This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.
Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 3
Johann Wolfgang von Goethe
Drittes Buch
Erstes Kapitel
Kennst du das Land, wo die Zitronen bl¸hn, Im dunkeln Laub die Goldorangen gl¸hn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
MËcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Kennst du das Haus, auf Sâ°ulen ruht sein Dach, Es glâ°nzt der Saal, es schimmert das Gemach, Und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
MËcht ich mit dir, o mein Besch¸tzer, ziehn!
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In HËhlen wohnt der Drachen alte Brut, Es st¸rzt der Fels und ¸ber ihn die Flut: Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, laï¬ uns ziehn!
Als Wilhelm des Morgens sich nach Mignon im Hause umsah, fand er sie nicht, hËrte aber, daï¬ sie fr¸h mit Melina ausgegangen sei, welcher sich, um die Garderobe und die ¸brigen Theatergerâ°tschaften zu ¸bernehmen, beizeiten aufgemacht hatte.
Nach Verlauf einiger Stunden hËrte Wilhelm Musik vor seiner T¸re. Er glaubte anfâ°nglich, der Harfenspieler sei schon wieder zugegen; allein er unterschied bald die TËne einer Zither, und die Stimme, welche zu singen anfing, war Mignons Stimme. Wilhelm Ëffnete die T¸re, das Kind trat herein und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.
Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er lieï¬ sich die Strophen wiederholen und erklâ°ren, schrieb sie auf und ¸bersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalitâ°t der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache ¸bereinstimmend und das Unzusammenhâ°ngende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.
Sie fing jeden Vers feierlich und prâ°chtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und d¸sterer; das “Kennst du es wohl?” dr¸ckte sie geheimnisvoll und bedâ°chtig aus; in dem “Dahin! Dahin!” lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr “Laï¬ uns ziehn!” wuï¬te sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daï¬ es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.
Nachdem sie das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einen Augenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte: “Kennst du das Land?”–“Es muï¬ wohl Italien gemeint sein”, versetzte Wilhelm; “woher hast du das Liedchen?”–“Italien!” sagte Mignon bedeutend, “gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier.”–“Bist du schon dort gewesen, liebe Kleine?” fragte Wilhelm.–Das Kind war still und nichts weiter aus ihm zu bringen.
Melina, der hereinkam, besah die Zither und freute sich, daï¬ sie schon so h¸bsch zurechtgemacht sei. Das Instrument war ein Inventarienst¸ck der alten Garderobe. Mignon hatte sich’s diesen Morgen ausgebeten, der Harfenspieler bezog es sogleich, und das Kind entwickelte bei dieser Gelegenheit ein Talent, das man an ihm bisher noch nicht kannte.
Melina hatte schon die Garderobe mit allem ZugehËr ¸bernommen; einige Glieder des Stadtrats versprachen ihm gleich die Erlaubnis, einige Zeit im Orte zu spielen. Mit frohem Herzen und erheitertem Gesicht kam er nunmehr wieder zur¸ck. Er schien ein ganz anderer Mensch zu sein: denn er war sanft, hËflich gegen jedermann, ja zuvorkommend und einnehmend. Er w¸nschte sich Gl¸ck, daï¬ er nunmehr seine Freunde, die bisher verlegen und m¸ï¬ig gewesen, werde beschâ°ftigen und auf eine Zeitlang engagieren kËnnen, wobei er zugleich bedauerte, daï¬ er freilich zum Anfange nicht imstande sei, die vortrefflichen Subjekte, die das Gl¸ck ihm zugef¸hrt, nach ihren Fâ°higkeiten und Talenten zu belohnen, da er seine Schuld einem so groï¬m¸tigen Freunde, als Wilhelm sich gezeigt habe, vor allen Dingen abtragen m¸sse.
“Ich kann Ihnen nicht ausdr¸cken”, sagte Melina zu ihm, “welche Freundschaft Sie mir erzeigen, indem Sie mir zur Direktion eines Theaters verhelfen. Denn als ich Sie antraf, befand ich mich in einer sehr wunderlichen Lage. Sie erinnern sich, wie lebhaft ich Ihnen bei unsrer ersten Bekanntschaft meine Abneigung gegen das Theater sehen lieï¬, und doch muï¬te ich mich, sobald ich verheiratet war, aus Liebe zu meiner Frau, welche sich viel Freude und Beifall versprach, nach einem Engagement umsehen. Ich fand keins, wenigstens kein bestâ°ndiges, dagegen aber gl¸cklicherweise einige Geschâ°ftsmâ°nner, die eben in auï¬erordentlichen Fâ°llen jemanden brauchen konnten, der mit der Feder umzugehen wuï¬te, FranzËsisch verstand und im Rechnen nicht ganz unerfahren war. So ging es mir eine Zeitlang recht gut, ich ward leidlich bezahlt, schaffte mir manches an, und meine Verhâ°ltnisse machten mir keine Schande. Allein die auï¬erordentlichen Auftrâ°ge meiner GËnner gingen zu Ende, an eine dauerhafte Versorgung war nicht zu denken, und meine Frau verlangte nur desto eifriger nach dem Theater, leider zu einer Zeit, wo ihre Umstâ°nde nicht die vorteilhaftesten sind, um sich dem Publikum mit Ehren darzustellen. Nun, hoffe ich, soll die Anstalt, die ich durch Ihre H¸lfe einrichten werde, f¸r mich und die Meinigen ein guter Anfang sein, und ich verdanke Ihnen mein k¸nftiges Gl¸ck, es werde auch, wie es wolle.”
Wilhelm hËrte diese â°uï¬erungen mit Zufriedenheit an, und die sâ°mtlichen Schauspieler waren gleichfalls mit den Erklâ°rungen des neuen Direktors so ziemlich zufrieden, freuten sich heimlich, daï¬ sich so schnell ein Engagement zeige, und waren geneigt, f¸r den Anfang mit einer geringen Gage vorliebzunehmen, weil die meisten dasjenige, was ihnen so unvermutet angeboten wurde, als einen Zuschuï¬ ansahen, auf den sie vor kurzem noch nicht Rechnung machen konnten. Melina war im Begriff, diese Disposition zu benutzen, suchte auf eine geschickte Weise jeden besonders zu sprechen und hatte bald den einen auf diese, den andern auf eine andere Weise zu bereden gewuï¬t, daï¬ sie die Kontrakte geschwind abzuschlieï¬en geneigt waren, ¸ber das neue Verhâ°ltnis kaum nachdachten und sich schon gesichert glaubten, mit sechswËchentlicher Aufk¸ndigung wieder loskommen zu kËnnen.
Nun sollten die Bedingungen in gehËrige Form gebracht werden, und Melina dachte schon an die St¸cke, mit denen er zuerst das Publikum anlocken wollte, als ein Kurier dem Stallmeister die Ankunft der Herrschaft verk¸ndigte und dieser die untergelegten Pferde vorzuf¸hren befahl.
Bald darauf fuhr der hochbepackte Wagen, von dessen Bocke zwei Bedienten heruntersprangen, vor dem Gasthause vor, und Philine war nach ihrer Art am ersten bei der Hand und stellte sich unter die T¸re.
“Wer ist Sie?” fragte die Grâ°fin im Hereintreten.
“Eine Schauspielerin, Ihro Exzellenz zu dienen”, war die Antwort, indem der Schalk mit einem gar frommen Gesichte und dem¸tigen Gebâ°rden sich neigte und der Dame den Rock k¸ï¬te.
Der Graf, der noch einige Personen umherstehen sah, die sich gleichfalls f¸r Schauspieler ausgaben, erkundigte sich nach der Stâ°rke der Gesellschaft, nach dem letzten Orte ihres Aufenthalts und ihrem Direktor. “Wenn es Franzosen wâ°ren”, sagte er zu seiner Gemahlin, “kËnnten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen und ihm bei uns seine Lieblingsunterhaltung verschaffen.”
“Es kâ°me darauf an”, versetzte die Grâ°fin, “ob wir nicht diese Leute, wenn sie schon ungl¸cklicherweise nur Deutsche sind, auf dem Schloï¬, solange der F¸rst bei uns bleibt, spielen lieï¬en. Sie haben doch wohl einige Geschicklichkeit. Eine groï¬e Sozietâ°t lâ°ï¬t sich am besten durch ein Theater unterhalten, und der Baron w¸rde sie schon zustutzen.”
Unter diesen Worten gingen sie die Treppe hinauf, und Melina prâ°sentierte sich oben als Direktor. “Ruf Er seine Leute zusammen”, sagte der Graf, “und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist. Ich will auch zugleich die Liste von den St¸cken sehen, die sie allenfalls auff¸hren kËnnten.”
Melina eilte mit einem tiefen B¸cklinge aus dem Zimmer und kam bald mit den Schauspielern zur¸ck. Sie dr¸ckten sich vor- und hintereinander, die einen prâ°sentierten sich schlecht, aus groï¬er Begierde zu gefallen, und die andern nicht besser, weil sie sich leichtsinnig darstellten. Philine bezeigte der Grâ°fin, die auï¬erordentlich gnâ°dig und freundlich war, alle Ehrfurcht; der Graf musterte indes die ¸brigen. Er fragte einen jeden nach seinem Fache und â°uï¬erte gegen Melina, daï¬ man streng auf Fâ°cher halten m¸sse, welchen Ausspruch dieser in der grËï¬ten Devotion aufnahm.
Der Graf bemerkte sodann einem jeden, worauf er besonders zu studieren, was er an seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und lieï¬ so auï¬erordentliche Kenntnisse sehen, daï¬ alle in der grËï¬ten Demut vor so einem erleuchteten Kenner und erlauchten Besch¸tzer standen und kaum Atem zu holen sich getrauten.
“Wer ist der Mensch dort in der Ecke?” fragte der Graf, indem er nach einem Subjekte sah, das ihm noch nicht vorgestellt worden war, und eine hagre Figur nahte sich in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen mit Fleckchen besetzten Rocke; eine k¸mmerliche Per¸cke bedeckte das Haupt des dem¸tigen Klienten.
Dieser Mensch, den wir schon aus dem vorigen Buche als Philinens Liebling kennen, pflegte gewËhnlich Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und meistens die Rolle zu ¸bernehmen, wenn jemand Schlâ°ge kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, lâ°cherliche, furchtsame B¸cklinge angewËhnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen paï¬te, machte die Zuschauer lachen, so daï¬ er immer noch als ein brauchbares Glied der Gesellschaft angesehen wurde, besonders da er ¸brigens sehr dienstfertig und gefâ°llig war. Er nahte sich auf seine Weise dem Grafen, neigte sich vor demselben und beantwortete jede Frage auf die Art, wie er sich in seinen Rollen auf dem Theater zu gebâ°rden pflegte. Der Graf sah ihn mit gefâ°lliger Aufmerksamkeit und mit ¸berlegung eine Zeitlang an, alsdann rief er, indem er sich zu der Grâ°fin wendete: “Mein Kind, betrachte mit diesen Mann genau; ich hafte daf¸r, das ist ein groï¬er Schauspieler oder kann es werden.” Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen B¸ckling, so daï¬ der Graf laut ¸ber ihn lachen muï¬te und ausrief: “Er macht seine Sachen exzellent! Ich wette, dieser Mensch kann spielen, was er will, und es ist schade, daï¬ man ihn bisher zu nichts Besserm gebraucht hat.”
Ein so auï¬erordentlicher Vorzug war f¸r die ¸brigen sehr krâ°nkend, nur Melina empfand nichts davon, er gab vielmehr dem Grafen vollkommen recht und versetzte mit ehrfurchtsvoller Miene: “Ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche Aufmunterung gefehlt, wie wir sie gegenwâ°rtig an Eurer Exzellenz gefunden haben.”
“Ist das die sâ°mtliche Gesellschaft?” sagte der Graf.
“Es sind einige Glieder abwesend”, versetzte der kluge Melina, “und ¸berhaupt kËnnten wir, wenn wir nur Unterst¸tzung fâ°nden, sehr bald aus der Nachbarschaft vollzâ°hlig sein.”
Indessen sagte Philine zur Grâ°fin: “Es ist noch ein recht h¸bscher junger Mann oben, der sich gewiï¬ bald zum ersten Liebhaber qualifizieren w¸rde.”
“Warum lâ°ï¬t er sich nicht sehen?” versetzte die Grâ°fin.
“Ich will ihn holen”, rief Philine und eilte zur T¸re hinaus.
Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon beschâ°ftigt und beredete ihn, mit herunterzugehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn die Neugier: denn da er von vornehmen Personen hËrte, war er voll Verlangen, sie nâ°her kennenzulernen. Er trat ins Zimmer, und seine Augen begegneten sogleich den Augen der Grâ°fin, die auf ihn gerichtet waren. Philine zog ihn zu der Dame, indes der Graf sich mit den ¸brigen beschâ°ftigte. Wilhelm neigte sich und gab auf verschiedene Fragen, welche die reizende Dame an ihn tat, nicht ohne Verwirrung Antwort. Ihre SchËnheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines Betragen machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da ihre Reden und Gebâ°rden mit einer gewissen Schamhaftigkeit, ja man d¸rfte sagen Verlegenheit begleitet waren. Auch dem Grafen ward er vorgestellt, der aber wenig acht auf ihn hatte, sondern zu seiner Gemahlin ans Fenster trat und sie um etwas zu fragen schien. Man konnte bemerken, daï¬ ihre Meinung auf das lebhafteste mit der seinigen ¸bereinstimmte, ja daï¬ sie ihn eifrig zu bitten und ihn in seiner Gesinnung zu bestâ°rken schien.
Er kehrte sich darauf bald zu der Gesellschaft und sagte: “Ich kann mich gegenwâ°rtig nicht aufhalten, aber ich will einen Freund zu euch schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel M¸he geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf dem Schlosse spielen zu lassen.”
Alle bezeugten ihre groï¬e Freude dar¸ber, und besonders k¸ï¬te Philine mit der grËï¬ten Lebhaftigkeit der Grâ°fin die Hâ°nde.
“Sieht Sie, Kleine”, sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen Mâ°dchen die Backen klopfte, “sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir, ich will schon mein Versprechen halten, Sie muï¬ sich nur besser anziehen.” Philine entschuldigte sich, daï¬ sie wenig auf ihre Garderobe zu verwenden habe, und sogleich befahl die Grâ°fin ihren Kammerfrauen, einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, die leicht auszupacken waren, heraufzugeben. Nun putzte die Grâ°fin selbst Philinen an, die fortfuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen Miene gar artig zu gebâ°rden und zu betragen.
Der Graf bot seiner Gemahlin die Hand und f¸hrte sie hinunter. Sie gr¸ï¬te die ganze Gesellschaft im Vorbeigehen freundlich und kehrte sich nochmals gegen Wilhelmen um, indem sie mit der huldreichsten Miene zu ihm sagte: “Wir sehen uns bald wieder.”
So gl¸ckliche Aussichten belebten die ganze Gesellschaft; jeder lieï¬ nunmehr seinen Hoffnungen, W¸nschen und Einbildungen freien Lauf, sprach von den Rollen, die er spielen, von dem Beifall, den er erhalten wollte. Melina ¸berlegte, wie er noch geschwind durch einige Vorstellungen den Einwohnern des Stâ°dtchens etwas Geld abnehmen und zugleich die Gesellschaft in Atem setzen kËnne, indes andere in die K¸che gingen, um ein besseres Mittagsessen zu bestellen, als man sonst einzunehmen gewohnt war.
III. Buch, 2. Kapitel
Zweites Kapitel
Nach einigen Tagen kam der Baron, und Melina empfing ihn nicht ohne Furcht. Der Graf hatte ihn als einen Kenner angek¸ndigt, und es war zu besorgen, er werde gar bald die schwache Seite des kleinen Haufens entdecken und einsehen, daï¬ er keine formierte Truppe vor sich habe, indem sie kaum ein St¸ck gehËrig besetzen konnten; allein sowohl der Direktor als die sâ°mtlichen Glieder waren bald aus aller Sorge, da sie an dem Baron einen Mann fanden, der mit dem grËï¬ten Enthusiasmus das vaterlâ°ndische Theater betrachtete, dem ein jeder Schauspieler und jede Gesellschaft willkommen und erfreulich war. Er begr¸ï¬te sie alle mit Feierlichkeit, pries sich gl¸cklich, eine deutsche B¸hne so unvermutet anzutreffen, mit ihr in Verbindung zu kommen und die vaterlâ°ndischen Musen in das Schloï¬ seines Verwandten einzuf¸hren. Er brachte bald darauf ein Heft aus der Tasche, in welchem Melina die Punkte des Kontraktes zu erblicken hoffte; allein es war ganz etwas anderes. Der Baron bat sie, ein Drama, das er selbst verfertigt und das er von ihnen gespielt zu sehen w¸nschte, mit Aufmerksamkeit anzuhËren. Willig schlossen sie einen Kreis und waren erfreut, mit so geringen Kosten sich in der Gunst eines so notwendigen Mannes befestigen zu kËnnen, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes ¸bermâ°ï¬ig lange Zeit bef¸rchtete. Auch war es wirklich so; das St¸ck war in f¸nf Akten geschrieben und von der Art, die gar kein Ende nimmt.
Der Held war ein vornehmer, tugendhafter, groï¬m¸tiger und dabei verkannter und verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt den Sieg ¸ber seine Feinde davontrug, ¸ber welche sodann die strengste poetische Gerechtigkeit ausge¸bt worden wâ°re, wenn er ihnen nicht auf der Stelle verziehen hâ°tte.
Indem dieses St¸ck vorgetragen wurde, hatte jeder ZuhËrer Raum genug, an sich selbst zu denken und ganz sachte aus der Demut, zu der er sich noch vor kurzem geneigt f¸hlte, zu einer gl¸cklichen Selbstgefâ°lligkeit emporzusteigen und von da aus die anmutigsten Aussichten in die Zukunft zu ¸berschauen. Diejenigen, die keine ihnen angemessene Rolle in dem St¸ck fanden, erklâ°rten es bei sich f¸r schlecht und hielten den Baron f¸r einen ungl¸cklichen Autor, dagegen die andern eine Stelle, bei der sie beklatscht zu werden hofften, mit dem grËï¬ten Lobe zur mËglichsten Zufriedenheit des Verfassers verfolgten.
Mit dem Ëkonomischen waren sie geschwind fertig. Melina wuï¬te zu seinem Vorteil mit dem Baron den Kontrakt abzuschlieï¬en und ihn vor den ¸brigen Schauspielern geheimzuhalten.
¸ber Wilhelmen sprach Melina den Baron im Vorbeigehen und versicherte, daï¬ er sich sehr gut zum Theaterdichter qualifiziere und zum Schauspieler selbst keine ¸blen Anlagen habe. Der Baron machte sogleich mit ihm als einem Kollegen Bekanntschaft, und Wilhelm produzierte einige kleine St¸cke, die nebst wenigen Reliquien an jenem Tage, als er den grËï¬ten Teil seiner Arbeiten in Feuer aufgehen lieï¬, durch einen Zufall gerettet wurden. Der Baron lobte sowohl die St¸cke als den Vortrag, nahm als bekannt an, daï¬ er mit hin¸ber auf das Schloï¬ kommen w¸rde, versprach bei seinem Abschiede allen die beste Aufnahme, bequeme Wohnung, gutes Essen, Beifall und Geschenke, und Melina setzte noch die Versicherung eines bestimmten Taschengeldes hinzu.
Man kann denken, in welche gute Stimmung durch diesen Besuch die Gesellschaft gesetzt war, indem sie statt eines â°ngstlichen und niedrigen Zustandes auf einmal Ehre und Behagen vor sich sah. Sie machten sich schon zum voraus auf jene Rechnung lustig, und jedes hielt f¸r unschicklich, nur noch irgendeinen Groschen Geld in der Tasche zu behalten.
Wilhelm ging indessen mit sich zu Rate, ob er die Gesellschaft auf das Schloï¬ begleiten solle, und fand in mehr als einem Sinne râ°tlich, dahin zu gehen. Melina hoffte, bei diesem vorteilhaften Engagement seine Schuld wenigstens zum Teil abtragen zu kËnnen, und unser Freund, der auf Menschenkenntnis ausging, wollte die Gelegenheit nicht versâ°umen, die groï¬e Welt nâ°her kennenzulernen, in der er viele Aufschl¸sse ¸ber das Leben, ¸ber sich selbst und die Kunst zu erlangen hoffte. Dabei durfte er sich nicht gestehen, wie sehr er w¸nsche, der schËnen Grâ°fin wieder nâ°her zu kommen. Er suchte sich vielmehr im allgemeinen zu ¸berzeugen, welchen groï¬en Vorteil ihm die nâ°here Kenntnis der vornehmen und reichen Welt bringen w¸rde. Er machte seine Betrachtungen ¸ber den Grafen, die Grâ°fin, den Baron, ¸ber die Sicherheit, Bequemlichkeit und Anmut ihres Betragens und rief, als er allein war, mit Entz¸cken aus:
“Dreimal gl¸cklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich ¸ber die untern Stufen der Menschheit hinaushebt; die durch jene Verhâ°ltnisse, in welchen sich manche gute Menschen die ganze Zeit ihres Lebens abâ°ngstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal darin als Gâ°ste zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig muï¬ ihr Blick auf dem hËheren Standpunkte werden, leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff gesetzt, um bei der ¸berfahrt, die wir alle machen m¸ssen, sich des g¸nstigen Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anstatt daï¬ andere nur f¸r ihre Person schwimmend sich abarbeiten, vom g¸nstigen Winde wenig Vorteil genieï¬en und im Sturme mit bald erschËpften Krâ°ften untergehen. Welche Bequemlichkeit, welche Leichtigkeit gibt ein angebornes VermËgen! und wie sicher bl¸het ein Handel, der auf ein gutes Kapital gegr¸ndet ist, so daï¬ nicht jeder miï¬lungene Versuch sogleich in Untâ°tigkeit versetzt! Wer kann den Wert und Unwert irdischer Dinge besser kennen, als der sie zu genieï¬en von Jugend auf im Falle war, und wer kann seinen Geist fr¸her auf das Notwendige, das N¸tzliche, das Wahre leiten, als der sich von so vielen Irrt¸mern in einem Alter ¸berzeugen muï¬, wo es ihm noch an Krâ°ften nicht gebricht, ein neues Leben anzufangen!”
So rief unser Freund allen denenjenigen Gl¸ck zu, die sich in den hËheren Regionen befinden; aber auch denen, die sich einem solchen Kreise nâ°hern, aus diesen Quellen schËpfen kËnnen, und pries seinen Genius, der Anstalt machte, auch ihn diese Stufen hinanzuf¸hren.
Indessen muï¬te Melina, nachdem er lange sich den Kopf zerbrochen, wie er nach dem Verlangen des Grafen und nach seiner eigenen ¸berzeugung die Gesellschaft in Fâ°cher einteilen und einem jeden seine bestimmte Mitwirkung ¸bertragen wollte, zuletzt, da es an die Ausf¸hrung kam, sehr zufrieden sein, wenn er bei einem so geringen Personal die Schauspieler willig fand, sich nach MËglichkeit in diese oder jene Rollen zu schicken. Doch ¸bernahm gewËhnlich Laertes die Liebhaber, Philine die Kammermâ°dchen, die beiden jungen Frauenzimmer teilten sich in die naiven und zâ°rtlichen Liebhaberinnen, der alte Polterer ward am besten gespielt. Melina selbst glaubte als Chevalier auftreten zu d¸rfen, Madame Melina muï¬te zu ihrem grËï¬ten Verdruï¬ in das Fach der jungen Frauen, ja sogar der zâ°rtlichen M¸tter ¸bergehen, und weil in den neuern St¸cken nicht leicht mehr ein Pedant oder Poet, wenn er auch vorkommen sollte, lâ°cherlich gemacht wird, so muï¬te der bekannte G¸nstling des Grafen nunmehr die Prâ°sidenten und Minister spielen, weil diese gewËhnlich als BËsewichter vorgestellt und im f¸nften Akte ¸bel behandelt werden. Ebenso steckte Melina mit Vergn¸gen als Kammerjunker oder Kammerherr die Grobheiten ein, welche ihm von biedern deutschen Mâ°nnern hergebrachtermaï¬en in mehreren beliebten St¸cken aufgedrungen wurden, weil er sich doch bei dieser Gelegenheit artig herausputzen konnte und das Air eines Hofmannes, das er vollkommen zu besitzen glaubte, anzunehmen die Erlaubnis hatte.
Es dauerte nicht lange, so kamen von verschiedenen Gegenden mehrere Schauspieler herbeigeflossen, welche ohne sonderliche Pr¸fung angenommen, aber auch ohne sonderliche Bedingungen festgehalten wurden.
Wilhelm, den Melina vergebens einigemal zu einer Liebhaberrolle zu bereden suchte, nahm sich der Sache mit vielem guten Willen an, ohne daï¬ unser neuer Direktor seine Bem¸hungen im mindesten anerkannte; vielmehr glaubte dieser mit seiner W¸rde auch alle nËtige Einsicht ¸berkommen zu haben; besonders war das Streichen eine seiner angenehmsten Beschâ°ftigungen, wodurch er ein jedes St¸ck auf das gehËrige Zeitmaï¬ herunterzusetzen wuï¬te, ohne irgendeine andere R¸cksicht zu nehmen. Er hatte viel Zuspruch, das Publikum war sehr zufrieden, und die geschmackvollsten Einwohner des Stâ°dtchens behaupteten, daï¬ das Theater in der Residenz keinesweges so gut als das ihre bestellt sei.
III. Buch, 3. Kapitel
Drittes Kapitel
Endlich kam die Zeit herbei, daï¬ man sich zur ¸berfahrt schicken, die Kutschen und Wagen erwarten sollte, die unsere Truppe nach dem Schlosse des Grafen hin¸berzuf¸hren bestellt waren. Schon zum voraus fielen groï¬e Streitigkeiten vor, wer mit dem andern fahren, wie man sitzen sollte. Die Ordnung und Einteilung ward endlich nur mit M¸he ausgemacht und festgesetzt, doch leider ohne Wirkung. Zur bestimmten Stunde kamen weniger Wagen, als man erwartet hatte, und man muï¬te sich einrichten. Der Baron, der zu Pferde nicht lange hintendrein folgte, gab zur Ursache an, daï¬ im Schlosse alles in groï¬er Bewegung sei, weil nicht allein der F¸rst einige Tage fr¸her eintreffen werde, als man geglaubt, sondern weil auch unerwarteter Besuch schon gegenwâ°rtig angelangt sei; der Platz gehe sehr zusammen, sie w¸rden auch deswegen nicht so gut logieren, als man es ihnen vorher bestimmt habe, welches ihm auï¬erordentlich leid tue.
Man teilte sich in die Wagen, so gut es gehen wollte, und da leidlich Wetter und das Schloï¬ nur einige Stunden entfernt war, machten sich die Lustigsten lieber zu Fuï¬e auf den Weg, als daï¬ sie die R¸ckkehr der Kutschen hâ°tten abwarten sollen. Die Karawane zog mit Freudengeschrei aus, zum erstenmal ohne Sorgen, wie der Wirt zu bezahlen sei. Das Schloï¬ des Grafen stand ihnen wie ein Feengebâ°ude vor der Seele, sie waren die gl¸cklichsten und frËhlichsten Menschen von der Welt, und jeder kn¸pfte unterwegs an diesen Tag, nach seiner Art zu denken, eine Reihe von Gl¸ck, Ehre und Wohlstand.
Ein starker Regen, der unerwartet einfiel, konnte sie nicht aus diesen angenehmen Empfindungen reiï¬en; da er aber immer anhaltender und stâ°rker wurde, sp¸rten viele von ihnen eine ziemliche Unbequemlichkeit. Die Nacht kam herbei, und erw¸nschter konnte ihnen nichts erscheinen als der durch alle Stockwerke erleuchtete Palast des Grafen, der ihnen von einem H¸gel entgegenglâ°nzte, so daï¬ sie die Fenster zâ°hlen konnten.
Als sie nâ°her kamen, fanden sie auch alle Fenster der Seitengebâ°ude erhellet. Ein jeder dachte bei sich, welches wohl sein Zimmer werden mËchte, und die meisten begn¸gten sich bescheiden mit einer Stube in der Mansarde oder den Fl¸geln.
Nun fuhren sie durch das Dorf und am Wirtshause vorbei. Wilhelm lieï¬ halten, um dort abzusteigen; allein der Wirt versicherte, daï¬ er ihm nicht den geringsten Raum anweisen kËnne. Der Herr Graf habe, weil unvermutete Gâ°ste angekommen, sogleich das ganze Wirtshaus besprochen, an allen Zimmern stehe schon seit gestern mit Kreide deutlich angeschrieben, wer darin wohnen solle. Wider seinen Willen muï¬te also unser Freund mit der ¸brigen Gesellschaft zum Schloï¬hofe hineinfahren.
Um die K¸chenfeuer in einem Seitengebâ°ude sahen sie geschâ°ftige KËche sich hin und her bewegen und waren durch diesen Anblick schon erquickt; eilig kamen Bediente mit Lichtern auf die Treppe des Hauptgebâ°udes gesprungen, und das Herz der guten Wanderer quoll ¸ber diesen Aussichten auf. Wie sehr verwunderten sie sich dagegen, als sich dieser Empfang in ein entsetzliches Fluchen auflËste. Die Bedienten schimpften auf die Fuhrleute, daï¬ sie hier hereingefahren seien; sie sollten umwenden, rief man, und wieder hinaus nach dem alten Schlosse zu, hier sei kein Raum f¸r diese Gâ°ste! Einem so unfreundlichen und unerwarteten Bescheide f¸gten sie noch allerlei SpËttereien hinzu und lachten sich untereinander aus, daï¬ sie durch diesen Irrtum in den Regen gesprengt worden. Es goï¬ noch immer, keine Sterne standen am Himmel, und nun wurde die Gesellschaft durch einen holperichten Weg zwischen zwei Mauern in das alte, hintere Schloï¬ gezogen, welches unbewohnt dastand, seit der Vater des Grafen das vordere gebaut hatte. Teils im Hofe, teils unter einem langen, gewËlbten Torwege hielten die Wagen still, und die Fuhrleute, Anspanner aus dem Dorfe, spannten aus und ritten ihrer Wege.
Da niemand zum Empfange der Gesellschaft sich zeigte, stiegen sie aus, riefen, suchten, vergebens! Alles blieb finster und stille. Der Wind blies durch das hohe Tor, und grauerlich waren die alten T¸rme und HËfe, wovon sie kaum die Gestalten in der Finsternis unterschieden. Sie froren und schauerten, die Frauen f¸rchteten sich, die Kinder fingen an zu weinen, ihre Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke, und ein so schneller Gl¸ckswechsel, auf den niemand vorbereitet war, brachte sie alle ganz und gar aus der Fassung.
Da sie jeden Augenblick erwarteten, daï¬ jemand kommen und ihnen aufschlieï¬en werde, da bald Regen, bald Sturm sie tâ°uschte und sie mehr als einmal den Tritt des erw¸nschten Schloï¬vogts zu hËren glaubten, blieben sie eine lange Zeit unmutig und untâ°tig, es fiel keinem ein, in das neue Schloï¬ zu gehen und dort mitleidige Seelen um H¸lfe anzurufen. Sie konnten nicht begreifen, wo ihr Freund, der Baron, geblieben sei, und waren in einer hËchst beschwerlichen Lage.
Endlich kamen wirklich Menschen an, und man erkannte an ihren Stimmen jene Fuï¬gâ°nger, die auf dem Wege hinter den Fahrenden zur¸ckgeblieben waren. Sie erzâ°hlten, daï¬ der Baron mit dem Pferde gest¸rzt sei, sich am Fuï¬e stark beschâ°digt habe und daï¬ man auch sie, da sie im Schlosse nachgefragt, mit Ungest¸m hieher gewiesen habe.
Die ganze Gesellschaft war in der grËï¬ten Verlegenheit; man ratschlagte, was man tun sollte, und konnte keinen Entschluï¬ fassen. Endlich sah man von weitem eine Laterne kommen und holte frischen Atem; allein die Hoffnung einer baldigen ErlËsung verschwand auch wieder, indem die Erscheinung nâ°her kam und deutlich ward. Ein Reitknecht leuchtete dem bekannten Stallmeister des Grafen vor, und dieser erkundigte sich, als er nâ°her kam, sehr eifrig nach Mademoiselle Philinen. Sie war kaum aus dem ¸brigen Haufen hervorgetreten, als er ihr sehr dringend anbot, sie in das neue Schloï¬ zu f¸hren, wo ein Plâ°tzchen f¸r sie bei den Kammerjungfern der Grâ°fin bereitet sei. Sie besann sich nicht lange, das Anerbieten dankbar zu ergreifen, faï¬te ihn bei dem Arme und wollte, da sie den andern ihren Koffer empfohlen, mit ihm forteilen; allein man trat ihnen in den Weg, fragte, bat, beschwor den Stallmeister, daï¬ er endlich, um nur mit seiner SchËnen loszukommen, alles versprach und versicherte, in kurzem solle das Schloï¬ erËffnet und sie auf das beste einquartiert werden. Bald darauf sahen sie den Schein seiner Laterne verschwinden und hofften lange vergebens auf das neue Licht, das ihnen endlich nach vielem Warten, Schelten und Schmâ°hen erschien und sie mit einigem Troste und Hoffnung belebte.
Ein alter Hausknecht erËffnete die T¸re des alten Gebâ°udes, in das sie mit Gewalt eindrangen. Ein jeder sorgte nun f¸r seine Sachen, sie abzupacken, sie hereinzuschaffen. Das meiste war, wie die Personen selbst, t¸chtig durchweicht. Bei dem einen Lichte ging alles sehr langsam. Im Gebâ°ude stieï¬ man sich, stolperte, fiel. Man bat um mehr Lichter, man bat um Feuerung. Der einsilbige Hausknecht lieï¬ mit genauer Not seine Laterne da, ging und kam nicht wieder.
Nun fing man an, das Haus zu durchsuchen; die T¸ren aller Zimmer waren offen, groï¬e Ëfen, gewirkte Tapeten, eingelegte Fuï¬bËden waren von seiner vorigen Pracht noch ¸brig, von anderm Hausgerâ°te aber nichts zu finden, kein Tisch, kein Stuhl, kein Spiegel, kaum einige ungeheuere leere Bettstellen, alles Schmuckes und alles Notwendigen beraubt. Die nassen Koffer und Mantelsâ°cke wurden zu Sitzen gewâ°hlt, ein Teil der m¸den Wandrer bequemte sich auf dem Fuï¬boden, Wilhelm hatte sich auf einige Stufen gesetzt, Mignon lag auf seinen Knien; das Kind war unruhig, und auf seine Frage, was ihm fehlte, antwortete es: “Mich hungert!” Er fand nichts bei sich, um das Verlangen des Kindes zu stillen, die ¸brige Gesellschaft hatte jeden Vorrat auch aufgezehrt, und er muï¬te die arme Kreatur ohne Erquickung lassen. Er blieb bei dem ganzen Vorfalle untâ°tig, still in sich gekehrt: denn er war sehr verdrieï¬lich und grimmig, daï¬ er nicht auf seinem Sinne bestanden und bei dem Wirtshause abgestiegen sei, wenn er auch auf dem obersten Boden hâ°tte sein Lager nehmen sollen.
Die ¸brigen gebâ°rdeten sich jeder nach seiner Art. Einige hatten einen Haufen altes GehËlz in einen ungeheuren Kamin des Saals geschafft und z¸ndeten mit groï¬em Jauchzen den Scheiterhaufen an. Ungl¸cklicherweise ward auch diese Hoffnung, sich zu trocknen und zu wâ°rmen, auf das schrecklichste getâ°uscht, denn dieser Kamin stand nur zur Zierde da und war von oben herein vermauert; der Dampf trat schnell zur¸ck und erf¸llte auf einmal die Zimmer; das d¸rre Holz schlug prasselnd in Flammen auf, und auch die Flamme ward herausgetrieben; der Zug, der durch die zerbrochenen Fensterscheiben drang, gab ihr eine unstete Richtung, man f¸rchtete das Schloï¬ anzuz¸nden, muï¬te das Feuer auseinanderziehen, austreten, dâ°mpfen, der Rauch vermehrte sich, der Zustand wurde unertrâ°glicher, man kam der Verzweiflung nahe.
Wilhelm war vor dem Rauch in ein entferntes Zimmer gewichen, wohin ihm bald Mignon folgte und einen wohlgekleideten Bedienten, der eine hohe, hellbrennende, doppelt erleuchtete Laterne trug, hereinf¸hrte; dieser wendete sich an Wilhelmen, und indem er ihm auf einem schËnen porzellanenen Teller Konfekt und Fr¸chte ¸berreichte, sagte er: “Dies schickt Ihnen das junge Frauenzimmer von dr¸ben mit der Bitte, zur Gesellschaft zu kommen; sie lâ°ï¬t sagen”, setzte der Bediente mit einer leichtfertigen Miene hinzu, “es geht ihr sehr wohl, und sie w¸nsche ihre Zufriedenheit mit ihren Freunden zu teilen.”
Wilhelm erwartete nichts weniger als diesen Antrag, denn er hatte Philinen seit dem Abenteuer der steinernen Bank mit entschiedener Verachtung begegnet und war so fest entschlossen, keine Gemeinschaft mehr mit ihr zu machen, daï¬ er im Begriff stand, die s¸ï¬e Gabe wieder zur¸ckzuschicken, als ein bittender Blick Mignons ihn vermochte, sie anzunehmen und im Namen des Kindes daf¸r zu danken; die Einladung schlug er ganz aus. Er bat den Bedienten, einige Sorge f¸r die angekommene Gesellschaft zu haben, und erkundigte sich nach dem Baron. Dieser lag zu Bette, hatte aber schon, soviel der Bediente zu sagen wuï¬te, einem andern Auftrag gegeben, f¸r die elend Beherbergten zu sorgen.
Der Bediente ging und hinterlieï¬ Wilhelmen eins von seinen Lichtern, das dieser in Ermanglung eines Leuchters auf das Fenstergesims kleben muï¬te und nun wenigstens bei seinen Betrachtungen die vier Wâ°nde des Zimmers erhellt sah. Denn es wâ°hrte noch lange, ehe die Anstalten rege wurden, die unsere Gâ°ste zur Ruhe bringen sollten. Nach und nach kamen Lichter, jedoch ohne Lichtputzen, dann einige St¸hle, eine Stunde darauf Deckbetten, dann Kissen, alles wohl durchnetzt, und es war schon weit ¸ber Mitternacht, als endlich Strohsâ°cke und Matratzen herbeigeschafft wurden, die, wenn man sie zuerst gehabt hâ°tte, hËchst willkommen gewesen wâ°ren.
In der Zwischenzeit war auch etwas von Essen und Trinken angelangt, das ohne viele Kritik genossen wurde, ob es gleich einem sehr unordentlichen Abhub â°hnlich sah und von der Achtung, die man f¸r die Gâ°ste hatte, kein sonderliches Zeugnis ablegte.
III. Buch, 4. Kapitel
Viertes Kapitel
Durch die Unart und den ¸bermut einiger leichtfertigen Gesellen vermehrte sich die Unruhe und das ¸bel der Nacht, indem sie sich einander neckten, aufweckten und sich wechselsweise allerlei Streiche spielten. Der andere Morgen brach an, unter lauten Klagen ¸ber ihren Freund, den Baron, daï¬ er sie so getâ°uscht und ihnen ein ganz anderes Bild von der Ordnung und Bequemlichkeit, in die sie kommen w¸rden, gemacht habe. Doch zur Verwunderung und Trost erschien in aller Fr¸he der Graf selbst mit einigen Bedienten und erkundigte sich nach ihren Umstâ°nden. Er war sehr entr¸stet, als er hËrte, wie ¸bel es ihnen ergangen, und der Baron, der gef¸hrt herbeihinkte, verklagte den Haushofmeister, wie befehlswidrig er sich bei dieser Gelegenheit gezeigt, und glaubte ihm ein rechtes Bad angerichtet zu haben.
Der Graf befahl sogleich, daï¬ alles in seiner Gegenwart zur mËglichsten Bequemlichkeit der Gâ°ste geordnet werden solle. Darauf kamen einige Offiziere, die von den Aktricen sogleich Kundschaft nahmen, und der Graf lieï¬ sich die ganze Gesellschaft vorstellen, redete einen jeden bei seinem Namen an und mischte einige Scherze in die Unterredung, daï¬ alle ¸ber einen so gnâ°digen Herrn ganz entz¸ckt waren. Endlich muï¬te Wilhelm auch an die Reihe, an den sich Mignon anhing. Wilhelm entschuldigte sich, so gut er konnte, ¸ber seine Freiheit, der Graf hingegen schien seine Gegenwart als bekannt anzunehmen.
Ein Herr, der neben dem Grafen stand, den man f¸r einen Offizier hielt, ob er gleich keine Uniform anhatte, sprach besonders mit unserm Freunde und zeichnete sich vor allen andern aus. Groï¬e, hellblaue Augen leuchteten unter einer hohen Stirne hervor, nachlâ°ssig waren seine blonden Haare aufgeschlagen, und seine mittlere Statur zeigte ein sehr wackres, festes und bestimmtes Wesen. Seine Fragen waren lebhaft, und er schien sich auf alles zu verstehen, wonach er fragte.
Wilhelm erkundigte sich nach diesem Manne bei dem Baron, der aber nicht viel Gutes von ihm zu sagen wuï¬te. Er habe den Charakter als Major, sei eigentlich der G¸nstling des Prinzen, versehe dessen geheimste Geschâ°fte und werde f¸r dessen rechten Arm gehalten, ja man habe Ursache zu glauben, er sei sein nat¸rlicher Sohn. In Frankreich, England, Italien sei er mit Gesandtschaften gewesen, er werde ¸berall sehr distinguiert, und das mache ihn einbildisch; er wâ°hne, die deutsche Literatur aus dem Grunde zu kennen, und erlaube sich allerlei schale SpËttereien gegen dieselbe. Er, der Baron, vermeide alle Unterredung mit ihm, und Wilhelm werde wohl tun, sich auch von ihm entfernt zu halten, denn am Ende gebe er jedermann etwas ab. Man nenne ihn Jarno, wisse aber nicht recht, was man aus dem Namen machen solle.
Wilhelm hatte darauf nichts zu sagen, denn er empfand gegen den Fremden, ob er gleich etwas Kaltes und Abstoï¬endes hatte, eine gewisse Neigung.
Die Gesellschaft wurde in dem Schlosse eingeteilt, und Melina befahl sehr strenge, sie sollten sich nunmehr ordentlich halten, die Frauen sollten besonders wohnen und jeder nur auf seine Rollen, auf die Kunst sein Augenmerk und seine Neigung richten. Er schlug Vorschriften und Gesetze, die aus vielen Punkten bestanden, an alle T¸ren. Die Summe der Strafgelder war bestimmt, die ein jeder ¸bertreter in eine gemeine B¸chse entrichten sollte.
Diese Verordnungen wurden wenig geachtet. Junge Offiziere gingen aus und ein, spaï¬ten nicht eben auf das feinste mit den Aktricen, hatten die Akteure zum besten und vernichteten die ganze kleine Polizeiordnung, noch ehe sie Wurzel fassen konnte. Man jagte sich durch die Zimmer, verkleidete sich, versteckte sich. Melina, der anfangs einigen Ernst zeigen wollte, ward mit allerlei Mutwillen auf das â°uï¬erste gebracht, und als ihn bald darauf der Graf holen lieï¬, um den Platz zu sehen, wo das Theater aufgerichtet werden sollte, ward das ¸bel nur immer â°rger. Die jungen Herren ersannen sich allerlei platte Spâ°ï¬e, durch H¸lfe einiger Akteure wurden sie noch plumper, und es schien, als wenn das ganze alte Schloï¬ vom w¸tenden Heere besessen sei; auch endigte der Unfug nicht eher, als bis man zur Tafel ging.
Der Graf hatte Melinan in einen groï¬en Saal gef¸hrt, der noch zum alten Schlosse gehËrte, durch eine Galerie mit dem neuen verbunden war und worin ein kleines Theater sehr wohl aufgestellt werden konnte. Daselbst zeigte der einsichtsvolle Hausherr, wie er alles wolle eingerichtet haben.
Nun ward die Arbeit in groï¬er Eile vorgenommen, das Theaterger¸ste aufgeschlagen und ausgeziert, was man von Dekorationen in dem Gepâ°cke hatte und brauchen konnte, angewendet und das ¸brige mit H¸lfe einiger geschickten Leute des Grafen verfertiget. Wilhelm griff selbst mit an, half die Perspektive bestimmen, die Umrisse abschn¸ren und war hËchst beschâ°ftigt, daï¬ es nicht unschicklich werden sollte. Der Graf, der Ëfters dazukam, war sehr zufrieden damit, zeigte, wie sie das, was sie wirklich taten, eigentlich machen sollten, und lieï¬ dabei ungemeine Kenntnisse jeder Kunst sehen.
Nun fing das Probieren recht ernstlich an, wozu sie auch Raum und Muï¬e genug gehabt hâ°tten, wenn sie nicht von den vielen anwesenden Fremden immer gestËrt worden wâ°ren. Denn es kamen tâ°glich neue Gâ°ste an, und ein jeder wollte die Gesellschaft in Augenschein nehmen.
III. Buch, 5. Kapitel
F¸nftes Kapitel
Der Baron hatte Wilhelmen einige Tage mit der Hoffnung hingehalten, daï¬ er der Grâ°fin noch besonders vorgestellt werden sollte. “Ich habe”, sagte er, “dieser vortrefflichen Dame so viel von Ihren geistreichen und empfindungsvollen St¸cken erzâ°hlt, daï¬ sie nicht erwarten kann, Sie zu sprechen und sich eins und das andere vorlesen zu lassen. Halten Sie sich ja gefaï¬t, auf den ersten Wink hin¸berzukommen, denn bei dem nâ°chsten ruhigen Morgen werden Sie gewiï¬ gerufen werden.” Er bezeichnete ihm darauf das Nachspiel, welches er zuerst vorlesen sollte, wodurch er sich ganz besonders empfehlen w¸rde. Die Dame bedaure gar sehr, daï¬ er zu einer solchen unruhigen Zeit eingetroffen sei und sich mit der ¸brigen Gesellschaft in dem alten Schlosse schlecht behelfen m¸sse.
Mit groï¬er Sorgfalt nahm darauf Wilhelm das St¸ck vor, womit er seinen Eintritt in die groï¬e Welt machen sollte. “Du hast”, sagte er, “bisher im stillen f¸r dich gearbeitet, nur von einzelnen Freunden Beifall erhalten; du hast eine Zeitlang ganz an deinem Talente verzweifelt, und du muï¬t immer noch in Sorgen sein, ob du denn auch auf dem rechten Wege bist und ob du soviel Talent als Neigung zum Theater hast. Vor den Ohren solcher ge¸bten Kenner, im Kabinette, wo keine Illusion stattfindet, ist der Versuch weit gefâ°hrlicher als anderwâ°rts, und ich mËchte doch auch nicht gerne zur¸ckbleiben, diesen Genuï¬ an meine vorigen Freuden kn¸pfen und die Hoffnung auf die Zukunft erweitern.”
Er nahm darauf einige St¸cke durch, las sie mit der grËï¬ten Aufmerksamkeit, korrigierte hier und da, rezitierte sie sich laut vor, um auch in Sprache und Ausdruck recht gewandt zu sein, und steckte dasjenige, welches er am meisten ge¸bt, womit er die grËï¬te Ehre einzulegen glaubte, in die Tasche, als er an einem Morgen hin¸ber vor die Grâ°fin gefordert wurde.
Der Baron hatte ihm versichert, sie w¸rde allein mit einer guten Freundin sein. Als er in das Zimmer trat, kam die Baronesse von C*** ihm mit vieler Freundlichkeit entgegen, freute sich, seine Bekanntschaft zu machen, und prâ°sentierte ihn der Grâ°fin, die sich eben frisieren lieï¬ und ihn mit freundlichen Worten und Blicken empfing, neben deren Stuhl er aber leider Philinen knien und allerlei Torheiten machen sah. “Das schËne Kind”, sagte die Baronesse, “hat uns verschiedenes vorgesungen. Endige Sie doch das angefangene Liedchen, damit wir nichts davon verlieren.”
Wilhelm hËrte das St¸ckchen mit groï¬er Geduld an, indem er die Entfernung des Friseurs w¸nschte, ehe er seine Vorlesung anfangen wollte. Man bot ihm eine Tasse Schokolade an, wozu ihm die Baronesse selbst den Zwieback reichte. Dessenungeachtet schmeckte ihm das Fr¸hst¸ck nicht, denn er w¸nschte zu lebhaft, der schËnen Grâ°fin irgend etwas vorzutragen, was sie interessieren, wodurch er ihr gefallen kËnnte. Auch Philine war ihm nur zu sehr im Wege, die ihm als ZuhËrerin oft schon unbequem gewesen war. Er sah mit Schmerzen dem Friseur auf die Hâ°nde und hoffte in jedem Augenblicke mehr auf die Vollendung des Baues.
Indessen war der Graf hereingetreten und erzâ°hlte von den heut zu erwartenden Gâ°sten, von der Einteilung des Tages, und was sonst etwa Hâ°usliches vorkommen mËchte. Da er hinausging, lieï¬en einige Offiziere bei der Grâ°fin um die Erlaubnis bitten, ihr, weil sie noch vor Tafel wegreisen m¸ï¬ten, aufwarten zu d¸rfen. Der Kammerdiener war indessen fertig geworden, und sie lieï¬ die Herren hereinkommen.
Die Baronesse gab sich inzwischen M¸he, unsern Freund zu unterhalten und ihm viele Achtung zu bezeigen, die er mit Ehrfurcht, obgleich etwas zerstreut, aufnahm. Er f¸hlte manchmal nach dem Manuskripte in der Tasche, hoffte auf jeden Augenblick, und fast wollte seine Geduld reiï¬en, als ein Galanteriehâ°ndler hereingelassen wurde, der seine Pappen, Kasten, Schachteln unbarmherzig eine nach der andern erËffnete und jede Sorte seiner Waren mit einer diesem Geschlechte eigenen Zudringlichkeit vorwies.
Die Gesellschaft vermehrte sich. Die Baronesse sah Wilhelmen an und sprach leise mit der Grâ°fin; er bemerkte es, ohne die Absicht zu verstehen, die ihm endlich zu Hause klar wurde, als er sich nach einer â°ngstlich und vergebens durchharrten Stunde wegbegab. Er fand ein schËnes englisches Portefeuille in der Tasche. Die Baronesse hatte es ihm heimlich beizustecken gewuï¬t, und gleich darauf folgte der Grâ°fin kleiner Mohr, der ihm eine artig gestickte Weste ¸berbrachte, ohne recht deutlich zu sagen, woher sie komme.
III. Buch, 6. Kapitel
Sechstes Kapitel
Das Gemisch der Empfindungen von Verdruï¬ und Dankbarkeit verdarb ihm den ganzen Rest des Tages, bis er gegen Abend wieder Beschâ°ftigung fand, indem Melina ihm erËffnete, der Graf habe von einem Vorspiele gesprochen, das dem Prinzen zu Ehren den Tag seiner Ankunft aufgef¸hrt werden sollte. Er wolle darin die Eigenschaften dieses groï¬en Helden und Menschenfreundes personifizieret haben. Diese Tugenden sollten miteinander auftreten, sein Lob verk¸ndigen und zuletzt seine B¸ste mit Blumen- und Lorbeerkrâ°nzen umwinden, wobei sein verzogener Name mit dem F¸rstenhute durchscheinend glâ°nzen sollte. Der Graf habe ihm aufgegeben, f¸r die Versifikation und ¸brige Einrichtung dieses St¸ckes zu sorgen, und er hoffe, daï¬ ihm Wilhelm, dem es etwas Leichtes sei, hierin gerne beistehen werde.
“Wie!” rief dieser verdrieï¬lich aus, “haben wir nichts als Portrâ°te, verzogene Namen und allegorische Figuren, um einen F¸rsten zu ehren, der nach meiner Meinung ein ganz anderes Lob verdient? Wie kann es einem vern¸nftigen Manne schmeicheln, sich in effigie aufgestellt und seinen Namen auf geËltem Papiere schimmern zu sehen! Ich f¸rchte sehr, die Allegorien w¸rden, besonders bei unserer Garderobe, zu manchen Zweideutigkeiten und Spâ°ï¬en Anlaï¬ geben. Wollen Sie das St¸ck machen oder machen lassen, so kann ich nichts dawider haben, nur bitte ich, daï¬ ich damit verschont bleibe.”
Melina entschuldigte sich, es sei nur die ungefâ°hre Angabe des Herrn Grafen, der ihnen ¸brigens ganz ¸berlasse, wie sie das St¸ck arrangieren wollten. “Herzlich gerne”, versetzte Wilhelm, “trage ich etwas zum Vergn¸gen dieser vortrefflichen Herrschaft bei, und meine Muse hat noch kein so angenehmes Geschâ°fte gehabt, als zum Lob eines F¸rsten, der so viel Verehrung verdient, auch nur stammelnd sich hËren zu lassen. Ich will der Sache nachdenken, vielleicht gelingt es mir, unsre kleine Truppe so zu stellen, daï¬ wir doch wenigstens einigen Effekt machen.”
Von diesem Augenblicke sann Wilhelm eifrig dem Auftrage nach. Ehe er einschlief, hatte er alles schon ziemlich geordnet, und den andern Morgen bei fr¸her Zeit war der Plan fertig, die Szenen entworfen, ja schon einige der vornehmsten Stellen und Gesâ°nge in Verse und zu Papiere gebracht.
Wilhelm eilte morgens gleich, den Baron wegen gewisser Umstâ°nde zu sprechen, und legte ihm seinen Plan vor. Diesem gefiel er sehr wohl, doch bezeigte er einige Verwunderung. Denn er hatte den Grafen gestern abend von einem ganz andern St¸cke sprechen hËren, welches nach seiner Angabe in Verse gebracht werden sollte.
“Es ist mir nicht wahrscheinlich”, versetzte Wilhelm, “daï¬ es die Absicht des Herrn Grafen gewesen sei, gerade das St¸ck, so wie er es Melinan angegeben, fertigen zu lassen: wenn ich nicht irre, so wollte er uns bloï¬ durch einen Fingerzeig auf den rechten Weg weisen. Der Liebhaber und Kenner zeigt dem K¸nstler an, was er w¸nscht, und ¸berlâ°ï¬t ihm alsdann die Sorge, das Werk hervorzubringen.”
“Mitnichten”, versetzte der Baron; “der Herr Graf verlâ°ï¬t sich darauf, daï¬ das St¸ck so und nicht anders, wie er es angegeben, aufgef¸hrt werde. Das Ihrige hat freilich eine entfernte â°hnlichkeit mit seiner Idee, und wenn wir es durchsetzen und ihn von seinen ersten Gedanken abbringen wollen, so m¸ssen wir es durch die Damen bewirken. Vorz¸glich weiï¬ die Baronesse dergleichen Operationen meisterhaft anzulegen; es wird die Frage sein, ob ihr der Plan so gefâ°llt, daï¬ sie sich der Sache annehmen mag, und dann wird es gewiï¬ gehen.”
“Wir brauchen ohnedies die H¸lfe der Damen”, sagte Wilhelm, “denn es mËchte unser Personal und unsere Garderobe zu der Ausf¸hrung nicht hinreichen. Ich habe auf einige h¸bsche Kinder gerechnet, die im Hause hin und wider laufen und die dem Kammerdiener und dem Haushofmeister zugehËren.”
Darauf ersuchte er den Baron, die Damen mit seinem Plane bekannt zu machen. Dieser kam bald zur¸ck und brachte die Nachricht, sie wollten ihn selbst sprechen. Heute abend, wenn die Herren sich zum Spiele setzten, das ohnedies wegen der Ankunft eines gewissen Generals ernsthafter werden w¸rde als gewËhnlich, wollten sie sich unter dem Vorwande einer Unpâ°ï¬lichkeit in ihr Zimmer zur¸ckziehen, er sollte durch die geheime Treppe eingef¸hrt werden und kËnne alsdann seine Sache auf das beste vortragen. Diese Art von Geheimnis gebe der Angelegenheit nunmehr einen doppelten Reiz, und die Baronesse besonders freue sich wie ein Kind auf dieses Rendezvous und mehr noch darauf, daï¬ es heimlich und geschickt gegen den Willen des Grafen unternommen werden sollte.
Gegen Abend um die bestimmte Zeit ward Wilhelm abgeholt und mit Vorsicht hinaufgef¸hrt. Die Art, mit der ihm die Baronesse in einem kleinen Kabinette entgegenkam, erinnerte ihn einen Augenblick an vorige gl¸ckliche Zeiten. Sie brachte ihn in das Zimmer der Grâ°fin, und nun ging es an ein Fragen, an ein Untersuchen. Er legte seinen Plan mit der mËglichsten Wâ°rme und Lebhaftigkeit vor, so daï¬ die Damen daf¸r ganz eingenommen wurden, und unsere Leser werden erlauben, daï¬ wir sie auch in der K¸rze damit bekannt machen.
In einer lâ°ndlichen Szene sollten Kinder das St¸ck mit einem Tanze erËffnen, der jenes Spiel vorstellte, wo eins herumgehen und dem andern einen Platz abgewinnen muï¬. Darauf sollten sie mit andern Scherzen abwechseln und zuletzt zu einem immer wiederkehrenden Reihentanze ein frËhliches Lied singen. Darauf sollte der Harfner mit Mignon herbeikommen, Neugierde erregen und mehrere Landleute herbeilocken; der Alte sollte verschiedene Lieder zum Lobe des Friedens, der Ruhe, der Freude singen und Mignon darauf den Eiertanz tanzen.
In dieser unschuldigen Freude werden sie durch eine kriegerische Musik gestËrt und die Gesellschaft von einem Trupp Soldaten ¸berfallen. Die Mannspersonen setzen sich zur Wehre und werden ¸berwunden, die Mâ°dchen fliehen und werden eingeholt. Es scheint alles im Get¸mmel zugrunde zu gehen, als eine Person, ¸ber deren Bestimmung der Dichter noch ungewiï¬ war, herbeikommt und durch die Nachricht, daï¬ der Heerf¸hrer nicht weit sei, die Ruhe wiederherstellt. Hier wird der Charakter des Helden mit den schËnsten Z¸gen geschildert, mitten unter den Waffen Sicherheit versprochen, dem ¸bermut und der Gewalttâ°tigkeit Schranken gesetzt. Es wird ein allgemeines Fest zu Ehren des groï¬m¸tigen Heerf¸hrers begangen.
Die Damen waren mit dem Plane sehr zufrieden, nur behaupteten sie, es m¸sse notwendig etwas Allegorisches in dem St¸cke sein, um es dem Herrn Grafen angenehm zu machen. Der Baron tat den Vorschlag, den Anf¸hrer der Soldaten als den Genius der Zwietracht und der Gewalttâ°tigkeit zu bezeichnen; zuletzt aber m¸sse Minerva herbeikommen, ihm Fesseln anzulegen, Nachricht von der Ankunft des Helden zu geben und dessen Lob zu preisen. Die Baronesse ¸bernahm das Geschâ°ft, den Grafen zu ¸berzeugen, daï¬ der von ihm angegebene Plan, nur mit einiger Verâ°nderung, ausgef¸hrt worden sei; dabei verlangte sie ausdr¸cklich, daï¬ am Ende des St¸cks notwendig die B¸ste, der verzogene Namen und der F¸rstenhut erscheinen muï¬ten, weil sonst alle Unterhandlung vergeblich sein w¸rde.
Wilhelm, der sich schon im Geiste vorgestellt hatte, wie fein er seinen Helden aus dem Munde der Minerva preisen wollte, gab nur nach langem Widerstande in diesem Punkte nach, allein er f¸hlte sich auf eine sehr angenehme Weise gezwungen. Die schËnen Augen der Grâ°fin und ihr liebensw¸rdiges Betragen hâ°tten ihn gar leicht bewogen, auch auf die schËnste und angenehmste Erfindung, auf die so erw¸nschte Einheit einer Komposition und auf alle schicklichen Details Verzicht zu tun und gegen sein poetisches Gewissen zu handeln. Ebenso stand auch seinem b¸rgerlichen Gewissen ein harter Kampf bevor, indem bei bestimmterer Austeilung der Rollen die Damen ausdr¸cklich darauf bestanden, daï¬ er mitspielen m¸sse.
Laertes hatte zu seinem Teil jenen gewalttâ°tigen Kriegsgott erhalten. Wilhelm sollte den Anf¸hrer der Landleute vorstellen, der einige sehr artige und gef¸hlvolle Verse zu sagen hatte. Nachdem er sich eine Zeitlang gestrâ°ubt, muï¬te er sich endlich doch ergeben; besonders fand er keine Entschuldigung, da die Baronesse ihm vorstellte, die Schaub¸hne hier auf dem Schlosse sei ohnedem nur als ein Gesellschaftstheater anzusehen, auf dem sie gern, wenn man nur eine schickliche Einleitung machen kËnnte, mitzuspielen w¸nschte. Darauf entlieï¬en die Damen unsern Freund mit vieler Freundlichkeit. Die Baronesse versicherte ihm, daï¬ er ein unvergleichlicher Mensch sei, und begleitete ihn bis an die kleine Treppe, wo sie ihm mit einem Hâ°ndedruck gute Nacht gab.
III. Buch, 7. Kapitel
Siebentes Kapitel
Befeuert durch den aufrichtigen Anteil, den die Frauenzimmer an der Sache nahmen, ward der Plan, der ihm durch die Erzâ°hlung gegenwâ°rtiger geworden war, ganz lebendig. Er brachte den grËï¬ten Teil der Nacht und den andern Morgen mit der sorgfâ°ltigsten Versifikation des Dialogs und der Lieder zu.
Er war so ziemlich fertig, als er in das neue Schloï¬ gerufen wurde, wo er hËrte, daï¬ die Herrschaft, die eben fr¸hst¸ckte, ihn sprechen wollte. Er trat in den Saal, die Baronesse kam ihm wieder zuerst entgegen, und unter dem Vorwande, als wenn sie ihm einen guten Morgen bieten wollte, lispelte sie heimlich zu ihm: “Sagen Sie nichts von Ihrem St¸cke, als was Sie gefragt werden.”
“Ich hËre”, rief ihm der Graf zu, “Sie sind recht fleiï¬ig und arbeiten an meinem Vorspiele, das ich zu Ehren des Prinzen geben will. Ich billige, daï¬ Sie eine Minerva darin anbringen wollen, und ich denke beizeiten darauf, wie die GËttin zu kleiden ist, damit man nicht gegen das Kost¸m verstËï¬t. Ich lasse deswegen aus meiner Bibliothek alle B¸cher herbeibringen, worin sich das Bild derselben befindet.”
In eben dem Augenblicke traten einige Bedienten mit groï¬en KËrben voll B¸cher allerlei Formats in den Saal.
Montfaucon, die Sammlungen antiker Statuen, Gemmen und M¸nzen, alle Arten mythologischer Schriften wurden aufgeschlagen und die Figuren verglichen. Aber auch daran war es noch nicht genug! Des Grafen vortreffliches Gedâ°chtnis stellte ihm alle Minerven vor, die etwa noch auf Titelkupfern, Vignetten oder sonst vorkommen mochten. Es muï¬te deshalb ein Buch nach dem andern aus der Bibliothek herbeigeschafft werden, so daï¬ der Graf zuletzt in einem Haufen von B¸chern saï¬. Endlich, da ihm keine Minerva mehr einfiel, rief er mit Lachen aus: “Ich wollte wetten, daï¬ nun keine Minerva mehr in der ganzen Bibliothek sei, und es mËchte wohl das erste Mal vorkommen, daï¬ eine B¸chersammlung so ganz und gar des Bildes ihrer SchutzgËttin entbehren muï¬.”
Die ganze Gesellschaft freute sich ¸ber den Einfall, und besonders Jarno, der den Grafen immer mehr B¸cher herbeizuschaffen gereizt hatte, lachte ganz unmâ°ï¬ig.
“Nunmehr”, sagte der Graf, indem er sich zu Wilhelm wendete, “ist es eine Hauptsache, welche GËttin meinen Sie? Minerva oder Pallas? die GËttin des Krieges oder der K¸nste?”
“Sollte es nicht am schicklichsten sein, Euer Exzellenz”, versetzte Wilhelm, “wenn man hier¸ber sich nicht bestimmt ausdr¸ckte und sie, eben weil sie in der Mythologie eine doppelte Person spielt, auch hier in doppelter Qualitâ°t erscheinen lieï¬e? Sie meldet einen Krieger an, aber nur, um das Volk zu beruhigen, sie preist einen Helden, indem sie seine Menschlichkeit erhebt, sie ¸berwindet die Gewalttâ°tigkeit und stellt die Freude und Ruhe unter dem Volke wieder her.”
Die Baronesse, der es bange wurde, Wilhelm mËchte sich verraten, schob geschwinde den Leibschneider der Grâ°fin dazwischen, der seine Meinung abgeben muï¬te, wie ein solcher antiker Rock auf das beste gefertiget werden kËnnte. Dieser Mann, in Maskenarbeiten erfahren, wuï¬te die Sache sehr leicht zu machen, und da Madame Melina ungeachtet ihrer hohen Schwangerschaft die Rolle der himmlischen Jungfrau ¸bernommen hatte, so wurde er angewiesen, ihr das Maï¬ zu nehmen, und die Grâ°fin bezeichnete, wiewohl mit einigem Unwillen ihrer Kammerjungfern, die Kleider aus der Garderobe, welche dazu verschnitten werden sollten.
Auf eine geschickte Weise wuï¬te die Baronesse Wilhelmen wieder beiseite zu schaffen und lieï¬ ihn bald darauf wissen, sie habe die ¸brigen Sachen auch besorgt. Sie schickte ihm zugleich den Musikus, der des Grafen Hauskapelle dirigierte, damit dieser teils die notwendigen St¸cke komponieren, teils schickliche Melodien aus dem Musikvorrate dazu aussuchen sollte. Nunmehr ging alles nach Wunsche, der Graf fragte dem St¸cke nicht weiter nach, sondern war hauptsâ°chlich mit der transparenten Dekoration beschâ°ftigt, welche am Ende des St¸ckes die Zuschauer ¸berraschen sollte. Seine Erfindung und die Geschicklichkeit seines Konditors brachten zusammen wirklich eine recht angenehme Erleuchtung zuwege. Denn auf seinen Reisen hatte er die grËï¬ten Feierlichkeiten dieser Art gesehen, viele Kupfer und Zeichnungen mitgebracht und wuï¬te, was dazu gehËrte, mit vielem Geschmacke anzugeben.
Unterdessen endigte Wilhelm sein St¸ck, gab einem jeden seine Rolle, ¸bernahm die seinige, und der Musikus, der sich zugleich sehr gut auf den Tanz verstand, richtete das Ballett ein, und so ging alles zum besten.
Nur ein unerwartetes Hindernis legte sich in den Weg, das ihm eine bËse L¸cke zu machen drohte. Er hatte sich den grËï¬ten Effekt von Mignons Eiertanze versprochen, und wie erstaunt war er daher, als das Kind ihm mit seiner gewËhnlichen Trockenheit abschlug zu tanzen, versicherte, es sei nunmehr sein und werde nicht mehr auf das Theater gehen. Er suchte es durch allerlei Zureden zu bewegen und lieï¬ nicht eher ab, als bis es bitterlich zu weinen anfing, ihm zu F¸ï¬en fiel und rief: “Lieber Vater! bleib auch du von den Brettern!” Er merkte nicht auf diesen Wink und sann, wie er durch eine andere Wendung die Szene interessant machen wollte.
Philine, die eins von den Landmâ°dchen machte und in dem Reihentanz die einzelne Stimme singen und die Verse dem Chore zubringen sollte, freute sich recht ausgelassen darauf. ¸brigens ging ihr es vollkommen nach Wunsche, sie hatte ihr besonderes Zimmer, war immer um die Grâ°fin, die sie mit ihren Affenpossen unterhielt und daf¸r tâ°glich etwas geschenkt bekam: ein Kleid zu diesem St¸cke wurde auch f¸r sie zurechtegemacht; und weil sie von einer leichten, nachahmenden Natur war, so hatte sie sich bald aus dem Umgange der Damen soviel gemerkt, als sich f¸r sie schickte, und war in kurzer Zeit voll Lebensart und guten Betragens geworden. Die Sorgfalt des Stallmeisters nahm mehr zu als ab, und da die Offiziere auch stark auf sie eindrangen und sie sich in einem so reichlichen Elemente befand, fiel es ihr ein, auch einmal die SprËde zu spielen und auf eine geschickte Weise sich in einem gewissen vornehmen Ansehen zu ¸ben. Kalt und fein, wie sie war, kannte sie in acht Tagen die Schwâ°chen des ganzen Hauses, daï¬, wenn sie absichtlich hâ°tte verfahren kËnnen, sie gar leicht ihr Gl¸ck w¸rde gemacht haben. Allein auch hier bediente sie sich ihres Vorteils nur, um sich zu belustigen, um sich einen guten Tag zu machen und impertinent zu sein, wo sie merkte, daï¬ es ohne Gefahr geschehen konnte.
Die Rollen waren gelernt, eine Hauptprobe des St¸cks ward befohlen, der Graf wollte dabeisein, und seine Gemahlin fing an zu sorgen, wie er es aufnehmen mËchte. Die Baronesse berief Wilhelmen heimlich, und man zeigte, je nâ°her die Stunde herbeir¸ckte, immer mehr Verlegenheit: denn es war doch eben ganz und gar nichts von der Idee des Grafen ¸briggeblieben. Jarno, der eben hereintrat, wurde in das Geheimnis gezogen. Es freute ihn herzlich, und er war geneigt, seine guten Dienste den Damen anzubieten. “Es wâ°re gar schlimm”, sagte er, “gnâ°dige Frau, wenn Sie sich aus dieser Sache nicht allein heraushelfen wollten; doch auf alle Fâ°lle will ich im Hinterhalte liegenbleiben.” Die Baronesse erzâ°hlte hierauf, wie sie bisher dem Grafen das ganze St¸ck, aber nur immer stellenweise und ohne Ordnung erzâ°hlt habe, daï¬ er also auf jedes Einzelne vorbereitet sei, nur stehe er freilich in Gedanken, das Ganze werde mit seiner Idee zusammentreffen. “Ich will mich”, sagte sie, “heute abend in der Probe zu ihm setzen und ihn zu zerstreuen suchen. Den Konditor habe ich auch schon vorgehabt, daï¬ er ja die Dekorationen am Ende recht schËn macht, dabei aber doch etwas Geringes fehlen lâ°ï¬t.”
“Ich w¸ï¬te einen Hof”, versetzte Jarno, “wo wir so tâ°tige und kluge Freunde brauchten, als Sie sind. Will es heute abend mit Ihren K¸nsten nicht mehr fort, so winken Sie mir, und ich will den Grafen herausholen und ihn nicht eher wieder hineinlassen, bis Minerva auftritt und von der Illumination bald Sukkurs zu hoffen ist. Ich habe ihm schon seit einigen Tagen etwas zu erËffnen, das seinen Vetter betrifft und das ich noch immer aus Ursachen aufgeschoben habe. Es wird ihm auch das eine Distraktion geben, und zwar nicht die angenehmste.”
Einige Geschâ°fte hinderten den Grafen, beim Anfange der Probe zu sein, dann unterhielt ihn die Baronesse. Jarnos H¸lfe war gar nicht nËtig. Denn indem der Graf genug zurechtzuweisen, zu verbessern und anzuordnen hatte, vergaï¬ er sich ganz und gar dar¸ber, und da Frau Melina zuletzt nach seinem Sinne sprach und die Illumination gut ausfiel, bezeigte er sich vollkommen zufrieden. Erst als alles vorbei war und man zum Spiele ging, schien ihm der Unterschied aufzufallen, und er fing an nachzudenken, ob denn das St¸ck auch wirklich von seiner Erfindung sei. Auf einen Wink fiel nun Jarno aus seinem Hinterhalte hervor, der Abend verging, die Nachricht, daï¬ der Prinz wirklich komme, bestâ°tigte sich, man ritt einigemal aus, die Avantgarde in der Nachbarschaft kampieren zu sehen, das Haus war voll Lâ°rmen und Unruhe, und unsere Schauspieler, die nicht immer zum besten von den unwilligen Bedienten versorgt wurden, muï¬ten, ohne daï¬ jemand sonderlich sich ihrer erinnerte, in dem alten Schlosse ihre Zeit in Erwartungen und ¸bungen zubringen.
III. Buch, 8. Kapitel
Achtes Kapitel
Endlich war der Prinz angekommen; die Generalitâ°t, die Stabsoffiziere und das ¸brige Gefolge, das zu gleicher Zeit eintraf, die vielen Menschen, die teils zum Besuche, teils geschâ°ftswegen einsprachen, machten das Schloï¬ einem Bienenstocke â°hnlich, der eben schwâ°rmen will. Jedermann drâ°ngte sich herbei, den vortrefflichen F¸rsten zu sehen, und jedermann bewunderte seine Leutseligkeit und Herablassung, jedermann erstaunte, in dem Helden und Heerf¸hrer zugleich den gefâ°lligsten Hofmann zu erblicken.
Alle Hausgenossen muï¬ten nach Ordre des Grafen bei der Ankunft des F¸rsten auf ihrem Posten sein, kein Schauspieler durfte sich blicken lassen, weil der Prinz mit den vorbereiteten Feierlichkeiten ¸berrascht werden sollte, und so schien er auch des Abends, als man ihn in den groï¬en, wohlerleuchteten und mit gewirkten Tapeten des vorigen Jahrhunderts ausgezierten Saal f¸hrte, ganz und gar nicht auf ein Schauspiel, viel weniger auf ein Vorspiel zu seinem Lobe vorbereitet zu sein. Alles lief auf das beste ab, und die Truppe muï¬te nach vollendeter Vorstellung herbei und sich dem Prinzen zeigen, der jeden auf die freundlichste Weise etwas zu fragen, jedem auf die gefâ°lligste Art etwas zu sagen wuï¬te. Wilhelm als Autor muï¬te besonders vortreten, und ihm ward gleichfalls sein Teil Beifall zugespendet.
Nach dem Vorspiele fragte niemand sonderlich, in einigen Tagen war es, als wenn nichts dergleichen wâ°re aufgef¸hrt worden, auï¬er daï¬ Jarno mit Wilhelmen gelegentlich davon sprach und es sehr verstâ°ndig lobte; nur setzte er hinzu: “Es ist schade, daï¬ Sie mit hohlen N¸ssen um hohle N¸sse spielen.”–Mehrere Tage lag Wilhelmen dieser Ausdruck im Sinne, er wuï¬te nicht, wie er ihn auslegen noch was er daraus nehmen sollte.
Unterdessen spielte die Gesellschaft jeden Abend so gut, als sie es nach ihren Krâ°ften vermochte, und tat das mËgliche, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu ziehen. Ein unverdienter Beifall munterte sie auf, und in ihrem alten Schlosse glaubten sie nun wirklich, eigentlich um ihretwillen drâ°nge sich die groï¬e Versammlung herbei, nach ihren Vorstellungen ziehe sich die Menge der Fremden und sie seien der Mittelpunkt, um den und um deswillen sich alles drehe und bewege.
Wilhelm allein bemerkte zu seinem groï¬en Verdrusse gerade das Gegenteil. Denn obgleich der Prinz die ersten Vorstellungen von Anfange bis zu Ende auf seinem Sessel sitzend mit der grËï¬ten Gewissenhaftigkeit abwartete, so schien er sich doch nach und nach auf eine gute Weise davon zu dispensieren. Gerade diejenigen, welche Wilhelm im Gesprâ°che als die Verstâ°ndigsten gefunden hatte, Jarno an ihrer Spitze, brachten nur fl¸chtige Augenblicke im Theatersaale zu, ¸brigens saï¬en sie im Vorzimmer, spielten oder schienen sich von Geschâ°ften zu unterhalten.
Wilhelmen verdroï¬ gar sehr, bei seinen anhaltenden Bem¸hungen des erw¸nschtesten Beifalls zu entbehren. Bei der Auswahl der St¸cke, der Abschrift der Rollen, den hâ°ufigen Proben, und was sonst nur immer vorkommen konnte, ging er Melinan eifrig zur Hand, der ihn denn auch, seine eigene Unzulâ°nglichkeit im stillen f¸hlend, zuletzt gewâ°hren lieï¬. Die Rollen memorierte Wilhelm mit Fleiï¬ und trug sie mit Wâ°rme und Lebhaftigkeit und mit soviel Anstand vor, als die wenige Bildung erlaubte, die er sich selbst gegeben hatte.
Die fortgesetzte Teilnahme des Barons benahm indes der ¸brigen Gesellschaft jeden Zweifel, indem er sie versicherte, daï¬ sie die grËï¬ten Effekte hervorbringe, besonders indem sie eins seiner eigenen St¸cke auff¸hrte, nur bedauerte er, daï¬ der Prinz eine ausschlieï¬ende Neigung f¸r das franzËsische Theater habe, daï¬ ein Teil seiner Leute hingegen, worunter sich Jarno besonders auszeichne, den Ungeheuern der englischen B¸hne einen leidenschaftlichen Vorzug gebe.
War nun auf diese Weise die Kunst unsrer Schauspieler nicht auf das beste bemerkt und bewundert, so waren dagegen ihre Personen den Zuschauern und Zuschauerinnen nicht vËllig gleichg¸ltig. Wir haben schon oben angezeigt, daï¬ die Schauspielerinnen gleich von Anfang die Aufmerksamkeit junger Offiziere erregten; allein sie waren in der Folge gl¸cklicher und machten wichtigere Eroberungen. Doch wir schweigen davon und bemerken nur, daï¬ Wilhelm der Grâ°fin von Tag zu Tag interessanter vorkam, so wie auch in ihm eine stille Neigung gegen sie aufzukeimen anfing. Sie konnte, wenn er auf dem Theater war, die Augen nicht von ihm abwenden, und er schien bald nur allein gegen sie gerichtet zu spielen und zu rezitieren. Sich wechselseitig anzusehen war ihnen ein unaussprechliches Vergn¸gen, dem sich ihre harmlosen Seelen ganz ¸berlieï¬en, ohne lebhaftere W¸nsche zu nâ°hren oder f¸r irgendeine Folge besorgt zu sein.
Wie ¸ber einen Fluï¬ hin¸ber, der sie scheidet, zwei feindliche Vorposten sich ruhig und lustig zusammen besprechen, ohne an den Krieg zu denken, in welchem ihre beiderseitigen Parteien begriffen sind, so wechselte die Grâ°fin mit Wilhelm bedeutende Blicke ¸ber die ungeheure Kluft der Geburt und des Standes hin¸ber, und jedes glaubte an seiner Seite, sicher seinen Empfindungen nachhâ°ngen zu d¸rfen.
Die Baronesse hatte sich indessen den Laertes ausgesucht, der ihr als ein wackerer, munterer J¸ngling besonders gefiel und der, sosehr Weiberfeind er war, doch ein vorbeigehendes Abenteuer nicht verschmâ°hete und wirklich diesmal wider Willen durch die Leutseligkeit und das einnehmende Wesen der Baronesse gefesselt worden wâ°re, hâ°tte ihm der Baron zufâ°llig nicht einen guten oder, wenn man will, einen schlimmen Dienst erzeigt, indem er ihn mit den Gesinnungen dieser Dame nâ°her bekannt machte.
Denn als Laertes sie einst laut r¸hmte und sie allen andern ihres Geschlechts vorzog, versetzte der Baron scherzend: “Ich merke schon, wie die Sachen stehen, unsre liebe Freundin hat wieder einen f¸r ihre Stâ°lle gewonnen.” Dieses ungl¸ckliche Gleichnis, das nur zu klar auf die gefâ°hrlichen Liebkosungen einer Circe deutete, verdroï¬ Laertes ¸ber die Maï¬en, und er konnte dem Baron nicht ohne â°rgernis zuhËren, der ohne Barmherzigkeit fortfuhr:
“Jeder Fremde glaubt, daï¬ er der erste sei, dem ein so angenehmes Betragen gelte; aber er irrt gewaltig, denn wir alle sind einmal auf diesem Wege herumgef¸hrt worden; Mann, J¸ngling oder Knabe, er sei, wer er sei, muï¬ sich eine Zeitlang ihr ergeben, ihr anhâ°ngen und sich mit Sehnsucht um sie bem¸hen.”
Den Gl¸cklichen, der eben, in die Gâ°rten einer Zauberin hineintretend, von allen Seligkeiten eines k¸nstlichen Fr¸hlings empfangen wird, kann nichts unangenehmer ¸berraschen, als wenn ihm, dessen Ohr ganz auf den Gesang der Nachtigall lauscht, irgendein verwandelter Vorfahr unvermutet entgegengrunzt.
Laertes schâ°mte sich nach dieser Entdeckung recht von Herzen, daï¬ ihn seine Eitelkeit nochmals verleitet habe, von irgendeiner Frau auch nur im mindesten gut zu denken. Er vernachlâ°ssigte sie nunmehr vËllig, hielt sich zu dem Stallmeister, mit dem er fleiï¬ig focht und auf die Jagd ging, bei Proben und Vorstellungen aber sich betrug, als wenn dies bloï¬ eine Nebensache wâ°re.
Der Graf und die Grâ°fin lieï¬en manchmal morgens einige von der Gesellschaft rufen, da jeder denn immer Philinens unverdientes Gl¸ck zu beneiden Ursache fand. Der Graf hatte seinen Liebling, den Pedanten, oft stundenlang bei seiner Toilette. Dieser Mensch ward nach und nach bekleidet und bis auf Uhr und Dose equipiert und ausgestattet.
Auch wurde die Gesellschaft manchmal samt und sonders nach Tafel vor die hohen Herrschaften gefordert. Sie schâ°tzten sich es zur grËï¬ten Ehre und bemerkten es nicht, daï¬ man zu ebenderselben Zeit durch Jâ°ger und Bediente eine Anzahl Hunde hereinbringen und Pferde im Schloï¬hofe vorf¸hren lieï¬.
Man hatte Wilhelmen gesagt, daï¬ er ja gelegentlich des Prinzen Liebling Racine loben und dadurch auch von sich eine gute Meinung erwecken solle. Er fand dazu an einem solchen Nachmittage Gelegenheit, da er auch mit vorgefordert worden war und der Prinz ihn fragte, ob er auch fleiï¬ig die groï¬en franzËsischen Theaterschriftsteller lese, darauf ihm denn Wilhelm mit einem sehr lebhaften ja antwortete. Er bemerkte nicht, daï¬ der F¸rst, ohne seine Antwort abzuwarten, schon im Begriff war, sich weg und zu jemand andern zu wenden, er faï¬te ihn vielmehr sogleich und trat ihm beinah in den Weg, indem er fortfuhr: er schâ°tze das franzËsische Theater sehr hoch und lese die Werke der groï¬en Meister mit Entz¸cken; besonders habe er zu wahrer Freude gehËrt, daï¬ der F¸rst den groï¬en Talenten eines Racine vËllige Gerechtigkeit widerfahren lasse. “Ich kann es mir vorstellen”, fuhr er fort, “wie vornehme und erhabene Personen einen Dichter schâ°tzen m¸ssen, der die Zustâ°nde ihrer hËheren Verhâ°ltnisse so vortrefflich und richtig schildert. Corneille hat, wenn ich so sagen darf, groï¬e Menschen dargestellt, und Racine vornehme Personen. Ich kann mir, wenn ich seine St¸cke lese, immer den Dichter denken, der an einem glâ°nzenden Hofe lebt, einen groï¬en KËnig vor Augen hat, mit den Besten umgeht und in die Geheimnisse der Menschheit dringt, wie sie sich hinter kostbar gewirkten Tapeten verbergen. Wenn ich seinen “Britannicus”, seine “Berenice” studiere, so kommt es mir wirklich vor, ich sei am Hofe, sei in das Groï¬e und Kleine dieser Wohnungen der irdischen GËtter geweiht, und ich sehe durch die Augen eines feinf¸hlenden Franzosen KËnige, die eine ganze Nation anbetet, Hofleute, die von viel Tausenden beneidet werden, in ihrer nat¸rlichen Gestalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die Anekdote, daï¬ Racine sich zu Tode gegrâ°mt habe, weil Ludwig der Vierzehnte ihn nicht mehr angesehen, ihn seine Unzufriedenheit f¸hlen lassen, ist mir ein Schl¸ssel zu allen seinen Werken, und es ist unmËglich, daï¬ ein Dichter von so groï¬en Talenten, dessen Leben und Tod an den Augen eines KËniges hâ°ngt, nicht auch St¸cke schreiben solle, die des Beifalls eines KËniges und eines F¸rsten wert seien.”
Jarno war herbeigetreten und hËrte unserem Freunde mit Verwunderung zu; der F¸rst, der nicht geantwortet und nur mit einem gefâ°lligen Blicke seinen Beifall gezeigt hatte, wandte sich seitwâ°rts, obgleich Wilhelm, dem es noch unbekannt war, daï¬ es nicht anstâ°ndig sei, unter solchen Umstâ°nden einen Diskurs fortzusetzen und eine Materie erschËpfen zu wollen, noch gerne mehr gesprochen und dem F¸rsten gezeigt hâ°tte, daï¬ er nicht ohne Nutzen und Gef¸hl seinen Lieblingsdichter gelesen.
“Haben Sie denn niemals”, sagte Jarno, indem er ihn beiseite nahm, “ein St¸ck von Shakespearen gesehen?”
“Nein”, versetzte Wilhelm, “denn seit der Zeit, daï¬ sie in Deutschland bekannter geworden sind, bin ich mit dem Theater unbekannt worden, und ich weiï¬ nicht, ob ich mich freuen soll, daï¬ sich zufâ°llig eine alte jugendliche Liebhaberei und Beschâ°ftigung gegenwâ°rtig wieder erneuerte. Indessen hat mich alles, was ich von jenen St¸cken gehËrt, nicht neugierig gemacht, solche seltsame Ungeheuer nâ°her kennenzulernen, die ¸ber alle Wahrscheinlichkeit, allen Wohlstand hinauszuschreiten scheinen.”
“Ich will Ihnen denn doch raten”, versetzte jener, “einen Versuch zu machen; es kann nichts schaden, wenn man auch das Seltsame mit eigenen Augen sieht. Ich will Ihnen ein paar Teile borgen, und Sie kËnnen Ihre Zeit nicht besser anwenden, als wenn Sie sich gleich von allem losmachen und in der Einsamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieser unbekannten Welt sehen. Es ist s¸ndlich, daï¬ Sie Ihre Stunden verderben, diese Affen menschlicher auszuputzen und diese Hunde tanzen zu lehren. Nur eins bedinge ich mir aus, daï¬ Sie sich an die Form nicht stoï¬en; das ¸brige kann ich Ihrem richtigen Gef¸hle ¸berlassen.”
Die Pferde standen vor der T¸r, und Jarno setzte sich mit einigen Kavalieren auf, um sich mit der Jagd zu erlustigen. Wilhelm sah ihm traurig nach. Er hâ°tte gern mit diesem Manne noch vieles gesprochen, der ihm, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab, Ideen, deren er bedurfte.
Der Mensch kommt manchmal, indem er sich einer Entwicklung seiner Krâ°fte, Fâ°higkeiten und Begriffe nâ°hert, in eine Verlegenheit, aus der ihm ein guter Freund leicht helfen kËnnte. Er gleicht einem Wanderer, der nicht weit von der Herberge ins Wasser fâ°llt; griffe jemand sogleich zu, risse ihn ans Land, so wâ°re es um einmal naï¬ werden getan, anstatt daï¬ er sich auch wohl selbst, aber am jenseitigen Ufer, heraushilft und einen beschwerlichen, weiten Umweg nach seinem bestimmten Ziele zu machen hat.
Wilhelm fing an zu wittern, daï¬ es in der Welt anders zugehe, als er es sich gedacht. Er sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen und Groï¬en in der Nâ°he und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wuï¬ten. Ein Heer auf dem Marsche, ein f¸rstlicher Held an seiner Spitze, so viele mitwirkende Krieger, so viele zudringende Verehrer erhËhten seine Einbildungskraft. In dieser Stimmung erhielt er die versprochenen B¸cher, und in kurzem, wie man es vermuten kann, ergriff ihn der Strom jenes groï¬en Genius und f¸hrte ihn einem un¸bersehlichen Meere zu, worin er sich gar bald vËllig vergaï¬ und verlor.
III. Buch, 9. Kapitel
Neuntes Kapitel
Das Verhâ°ltnis des Barons zu den Schauspielern hatte seit ihrem Aufenthalte im Schlosse verschiedene Verâ°nderungen erlitten. Im Anfange gereichte es zu beiderseitiger Zufriedenheit: denn indem der Baron das erstemal in seinem Leben eines seiner St¸cke, mit denen er ein Gesellschaftstheater schon belebt hatte, in den Hâ°nden wirklicher Schauspieler und auf dem Wege zu einer anstâ°ndigen Vorstellung sah, war er von dem besten Humor, bewies sich freigebig und kaufte bei jedem Galanteriehâ°ndler, deren sich manche einstellten, kleine Geschenke f¸r die Schauspielerinnen und wuï¬te den Schauspielern manche Bouteille Champagner extra zu verschaffen; dagegen gaben sie sich auch mit seinen St¸cken alle M¸he, und Wilhelm sparte keinen Fleiï¬, die herrlichen Reden des vortrefflichen Helden, dessen Rolle ihm zugefallen war, auf das genaueste zu memorieren.
Indessen hatten sich doch auch nach und nach einige Miï¬helligkeiten eingeschlichen. Die Vorliebe des Barons f¸r gewisse Schauspieler wurde von Tag zu Tag merklicher, und notwendig muï¬te dies die ¸brigen verdrieï¬en. Er erhob seine G¸nstlinge ganz ausschlieï¬lich und brachte dadurch Eifersucht und Uneinigkeit unter die Gesellschaft. Melina, der sich bei streitigen Fâ°llen ohnedem nicht zu helfen wuï¬te, befand sich in einem sehr unangenehmen Zustande. Die Gepriesenen nahmen das Lob an, ohne sonderlich dankbar zu sein, und die Zur¸ckgesetzten lieï¬en auf allerlei Weise ihren Verdruï¬ sp¸ren und wuï¬ten ihrem erst hochverehrten GËnner den Aufenthalt unter ihnen auf eine oder die andere Weise unangenehm zu machen; ja es war ihrer Schadenfreude keine geringe Nahrung, als ein gewisses Gedicht, dessen Verfasser man nicht kannte, im Schlosse viele Bewegung verursachte. Bisher hatte man sich immer, doch auf eine ziemlich feine Weise, ¸ber den Umgang des Barons mit den KomËdianten aufgehalten, man hatte allerlei Geschichten auf ihn gebracht, gewisse Vorfâ°lle ausgeputzt und ihnen eine lustige und interessante Gestalt gegeben. Zuletzt fing man an zu erzâ°hlen, es entstehe eine Art von Handwerksneid zwischen ihm und einigen Schauspielern, die sich auch einbildeten, Schriftsteller zu sein, und auf diese Sage gr¸ndet sich das Gedicht, von welchem wir sprachen und welches lautete wie folgt:
Ich armer Teufel, Herr Baron,
Beneide Sie um Ihren Stand,
Um Ihren Platz so nah am Thron
Und um manch schËn’ St¸ck Ackerland, Um Ihres Vaters festes Schloï¬,
Um seine Wildbahn und Geschoï¬.
Mich armen Teufel, Herr Baron,
Beneiden Sie, so wie es scheint,
Weil die Natur vom Knaben schon
Mit mir es m¸tterlich gemeint.
Ich ward mit leichtem Mut und Kopf
Zwar arm, doch nicht ein armer Tropf.
Nun dâ°cht ich, lieber Herr Baron,
Wir lieï¬en’s beide, wie wir sind: Sie blieben des Herrn Vaters Sohn,
Und ich blieb’ meiner Mutter Kind.
Wir leben ohne Neid und Haï¬,
Begehren nicht des andern Titel,
Sie keinen Platz auf dem Parnaï¬,
Und keinen ich in dem Kapitel.
Die Stimmen ¸ber dieses Gedicht, das in einigen fast unleserlichen Abschriften sich in verschiedenen Hâ°nden befand, waren sehr geteilt, auf den Verfasser aber wuï¬te niemand zu mutmaï¬en, und als man mit einiger Schadenfreude sich dar¸ber zu ergËtzen anfing, erklâ°rte sich Wilhelm sehr dagegen.
“Wir Deutschen”, rief er aus, “verdienten, daï¬ unsere Musen in der Verachtung blieben, in der sie so lange geschmachtet haben, da wir nicht Mâ°nner von Stande zu schâ°tzen wissen, die sich mit unserer Literatur auf irgendeine Weise abgeben mËgen. Geburt, Stand und VermËgen stehen in keinem Widerspruch mit Genie und Geschmack, das haben uns fremde Nationen gelehrt, welche unter ihren besten KËpfen eine groï¬e Anzahl Edelleute zâ°hlen. War es bisher in Deutschland ein Wunder, wenn ein Mann von Geburt sich den Wissenschaften widmete, wurden bisher nur wenige ber¸hmte Namen durch ihre Neigung zu Kunst und Wissenschaft noch ber¸hmter; stiegen dagegen manche aus der Dunkelheit hervor und traten wie unbekannte Sterne an den Horizont: so wird das nicht immer so sein, und wenn ich mich nicht sehr irre, so ist die erste Klasse der Nation auf dem Wege, sich ihrer Vorteile auch zu Erringung des schËnsten Kranzes der Musen in Zukunft zu bedienen. Es ist mir daher nichts unangenehmer, als wenn ich nicht allein den B¸rger oft ¸ber den Edelmann, der die Musen zu schâ°tzen weiï¬, spotten, sondern auch Personen von Stande selbst, mit un¸berlegter Laune und niemals zu billigender Schadenfreude, ihresgleichen von einem Wege abschrecken sehe, auf dem einen jeden Ehre und Zufriedenheit erwartet.”
Es schien die letzte â°uï¬erung gegen den Grafen gerichtet zu sein, von welchem Wilhelm gehËrt hatte, daï¬ er das Gedicht wirklich gut finde. Freilich war diesem Herrn, der immer auf seine Art mit dem Baron zu scherzen pflegte, ein solcher Anlaï¬ sehr erw¸nscht, seinen Verwandten auf alle Weise zu plagen. Jedermann hatte seine eigenen Mutmaï¬ungen, wer der Verfasser des Gedichtes sein kËnnte, und der Graf, der sich nicht gern im Scharfsinn von jemand ¸bertroffen sah, fiel auf einen Gedanken, den er sogleich zu beschwËren bereit war: das Gedicht kËnnte sich nur von seinem Pedanten herschreiben, der ein sehr feiner Bursche sei und an dem er schon lange so etwas poetisches Genie gemerkt habe. Um sich ein rechtes Vergn¸gen zu machen, lieï¬ er deswegen an einem Morgen diesen Schauspieler rufen, der ihm in Gegenwart der Grâ°fin, der Baronesse und Jarnos das Gedicht nach seiner Art vorlesen muï¬te und daf¸r Lob, Beifall und ein Geschenk einerntete und die Frage des Grafen, ob er nicht sonst noch einige Gedichte von fr¸hern Zeiten besitze, mit Klugheit abzulehnen wuï¬te. So kam der Pedant zum Rufe eines Dichters, eines Witzlings und in den Augen derer, die dem Baron g¸nstig waren, eines Pasquillanten und schlechten Menschen. Von der Zeit an applaudierte ihm der Graf nur immer mehr, er mochte seine Rolle spielen, wie er wollte, so daï¬ der arme Mensch zuletzt aufgeblasen, ja beinahe verr¸ckt wurde und darauf sann, gleich Philinen ein Zimmer im Schlosse zu beziehen.
Wâ°re dieser Plan sogleich zu vollf¸hren gewesen, so mËchte er einen groï¬en Unfall vermieden haben. Denn als er eines Abends spâ°t nach dem alten Schlosse ging und in dem dunkeln, engen Wege herumtappte, ward er auf einmal angefallen, von einigen Personen festgehalten, indessen andere auf ihn wacker losschlugen und ihn im Finstern so zerdraschen, daï¬ er beinahe liegenblieb und nur mit M¸he zu seinen Kameraden hinaufkroch, die, sosehr sie sich entr¸stet stellten, ¸ber diesen Unfall ihre heimliche Freude f¸hlten und sich kaum des Lachens erwehren konnten, als sie ihn so wohl durchwalkt und seinen neuen braunen Rock ¸ber und ¸ber weiï¬, als wenn er mit M¸llern Hâ°ndel gehabt, bestâ°ubt und befleckt sahen.
Der Graf, der sogleich hiervon Nachricht erhielt, brach in einen unbeschreiblichen Zorn aus. Er behandelte diese Tat als das grËï¬te Verbrechen, qualifizierte sie zu einem beleidigten Burgfrieden und lieï¬ durch seinen Gerichtshalter die strengste Inquisition vornehmen. Der weiï¬bestâ°ubte Rock sollte eine Hauptanzeige geben. Alles, was nur irgend mit Puder und Mehl im Schlosse zu schaffen haben konnte, wurde mit in die Untersuchung gezogen, jedoch vergebens.
Der Baron versicherte bei seiner Ehre feierlich: jene Art zu scherzen habe ihm freilich sehr miï¬fallen, und das Betragen des Herrn Grafen sei nicht das freundschaftlichste gewesen, aber er habe sich dar¸ber hinauszusetzen gewuï¬t, und an dem Unfall, der dem Poeten oder Pasquillanten, wie man ihn nennen wolle, begegnet, habe er nicht den mindesten Anteil.
Die ¸brigen Bewegungen der Fremden und die Unruhe des Hauses brachten bald die ganze Sache in Vergessenheit, und der ungl¸ckliche G¸nstling muï¬te das Vergn¸gen, fremde Federn eine kurze Zeit getragen zu haben, teuer bezahlen.
Unsere Truppe, die regelmâ°ï¬ig alle Abende fortspielte und im ganzen sehr wohl gehalten wurde, fing nun an, je besser es ihr ging, desto grËï¬ere Anforderungen zu machen. In kurzer Zeit war ihnen Essen, Trinken, Aufwartung, Wohnung zu gering, und sie lagen ihrem Besch¸tzer, dem Baron, an, daï¬ er f¸r sie besser sorgen und ihnen zu dem Genusse und der Bequemlichkeit, die er ihnen versprochen, doch endlich verhelfen solle. Ihre Klagen wurden lauter und die Bem¸hungen ihres Freundes, ihnen genugzutun, immer fruchtloser.
Wilhelm kam indessen, auï¬er in Proben und Spielstunden, wenig mehr zum Vorscheine. In einem der hintersten Zimmer verschlossen, wozu nur Mignon und dem Harfner der Zutritt gerne verstattet wurde, lebte und webte er in der Shakespearischen Welt, so daï¬ er auï¬er sich nichts kannte noch empfand.
Man erzâ°hlt von Zauberern, die durch magische Formeln eine ungeheure Menge allerlei geistiger Gestalten in ihre Stube herbeiziehen. Die BeschwËrungen sind so krâ°ftig, daï¬ sich bald der Raum des Zimmers ausf¸llt und die Geister, bis an den kleinen gezogenen Kreis hinangedrâ°ngt, um denselben und ¸ber dem Haupte des Meisters in ewig drehender Verwandlung sich bewegend vermehren. Jeder Winkel ist vollgepfropft und jedes Gesims besetzt. Eier dehnen sich aus, und Riesengestalten ziehen sich in Pilze zusammen. Ungl¸cklicherweise hat der Schwarzk¸nstler das Wort vergessen, womit er diese Geisterflut wieder zur Ebbe bringen kËnnte.–So saï¬ Wilhelm, und mit unbekannter Bewegung wurden tausend Empfindungen und Fâ°higkeiten in ihm rege, von denen er keinen Begriff und keine Ahnung gehabt hatte. Nichts konnte ihn aus diesem Zustande reiï¬en, und er war sehr unzufrieden, wenn irgend jemand zu kommen Gelegenheit nahm, um ihn von dem, was auswâ°rts vorging, zu unterhalten.
So merkte er kaum auf, als man ihm die Nachricht brachte, es sollte in dem Schloï¬hofe eine Exekution vorgehen und ein Knabe gestâ°upt werden, der sich eines nâ°chtlichen Einbruchs verdâ°chtig gemacht habe und, da er den Rock eines Per¸ckenmachers trage, wahrscheinlich mit unter den Meuchlern gewesen sei. Der Knabe leugne zwar auf das hartnâ°ckigste, und man kËnne ihn deswegen nicht fËrmlich bestrafen, wolle ihm aber als einem Vagabunden einen Denkzettel geben und ihn weiterschicken, weil er einige Tage in der Gegend herumgeschwâ°rmt sei, sich des Nachts in den M¸hlen aufgehalten, endlich eine Leiter an eine Gartenmauer angelehnt habe und her¸bergestiegen sei.
Wilhelm fand an dem ganzen Handel nichts sonderlich merkw¸rdig, als Mignon hastig hereinkam und ihm versicherte, der Gefangene sei Friedrich, der sich seit den Hâ°ndeln mit dem Stallmeister von der Gesellschaft und aus unsern Augen verloren hatte.
Wilhelm, den der Knabe interessierte, machte sich eilends auf und fand im Schloï¬hofe schon Zur¸stungen. Denn der Graf liebte die Feierlichkeit auch in dergleichen Fâ°llen. Der Knabe wurde herbeigebracht: Wilhelm trat dazwischen und bat, daï¬ man innehalten mËchte, indem er den Knaben kenne und vorher erst verschiedenes seinetwegen anzubringen habe. Er hatte M¸he, mit seinen Vorstellungen durchzudringen, und erhielt endlich die Erlaubnis, mit dem Delinquenten allein zu sprechen. Dieser versicherte, von dem ¸berfalle, bei dem ein Akteur sollte gemiï¬handelt worden sein, wisse er gar nichts. Er sei nur um das Schloï¬ herumgestreift und des Nachts hereingeschlichen, um Philinen aufzusuchen, deren Schlafzimmer er ausgekundschaftet gehabt und es auch gewiï¬ w¸rde getroffen haben, wenn er nicht unterwegs aufgefangen worden wâ°re.
Wilhelm, der, zur Ehre der Gesellschaft, das Verhâ°ltnis nicht gerne entdecken wollte, eilte zu dem Stallmeister und bat ihn, nach seiner Kenntnis der Personen und des Hauses diese Angelegenheit zu vermitteln und den Knaben zu befreien.
Dieser launige Mann erdachte unter Wilhelms Beistand eine kleine Geschichte, daï¬ der Knabe zur Truppe gehËrt habe, von ihr entlaufen sei, doch wieder gew¸nscht, sich bei ihr einzufinden und aufgenommen zu werden. Er habe deswegen die Absicht gehabt, bei Nachtzeit einige seiner GËnner aufzusuchen und sich ihnen zu empfehlen. Man bezeugte ¸brigens, daï¬ er sich sonst gut aufgef¸hrt, die Damen mischten sich darein, und er ward entlassen.
Wilhelm nahm ihn auf, und er war nunmehr die dritte Person der wunderbaren Familie, die Wilhelm seit einiger Zeit als seine eigene ansah. Der Alte und Mignon nahmen den Wiederkehrenden freundlich auf, und alle drei verbanden sich nunmehr, ihrem Freunde und Besch¸tzer aufmerksam zu dienen und ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.
III. Buch, 10. Kapitel
Zehntes Kapitel
Philine wuï¬te sich nun tâ°glich besser bei den Damen einzuschmeicheln. Wenn sie zusammen allein waren, leitete sie meistenteils das Gesprâ°ch auf die Mâ°nner, welche kamen und gingen, und Wilhelm war nicht der letzte, mit dem man sich beschâ°ftigte. Dem klugen Mâ°dchen blieb es nicht verborgen, daï¬ er einen tiefen Eindruck auf das Herz der Grâ°fin gemacht habe; sie erzâ°hlte daher von ihm, was sie wuï¬te und nicht wuï¬te; h¸tete sich aber, irgend etwas vorzubringen, das man zu seinem Nachteil hâ°tte deuten kËnnen, und r¸hmte dagegen seinen Edelmut, seine Freigebigkeit und besonders seine Sittsamkeit im Betragen gegen das weibliche Geschlecht. Alle ¸brigen Fragen, die an sie geschahen, beantwortete sie mit Klugheit, und als die Baronesse die zunehmende Neigung ihrer schËnen Freundin bemerkte, war auch ihr diese Entdeckung sehr willkommen. Denn ihre Verhâ°ltnisse zu mehrern Mâ°nnern, besonders in diesen letzten Tagen zu Jarno, blieben der Grâ°fin nicht verborgen, deren reine Seele einen solchen Leichtsinn nicht ohne Miï¬billigung und ohne sanften Tadel bemerken konnte.
Auf diese Weise hatte die Baronesse sowohl als Philine jede ein besonderes Interesse, unsern Freund der Grâ°fin nâ°herzubringen, und Philine hoffte noch ¸berdies, bei Gelegenheit wieder f¸r sich zu arbeiten und die verlorne Gunst des jungen Mannes sich wo mËglich wieder zu erwerben.
Eines Tags, als der Graf mit der ¸brigen Gesellschaft auf die Jagd geritten war und man die Herren erst den andern Morgen zur¸ckerwartete, ersann sich die Baronesse einen Scherz, der vËllig in ihrer Art war; denn sie liebte die Verkleidungen und kam, um die Gesellschaft zu ¸berraschen, bald als Bauermâ°dchen, bald als Page, bald als Jâ°gerbursche zum Vorschein. Sie gab sich dadurch das Ansehn einer kleinen Fee, die ¸berall und gerade da, wo man sie am wenigsten vermutet, gegenwâ°rtig ist. Nichts glich ihrer Freude, wenn sie unerkannt eine Zeitlang die Gesellschaft bedient oder sonst unter ihr gewandelt hatte und sie sich zuletzt auf eine scherzhafte Weise zu entdecken wuï¬te.
Gegen Abend lieï¬ sie Wilhelmen auf ihr Zimmer fordern, und da sie eben noch etwas zu tun hatte, sollte Philine ihn vorbereiten.
Er kam und fand nicht ohne Verwunderung statt der gnâ°digen Frauen das leichtfertige Mâ°dchen im Zimmer. Sie begegnete ihm mit einer gewissen anstâ°ndigen Freim¸tigkeit, in der sie sich bisher ge¸bt hatte, und nËtigte ihn dadurch gleichfalls zur HËflichkeit.
Zuerst scherzte sie im allgemeinen ¸ber das gute Gl¸ck, das ihn verfolge und ihn auch, wie sie wohl merke, gegenwâ°rtig hierhergebracht habe; sodann warf sie ihm auf eine angenehme Art sein Betragen vor, womit er sie bisher gequâ°lt habe, schalt und beschuldigte sich selbst, gestand, daï¬ sie sonst wohl so seine Begegnung verdient, machte eine so aufrichtige Beschreibung ihres Zustandes, den sie den vorigen nannte, und setzte hinzu, daï¬ sie sich selbst verachten m¸sse, wenn sie nicht fâ°hig wâ°re, sich zu â°ndern und sich seiner Freundschaft wert zu machen.
Wilhelm war ¸ber diese Rede betroffen. Er hatte zu wenig Kenntnis der Welt, um zu wissen, daï¬ eben ganz leichtsinnige und der Besserung unfâ°hige Menschen sich oft am lebhaftesten anklagen, ihre Fehler mit groï¬er Freim¸tigkeit bekennen und bereuen, ob sie gleich nicht die mindeste Kraft in sich haben, von dem Wege zur¸ckzutreten, auf den eine ¸bermâ°chtige Natur sie hinreiï¬t. Er konnte daher nicht unfreundlich gegen die zierliche S¸nderin bleiben; er lieï¬ sich mit ihr in ein Gesprâ°ch ein und vernahm von ihr den Vorschlag zu einer sonderbaren Verkleidung, womit man die schËne Grâ°fin zu ¸berraschen gedachte.
Er fand dabei einiges Bedenken, das er Philinen nicht verhehlte; allein die Baronesse, welche in dem Augenblick hereintrat, lieï¬ ihm keine Zeit zu Zweifeln ¸brig, sie zog ihn vielmehr mit sich fort, indem sie versicherte, es sei eben die rechte Stunde.
Es war dunkel geworden, und sie f¸hrte ihn in die Garderobe des Grafen, lieï¬ ihn seinen Rock ausziehen und in den seidnen Schlafrock des Grafen hineinschl¸pfen, setzte ihm darauf die M¸tze mit dem roten Bande auf, f¸hrte ihn ins Kabinett und hieï¬ ihn sich in den groï¬en Sessel setzen und ein Buch nehmen, z¸ndete die Argandische Lampe selbst an, die vor ihm stand, und unterrichtete ihn, was er zu tun und was er f¸r eine Rolle zu spielen habe.
Man werde, sagte sie, der Grâ°fin die unvermutete Ankunft ihres Gemahls und seine ¸ble Laune ank¸ndigen; sie werde kommen, einigemal im Zimmer auf und ab gehn, sich alsdann auf die Lehne des Sessels setzen, ihren Arm auf seine Schultern legen und einige Worte sprechen. Er solle seine Ehemannsrolle so lange und so gut als mËglich spielen; wenn er sich aber endlich entdecken m¸ï¬te, so solle er h¸bsch artig und galant sein.
Wilhelm saï¬ nun unruhig genug in dieser wunderlichen Maske; der Vorschlag hatte ihn ¸berrascht, und die Ausf¸hrung eilte der ¸berlegung zuvor. Schon war die Baronesse wieder zum Zimmer hinaus, als er erst bemerkte, wie gefâ°hrlich der Posten war, den er eingenommen hatte. Er leugnete sich nicht, daï¬ die SchËnheit, die Jugend, die Anmut der Grâ°fin einigen Eindruck auf ihn gemacht hatten; allein da er seiner Natur nach von aller leeren Galanterie weit entfernt war und ihm seine Grundsâ°tze einen Gedanken an ernsthaftere Unternehmungen nicht erlaubten, so war er wirklich in diesem Augenblicke in nicht geringer Verlegenheit. Die Furcht, der Grâ°fin zu miï¬fallen oder ihr mehr als billig zu gefallen, war gleich groï¬ bei ihm.
Jeder weibliche Reiz, der jemals auf ihn gewirkt hatte, zeigte sich wieder vor seiner Einbildungskraft. Mariane erschien ihm im weiï¬en Morgenkleide und flehte um sein Andenken. Philinens Liebensw¸rdigkeit, ihre schËnen Haare und ihr einschmeichelndes Betragen waren durch ihre neueste Gegenwart wieder wirksam geworden; doch alles trat wie hinter den Flor der Entfernung zur¸ck, wenn er sich die edle, bl¸hende Grâ°fin dachte, deren Arm er in wenig Minuten an seinem Halse f¸hlen sollte, deren unschuldige Liebkosungen er zu erwidern aufgefordert war.
Die sonderbare Art, wie er aus dieser Verlegenheit sollte gezogen werden, ahnete er freilich nicht. Denn wie groï¬ war sein Erstaunen, ja sein Schrecken, als hinter ihm die T¸re sich auftat und er bei dem ersten verstohlnen Blick in den Spiegel den Grafen ganz deutlich erblickte, der mit einem Lichte in der Hand hereintrat. Sein Zweifel, was er zu tun habe, ob er sitzen bleiben oder aufstehen, fliehen, bekennen, leugnen oder um Vergebung bitten solle, dauerte nur einige Augenblicke. Der Graf, der unbeweglich in der T¸re stehengeblieben war, trat zur¸ck und machte sie sachte zu. In dem Moment sprang die Baronesse zur Seitent¸re herein, lËschte die Lampe aus, riï¬ Wilhelmen vom Stuhle und zog ihn nach sich in das Kabinett. Geschwind warf er den Schlafrock ab, der sogleich wieder seinen gewËhnlichen Platz erhielt. Die Baronesse nahm Wilhelms Rock ¸ber den Arm und eilte mit ihm durch einige Stuben, Gâ°nge und Verschlâ°ge in ihr Zimmer, wo Wilhelm, nachdem sie sich erholt hatte, von ihr vernahm: sie sei zu der Grâ°fin gekommen, um ihr die erdichtete Nachricht von der Ankunft des Grafen zu bringen. “Ich weiï¬ es schon”, sagte die Grâ°fin; “was mag wohl begegnet sein? Ich habe ihn soeben zum Seitentor hereinreiten sehen.” Erschrocken sei die Baronesse sogleich auf des Grafen Zimmer gelaufen, um ihn abzuholen.
“Ungl¸cklicherweise sind Sie zu spâ°t gekommen!” rief Wilhelm aus, “der Graf war vorhin im Zimmer und hat mich sitzen sehen.”
“Hat er Sie erkannt?”
“Ich weiï¬ es nicht. Er sah mich im Spiegel, so wie ich ihn, und eh ich wuï¬te, ob es ein Gespenst oder er selbst war, trat er schon wieder zur¸ck und dr¸ckte die T¸re hinter sich zu.”
Die Verlegenheit der Baronesse vermehrte sich, als ein Bedienter sie zu rufen kam und anzeigte, der Graf befinde sich bei seiner Gemahlin. Mit schwerem Herzen ging sie hin und fand den Grafen zwar still und in sich gekehrt, aber in seinen â°uï¬erungen milder und freundlicher als gewËhnlich. Sie wuï¬te nicht, was sie denken sollte. Man sprach von den Vorfâ°llen der Jagd und den Ursachen seiner fr¸heren Zur¸ckkunft. Das Gesprâ°ch ging bald aus. Der Graf ward stille, und besonders muï¬te der Baronesse auffallen, als er nach Wilhelmen fragte und den Wunsch â°uï¬erte, man mËchte ihn rufen lassen, damit er etwas vorlese.
Wilhelm, der sich im Zimmer der Baronesse wieder angekleidet und einigermaï¬en erholt hatte, kam nicht ohne Sorgen auf den Befehl herbei. Der Graf gab ihm ein Buch, aus welchem er eine abenteuerliche Novelle nicht ohne Beklemmung vorlas. Sein Ton hatte etwas Unsicheres, Zitterndes, das gl¸cklicherweise dem Inhalt der Geschichte gemâ°ï¬ war. Der Graf gab einigemal freundliche Zeichen des Beifalls und lobte den besondern Ausdruck der Vorlesung, da er zuletzt unsern Freund entlieï¬.
III. Buch, 11. Kapitel
Elftes Kapitel
Wilhelm hatte kaum einige St¸cke Shakespeares gelesen, als ihre Wirkung auf ihn so stark wurde, daï¬ er weiter fortzufahren nicht imstande war. Seine ganze Seele geriet in Bewegung. Er suchte Gelegenheit, mit Jarno zu sprechen, und konnte ihm nicht genug f¸r die verschaffte Freude danken.
“Ich habe es wohl vorausgesehen”, sagte dieser, “daï¬ Sie gegen die Trefflichkeiten des auï¬erordentlichsten und wunderbarsten aller Schriftsteller nicht unempfindlich bleiben w¸rden.”
“Ja”, rief Wilhelm aus, “ich erinnere mich nicht, daï¬ ein Buch, ein Mensch oder irgendeine Begebenheit des Lebens so groï¬e Wirkungen auf mich hervorgebracht hâ°tte als die kËstlichen St¸cke, die ich durch Ihre G¸tigkeit habe kennenlernen. Sie scheinen ein Werk eines himmlischen Genius zu sein, der sich den Menschen nâ°hert, um sie mit sich selbst auf die gelindeste Weise bekannt zu machen. Es sind keine Gedichte! Man glaubt vor den aufgeschlagenen ungeheuren B¸chern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust und sie mit Gewalt rasch hin und wider blâ°ttert. Ich bin ¸ber die Stâ°rke und Zartheit, ¸ber die Gewalt und Ruhe so erstaunt und auï¬er aller Fassung gebracht, daï¬ ich nur mit Sehnsucht auf die Zeit warte, da ich mich in einem Zustande befinden werde, weiterzulesen.”
“Bravo”, sagte Jarno, indem er unserm Freunde die Hand reichte und sie ihm dr¸ckte, “so wollte ich es haben! Und die Folgen, die ich hoffe, werden gewiï¬ auch nicht ausbleiben.”
“Ich w¸nschte”, versetzte Wilhelm, “daï¬ ich Ihnen alles, was gegenwâ°rtig in mit vorgeht, entdecken kËnnte. Alle Vorgef¸hle, die ich jemals ¸ber Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die mich von Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakespeares St¸cken erf¸llt und entwickelt. Es scheint, als wenn er uns alle Râ°tsel offenbarte, ohne daï¬ man doch sagen kann: hier oder da ist das Wort der AuflËsung. Seine Menschen scheinen nat¸rliche Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnisvollsten und zusammengesetztesten GeschËpfe der Natur handeln vor uns in seinen St¸cken, als wenn sie Uhren wâ°ren, deren Zifferblatt und Gehâ°use man von Kristall gebildet hâ°tte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Râ°der- und Federwerk erkennen, das sie treibt. Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespeares Welt getan, reizen mich mehr als irgend etwas andres, in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwâ°rts zu tun, mich in die Flut der Schicksale zu mischen, die ¸ber sie verhâ°ngt sind, und dereinst, wenn es mir gl¸cken sollte, aus dem groï¬en Meere der wahren Natur wenige Becher zu schËpfen und sie von der Schaub¸hne dem lechzenden Publikum meines Vaterlandes auszuspenden.”
“Wie freut mich die Gem¸tsverfassung, in der ich Sie sehe”, versetzte Jarno und legte dem bewegten J¸ngling die Hand auf die Schulter. “Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tâ°tiges Leben ¸berzugehen, und eilen Sie, die guten Jahre, die Ihnen gegËnnt sind, wacker zu nutzen. Kann ich Ihnen behilflich sein, so geschieht es von ganzem Herzen. Noch habe ich nicht gefragt, wie Sie in diese Gesellschaft gekommen sind, f¸r die Sie weder geboren noch erzogen sein kËnnen. Soviel hoffe ich und sehe ich, daï¬ Sie sich heraussehnen. Ich weiï¬ nichts von Ihrer Herkunft, von Ihren hâ°uslichen Umstâ°nden; ¸berlegen Sie, was Sie mir vertrauen wollen. Soviel kann ich Ihnen nur sagen, die Zeiten des Krieges, in denen wir leben, kËnnen schnelle Wechsel des Gl¸ckes hervorbringen; mËgen Sie Ihre Krâ°fte und Talente unserm Dienste widmen, M¸he und, wenn es not tut, Gefahr nicht scheuen, so habe ich eben jetzo eine Gelegenheit, Sie an einen Platz zu stellen, den eine Zeitlang bekleidet zu haben Sie in der Folge nicht gereuen wird.” Wilhelm konnte seinen Dank nicht genug ausdr¸cken und war willig, seinem Freunde und Besch¸tzer die ganze Geschichte seines Lebens zu erzâ°hlen.
Sie hatten sich unter diesem Gesprâ°che weit in den Park verloren und waren auf die Landstraï¬e, welche durch denselben ging, gekommen. Jarno stand einen Augenblick still und sagte: “Bedenken Sie meinen Vorschlag, entschlieï¬en Sie sich, geben Sie mir in einigen Tagen Antwort, und schenken Sie mir Ihr Vertrauen. Ich versichre Sie, es ist mir bisher unbegreiflich gewesen, wie Sie sich mit solchem Volke haben gemein machen kËnnen. Ich hab es oft mit Ekel und Verdruï¬ gesehen, wie Sie, um nur einigermaï¬en leben zu kËnnen, Ihr Herz an einen herumziehenden Bâ°nkelsâ°nger und an ein albernes, zwitterhaftes GeschËpf hâ°ngen muï¬ten.”
Er hatte noch nicht ausgeredet, als ein Offizier zu Pferde eilends herankam, dem ein Reitknecht mit einem Handpferd folgte. Jarno rief ihm einen lebhaften Gruï¬ zu. Der Offizier sprang vom Pferde, beide umarmten sich und unterhielten sich miteinander, indem Wilhelm, best¸rzt ¸ber die letzten Worte seines kriegerischen Freundes, in sich gekehrt an der Seite stand. Jarno durchblâ°tterte einige Papiere, die ihm der Ankommende ¸berreicht hatte; dieser aber ging auf Wilhelmen zu, reichte ihm die Hand und rief mit Emphase: “Ich treffe Sie in einer w¸rdigen Gesellschaft; folgen Sie dem Rate Ihres Freundes, und erf¸llen Sie dadurch zugleich die W¸nsche eines Unbekannten, der herzlichen Teil an Ihnen nimmt.” Er sprach’s, umarmte Wilhelmen, dr¸ckte ihn mit Lebhaftigkeit an seine Brust. Zu gleicher Zeit trat Jarno herbei und sagte zu dem Fremden: “Es ist am besten, ich reite gleich mit Ihnen hinein, so kËnnen Sie die nËtigen Ordres erhalten, und Sie reiten noch vor Nacht wieder fort.” Beide schwangen sich darauf zu Pferde und ¸berlieï¬en unsern verwunderten Freund seinen eigenen Betrachtungen.
Die letzten Worte Jarnos klangen noch in seinen Ohren. Ihm war unertrâ°glich, das Paar menschlicher Wesen, das ihm unschuldigerweise seine Neigung abgewonnen hatte, durch einen Mann, den er so sehr verehrte, so tief heruntergesetzt zu sehen. Die sonderbare Umarmung des Offiziers, den er nicht kannte, machte wenig Eindruck auf ihn, sie beschâ°ftigte seine Neugierde und Einbildungskraft einen Augenblick; aber Jarnos Reden hatten sein Herz getroffen; er war tief verwundet, und nun brach er auf seinem R¸ckwege gegen sich selbst in Vorw¸rfe aus, daï¬ er nur einen Augenblick die hartherzige Kâ°lte Jarnos, die ihm aus den Augen heraussehe und aus allen seinen Gebâ°rden spreche, habe verkennen und vergessen mËgen. “Nein”, rief er aus, “du bildest dir nur ein, du abgestorbener Weltmann, daï¬ du ein Freund sein kËnntest! Alles, was du mir anbieten magst, ist der Empfindung nicht wert, die mich an diese Ungl¸cklichen bindet. Welch ein Gl¸ck, daï¬ ich noch beizeiten entdecke, was ich von dir zu erwarten hâ°tte!”
Er schloï¬ Mignon, die ihm entgegenkam, in die Arme und rief aus: “Nein, uns soll nichts trennen, du gutes kleines GeschËpf! Die scheinbare Klugheit der Welt soll mich nicht vermËgen, dich zu verlassen noch zu vergessen, was ich dir schuldig bin.”
Das Kind, dessen heftige Liebkosungen er sonst abzulehnen pflegte, erfreute sich dieses unerwarteten Ausdrucks der Zâ°rtlichkeit und hing sich so fest an ihn, daï¬ er es nur mit M¸he zuletzt loswerden konnte.
Seit dieser Zeit gab er mehr auf Jarnos Handlungen acht, die ihm nicht alle lobensw¸rdig schienen; ja es kam wohl manches vor, das ihm durchaus miï¬fiel. So hatte er zum Beispiel starken Verdacht, das Gedicht auf den Baron, welches der arme Pedant so teuer hatte bezahlen m¸ssen, sei Jarnos Arbeit. Da nun dieser in Wilhelms Gegenwart ¸ber den Vorfall gescherzt hatte, glaubte unser Freund hierin das Zeichen eines hËchst verdorbenen Herzens zu erkennen; denn was konnte boshafter sein, als einen Unschuldigen, dessen Leiden man verursacht, zu verspotten und weder an Genugtuung noch Entschâ°digung zu denken. Gern hâ°tte Wilhelm sie selbst veranlaï¬t, denn er war durch einen sehr sonderbaren Zufall den Tâ°tern jener nâ°chtlichen Miï¬handlung auf die Spur gekommen.
Man hatte ihm bisher immer zu verbergen gewuï¬t, daï¬ einige junge Offiziere im unteren Saale des alten Schlosses mit einem Teile der Schauspieler und Schauspielerinnen ganze Nâ°chte auf eine lustige Weise zubrachten. Eines Morgens, als er nach seiner Gewohnheit fr¸h aufgestanden, kam er von ungefâ°hr in das Zimmer und fand die jungen Herren, die eine hËchst sonderbare Toilette zu machen im Begriff stunden. Sie hatten in einen Napf mit Wasser Kreide eingerieben und trugen den Teig mit einer B¸rste auf ihre Westen und Beinkleider, ohne sie auszuziehen, und stellten also die Reinlichkeit ihrer Garderobe auf das schnellste wieder her. Unserm Freunde, der sich ¸ber diese Handgriffe wunderte, fiel der weiï¬ bestâ°ubte und befleckte Rock des Pedanten ein; der Verdacht wurde um soviel stâ°rker, als er erfuhr, daï¬ einige Verwandte des Barons sich unter der Gesellschaft befâ°nden.
Um diesem Verdacht nâ°her auf die Spur zu kommen, suchte er die jungen Herren mit einem kleinen Fr¸hst¸cke zu beschâ°ftigen. Sie waren sehr lebhaft und erzâ°hlten viele lustige Geschichten. Der eine besonders, der eine Zeitlang auf Werbung gestanden, wuï¬te nicht genug die List und Tâ°tigkeit seines Hauptmanns zu r¸hmen, der alle Arten von Menschen an sich zu ziehen und jeden nach seiner Art zu ¸berlisten verstand. Umstâ°ndlich erzâ°hlte er, wie junge Leute von gutem Hause und sorgfâ°ltiger Erziehung durch allerlei Vorspiegelungen einer anstâ°ndigen Versorgung betrogen worden, und lachte herzlich ¸ber die Gimpel, denen es im Anfange so wohlgetan habe, sich von einem angesehenen, tapferen, klugen und freigebigen Offizier geschâ°tzt und hervorgezogen zu sehen.
Wie segnete Wilhelm seinen Genius, der ihm so unvermutet den Abgrund zeigte, dessen Rande er sich unschuldigerweise genâ°hert hatte. Er sah nun in Jarno nichts als den Werber; die Umarmung des fremden Offiziers war ihm leicht erklâ°rlich. Er verabscheuete die Gesinnungen dieser Mâ°nner und vermied von dem Augenblicke, mit irgend jemand, der eine Uniform trug, zusammenzukommen, und so wâ°re ihm die Nachricht, daï¬ die Armee weiter vorwâ°rtsr¸cke, sehr angenehm gewesen, wenn er nicht zugleich hâ°tte f¸rchten m¸ssen, aus der Nâ°he seiner schËnen Freundin, vielleicht auf immer, verbannt zu werden.
III. Buch, 12. Kapitel
ZwËlftes Kapitel
Inzwischen hatte die Baronesse mehrere Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten Neugierde gepeinigt, zugebracht. Denn das Betragen des Grafen seit jenem Abenteuer war ihr ein vËlliges Râ°tsel. Er war ganz aus seiner Manier herausgegangen; von seinen gewËhnlichen Scherzen hËrte man keinen. Seine Forderungen an die Gesellschaft und an die Bedienten hatten sehr nachgelassen. Von Pedanterie und gebieterischem Wesen merkte man wenig, vielmehr war er still und in sich gekehrt, jedoch schien er heiter und wirklich ein anderer Mensch zu sein. Bei Vorlesungen, zu denen er zuweilen Anlaï¬ gab, wâ°hlte er ernsthafte, oft religiËse B¸cher, und die Baronesse lebte in bestâ°ndiger Furcht, es mËchte hinter dieser anscheinenden Ruhe sich ein geheimer Groll verbergen, ein stiller Vorsatz, den Frevel, den er so zufâ°llig entdeckt, zu râ°chen. Sie entschloï¬ sich daher, Jarno zu ihrem Vertrauten zu machen, und sie konnte es um so mehr, als sie mit ihm in einem Verhâ°ltnisse stand, in dem man sich sonst wenig zu verbergen pflegt. Jarno war seit kurzer Zeit ihr entschiedener Freund; doch waren sie klug genug, ihre Neigung und ihre Freuden vor der lâ°rmenden Welt, die sie umgab, zu verbergen. Nur den Augen der Grâ°fin war dieser neue Roman nicht entgangen, und hËchstwahrscheinlich suchte die Baronesse ihre Freundin gleichfalls zu beschâ°ftigen, um den stillen Vorw¸rfen zu entgehen, welche sie denn doch manchmal von jener edlen Seele zu erdulden hatte.
Kaum hatte die Baronesse ihrem Freunde die Geschichte erzâ°hlt, als er lachend ausrief: “Da glaubt der Alte gewiï¬, sich selbst gesehen zu haben! Er f¸rchtet, daï¬ ihm diese Erscheinung Ungl¸ck, ja vielleicht gar den Tod bedeute, und nun ist er zahm geworden wie alle die Halbmenschen, wenn sie an die AuflËsung denken, welcher niemand entgangen ist noch entgehen wird. Nur stille! Da ich hoffe, daï¬ er noch lange leben soll, so wollen wir ihn bei dieser Gelegenheit wenigstens so formieren, daï¬ er seiner Frau und seinen Hausgenossen nicht mehr zur Last sein soll.”
Sie fingen nun, sobald es nur schicklich war, in Gegenwart des Grafen an, von Ahnungen, Erscheinungen und dergleichen zu sprechen. Jarno spielte den Zweifler, seine Freundin gleichfalls, und sie trieben es so weit, daï¬ der Graf endlich Jarno beiseite nahm, ihm seine Freigeisterei verwies und ihn durch sein eignes Beispiel von der MËglichkeit und Wirklichkeit solcher Geschichten zu ¸berzeugen suchte. Jarno spielte den Betroffenen, Zweifelnden und endlich den ¸berzeugten, machte sich aber gleich darauf in stiller Nacht mit seiner Freundin desto lustiger ¸ber den schwachen Weltmann, der nun auf einmal von seinen Unarten durch einen Popanz bekehrt worden und der nur noch deswegen zu loben sei, weil er mit so vieler Fassung ein bevorstehendes Ungl¸ck, ja vielleicht gar den Tod erwarte.
“Auf die nat¸rlichste Folge, welche diese Erscheinung hâ°tte haben kËnnen, mËchte er doch wohl nicht gefaï¬t sein”, rief die Baronesse mit ihrer gewËhnlichen Munterkeit, zu der sie, sobald ihr eine Sorge vom Herzen genommen war, gleich wieder ¸bergehen konnte. Jarno ward reichlich belohnt, und man schmiedete neue Anschlâ°ge, den Grafen noch mehr kirre zu machen und die Neigung der Grâ°fin zu Wilhelm noch mehr zu reizen und zu bestâ°rken.
In dieser Absicht erzâ°hlte man der Grâ°fin die ganze Geschichte, die sich zwar anfangs unwillig dar¸ber zeigte, aber seit der Zeit nachdenklicher ward und in ruhigen Augenblicken jene Szene, die ihr zubereitet war, zu bedenken, zu verfolgen und auszumalen schien.
Die Anstalten, welche nunmehr von allen Seiten getroffen wurden, lieï¬en keinen Zweifel mehr ¸brig, daï¬ die Armeen bald vorwâ°rtsr¸cken und der Prinz zugleich sein Hauptquartier verâ°ndern w¸rde; ja es hieï¬, daï¬ der Graf zugleich auch das Gut verlassen und wieder nach der Stadt zur¸ckkehren werde. Unsere Schauspieler konnten sich also leicht die Nativitâ°t stellen; doch nur der einzige Melina nahm seine Maï¬regeln darnach, die andern suchten nur noch von dem Augenblicke soviel als mËglich das Vergn¸glichste zu erhaschen.
Wilhelm war indessen auf eine eigene Weise beschâ°ftigt. Die Grâ°fin hatte von ihm die Abschrift seiner St¸cke verlangt, und er sah diesen Wunsch der liebensw¸rdigen Frau als die schËnste Belohnung an.
Ein junger Autor, der sich noch nicht gedruckt gesehn, wendet in einem solchen Falle die grËï¬te Aufmerksamkeit auf eine reinliche und zierliche Abschrift seiner Werke. Es ist gleichsam das goldne Zeitalter der Autorschaft; man sieht sich in jene Jahrhunderte versetzt, in denen die Presse noch nicht die Welt mit so viel unn¸tzen Schriften ¸berschwemmt hatte; wo nur w¸rdige Geistesprodukte abgeschrieben und von den edelsten Menschen verwahrt wurden; und wie leicht begeht man alsdann den Fehlschluï¬, daï¬ ein sorgfâ°ltig abgezirkeltes Manuskript auch ein w¸rdiges Geistesprodukt sei, wert, von einem Kenner und Besch¸tzer besessen und aufgestellt zu werden.
Man hatte zu Ehren des Prinzen, der nun in kurzem abgehen sollte, noch ein groï¬es Gastmahl angestellt. Viele Damen aus der Nachbarschaft waren geladen, und die Grâ°fin hatte sich beizeiten angezogen. Sie hatte diesen Tag ein reicheres Kleid angelegt, als sie sonst zu tun gewohnt war. Frisur und Aufsatz waren gesuchter, sie war mit allen ihren Juwelen geschm¸ckt. Ebenso hatte die Baronesse das mËgliche getan, um sich mit Pracht und Geschmack anzukleiden.
Philine, als sie merkte, daï¬ den beiden Damen in Erwartung ihrer Gâ°ste die Zeit zu lang wurde, schlug vor, Wilhelmen kommen zu lassen, der sein fertiges Manuskript zu ¸berreichen und noch einige Kleinigkeiten vorzulesen w¸nsche. Er kam und erstaunte im Hereintreten ¸ber die Gestalt, ¸ber die Anmut der Grâ°fin, die durch ihren Putz nur sichtbarer geworden waren. Er las nach dem Befehle der Damen, allein so zerstreut und schlecht, daï¬, wenn die ZuhËrerinnen nicht so nachsichtig gewesen wâ°ren, sie ihn gar bald w¸rden entlassen haben.
Sooft er die Grâ°fin anblickte, schien es ihm, als wenn ein elektrischer Funke sich vor seinen Augen zeigte; er wuï¬te zuletzt nicht mehr, wo er Atem zu seiner Rezitation hernehmen solle. Die schËne Dame hatte ihm immer gefallen; aber jetzt schien es ihm, als ob er nie etwas Vollkommneres gesehen hâ°tte, und von den tausenderlei Gedanken, die sich in seiner Seele kreuzten, mochte ungefâ°hr folgendes der Inhalt sein:
Wie tËricht lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gef¸hlvolle Menschen gegen Putz und Pracht auf und verlangen nur in einfachen, der Natur angemessenen Kleidern die Frauen alles Standes zu sehen. Sie schelten den Putz, ohne zu bedenken, daï¬ es der arme Putz nicht ist, der uns miï¬fâ°llt, wenn wir eine hâ°ï¬liche oder minder schËne Person reich und sonderbar gekleidet erblicken; aber ich wollte alle Kenner der Welt hier versammeln und sie fragen, ob sie w¸nschten, etwas von diesen Falten, von diesen Bâ°ndern und Spitzen, von diesen Puffen, Locken und leuchtenden Steinen wegzunehmen. W¸rden sie nicht f¸rchten, den angenehmen Eindruck zu stËren, der ihnen hier so willig und nat¸rlich entgegenkommt? Ja, “nat¸rlich” darf ich wohl sagen! Wenn Minerva ganz ger¸stet aus dem Haupte des Jupiter entsprang, so scheinet diese GËttin in ihrem vollen Putze aus irgendeiner Blume mit leichtem Fuï¬e hervorgetreten zu sein.
Er sah sie oft im Lesen an, als wenn er diesen Eindruck sich auf ewig einprâ°gen wollte, und las einigemal falsch, ohne dar¸ber in Verwirrung zu geraten, ob er gleich sonst ¸ber die Verwechselung eines Wortes oder Buchstabens als ¸ber einen leidigen Schandfleck einer ganzen Vorlesung verzweifeln konnte.
Ein falscher Lâ°rm, als wenn die Gâ°ste angefahren kâ°men, machte der Vorlesung ein Ende; die Baronesse ging weg, und die Grâ°fin, im Begriff, ihren Schreibtisch zuzumachen, der noch offenstand, ergriff ein Ringkâ°stchen und steckte noch einige Ringe an die Finger. “Wir werden uns bald trennen”, sagte sie, indem sie ihre Augen auf das Kâ°stchen heftete; “nehmen Sie ein Andenken von einer guten Freundin, die nichts lebhafter w¸nscht, als daï¬ es Ihnen wohl gehen mËge.” Sie nahm darauf einen Ring heraus, der unter einem Kristall ein schËn von Haaren geflochtenes Schild zeigte und mit Steinen besetzt war. Sie ¸berreichte ihn Wilhelmen, der, als er ihn annahm, nichts zu sagen und nichts zu tun wuï¬te, sondern wie eingewurzelt in den Boden dastand. Die Grâ°fin schloï¬ den Schreibtisch zu und setzte sich auf ihren Sofa.
“Und ich soll leer ausgehn”, sagte Philine, indem sie zur rechten Hand der Grâ°fin niederkniete; “seht nur den Menschen, der zur Unzeit so viele Worte im Munde f¸hrt und jetzt nicht einmal eine armselige Danksagung herstammeln kann. Frisch, mein Herr, tun Sie wenigstens pantomimisch Ihre Schuldigkeit, und wenn Sie heute selbst nichts zu erfinden wissen, so ahmen Sie mir wenigstens nach.”
Philine ergriff die rechte Hand der Grâ°fin und k¸ï¬te sie mit Lebhaftigkeit. Wilhelm st¸rzte auf seine Knie, faï¬te die linke und dr¸ckte sie an seine Lippen. Die Grâ°fin schien verlegen, aber ohne Widerwillen.
“Ach!” rief Philine aus, “so viel Schmuck hab ich wohl schon gesehen, aber noch nie eine Dame, so w¸rdig, ihn zu tragen. Welche Armbâ°nder! aber auch welche Hand! Welcher Halsschmuck! aber auch welche Brust!”
“Stille, Schmeichlerin!” rief die Grâ°fin.
“Stellt denn das den Herrn Grafen vor?” sagte Philine, indem sie auf ein reiches Medaillon deutete, das die Grâ°fin an kostbaren Ketten an der linken Seite trug.
“Er ist als Brâ°utigam gemalt”, versetzte die Grâ°fin.
“War er denn damals so jung?” fragte Philine, “Sie sind ja nur erst, wie ich weiï¬, wenige Jahre verheiratet.”
“Diese Jugend kommt auf die Rechnung des Malers”, versetzte die Grâ°fin.
“Es ist ein schËner Mann”, sagte Philine. “Doch sollte wohl niemals”, fuhr sie fort, indem sie die Hand auf das Herz der Grâ°fin legte, “in diese verborgene Kapsel sich ein ander Bild eingeschlichen haben?”
“Du bist sehr verwegen, Philine!” rief sie aus, “ich habe dich verzogen. Laï¬ mich so etwas nicht zum zweitenmal hËren.”
“Wenn Sie z¸rnen, bin ich ungl¸cklich”, rief Philine, sprang auf und eilte zur T¸re hinaus.
Wilhelm hielt die schËnste Hand noch in seinen Hâ°nden. Er sah unverwandt auf das Armschloï¬, das zu seiner grËï¬ten Verwunderung die Anfangsbuchstaben seiner Namen in brillantenen Z¸gen sehen lieï¬.
“Besitz ich”, fragte er bescheiden, “in dem kostbaren Ringe denn wirklich Ihre Haare?”
“Ja”, versetzte sie mit halber Stimme; dann nahm sie sich zusammen und sagte, indem sie ihm die Hand dr¸ckte: “Stehen Sie auf, und leben Sie wohl!”
“Hier steht mein Name”, rief er aus, “durch den sonderbarsten Zufall!” Er zeigte auf das Armschloï¬.
“Wie?” rief die Grâ°fin, “es ist die Chiffer einer Freundin!”
“Es sind die Anfangsbuchstaben meines Namens. Vergessen Sie meiner nicht. Ihr Bild steht unauslËschlich in meinem Herzen. Leben Sie wohl, lassen Sie mich fliehen!”
Er k¸ï¬te ihre Hand und wollte aufstehn; aber wie im Traum das Seltsamste aus dem Seltsamsten sich entwickelnd uns ¸berrascht, so hielt er, ohne zu wissen, wie es geschah, die Grâ°fin in seinen Armen, ihre Lippen ruhten auf den seinigen, und ihre wechselseitigen lebhaften K¸sse gewâ°hrten ihnen eine Seligkeit, die wir nur aus dem ersten aufbrausenden Schaum des frisch eingeschenkten Bechers der Liebe schl¸rfen.
Ihr Haupt ruhte auf seiner Schulter, und der zerdr¸ckten Locken und Bâ°nder ward nicht gedacht. Sie hatte ihren Arm um ihn geschlungen; er umfaï¬te sie mit Lebhaftigkeit und dr¸ckte sie wiederholend an seine Brust. O daï¬ ein solcher Augenblick nicht Ewigkeiten wâ°hren kann, und wehe dem neidischen Geschick, das auch unsern Freunden diese kurzen Augenblicke unterbrach.
Wie erschrak Wilhelm, wie betâ°ubt fuhr er aus einem gl¸cklichen Traume auf, als die Grâ°fin sich auf einmal mit einem Schrei von ihm losriï¬ und mit der Hand nach ihrem Herzen fuhr.
Er stand betâ°ubt vor ihr da; sie hielt die andere Hand vor die Augen und rief nach einer Pause: “Entfernen Sie sich, eilen Sie!”
Er stand noch immer.
“Verlassen Sie mich”, rief sie, und indem sie die Hand von den Augen nahm und ihn mit einem unbeschreiblichen Blicke ansah, setzte sie mit der lieblichsten Stimme hinzu: “Fliehen Sie mich, wenn Sie mich lieben.”
Wilhelm war aus dem Zimmer und wieder auf seiner Stube, eh er wuï¬te, wo er sich befand.
Die Ungl¸cklichen! Welche sonderbare Warnung des Zufalls oder der Schickung riï¬ sie auseinander?