verdacht einer Nachlâ°ssigkeit von sich zu entfernen. Er suchte auf alle Weise Wilhelms Betr¸bnis zu lindern, besann sich auf alles, was er von dem Jâ°ger erfahren hatte, und brachte mancherlei Mutmaï¬ungen vor, wobei denn endlich ein Umstand vorkam, woraus Wilhelm einige râ°tselhafte Worte der schËnen Verschwundenen deuten konnte.
Die râ°uberische Bande nâ°mlich hatte nicht der wandernden Truppe, sondern jener Herrschaft aufgepaï¬t, bei der sie mit Recht vieles Geld und Kostbarkeiten vermutete und von deren Zug sie genaue Nachricht muï¬te gehabt haben. Man wuï¬te nicht, ob man die Tat einem Freikorps, ob man sie Marodeurs oder Râ°ubern zuschreiben sollte. Genug, zum Gl¸cke der vornehmen und reichen Karawane waren die Geringen und Armen zuerst auf den Platz gekommen und hatten das Schicksal erduldet, das jenen zubereitet war. Darauf bezogen sich die Worte der jungen Dame, deren sich Wilhelm noch gar wohl erinnerte. Wenn er nun vergn¸gt und gl¸cklich sein konnte, daï¬ ein vorsichtiger Genius ihn zum Opfer bestimmt hatte, eine vollkommene Sterbliche zu retten, so war er dagegen nahe an der Verzweiflung, da ihm, sie wiederzufinden, sie wiederzusehen wenigstens f¸r den Augenblick alle Hoffnung verschwunden war.
Was diese sonderbare Bewegung in ihm vermehrte, war die â°hnlichkeit, die er zwischen der Grâ°fin und der schËnen Unbekannten entdeckt zu haben glaubte. Sie glichen sich, wie sich Schwestern gleichen mËgen, deren keine die j¸ngere noch die â°ltere genannt werden darf, denn sie scheinen Zwillinge zu sein.
Die Erinnerung an die liebensw¸rdige Grâ°fin war ihm unendlich s¸ï¬. Er rief sich ihr Bild nur allzugern wieder ins Gedâ°chtnis. Aber nun trat die Gestalt der edlen Amazone gleich dazwischen, eine Erscheinung verwandelte sich in die andere, ohne daï¬ er imstande gewesen wâ°re, diese oder jene festzuhalten.
Wie wunderbar muï¬te ihm daher die â°hnlichkeit ihrer Handschriften sein! denn er verwahrte ein reizendes Lied von der Hand der Grâ°fin in seiner Schreibtafel, und in dem ¸berrock hatte er ein Zettelchen gefunden, worin man sich mit viel zâ°rtlicher Sorgfalt nach dem Befinden eines Oheims erkundigte.
Wilhelm war ¸berzeugt, daï¬ seine Retterin dieses Billett geschrieben, daï¬ es auf der Reise in einem Wirtshause aus einem Zimmer in das andere geschickt und von dem Oheim in die Tasche gesteckt worden sei. Er hielt beide Handschriften gegeneinander, und wenn die zierlich gestellten Buchstaben der Grâ°fin ihm sonst so sehr gefallen hatten, so fand er in den â°hnlichen, aber freieren Z¸gen der Unbekannten eine unaussprechlich flieï¬ende Harmonie. Das Billett enthielt nichts, und schon die Z¸ge schienen ihn, so wie ehemals die Gegenwart der SchËnen, zu erheben.
Er verfiel in eine trâ°umende Sehnsucht, und wie einstimmend mit seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mignon und der Harfner als ein unregelmâ°ï¬iges Duett mit dem herzlichsten Ausdrucke sangen:
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiï¬, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiï¬, was ich leide!
IV. Buch, 12. Kapitel
ZwËlftes Kapitel
Die sanften Lockungen des lieben Schutzgeistes, anstatt unsern Freund auf irgendeinen Weg zu f¸hren, nâ°hrten und vermehrten die Unruhe, die er vorher empfunden hatte. Eine heimliche Glut schlich in seinen Adern; bestimmte und unbestimmte Gegenstâ°nde wechselten in seiner Seele und erregten ein endloses Verlangen. Bald w¸nschte er sich ein Roï¬, bald Fl¸gel, und indem es ihm unmËglich schien, bleiben zu kËnnen, sah er sich erst um, wohin er denn eigentlich begehre.
Der Faden seines Schicksals hatte sich so sonderbar verworren; er w¸nschte die seltsamen Knoten aufgelËst oder zerschnitten zu sehen. Oft, wenn er ein Pferd traben oder einen Wagen rollen hËrte, schaute er eilig zum Fenster hinaus, in der Hoffnung, es w¸rde jemand sein, der ihn aufsuchte und, wâ°re es auch nur durch Zufall, ihm Nachricht, Gewiï¬heit und Freude brâ°chte. Er erzâ°hlte sich Geschichten vor, wie sein Freund Werner in diese Gegend kommen und ihn ¸berraschen kËnnte, daï¬ Mariane vielleicht erscheinen d¸rfte. Der Ton eines jeden Posthorns setzte ihn in Bewegung. Melina sollte von seinem Schicksale Nachricht geben, vorz¸glich aber sollte der Jâ°ger wiederkommen und ihn zu jener angebeteten SchËnheit einladen.
Von allem diesen geschah leider nichts, und er muï¬te zuletzt wieder mit sich allein bleiben, und indem er das Vergangene wieder durchnahm, ward ihm ein Umstand, je mehr er ihn betrachtete und beleuchtete, immer widriger und unertrâ°glicher. Es war seine verungl¸ckte Heerf¸hrerschaft, an die er ohne Verdruï¬ nicht denken konnte. Denn ob er gleich am Abend jenes bËsen Tages sich vor der Gesellschaft so ziemlich herausgeredet hatte, so konnte er sich doch selbst seine Schuld nicht verleugnen. Er schrieb sich vielmehr in hypochondrischen Augenblicken den ganzen Vorfall allein zu.
Die Eigenliebe lâ°ï¬t uns sowohl unsre Tugenden als unsre Fehler viel bedeutender, als sie sind, erscheinen. Er hatte das Vertrauen auf sich rege gemacht, den Willen der ¸brigen gelenkt und war, von Unerfahrenheit und K¸hnheit geleitet, vorangegangen; es ergriff sie eine Gefahr, der sie nicht gewachsen waren. Laute und stille Vorw¸rfe verfolgten ihn, und wenn er der irregef¸hrten Gesellschaft nach dem empfindlichen Verluste zugesagt hatte, sie nicht zu verlassen, bis er ihnen das Verlorne mit Wucher ersetzt hâ°tte, so hatte er sich ¸ber eine neue Verwegenheit zu schelten, womit er ein allgemein ausgeteiltes ¸bel auf seine Schultern zu nehmen sich vermaï¬. Bald verwies er sich, daï¬ er durch Aufspannung und Drang des Augenblicks ein solches Versprechen getan hatte; bald f¸hlte er wieder, daï¬ jenes gutm¸tige Hinreichen seiner Hand, die niemand anzunehmen w¸rdigte, nur eine leichte FËrmlichkeit sei gegen das Gel¸bde, das sein Herz getan hatte. Er sann auf Mittel, ihnen wohltâ°tig und n¸tzlich zu sein, und fand alle Ursache, seine Reise zu Serlo zu beschleunigen. Er packte nunmehr seine Sachen zusammen und eilte, ohne seine vËllige Genesung abzuwarten, ohne auf den Rat des Pastors und Wundarztes zu hËren, in der wunderbaren Gesellschaft Mignons und des Alten, der Untâ°tigkeit zu entfliehen, in der ihn sein Schicksal abermals nur zu lange gehalten hatte.
IV. Buch, 13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Serlo empfing ihn mit offenen Armen und rief ihm entgegen: “Seh ich Sie? Erkenn ich Sie wieder? Sie haben sich wenig oder nicht geâ°ndert. Ist Ihre Liebe zur edelsten Kunst noch immer so stark und lebendig? So sehr erfreu ich mich ¸ber Ihre Ankunft, daï¬ ich selbst das Miï¬trauen nicht mehr f¸hle, das Ihre letzten Briefe bei mir erregt haben.”
Wilhelm bat betroffen um eine nâ°here Erklâ°rung.
“Sie haben sich”, versetzte Serlo, “gegen mich nicht wie ein alter Freund betragen; Sie haben mich wie einen groï¬en Herrn behandelt, dem man mit gutem Gewissen unbrauchbare Leute empfehlen darf. Unser Schicksal hâ°ngt von der Meinung des Publikums ab, und ich f¸rchte, daï¬ Ihr Herr Melina mit den Seinigen schwerlich bei uns wohl aufgenommen werden d¸rfte.”
Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunsten sprechen, aber Serlo fing an, eine so unbarmherzige Schilderung von ihnen zu machen, daï¬ unser Freund sehr zufrieden war, als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat, das Gesprâ°ch unterbrach und ihm sogleich als Schwester Aurelia von seinem Freunde vorgestellt ward. Sie empfing ihn auf das freundschaftlichste, und ihre Unterhaltung war so angenehm, daï¬ er nicht einmal einen entschiedenen Zug des Kummers gewahr wurde, der ihrem geistreichen Gesicht noch ein besonderes Interesse gab.
Zum erstenmal seit langer Zeit fand sich Wilhelm wieder in seinem Elemente. Bei seinen Gesprâ°chen hatte er sonst nur notd¸rftig gefâ°llige ZuhËrer gefunden, da er gegenwâ°rtig mit K¸nstlern und Kennern zu sprechen das Gl¸ck hatte, die ihn nicht allein vollkommen verstanden, sondern die auch sein Gesprâ°ch belehrend erwiderten. Mit welcher Geschwindigkeit ging man die neusten St¸cke durch! Mit welcher Sicherheit beurteilte man sie! Wie wuï¬te man das Urteil des Publikums zu pr¸fen und zu schâ°tzen! In welcher Geschwindigkeit klâ°rte man einander auf!
Nun muï¬te sich bei Wilhelms Vorliebe f¸r Shakespearen das Gesprâ°ch notwendig auf diesen Schriftsteller lenken. Er zeigte die lebhafteste Hoffnung auf die Epoche, welche diese vortrefflichen St¸cke in Deutschland machen m¸ï¬ten, und bald brachte er seinen “Hamlet” vor, der ihn so sehr beschâ°ftigt hatte.
Serlo versicherte, daï¬ er das St¸ck lâ°ngst, wenn es nur mËglich gewesen wâ°re, gegeben hâ°tte, daï¬ er gern die Rolle des Polonius ¸bernehmen wolle. Dann setzte er mit Lâ°cheln hinzu: “Und Ophelien finden sich wohl auch, wenn wir nur erst den Prinzen haben.”
Wilhelm bemerkte nicht, daï¬ Aurelien dieser Scherz des Bruders zu miï¬fallen schien; er ward vielmehr nach seiner Art weitlâ°ufig und lehrreich, in welchem Sinne er den Hamlet gespielt haben wolle. Er legte ihnen die Resultate umstâ°ndlich dar, mit welchen wir ihn oben beschâ°ftigt gesehn, und gab sich alle M¸he, seine Meinung annehmlich zu machen, soviel Zweifel auch Serlo gegen seine Hypothese erregte. “Nun gut”, sagte dieser zuletzt, “Wir geben Ihnen alles zu; was wollen Sie weiter daraus erklâ°ren?”
“Vieles, alles”, versetzte Wilhelm. “Denken Sie sich einen Prinzen, wie ich ihn geschildert habe, dessen Vater unvermutet stirbt. Ehrgeiz und Herrschsucht sind nicht die Leidenschaften, die ihn beleben; er hatte sich’s gefallen lassen, Sohn eines KËnigs zu sein; aber nun ist er erst genËtigt, auf den Abstand aufmerksamer zu werden, der den KËnig vom Untertanen scheidet. Das Recht zur Krone war nicht erblich, und doch hâ°tte ein lâ°ngeres Leben seines Vaters die Anspr¸che seines einzigen Sohnes mehr befestigt und die Hoffnung zur Krone gesichert. Dagegen sieht er sich nun durch seinen Oheim, ungeachtet scheinbarer Versprechungen, vielleicht auf immer ausgeschlossen; er f¸hlt sich nun so arm an Gnade, an G¸tern und fremd in dem, was er von Jugend auf als sein Eigentum betrachten konnte. Hier nimmt sein Gem¸t die erste traurige Richtung. Er f¸hlt, daï¬ er nicht mehr, ja nicht soviel ist als jeder Edelmann; er gibt sich f¸r einen Diener eines jeden, er ist nicht hËflich, nicht herablassend, nein, herabgesunken und bed¸rftig.
Nach seinem vorigen Zustande blickt er nur wie nach einem verschwundnen Traume. Vergebens, daï¬ sein Oheim ihn aufmuntern, ihm seine Lage aus einem andern Gesichtspunkte zeigen will; die Empfindung seines Nichts verlâ°ï¬t ihn nie.
Der zweite Schlag, der ihn traf, verletzte tiefer, beugte noch mehr. Es ist die Heirat seiner Mutter. Ihm, einem treuen und zâ°rtlichen Sohne, blieb, da sein Vater starb, eine Mutter noch ¸brig; er hoffte, in Gesellschaft seiner hinterlassenen edlen Mutter die Heldengestalt jenes groï¬en Abgeschiedenen zu verehren; aber auch seine Mutter verliert er, und es ist schlimmer, als wenn sie ihm der Tod geraubt hâ°tte. Das zuverlâ°ssige Bild, das sich ein wohlgeratenes Kind so gern von seinen Eltern macht, verschwindet; bei dem Toten ist keine H¸lfe und an der Lebendigen kein Halt. Sie ist auch ein Weib, und unter dem allgemeinen Geschlechtsnamen Gebrechlichkeit ist auch sie begriffen.
Nun erst f¸hlt er sich recht gebeugt, nun erst verwaist, und kein Gl¸ck der Welt kann ihm wieder ersetzen, was er verloren hat. Nicht traurig, nicht nachdenklich von Natur, wird ihm Trauer und Nachdenken zur schweren B¸rde. So sehen wir ihn auftreten. Ich glaube nicht, daï¬ ich etwas in das St¸ck hineinlege oder einen Zug ¸bertreibe.”
Serlo sah seine Schwester an und sagte: “Habe ich dir ein falsches Bild von unserm Freunde gemacht? Er fâ°ngt gut an und wird uns noch manches vorerzâ°hlen und viel ¸berreden. Wilhelm schwur hoch und teuer, daï¬ er nicht ¸berreden, sondern ¸berzeugen wolle, und bat nur noch um einen Augenblick Geduld.
“Denken Sie sich”, rief er aus, “diesen J¸ngling, diesen F¸rstensohn recht lebhaft, vergegenwâ°rtigen Sie sich seine Lage, und dann beobachten Sie ihn, wenn er erfâ°hrt, die Gestalt seines Vaters erscheine; stehen Sie ihm bei in der schrecklichen Nacht, wenn der ehrw¸rdige Geist selbst vor ihm auftritt. Ein ungeheures Entsetzen ergreift ihn; er redet die Wundergestalt an, sieht sie winken, folgt und hËrt.–Die schreckliche Anklage wider seinen Oheim ertËnt in seinen Ohren, Aufforderung zur Rache und die dringende, wiederholte Bitte: “Erinnere dich meiner!”
Und da der Geist verschwunden ist, wen sehen wir vor uns stehen? Einen jungen Helden, der nach Rache schnaubt? Einen gebornen F¸rsten, der sich gl¸cklich f¸hlt, gegen den Usurpator seiner Krone aufgefordert zu werden? Nein! Staunen und Tr¸bsinn ¸berfâ°llt den Einsamen; er wird bitter gegen die lâ°chelnden BËsewichter, schwËrt, den Abgeschiedenen nicht zu vergessen, und schlieï¬t mit dem bedeutenden Seufzer: “Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daï¬ ich geboren ward, sie wieder einzurichten.”
In diesen Worten, d¸nkt mich, liegt der Schl¸ssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daï¬ Shakespeare habe schildern wollen: eine groï¬e Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist. Und in diesem Sinne find ich das St¸ck durchgâ°ngig gearbeitet. Hier wird ein Eichbaum in ein kËstliches Gefâ°ï¬ gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinen Schoï¬ hâ°tte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen aus, das Gefâ°ï¬ wird zernichtet.
Ein schËnes, reines, edles, hËchst moralisches Wesen ohne die sinnliche Stâ°rke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer. Das UnmËgliche wird von ihm gefordert, nicht das UnmËgliche an sich, sondern das, was ihm unmËglich ist. Wie er sich windet, dreht, â°ngstigt, vor- und zur¸cktritt, immer erinnert wird, sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinne verliert, ohne doch jemals wieder froh zu werden.”
IV. Buch, 14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Verschiedene Personen traten herein, die das Gesprâ°ch unterbrachen. Es waren Virtuosen, die sich bei Serlo gewËhnlich einmal die Woche zu einem kleinen Konzerte versammelten. Er liebte die Musik sehr und behauptete, daï¬ ein Schauspieler ohne diese Liebe niemals zu einem deutlichen Begriff und Gef¸hl seiner eigenen Kunst gelangen kËnne. So wie man viel leichter und anstâ°ndiger agiere, wenn die Gebâ°rden durch eine Melodie begleitet und geleitet werden, so m¸sse der Schauspieler sich auch seine prosaische Rolle gleichsam im Sinne komponieren, daï¬ er sie nicht etwa eintËnig nach seiner individuellen Art und Weise hinsudele, sondern sie in gehËriger Abwechselung nach Takt und Maï¬ behandle.
Aurelie schien an allem, was vorging, wenig Anteil zu nehmen, vielmehr f¸hrte sie zuletzt unsern Freund in ein Seitenzimmer, und indem sie ans Fenster trat und den gestirnten Himmel anschaute, sagte sie zu ihm: “Sie sind uns manches ¸ber Hamlet schuldig geblieben; ich will zwar nicht voreilig sein und w¸nsche, daï¬ mein Bruder auch mit anhËren mËge, was Sie uns noch zu sagen haben, doch lassen Sie mich Ihre Gedanken ¸ber Ophelien hËren.”
“Von ihr lâ°ï¬t sich nicht viel sagen”, versetzte Wilhelm, “denn nur mit wenig Meisterz¸gen ist ihr Charakter vollendet. Ihr ganzes Wesen schwebt in reifer, s¸ï¬er Sinnlichkeit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf dessen Hand sie Anspruch machen darf, flieï¬t so aus der Quelle, das gute Herz ¸berlâ°ï¬t sich so ganz seinem Verlangen, daï¬ Vater und Bruder beide f¸rchten, beide geradezu und unbescheiden warnen. Der Wohlstand, wie der leichte Flor auf ihrem Busen, kann die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen, er wird vielmehr ein Verrâ°ter dieser leisen Bewegung. Ihre Einbildungskraft ist angesteckt, ihre stille Bescheidenheit atmet eine liebevolle Begierde, und sollte die bequeme GËttin Gelegenheit das Bâ°umchen sch¸tteln, so w¸rde die Frucht sogleich herabfallen.”
“Und nun”, sagte Aurelie, “wenn sie sich verlassen sieht, verstoï¬en und verschmâ°ht, wenn in der Seele ihres wahnsinnigen Geliebten sich das HËchste zum Tiefsten umwendet und er ihr statt des s¸ï¬en Bechers der Liebe den bittern Kelch der Leiden hinreicht–”
“Ihr Herz bricht”, rief Wilhelm aus, “das ganze Ger¸st ihres Daseins r¸ckt aus seinen Fugen, der Tod ihres Vaters st¸rmt herein, und das schËne Gebâ°ude st¸rzt vËllig zusammen.”
Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit welchem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aussprach. Nur auf das Kunstwerk, dessen Zusammenhang und Vollkommenheit gerichtet, ahnete er nicht, daï¬ seine Freundin eine ganz andere Wirkung empfand; nicht, daï¬ ein eigner tiefer Schmerz durch diese dramatischen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt ward.
Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von ihren Armen unterst¸tzt und ihre Augen, die sich mit Trâ°nen f¸llten, gen Himmel gewendet. Endlich hielt sie nicht lâ°nger ihren verborgnen Schmerz zur¸ck; sie faï¬te des Freundes beide Hâ°nde und rief, indem er erstaunt vor ihr stand: “Verzeihen Sie, verzeihen Sie einem geâ°ngstigten Herzen! Die Gesellschaft schn¸rt und preï¬t mich zusammen; vor meinem unbarmherzigen Bruder muï¬ ich mich zu verbergen suchen; nun hat Ihre Gegenwart alle Bande aufgelËst. Mein Freund!” fuhr sie fort, “seit einem Augenblicke sind wir erst bekannt, und schon werden Sie mein Vertrauter.” Sie konnte die Worte kaum aussprechen und sank an seine Schulter. “Denken Sie nicht ¸bler von mir”, sagte sie schluchzend, “daï¬ ich mich Ihnen so schnell erËffne, daï¬ Sie mich so schwach sehen. Sein Sie, bleiben Sie mein Freund, ich verdiene es.” Er redete ihr auf das herzlichste zu; umsonst! ihre Trâ°nen flossen und erstickten ihre Worte.
In diesem Augenblicke trat Serlo sehr unwillkommen herein und sehr unerwartet Philine, die er bei der Hand hielt. “Hier ist Ihr Freund”, sagte er zu ihr; “er wird sich freun, Sie zu begr¸ï¬en.”
“Wie!” rief Wilhelm erstaunt, “muï¬ ich Sie hier sehen?” Mit einem bescheidnen, gesetzten Wesen ging sie auf ihn los, hieï¬ ihn willkommen, r¸hmte Serlos G¸te, der sie ohne ihr Verdienst, bloï¬ in Hoffnung, daï¬ sie sich bilden werde, unter seine treffliche Truppe aufgenommen habe. Sie tat dabei gegen Wilhelmen freundlich, doch aus einer ehrerbietigen Entfernung.
Diese Verstellung wâ°hrte aber nicht lâ°nger, als die beiden zugegen waren. Denn als Aurelie, ihren Schmerz zu verbergen, wegging und Serlo abgerufen ward, sah Philine erst recht genau nach den T¸ren, ob beide auch gewiï¬ fort seien, dann h¸pfte sie wie tËricht in der Stube herum, setzte sich an die Erde und wollte vor Kichern und Lachen ersticken. Dann sprang sie auf, schmeichelte unserm Freunde und freute sich ¸ber alle Maï¬en, daï¬ sie so klug gewesen sei, vorauszugehen, das Terrain zu rekognoszieren und sich einzunisten.
“Hier geht es bunt zu”, sagte sie, “gerade so, wie mir’s recht ist. Aurelie hat einen ungl¸cklichen Liebeshandel mit einem Edelmanne gehabt, der ein prâ°chtiger Mensch sein muï¬ und den ich selbst wohl einmal sehen mËchte. Er hat ihr ein Andenken hinterlassen, oder ich m¸ï¬te mich sehr irren. Es lâ°uft da ein Knabe herum, ungefâ°hr von drei Jahren, schËn wie die Sonne; der Papa mag allerliebst sein. Ich kann sonst die Kinder nicht leiden, aber dieser Junge freut mich. Ich habe ihr nachgerechnet. Der Tod ihres Mannes, die neue Bekanntschaft, das Alter des Kindes, alles trifft zusammen.
Nun ist der Freund seiner Wege gegangen; seit einem Jahre sieht er sie nicht mehr. Sie ist dar¸ber auï¬er sich und untrËstlich. Die Nâ°rrin! –Der Bruder hat unter der Truppe eine Tâ°nzerin, mit der er schËntut, ein Aktricchen, mit der er vertraut ist, in der Stadt noch einige Frauen, denen er aufwartet, und nun steh ich auch auf der Liste. Der Narr!–Vom ¸brigen Volke sollst du morgen hËren. Und nun noch ein WËrtchen von Philinen, die du kennst; die Erznâ°rrin ist in dich verliebt.” Sie schwur, daï¬ es wahr sei, und beteuerte, daï¬ es ein rechter Spaï¬ sei. Sie bat Wilhelmen instâ°ndig, er mËchte sich in Aurelien verlieben, dann werde die Hetze erst recht angehen. “Sie lâ°uft ihrem Ungetreuen, du ihr, ich dir und der Bruder mir nach. Wenn das nicht eine Lust auf ein halbes Jahr gibt, so will ich an der ersten Episode sterben, die sich zu diesem vierfach verschlungenen Romane hinzuwirft.” Sie bat ihn, er mËchte ihr den Handel nicht verderben und ihr so viel Achtung bezeigen, als sie durch ihr Ëffentliches Betragen verdienen wolle.
IV. Buch, 15. Kapitel
Funfzehntes Kapitel
Den nâ°chsten Morgen gedachte Wilhelm Madame Melina zu besuchen; er fand sie nicht zu Hause, fragte nach den ¸brigen Gliedern der wandernden Gesellschaft und erfuhr, Philine habe sie zum Fr¸hst¸ck eingeladen. Aus Neugier eilte er hin und traf sie alle sehr aufgerâ°umt und getrËstet. Das kluge GeschËpf hatte sie versammelt, sie mit Schokolade bewirtet und ihnen zu verstehen gegeben, noch sei nicht alle Aussicht versperrt; sie hoffe durch ihren Einfluï¬ den Direktor zu ¸berzeugen, wie vorteilhaft es ihm sei, so geschickte Leute in seine Gesellschaft aufzunehmen. Sie hËrten ihr aufmerksam zu, schl¸rften eine Tasse nach der andern hinunter, fanden das Mâ°dchen gar nicht ¸bel und nahmen sich vor, das Beste von ihr zu reden.
“Glauben Sie denn”, sagte Wilhelm, der mit Philinen allein geblieben war, “daï¬ Serlo sich noch entschlieï¬en werde, unsre Gefâ°hrten zu behalten?”–“Mitnichten”, versetzte Philine, “es ist mir auch gar nichts daran gelegen; ich wollte, sie wâ°ren je eher je lieber fort! Den einzigen Laertes w¸nscht ich zu behalten; die ¸brigen wollen wir schon nach und nach beiseite bringen.”
Hierauf gab sie ihrem Freunde zu verstehen, daï¬ sie gewiï¬ Â¸berzeugt sei, er werde nunmehr sein Talent nicht lâ°nger vergraben, sondern unter Direktion eines Serlo aufs Theater gehen. Sie konnte die Ordnung, den Geschmack, den Geist, der hier herrsche, nicht genug r¸hmen; sie sprach so schmeichelnd zu unserm Freunde, so schmeichelhaft von seinen Talenten, daï¬ sein Herz und seine Einbildungskraft sich ebensosehr diesem Vorschlage nâ°herten, als sein Verstand und seine Vernunft sich davon entfernten. Er verbarg seine Neigung vor sich selbst und vor Philinen und brachte einen unruhigen Tag zu, an dem er sich nicht entschlieï¬en konnte, zu seinen Handelskorrespondenten zu gehen und die Briefe, die dort f¸r ihn liegen mËchten, abzuholen. Denn ob er sich gleich die Unruhe der Seinigen diese Zeit ¸ber vorstellen konnte, so scheute er sich doch, ihre Sorgen und Vorw¸rfe umstâ°ndlich zu erfahren, um so mehr, da er sich einen groï¬en und reinen Genuï¬ diesen Abend von der Auff¸hrung eines neuen St¸cks versprach.
Serlo hatte sich geweigert, ihn bei der Probe zuzulassen. “Sie m¸ssen uns”, sagte er, “erst von der besten Seite kennenlernen, eh wir zugeben, daï¬ Sie uns in die Karte sehen.”
Mit der grËï¬ten Zufriedenheit wohnte aber auch unser Freund den Abend darauf der Vorstellung bei. Es war das erste Mal, daï¬ er ein Theater in solcher Vollkommenheit sah. Man traute sâ°mtlichen Schauspielern f¸rtreffliche Gaben, gl¸ckliche Anlagen und einen hohen und klaren Begriff von ihrer Kunst zu, und doch waren sie einander nicht gleich; aber sie hielten und trugen sich wechselsweise, feuerten einander an und waren in ihrem ganzen Spiele sehr bestimmt und genau. Man f¸hlte bald, daï¬ Serlo die Seele des Ganzen war, und er zeichnete sich sehr zu seinem Vorteil aus. Eine heitere Laune, eine gemâ°ï¬igte Lebhaftigkeit, ein bestimmtes Gef¸hl des Schicklichen bei einer groï¬en Gabe der Nachahmung muï¬te man an ihm, wie er aufs Theater trat, wie er den Mund Ëffnete, bewundern. Die innere Behaglichkeit seines Daseins schien sich ¸ber alle ZuhËrer auszubreiten, und die geistreiche Art, mit der er die feinsten Schattierungen der Rollen leicht und gefâ°llig ausdr¸ckte, erweckte um soviel mehr Freude, als er die Kunst zu verbergen wuï¬te, die er sich durch eine anhaltende ¸bung eigen gemacht hatte.
Seine Schwester Aurelie blieb nicht hinter ihm und erhielt noch grËï¬eren Beifall, indem sie die Gem¸ter der Menschen r¸hrte, die er zu erheitern und zu erfreuen so sehr imstande war.
Nach einigen Tagen, die auf eine angenehme Weise zugebracht wurden, verlangte Aurelie nach unserm Freund. Er eilte zu ihr und fand sie auf dem Kanapee liegen; sie schien an Kopfweh zu leiden, und ihr ganzes Wesen konnte eine fieberhafte Bewegung nicht verbergen. Ihr Auge erheiterte sich, als sie den Hereintretenden ansah. “Vergeben Sie!” rief sie ihm entgegen; “das Zutrauen, das Sie mir einflËï¬ten, hat mich schwach gemacht. Bisher konnt ich mich mit meinen Schmerzen im stillen unterhalten, ja sie gaben mir Stâ°rke und Trost; nun haben Sie, ich weiï¬ nicht, wie es zugegangen ist, die Bande der Verschwiegenheit gelËst, und Sie werden nun selbst wider Willen teil an dem Kampfe nehmen, den ich gegen mich selbst streite.”
Wilhelm antwortete ihr freundlich und verbindlich. Er versicherte, daï¬ ihr Bild und ihre Schmerzen ihm bestâ°ndig vor der Seele geschwebt, daï¬ er sie um ihr Vertrauen bitte, daï¬ er sich ihr zum Freund widme.
Indem er so sprach, wurden seine Augen von dem Knaben angezogen, der vor ihr auf der Erde saï¬ und allerlei Spielwerk durcheinanderwarf. Er mochte, wie Philine schon angegeben, ungefâ°hr drei Jahre alt sein, und Wilhelm verstand nun erst, warum das leichtfertige, in ihren Ausdr¸cken selten erhabene Mâ°dchen den Knaben der Sonne verglichen. Denn um die offnen Augen und das volle Gesicht krâ°uselten sich die schËnsten goldnen Locken, an einer blendendweiï¬en Stirne zeigten sich zarte, dunkle, sanftgebogene Augenbrauen, und die lebhafte Farbe der Gesundheit glâ°nzte auf seinen Wangen. “Setzen Sie sich zu mir”, sagte Aurelie; “Sie sehen das gl¸ckliche Kind mit Verwunderung an; gewiï¬, ich habe es mit Freuden auf meine Arme genommen, ich bewahre es mit Sorgfalt; nur kann ich auch recht an ihm den Grad meiner Schmerzen erkennen, denn sie lassen mich den Wert einer solchen Gabe nur selten empfinden.
Erlauben Sie mir”, fuhr sie fort, “daï¬ ich nun auch von mir und meinem Schicksale rede; denn es ist mir sehr daran gelegen, daï¬ Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte einige gelassene Augenblicke zu haben, darum lieï¬ ich Sie rufen; Sie sind nun da, und ich habe meinen Faden verloren.
“Ein verlaï¬nes GeschËpf mehr in der Welt!” werden Sie sagen. Sie sind ein Mann und denken: “Wie gebâ°rdet sie sich bei einem notwendigen ¸bel, das gewisser als der Tod ¸ber einem Weibe schwebt, bei der Untreue eines Mannes, die TËrin!”–O mein Freund, wâ°re mein Schicksal gemein, ich wollte gern gemeines ¸bel ertragen; aber es ist so auï¬erordentlich; warum kann ich’s Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es Ihnen zu erzâ°hlen! O wâ°re, wâ°re ich verf¸hrt, ¸berrascht und dann verlassen, dann w¸rde in der Verzweiflung noch Trost sein; aber ich bin weit schlimmer daran, ich habe mich selbst hintergangen, mich selbst wider Wissen betrogen, das ist’s, was ich mir niemals verzeihen kann.”
“Bei edlen Gesinnungen, wie die Ihrigen sind”, versetzte der Freund, “kËnnen Sie nicht ganz ungl¸cklich sein.”
“Und wissen Sie, wem ich meine Gesinnung schuldig bin?” fragte Aurelie, “der allerschlechtesten Erziehung, durch die jemals ein Mâ°dchen hâ°tte verderbt werden sollen, dem schlimmsten Beispiele, um Sinne und Neigung zu verf¸hren.
Nach dem fr¸hzeitigen Tode meiner Mutter bracht ich die schËnsten Jahre der Entwicklung bei einer Tante zu, die sich zum Gesetz machte, die Gesetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings ¸berlieï¬ sie sich einer jeden Neigung, sie mochte ¸ber den Gegenstand gebieten oder sein Sklav’ sein, wenn sie nur im wilden Genuï¬ ihrer selbst vergessen konnte.
Was muï¬ten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unschuld uns f¸r Begriffe von dem mâ°nnlichen Geschlechte machen? Wie dumpf, dringend, dreist, ungeschickt war jeder, den sie herbeireizte; wie satt, ¸berm¸tig, leer und abgeschmackt dagegen, sobald er seiner W¸nsche Befriedigung gefunden hatte. So hab ich diese Frau jahrelang unter dem Gebote der schlechtesten Menschen erniedrigt gesehen; was f¸r Begegnungen muï¬te sie erdulden, und mit welcher Stirne wuï¬te sie sich in ihr Schicksal zu finden, ja mit welcher Art diese schâ°ndlichen Fesseln zu tragen!
So lernte ich Ihr Geschlecht kennen, mein Freund, und wie rein haï¬te ich’s, da ich zu bemerken schien, daï¬ selbst leidliche Mâ°nner im Verhâ°ltnis gegen das unsrige jedem guten Gef¸hl zu entsagen schienen, zu dem sie die Natur sonst noch mochte fâ°hig gemacht haben.
Leider muï¬t ich auch bei solchen Gelegenheiten viel traurige Erfahrungen ¸ber mein eigen Geschlecht machen, und wahrhaftig, als Mâ°dchen von sechzehn Jahren war ich kl¸ger, als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich selbst kaum verstehe. Warum sind wir so klug, wenn wir jung sind, so klug, um immer tËrichter zu werden!”
Der Knabe machte Lâ°rm, Aurelie ward ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib kam herein, ihn wegzuholen. “Hast du noch immer Zahnweh?” sagte Aurelie zu der Alten, die das Gesicht verbunden hatte. “Fast unleidliches”, versetzte diese mit dumpfer Stimme, hob den Knaben auf, der gerne mitzugehen schien, und brachte ihn weg.
Kaum war das Kind beiseite, als Aurelie bitterlich zu weinen anfing. “Ich kann nichts als jammern und klagen”, rief sie aus, “und ich schâ°me mich, wie ein armer Wurm vor Ihnen zu liegen. Meine Besonnenheit ist schon weg, und ich kann nicht mehr erzâ°hlen.” Sie