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  • 1910
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Dieses Wesen ist der Nachbar.

Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme, unz‰hlige Nachbaren gehabt; obere und untere, rechte und linke, manchmal alle vier Arten zugleich. Ich kˆnnte einfach die Geschichte meiner Nachbaren schreiben; das w‰re ein Lebenswerk. Es w‰re freilich mehr die Geschichte der Krankheitserscheinungen, die sie in mir erzeugt haben; aber das teilen sie mit allen derartigen Wesen, dafl sie nur in den Stˆrungen nachzuweisen sind, die sie in gewissen Geweben hervorrufen.

Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr regelm‰flige. Ich habe gesessen und das Gesetz der ersten herauszufinden versucht; denn es war klar, dafl auch sie eines hatten. Und wenn die p¸nktlichen einmal am Abend ausblieben, so hab ich mir ausgemalt, was ihnen kˆnnte zugestoflen sein, und habe mein Licht brennen lassen und mich ge‰ngstigt wie eine junge Frau. Ich habe Nachbaren gehabt, die gerade haflten, und Nachbaren, die in eine heftige Liebe verwickelt waren; oder ich erlebte es, dafl bei ihnen eines in das andere umsprang mitten in der Nacht, und dann war nat¸rlich an Schlafen nicht zu denken. Da konnte man ¸berhaupt beobachten, dafl der Schlaf durchaus nicht so h‰ufig ist, wie man meint. Meine beiden Petersburger Nachbaren zum Beispiel gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und spielte die Geige, und ich bin sicher, dafl er dabei hin¸bersah in die ¸berwachen H‰user, die nicht aufhˆrten hell zu sein in den unwahrscheinlichen Augustn‰chten. Von dem anderen zur Rechten weifl ich allerdings, dafl er lag; er stand zu meiner Zeit ¸berhaupt nicht mehr auf. Er hatte sogar die Augen geschlossen; aber man konnte nicht sagen, dafl er schlief. Er lag und sagte lange Gedichte her, Gedichte von Puschkin und Nekrassow, in dem Tonfall, in dem Kinder Gedichte hersagen, wenn man es von ihnen verlangt. Und trotz der Musik meines linken Nachbars, war es dieser mit seinen Gedichten, der sich in meinem Kopfe einpuppte, und Gott weifl, was da ausgekrochen w‰re, wenn nicht der Student, der ihn zuweilen besuchte, sich eines Tages in der T¸r geirrt h‰tte. Er erz‰hlte mir die Geschichte seines Bekannten, und es ergab sich, dafl sie gewissermaflen beruhigend war. Jedenfalls war es eine wˆrtliche, eindeutige Geschichte, an der die vielen W¸rmer meiner Vermutungen zugrunde gingen.

Dieser kleine Beamte da nebenan war eines Sonntags auf die Idee gekommen, eine merkw¸rdige Aufgabe zu lˆsen. Er nahm an, dafl er recht lange leben w¸rde, sagen wir noch f¸nfzig Jahre. Die Groflm¸tigkeit, die er sich damit erwies, versetzte ihn in eine gl‰nzende Stimmung. Aber nun wollte er sich selber ¸bertreffen. Er ¸berlegte, dafl man diese Jahre in Tage, in Stunden, in Minuten, ja, wenn man es aushielt, in Sekunden umwechseln kˆnne, und er rechnete und rechnete, und es kam eine Summe heraus, wie er noch nie eine gesehen hatte. Ihn schwindelte. Er muflte sich ein wenig erholen. Zeit war kostbar, hatte er immer sagen hˆren, und es wunderte ihn, dafl man einen Menschen, der eine solche Menge Zeit besafl, nicht geradezu bewachte. Wie leicht konnte er bestohlen werden. Dann aber kam seine gute, beinah ausgelassene Laune wieder, er zog seinen Pelz an, um etwas breiter und stattlicher auszusehen, und machte sich das ganze fabelhafte Kapital zum Geschenk, indem er sich ein biflchen herablassend anredete:

“Nikolaj Kusmitsch”, sagte er wohlwollend und stellte sich vor, dafl er auflerdem noch, ohne Pelz, d¸nn und d¸rftig auf dem Roflhaarsofa s‰fle, “ich hoffe, Nikolaj Kusmitsch”, sagte er, “Sie werden sich nichts auf Ihren Reichtum einbilden. Bedenken Sie immer, dafl das nicht die Hauptsache ist, es giebt arme Leute, die durchaus respektabel sind; es giebt sogar verarmte Edelleute und Generalstˆchter, die auf der Strafle herumgehen und etwas verkaufen.” Und der Wohlt‰ter f¸hrte noch allerlei in der ganzen Stadt bekannte Beispiele an.

Der andere Nikolaj Kusmitsch, der auf dem Roflhaarsofa, der Beschenkte, sah durchaus noch nicht ¸berm¸tig aus, man durfte annehmen, dafl er vern¸nftig sein w¸rde. Er ‰nderte in der Tat nichts an seiner bescheidenen, regelm‰fligen Lebensf¸hrung, und die Sonntage brachte er nun damit zu, seine Rechnung in Ordnung zu bringen. Aber schon nach ein paar Wochen fiel es ihm auf, dafl er unglaublich viel ausg‰be. Ich werde mich einschr‰nken, dachte er. Er stand fr¸her auf, er wusch sich weniger ausf¸hrlich, er trank stehend seinen Tee, er lief ins Bureau und kam viel zu fr¸h. Er ersparte ¸berall ein biflchen Zeit. Aber am Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, dafl er betrogen sei. Ich h‰tte nicht wechseln d¸rfen, sagte er sich. Wie lange hat man an so einem Jahr. Aber da, dieses infame Kleingeld, das geht hin, man weifl nicht wie. Und es wurde ein h‰fllicher Nachmittag, als er in der Sofaecke safl und auf den Herrn im Pelz wartete, von dem er seine Zeit zur¸ckverlangen wollte. Er wollte die T¸r verriegeln und ihn nicht fortlassen, bevor er nicht damit herausger¸ckt war. “In Scheinen”, wollte er sagen, “meinetwegen zu zehn Jahren.” Vier Scheine zu zehn und einer zu f¸nf, und den Rest sollte er behalten, in des Teufels Namen. Ja, er war bereit, ihm den Rest zu schenken, nur damit keine Schwierigkeiten entst¸nden. Gereizt safl er im Roflhaarsofa und wartete, aber der Herr kam nicht. Und er, Nikolaj Kusmitsch, der sich vor ein paar Wochen mit Leichtigkeit so hatte dasitzen sehen, er konnte sich jetzt, da er wirklich safl, den andern Nikolaj Kusmitsch, den im Pelz, den Groflm¸tigen, nicht vorstellen. Weifl der Himmel, was aus ihm geworden war, wahrscheinlich war man seinen Betr¸gereien auf die Spur gekommen, und er safl nun schon irgendwo fest. Sicher hatte er nicht ihn allein ins Ungl¸ck gebracht. Solche Hochstapler arbeiten immer im groflen.

Es fiel ihm ein, dafl es eine staatliche Behˆrde geben m¸sse, eine Art Zeitbank, wo er wenigstens einen Teil seiner lumpigen Sekunden umwechseln kˆnne. Echt waren sie doch schliefllich. Er hatte nie von einer solchen Anstalt gehˆrt, aber im Adreflbuch w¸rde gewifl etwas Derartiges zu finden sein, unter Z, oder vielleicht auch hiefl es ‘Bank f¸r Zeit’; man konnte leicht unter B nachsehen. Eventuell war auch der Buchstabe K zu ber¸cksichtigen, denn es war anzunehmen, dafl es ein kaiserliches Institut war; das entsprach seiner Wichtigkeit.

Sp‰ter versicherte Nikolaj Kusmitsch immer, dafl er an jenem Sonntag Abend, obwohl er sich begreiflicherweise in recht gedr¸ckter Stimmung befand, nichts getrunken habe. Er war also vˆllig n¸chtern, als das Folgende passierte, soweit man ¸berhaupt sagen kann, was da geschah. Vielleicht, dafl er ein biflchen in seiner Ecke eingeschlummert war, das liefle sich immerhin denken. Dieser kleine Schlaf verschaffte ihm zun‰chst lauter Erleichterung. Ich habe mich mit den Zahlen eingelassen, redete er sich zu. Nun, ich verstehe nichts von Zahlen. Aber es ist klar, dafl man ihnen keine zu grofle Bedeutung einr‰umen darf; sie sind doch sozusagen nur eine Einrichtung von Staats wegen, um der Ordnung willen. Niemand hatte doch je anderswo als auf dem Papier eine gesehen. Es war ausgeschlossen, dafl einem zum Beispiel in einer Gesellschaft eine Sieben oder eine F¸nfundzwanzig begegnete. Da gab es die einfach nicht. Und dann war da diese kleine Verwechslung vorgefallen, aus purer Zerstreutheit: Zeit und Geld, als ob sich das nicht auseinanderhalten liefle. Nikolaj Kusmitsch lachte beinah. Es war doch gut, wenn man sich so auf die Schliche kam, und rechtzeitig, das war das Wichtige, rechtzeitig. Nun sollte es anders werden. Die Zeit, ja, das war eine peinliche Sache. Aber betraf es etwa ihn allein, ging sie nicht auch den andern so, wie er es herausgefunden hatte, in Sekunden, auch wenn sie es nicht wuflten?

Nikolaj Kusmitsch war nicht ganz frei von Schadenfreude: Mag sie immerhin–, wollte er eben denken, aber da geschah etwas Eigent¸mliches. Es wehte plˆtzlich an seinem Gesicht, es zog ihm an den Ohren vorbei, er f¸hlte es an den H‰nden. Er rifl die Augen auf. Das Fenster war fest verschlossen. Und wie er da so mit weiten Augen im dunkeln Zimmer safl, da begann er zu verstehen, dafl das, was er nun versp¸rte, die wirkliche Zeit sei, die vor¸berzog. Er erkannte sie fˆrmlich, alle diese Sek¸ndchen, gleich lau, eine wie die andere, aber schnell, aber schnell. Weifl der Himmel, was sie noch vorhatten. Dafl gerade ihm das widerfahren muflte, der jede Art von Wind als Beleidigung empfand. Nun w¸rde man dasitzen, und es w¸rde immer so weiterziehen, das ganze Leben lang. Er sah alle die Neuralgien voraus, die man sich dabei holen w¸rde, er war aufler sich vor Wut. Er sprang auf, aber die Uberraschungen waren noch nicht zu Ende. Auch unter seinen F¸flen war etwas wie eine Bewegung, nicht nur eine, mehrere, merkw¸rdig durcheinanderschwankende Bewegungen. Er erstarrte vor Entsetzen: konnte das die Erde sein? Gewifl, das war die Erde. Sie bewegte sich ja doch. In der Schule war davon gesprochen worden, man war etwas eilig dar¸ber weggegangen, und sp‰ter wurde es gern vertuscht; es galt nicht f¸r passend, davon zu sprechen. Aber nun, da er einmal empfindlich geworden war, bekam er auch das zu f¸hlen. Ob die anderen es f¸hlten? Vielleicht, aber sie zeigten es nicht. Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus, diesen Seeleuten. Nikolaj Kusmitsch aber war ausgerechnet in diesem Punkt etwas delikat, er vermied sogar die Straflenbahnen. Er taumelte im Zimmer umher wie auf Deck und muflte sich rechts und links halten. Zum Ungl¸ck fiel ihm noch etwas von der schiefen Stellung der Erdachse ein. Nein, er konnte alle diese Bewegungen nicht vertragen. Er f¸hlte sich elend. Liegen und ruhig halten, hatte er einmal irgendwo gelesen. Und seither lag Nikolaj Kusmitsch.

Er lag und hatte die Augen geschlossen. Und es gab Zeiten, weniger bewegte Tage sozusagen, wo es ganz ertr‰glich war. Und dann hatte er sich das ausgedacht mit den Gedichten. Man sollte nicht glauben, wie das half. Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichm‰fliger Betonung der Endreime, dann war gewissermaflen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte, innerlich versteht sich. Ein Gl¸ck, dafl er alle diese Gedichte wuflte. Aber er hatte sich immer ganz besonders f¸r Literatur interessiert. Er beklagte sich nicht ¸ber seinen Zustand, versicherte mir der Student, der ihn lange kannte. Nur hatte sich mit der Zeit eine ¸bertriebene Bewunderung f¸r die in ihm herausgebildet, die, wie der Student, herumgingen und die Bewegung der Erde vertrugen.

Ich erinnere mich dieser Geschichte so genau, weil sie mich ungemein beruhigte. Ich kann wohl sagen, ich habe nie wieder einen so angenehmen Nachbar gehabt, wie diesen Nikolaj Kusmitsch, der sicher auch mich bewundert h‰tte.

Ich nahm mir nach dieser Erfahrung vor, in ‰hnlichen F‰llen immer gleich auf die Tatsachen loszugehen. Ich merkte, wie einfach und erleichternd sie waren, den Vermutungen gegen¸ber. Als ob ich nicht gewuflt h‰tte, dafl alle unsere Einsichten nachtr‰glich sind, Abschl¸sse, nichts weiter. Gleich dahinter f‰ngt eine neue Seite an mit etwas ganz anderem, ohne ‹bertrag. Was halfen mir jetzt im gegenw‰rtigen Falle die paar Tatsachen, die sich spielend feststellen lieflen. Ich will sie gleich aufz‰hlen, wenn ich gesagt haben werde, was mich augenblicklich besch‰ftigt: dafl sie eher dazu beigetragen haben, meine Lage, die (wie ich jetzt eingestehe) recht schwierig war, noch l‰stiger zu gestalten.

Es sei zu meiner Ehre gesagt, dafl ich viel geschrieben habe in diesen Tagen; ich habe krampfhaft geschrieben. Allerdings, wenn ich ausgegangen war, so dachte ich nicht gerne an das Nachhausekommen. Ich machte sogar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine halbe Stunde, w‰hrend welcher ich h‰tte schreiben kˆnnen. Ich gebe zu, dafl dies eine Schw‰che war. War ich aber einmal in meinem Zimmer, so hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Ich schrieb, ich hatte mein Leben, und das da nebenan war ein ganz anderes Leben, mit dem ich nichts teilte: das Leben eines Studenten der Medizin, der f¸r sein Examen studierte. Ich hatte nichts ƒhnliches vor mir, schon das war ein entscheidender Unterschied. Und auch sonst waren unsere Umst‰nde so verschieden wie mˆglich. Das alles leuchtete mir ein. Bis zu dem Moment, da ich wuflte, dafl es kommen w¸rde; da vergafl ich, dafl es zwischen uns keine Gemeinsamkeit gab. Ich horchte so, dafl mein Herz ganz laut wurde. Ich liefl alles und horchte. Und dann kam es: ich habe mich nie geirrt.

Beinah jeder kennt den L‰rm, den irgendein blechernes, rundes Ding, nehmen wir an, der Deckel einer Blechb¸chse, verursacht, wenn er einem entglitten ist. Gewˆhnlich kommt er gar nicht einmal sehr laut unten an, er f‰llt kurz auf, rollt auf dem Rande weiter und wird eigentlich erst unangenehm, wenn der Schwung zu Ende geht und er nach allen Seiten taumelnd aufschl‰gt, eh er ins Liegen kommt. Nun also: das ist das Ganze; so ein blecherner Gegenstand fiel nebenan, rollte, blieb liegen, und dazwischen, in gewissen Abst‰nden, stampfte es. Wie alle Ger‰usche, die sich wiederholt durchsetzen, hatte auch dieses sich innerlich organisiert; es wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe. Aber gerade das sprach f¸r seine Gesetzm‰fligkeit. Es konnte heftig sein oder milde oder melancholisch; es konnte gleichsam ¸berst¸rzt vor¸bergehen oder unendlich lange hingleiten, eh es zur Ruhe kam. Und das letzte Schwanken war immer ¸berraschend. Dagegen hatte das Aufstampfen, das hinzukam, etwas fast Mechanisches. Aber es teilte den L‰rm immer anders ab, das schien seine Aufgabe zu sein. Ich kann diese Einzelheiten jetzt viel besser ¸bersehen; das Zimmer neben mir ist leer. Er ist nach Hause gereist, in die Provinz. Er sollte sich erholen. Ich wohne im obersten Stockwerk. Rechts ist ein anderes Haus, unter mir ist noch niemand eingezogen: ich bin ohne Nachbar.

In dieser Verfassung wundert es mich beinah, dafl ich die Sache nicht leichter nahm. Obwohl ich doch jedesmal im voraus gewarnt war durch mein Gef¸hl. Das w‰re auszunutzen gewesen. Erschrick nicht, h‰tte ich mir sagen m¸ssen, jetzt kommt es; ich wuflte ja, dafl ich mich niemals t‰uschte. Aber das lag vielleicht gerade an den Tatsachen, die ich mir hatte sagen lassen; seit ich sie wuflte, war ich noch schreckhafter geworden. Es ber¸hrte mich fast gespenstisch, dafl das, was diesen L‰rm auslˆste, jene kleine, langsame, lautlose Bewegung war, mit der sein Augenlid sich eigenm‰chtig ¸ber sein rechtes Auge senkte und schlofl, w‰hrend er las. Dies war das Wesentliche an seiner Geschichte, eine Kleinigkeit. Er hatte schon ein paar Mal die Examen vorbeigehen lassen m¸ssen, sein Ehrgeiz war empfindlich geworden, und die Leute daheim dr‰ngten wahrscheinlich, sooft sie schrieben. Was blieb also ¸brig, als sich zusammenzunehmen. Aber da hatte sich, ein paar Monate vor der Entscheidung, diese Schw‰che eingestellt; diese kleine, unmˆgliche Erm¸dung, die so l‰cherlich war, wie wenn ein Fenstervorhang nicht oben bleiben will. Ich bin sicher, dafl er wochenlang der Meinung war, man m¸flte das beherrschen kˆnnen. Sonst w‰re ich nicht auf die Idee verfallen, ihm meinen Willen anzubieten. Eines Tages begriff ich n‰mlich, dafl der seine zu Ende sei. Und seither, wenn ich es kommen f¸hlte, stand ich da auf meiner Seite der Wand und bat ihn, sich zu bedienen. Und mit der Zeit wurde mir klar, dafl er darauf einging. Vielleicht h‰tte er das nicht tun d¸rfen, besonders wenn man bedenkt, dafl es eigentlich nichts half. Angenommen sogar, dafl wir die Sache ein wenig hinhielten, so bleibt es doch fraglich, ob er wirklich imstande war, die Augenblicke, die wir so gewannen, auszunutzen. Und was meine Ausgaben betrifft, so begann ich sie zu f¸hlen. Ich weifl, ich fragte mich, ob das so weitergehen d¸rfe, gerade an dem Nachmittag, als jemand in unserer Etage ankam. Dies ergab bei dem engen Aufgang immer viel Unruhe in dem kleinen Hotel. Eine Weile sp‰ter schien es mir, als trete man bei meinem Nachbar ein. Unsere T¸ren waren die letzten im Gang, die seine quer und dicht neben der meinen. Ich wuflte indessen, dafl er zuweilen Freunde bei sich sah, und, wie gesagt, ich interessierte mich durchaus nicht f¸r seine Verh‰ltnisse. Es ist mˆglich, dafl seine T¸r noch mehrmals geˆffnet wurde, dafl man drauflen kam und ging. Daf¸r war ich wirklich nicht verantwortlich.

Nun an diesem selben Abend war es ‰rger denn je. Es war noch nicht sehr sp‰t, aber ich war aus M¸digkeit schon zu Bett gegangen; ich hielt es f¸r wahrscheinlich, dafl ich schlafen w¸rde. Da fuhr ich auf, als h‰tte man mich ber¸hrt. Gleich darauf brach es los. Es sprang und rollte und rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das Stampfen war f¸rchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock tiefer, deutlich und bˆse gegen die Decke. Auch der neue Mieter war nat¸rlich gestˆrt. Jetzt: das muflte seine T¸re sein. Ich war so wach, dafl ich seine T¸re zu hˆren meinte, obwohl er erstaunlich vorsichtig damit umging. Es kam mir vor, als n‰here er sich. Sicher wollte er wissen, in welchem Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine wirklich ¸bertriebene R¸cksicht. Er hatte doch eben bemerken kˆnnen, dafl es auf Ruhe nicht ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt unterdr¸ckte er seinen Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an meiner T¸r; und dann vernahm ich, dar¸ber war kein Zweifel, dafl er nebenan eintrat. Er trat ohne weiteres nebenan ein.

Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es still. Still, wie wenn ein Schmerz aufhˆrt. Eine eigent¸mlich f¸hlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde heilte. Ich h‰tte sofort schlafen kˆnnen; ich h‰tte Atem holen kˆnnen und einschlafen. Nur mein Erstaunen hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das gehˆrte mit in die Stille. Das mufl man erlebt haben, wie diese Stille war, wiedergeben l‰flt es sich nicht. Auch drauflen war alles wie ausgeglichen. Ich safl auf, ich horchte, es war wie auf dem Lande. Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie safl neben dem Licht, sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig gegen ihre Schulter gelegt. Gleich w¸rde sie ihn zu Bett bringen. Nun begriff ich das leise Gehen drauflen auf dem Gang. Ach, dafl es das gab. So ein Wesen, vor dem die T¸ren ganz anders nachgeben als vor uns. Ja, nun konnten wir schlafen.

Ich habe meinen Nachbar fast schon vergessen. Ich sehe wohl, dafl es keine richtige Teilnahme war, was ich f¸r ihn hatte. Unten frage ich zwar zuweilen im Vor¸bergehen, ob Nachrichten von ihm da sind und welche. Und ich freue mich, wenn sie gut sind. Aber ich ¸bertreibe. Ich habe eigentlich nicht nˆtig, das zu wissen. Das h‰ngt gar nicht mehr mit ihm zusammen, dafl ich manchmal einen plˆtzlichen Reiz versp¸re, nebenan einzutreten. Es ist nur ein Schritt von meiner T¸r zu der anderen, und das Zimmer ist nicht verschlossen. Es w¸rde mich interessieren, wie dieses Zimmer eigentlich beschaffen ist. Man kann sich mit Leichtigkeit ein beliebiges Zimmer vorstellen, und oft stimmt es dann ungef‰hr. Nur das Zimmer, das man neben sich hat, ist immer ganz anders, als man es sich denkt.

Ich sage mir, dafl es dieser Umstand ist, der mich reizt. Aber ich weifl ganz gut, dafl es ein gewisser blecherner Gegenstand ist, der auf mich wartet. Ich habe angenommen, dafl es sich wirklich um einen B¸chsendeckel handelt, obwohl ich mich nat¸rlich irren kann. Das beunruhigt mich nicht. Es entspricht nun einmal meiner Anlage, die Sache auf einen B¸chsendeckel zu schieben. Man kann denken, dafl er ihn nicht mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat man aufger‰umt, man hat den Deckel auf seine B¸chse gesetzt, wie es sich gehˆrt. Und nun bilden die beiden zusammen den Begriff B¸chse, runde B¸chse, genau ausgedr¸ckt, einen einfachen, sehr bekannten Begriff. Mir ist, als ents‰nne ich mich, dafl sie auf dem Kamin stehn, die beiden, die die B¸chse ausmachen. Ja, sie stehn sogar vor dem Spiegel, so dafl dahinter noch eine B¸chse entsteht, eine t‰uschend ‰hnliche, imagin‰re. Eine B¸chse, auf die wir gar keinen Wert legen, nach der aber zum Beispiel ein Affe greifen w¸rde. Richtig, es w¸rden sogar zwei Affen danach greifen, denn auch der Affe w‰re doppelt, sobald er auf dem Kaminrand ank‰me. Nun also, es ist der Deckel dieser B¸chse, der es auf mich abgesehen hat.

Einigen wir uns dar¸ber: der Deckel einer B¸chse, einer gesunden B¸chse, deren Rand nicht anders gebogen ist, als sein eigener, so ein Deckel m¸flte kein anderes Verlangen kennen, als sich auf seiner B¸chse zu befinden; dies m¸flte das ‰uflerste sein, was er sich vorzustellen vermag; eine nicht zu ¸bertreffende Befriedigung, die Erf¸llung aller seiner W¸nsche. Es ist ja auch etwas geradezu Ideales, geduldig und sanft eingedreht auf der kleinen Gegenwulst gleichm‰flig aufzuruhen und die eingreifende Kante in sich zu f¸hlen, elastisch und gerade so scharf, wie man selber am Rande ist, wenn man einzeln daliegt. Ach, aber wie wenige Deckel giebt es, die das noch zu sch‰tzen wissen. Hier zeigt es sich so recht, wie verwirrend der Umgang mit den Menschen auf die Dinge gewirkt hat. Die Menschen n‰mlich, wenn es angeht, sie ganz vor¸bergehend mit solchen Deckeln zu vergleichen, sitzen hˆchst ungern und schlecht auf ihren Besch‰ftigungen. Teils weil sie nicht auf die richtigen gekommen sind in der Eile, teils weil man sie schief und zornig aufgesetzt hat, teils weil die R‰nder, die aufeinander gehˆren, verbogen sind, jeder auf eine andere Art. Sagen wir es nur ganz aufrichtig: sie denken im Grunde nur daran, sobald es sich irgend tun l‰flt, hinunterzuspringen, zu rollen und zu blechern. Wo k‰men sonst alle diese sogenannten Zerstreuungen her und der L‰rm, den sie verursachen?

Die Dinge sehen das nun schon seit Jahrhunderten an. Es ist kein Wunder, wenn sie verdorben sind, wenn sie den Geschmack verlieren an ihrem nat¸rlichen, stillen Zweck und das Dasein so ausnutzen mˆchten, wie sie es rings um sich ausgenutzt sehen. Sie machen Versuche, sich ihren Anwendungen zu entziehen, sie werden unlustig und nachl‰ssig, und die Leute sind gar nicht erstaunt, wenn sie sie auf einer Ausschweifung ertappen. Sie kennen das so gut von sich selbst. Sie ‰rgern sich, weil sie die St‰rkeren sind, weil sie mehr Recht auf Abwechslung zu haben meinen, weil sie sich nachge‰fft f¸hlen; aber sie lassen die Sache gehen, wie sie sich selber gehen lassen. Wo aber einer ist, der sich zusammennimmt, ein Einsamer etwa, der so recht rund auf sich beruhen wollte Tag und Nacht, da fordert er geradezu den Widerspruch, den Hohn, den Hafl der entarteten Ger‰te heraus, die, in ihrem argen Gewissen, nicht mehr vertragen kˆnnen, dafl etwas sich zusammenh‰lt und nach seinem Sinne strebt. Da verbinden sie sich, um ihn zu stˆren, zu schrecken, zu beirren, und wissen, dafl sie es kˆnnen. Da fangen sie, einander zuzwinkernd, die Verf¸hrung an, die dann ins Unermessene weiter w‰chst und alle Wesen und Gott selber hinreiflt gegen den Einen, der vielleicht ¸bersteht: den Heiligen.

Wie begreif ich jetzt die wunderlichen Bilder, darinnen Dinge von beschr‰nkten und regelm‰fligen Gebrauchen sich ausspannen und sich l¸stern und neugierig aneinander versuchen, zuckend in der ungef‰hren Unzucht der Zerstreuung. Diese Kessel, die kochend herumgehen, diese Kolben, die auf Gedanken kommen, und die m¸fligen Trichter, die sich in ein Loch dr‰ngen zu ihrem Vergn¸gen. Und da sind auch schon, vom eifers¸chtigen Nichts heraufgeworfen, Gliedmaflen und Glieder unter ihnen und Gesichter, die warm in sie hineinvomieren, und blasende Ges‰fle, die ihnen den Gefallen tun.

Und der Heilige kr¸mmt sich und zieht sich zusammen; aber in seinen Augen war noch ein Blick, der dies f¸r mˆglich hielt: er hat hingesehen. Und schon schlagen sich seine Sinne nieder aus der hellen Lˆsung seiner Seele. Schon entbl‰ttert sein Gebet und steht ihm aus dem Mund wie ein eingegangener Strauch. Sein Herz ist umgefallen und ausgeflossen ins Tr¸be hinein. Seine Geiflel trifft ihn schwach wie ein Schwanz, der Fliegen verjagt. Sein Geschlecht ist wieder nur an einer Stelle, und wenn eine Frau aufrecht durch das Gehudel kommt, den offenen Busen voll Br¸ste, so zeigt es auf sie wie ein Finger.

Es gab Zeiten, da ich diese Bilder f¸r veraltet hielt. Nicht, als ob ich an ihnen zweifelte. Ich konnte mir denken, dafl dies den Heiligen geschah, damals, den eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott anfangen wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr zu. Wir ahnen, dafl er zu schwer ist f¸r uns, dafl wir ihn hinausschieben m¸ssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weifl ich, dafl diese Arbeit genau so bestritten ist wie das Heiligsein; dafl dies da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Hˆhlen und leeren Herbergen, einst.

Wenn man von den Einsamen spricht, setzt man immer zuviel voraus. Man meint, die Leute w¸flten, um was es sich handelt. Nein, sie wissen es nicht. Sie haben nie einen Einsamen gesehen, sie haben ihn nur gehaflt, ohne ihn zu kennen. Sie sind seine Nachbaren gewesen, die ihn aufbrauchten, und die Stimmen im Nebenzimmer, die ihn versuchten. Sie haben die Dinge aufgereizt gegen ihn, dafl sie l‰rmten und ihn ¸bertˆnten. Die Kinder verbanden sich wider ihn, da er zart und ein Kind war, und mit jedem Wachsen wuchs er gegen die Erwachsenen an. Sie sp¸rten ihn auf in seinem Versteck wie ein jagdbares Tier, und seine lange Jugend war ohne Schonzeit. Und wenn er sich nicht erschˆpfen liefl und davonkam, so schrieen sie ¸ber das, was von ihm ausging, und nannten es h‰fllich und verd‰chtigten es. Und hˆrte er nicht darauf, so wurden sie deutlicher und aflen ihm sein Essen weg und atmeten ihm seine Luft aus und spieen in seine Armut, dafl sie ihm widerw‰rtig w¸rde. Sie brachten Verruf ¸ber ihn wie ¸ber einen Ansteckenden und warfen ihm Steine nach, damit er sich rascher entfernte. Und sie hatten recht in ihrem alten Instinkt: denn er war wirklich ihr Feind.

Aber dann, wenn er nicht aufsah, besannen sie sich. Sie ahnten, dafl sie ihm mit alledem seinen Willen taten; dafl sie ihn in seinem Alleinsein best‰rkten und ihm halfen, sich abzuscheiden von ihnen f¸r immer. Und nun schlugen sie um und wandten das Letzte an, das ƒuflerste, den anderen Widerstand: den Ruhm. Und bei diesem L‰rmen blickte fast jeder auf und wurde zerstreut.

Diese Nacht ist mir das kleine gr¸ne Buch wieder eingefallen, das ich als Knabe einmal besessen haben mufl; und ich weifl nicht, warum ich mir einbilde, dafl es von Mathilde Brahe stammte. Es interessierte mich nicht, da ich es bekam, und ich las es erst mehrere Jahre sp‰ter, ich glaube in der Ferienzeit auf Ulsgaard. Aber wichtig war es mir vom ersten Augenblick an. Es war durch und durch voller Bezug, auch ‰uflerlich betrachtet. Das Gr¸n des Einbandes bedeutete etwas, und man sah sofort ein, dafl es innen so sein muflte, wie es war. Als ob das verabredet worden w‰re, kam zuerst dieses glatte, weifl in weifl gew‰sserte Vorsatzblatt und dann die Titelseite, die man f¸r geheimnisvoll hielt. Es h‰tten wohl Bilder drin sein kˆnnen, so sah es aus; aber es waren keine, und man muflte, fast wider Willen, zugeben, dafl auch das in der Ordnung sei. Es entsch‰digte einen irgendwie, an einer bestimmten Stelle das schmale Leseband zu finden, das, m¸rbe und ein wenig schr‰g, r¸hrend in seinem Vertrauen, noch rosa zu sein, seit Gott weifl wann immer zwischen den gleichen Seiten lag. Vielleicht war es nie benutzt worden, und der Buchbinder hatte es rasch und fleiflig da hineingebogen, ohne recht hinzusehen. Mˆglicherweise aber war es kein Zufall. Es konnte sein, dafl jemand dort zu lesen aufgehˆrt hatte, der nie wieder las; dafl das Schicksal in diesem Moment an seiner T¸re klopfte, um ihn zu besch‰ftigen, dafl er weit von allen B¸chern weggeriet, die doch schliefllich nicht das Leben sind. Das war nicht zu erkennen, ob das Buch weitergelesen worden war. Man konnte sich auch denken, dafl es sich einfach darum handelte, diese Stelle aufzuschlagen wieder und wieder, und dafl es dazu gekommen war, wenn auch manchmal erst sp‰t in der Nacht. Jedenfalls hatte ich eine Scheu vor den beiden Seiten, wie vor einem Spiegel, vor dem jemand steht. Ich habe sie nie gelesen. Ich weifl ¸berhaupt nicht, ob ich das ganze Buch gelesen habe. Es war nicht sehr stark, aber es standen eine Menge Geschichten drin, besonders am Nachmittag; dann war immer eine da, die man noch nicht kannte.

Ich erinnere nur noch zwei. Ich will sagen, welche: Das Ende des Grischa Otrepjow und Karls des K¸hnen Untergang.

Gott weifl, ob es mir damals Eindruck machte. Aber jetzt, nach so viel Jahren, entsinne ich mich der Beschreibung, wie der Leichnam des falschen Zaren unter die Menge geworfen worden war und dalag drei Tage, zerfetzt und zerstochen und eine Maske vor dem Gesicht. Es ist nat¸rlich gar keine Aussicht, dafl mir das kleine Buch je wieder in die H‰nde kommt. Aber diese Stelle mufl merkw¸rdig gewesen sein. Ich h‰tte auch Lust, nachzulesen, wie die Begegnung mit der Mutter verlief. Er mag sich sehr sicher gef¸hlt haben, da er sie nach Moskau kommen liefl; ich bin sogar ¸berzeugt, dafl er zu jener Zeit so stark an sich glaubte, dafl er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und diese Marie Nagoi, die in schnellen Tagreisen aus ihrem d¸rftigen Kloster kam, gewann ja auch alles, wenn sie zustimmte. Ob aber seine Unsicherheit nicht gerade damit begann, dafl sie ihn anerkannte? Ich bin nicht abgeneigt zu glauben, die Kraft seiner Verwandlung h‰tte darin beruht, niemandes Sohn mehr zu sein.

(Das ist schliefllich die Kraft aller jungen Leute, die fortgegangen sind.)

Das Volk, das sich ihn erw¸nschte, ohne sich einen vorzustellen, machte ihn nur noch freier und unbegrenzter in seinen Mˆglichkeiten. Aber die Erkl‰rung der Mutter hatte, selbst als bewuflter Betrug, noch die Macht, ihn zu verringern; sie hob ihn aus der F¸lle seiner Erfindung; sie beschr‰nkte ihn auf ein m¸des Nachahmen; sie setzte ihn auf den Einzelnen herab, der er nicht war: sie machte ihn zum Betr¸ger. Und nun kam, leiser auflˆsend, diese Marina Mniczek hinzu, die ihn auf ihre Art leugnete, indem sie, wie sich sp‰ter erwies, nicht an ihn glaubte, sondern an jeden. Ich kann nat¸rlich nicht daf¸r einstehen, wie weit das alles in jener Geschichte ber¸cksichtigt war. Dies, scheint mir, w‰re zu erz‰hlen gewesen.

Aber auch abgesehen davon, ist diese Begebenheit durchaus nicht veraltet. Es w‰re jetzt ein Erz‰hler denkbar, der viel Sorgfalt an die letzten Augenblicke wendete; er h‰tte nicht unrecht. Es geht eine Menge in ihnen vor: Wie er aus dem innersten Schlaf ans Fenster springt und ¸ber das Fenster hinaus in den Hof zwischen die Wachen. Er kann allein nicht auf; sie m¸ssen ihm helfen. Wahrscheinlich ist der Fufl gebrochen. An zwei von den M‰nnern gelehnt, f¸hlt er, dafl sie an ihn glauben. Er sieht sich um: auch die andern glauben an ihn. Sie dauern ihn fast, diese riesigen Strelitzen, es mufl weit gekommen sein: sie haben Iwan Grosnij gekannt in all seiner Wirklichkeit, und glauben an ihn. Er h‰tte Lust, sie aufzukl‰ren, aber den Mund ˆffnen, hiefle einfach schreien. Der Schmerz im Fufl ist rasend, und er h‰lt so wenig von sich in diesem Moment, dafl er nichts weifl als den Schmerz. Und dann ist keine Zeit. Sie dr‰ngen heran, er sieht den Schuiskij und hinter ihm alle. Gleich wird es vor¸ber sein. Aber da schlieflen sich seine Wachen. Sie geben ihn nicht auf. Und ein Wunder geschieht. Der Glauben dieser alten M‰nner pflanzt sich fort, auf einmal will niemand mehr vor. Schuiskij, dicht vor ihm, ruft verzweifelt nach einem Fenster hinauf. Er sieht sich nicht um. Er weifl, wer dort steht; er begreift, dafl es still wird, ganz ohne ‹bergang still. Jetzt wird die Stimme kommen, die er von damals her kennt; die hohe, falsche Stimme, die sich ¸beranstrengt. Und da hˆrt er die Zarinmutter, die ihn verleugnet.

Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen Erz‰hler, einen Erz‰hler: denn von den paar Zeilen, die noch bleiben, mufl Gewalt ausgehen ¸ber jeden Widerspruch hinaus. Ob es gesagt wird oder nicht, man mufl darauf schwˆren, dafl zwischen Stimme und Pistolenschufl, unendlich zusammengedr‰ngt, noch einmal Wille und Macht in ihm war, alles zu sein. Sonst versteht man nicht, wie gl‰nzend konsequent es ist, dafl sie sein Nachtkleid durchbohrten und in ihm herumstachen, ob sie auf das Harte einer Person stoflen w¸rden. Und dafl er im Tode doch noch die Maske trug, drei Tage lang, auf die er fast schon verzichtet hatte.

Wenn ichs nun bedenke, so scheint es mir seltsam, dafl in demselben Buche der Ausgang dessen erz‰hlt wurde, der sein ganzes Leben lang Einer war, der Gleiche, hart und nicht zu ‰ndern wie ein Granit und immer schwerer auf allen, die ihn ertrugen. Es giebt ein Bild von ihm in Dijon. Aber man weifl es auch so, dafl er kurz, quer, trotzig war und verzweifelt. Nur an die H‰nde h‰tte man vielleicht nicht gedacht. Es sind arg warme H‰nde, die sich immerfort k¸hlen mˆchten und sich unwillk¸rlich auf Kaltes legen, gespreizt, mit Luft zwischen allen Fingern. In diese H‰nde konnte das Blut hineinschieflen, wie es einem zu Kopf steigt, und geballt waren sie wirklich wie die Kˆpfe von Tollen, tobend von Einf‰llen.

Es gehˆrte unglaubliche Vorsicht dazu, mit diesem Blute zu leben. Der Herzog war damit eingeschlossen in sich selbst, und zuzeiten f¸rchtete ers, wenn es um ihn herumging, geduckt und dunkel. Es konnte ihm selber grauenhaft fremd sein, dieses behende, halbportugiesische Blut, das er kaum kannte. Oft ‰ngstigte es ihn, dafl es ihn im Schlafe anfallen kˆnnte und zerreiflen. Er tat, als b‰ndigte ers, aber er stand immer in seiner Furcht. Er wagte nie eine Frau zu lieben, damit es nicht eifers¸chtig w¸rde, und so reiflend war es, dafl Wein nie ¸ber seine Lippen kam; statt zu trinken, s‰nftigte ers mit Rosenmus. Doch, einmal trank er, im Lager vor Lausanne, als Granson verloren war; da war er krank und abgeschieden und trank viel puren Wein. Aber damals schlief sein Blut. In seinen sinnlosen letzten Jahren verfiel es manchmal in diesen schweren, tierischen Schlaf. Dann zeigte es sich, wie sehr er in seiner Gewalt war; denn wenn es schlief, war er nichts. Dann durfte keiner von seiner Umgebung herein; er begriff nicht, was sie redeten. Den fremden Gesandten konnte er sich nicht zeigen, ˆd wie er war. Dann safl er und wartete, dafl es aufwachte. Und meistens fuhr es mit einem Sprunge auf und brach aus dem Herzen aus und br¸llte.

F¸r dieses Blut schleppte er alle die Dinge mit, auf die er nichts gab. Die drei groflen Diamanten und alle die Steine; die flandrischen Spitzen und die Teppiche von Arros, haufenweis. Sein seidenes Gezelt mit den aus Gold gedrehten Schn¸ren und vierhundert Zelte f¸r sein Gefolg. Und Bilder, auf Holz gemalt, und die zwˆlf Apostel aus vollem Silber. Und den Prinzen von Tarent und den Herzog von Cleve und Philipp von Baden und den Herrn von Ch‚teau-Guyon. Denn er wollte seinem Blut einreden, dafl er Kaiser sei und nichts ¸ber ihm: damit es ihn f¸rchte. Aber sein Blut glaubte ihm nicht, trotz solcher Beweise, es war ein mifltrauisches Blut. Vielleicht erhielt er es noch eine Weile im Zweifel. Aber die Hˆrner von Uri verrieten ihn. Seither wuflte sein Blut, dafl es in einem Verlorenen war: und wollte heraus.

So seh ich es jetzt, damals aber machte es mir vor allem Eindruck, von dem Dreikˆnigstag zu lesen, da man ihn suchte.

Der junge lothringische F¸rst, der tags vorher, gleich nach der merkw¸rdig hastigen Schlacht in seiner elenden Stadt Nancy eingeritten war, hatte ganz fr¸h seine Umgebung geweckt und nach dem Herzog gefragt. Bote um Bote wurde ausgesandt, und er selbst erschien von Zeit zu Zeit am Fenster, unruhig und besorgt. Er erkannte nicht immer, wen sie da brachten auf ihren Wagen und Tragbahren, er sah nur, dafl es nicht der Herzog war. Und auch unter den Verwundeten war er nicht, und von den Gefangenen, die man fortw‰hrend noch einbrachte, hatte ihn keiner gesehen. Die Fl¸chtlinge aber trugen nach allen Seiten verschiedene Nachrichten und waren wirr und schreckhaft, als f¸rchteten sie, auf ihn zuzulaufen. Es dunkelte schon, und man hatte nichts von ihm gehˆrt. Die Kunde, dafl er verschwunden sei, hatte Zeit herumzukommen an dem langen Winterabend. Und wohin sie kam, da erzeugte sie in allen eine j‰he, ¸bertriebene Sicherheit, dafl er lebte. Nie vielleicht war der Herzog so wirklich in jeder Einbildung wie in dieser Nacht. Es gab kein Haus, wo man nicht wachte und auf ihn wartete und sich sein Klopfen vorstellte. Und wenn er nicht kam, so wars, weil er schon vor¸ber war.

Es fror diese Nacht, und es war, als frˆre auch die Idee, dafl er sei; so hart wurde sie. Und Jahre und Jahre vergingen, eh sie sich auflˆste. Alle diese Menschen, ohne es recht zu wissen, bestanden jetzt auf ihm. Das Schicksal, das er ¸ber sie gebracht hatte, war nur ertr‰glich durch seine Gestalt. Sie hatten so schwer erlernt, dafl er war; nun aber, da sie ihn konnten, fanden sie, dafl er gut zu merken sei und nicht zu vergessen.

Aber am n‰chsten Morgen, dem siebenten Januar, einem Dienstag, fing das Suchen doch wieder an. Und diesmal war ein F¸hrer da. Es war ein Page des Herzogs, und es hiefl, er habe seinen Herrn von ferne st¸rzen sehen; nun sollte er die Stelle zeigen. Er selbst hatte nichts erz‰hlt, der Graf von Campobasso hatte ihn gebracht und hatte f¸r ihn gesprochen. Nun ging er voran, und die anderen hielten sich dicht hinter ihm. Wer ihn so sah, vermummt und eigent¸mlich unsicher, der hatte M¸he zu glauben, dafl es wirklich Gian-Battista Colonna sei, der schˆn wie ein M‰dchen war und schmal in den Gelenken. Er zitterte vor K‰lte; die Luft war steif vom Nachtfrost, es klang wie Z‰hneknirschen unter den Schritten. ‹brigens froren sie alle. Nur des Herzogs Narr, Louis-Onze zubenannt, machte sich Bewegung. Er spielte den Hund, lief voraus, kam wieder und trollte eine Weile auf allen Vieren neben dem Knaben her; wo er aber von fern eine Leiche sah, da sprang er hin und verbeugte sich und redete ihr zu, sie mˆchte sich zusammennehmen und der sein, den man suchte. Er liefl ihr ein wenig Bedenkzeit, aber dann kam er m¸rrisch zu den andern zur¸ck und drohte und fluchte und beklagte sich uber den Eigensinn und die Tr‰gheit der Toten. Und man ging immerzu, und es nahm kein Ende. Die Stadt war kaum mehr zu sehen; denn das Wetter hatte sich inzwischen geschlossen, trotz der K‰lte, und war grau und undurchsichtig geworden. Das Land lag flach und gleichg¸ltig da, und die kleine, dichte Gruppe sah immer verirrter aus, je weiter sie sich bewegte. Niemand sprach, nur ein altes Weib, das mitgelaufen war, malmte etwas und sch¸ttelte den Kopf dabei; vielleicht betete sie.

Auf einmal blieb der Vorderste stehen und sah um sich. Dann wandte er sich kurz zu Lupi, dem portugiesischen Arzt des Herzogs, und zeigte nach vorn. Ein paar Schritte weiterhin war eine Eisfl‰che, eine Art T¸mpel oder Teich, und da lagen, halb eingebrochen, zehn oder zwˆlf Leichen. Sie waren fast ganz entblˆflt und ausgeraubt. Lupi ging geb¸ckt und aufmerksam von einem zum andern. Und nun erkannte man Olivier de la Marche und den Geistlichen, wie sie so einzeln herumgingen. Die Alte aber kniete schon im Schnee und winselte und b¸ckte sich ¸ber eine grofle Hand, deren Finger ihr gespreizt entgegenstarrten. Alle eilten herbei. Lupi mit einigen Dienern versuchte den Leichnam zu wenden, denn er lag vorn¸ber. Aber das Gesicht war eingefroren, und da man es aus dem Eis herauszerrte, sch‰lte sich die eine Wange d¸nn und sprˆde ab, und es zeigte sich, dafl die andere von Hunden oder Wˆlfen herausgerissen war; und das Ganze war von einer groflen Wunde gespalten, die am Ohr begann, so dafl von einem Gesicht keine Rede sein konnte.

Einer nach dem anderen blickte sich um; jeder meinte den Rˆmer hinter sich zu finden. Aber sie sahen nur den Narren, der herbeigelaufen kam, bˆse und blutig. Er hielt einen Mantel von sich ab und sch¸ttelte ihn, als sollte etwas herausfallen; aber der Mantel war leer. So ging man daran, nach Kennzeichen zu suchen, und es fanden sich einige. Man hatte ein Feuer gemacht und wusch den Kˆrper mit warmem Wasser und Wein. Die Narbe am Halse kam zum Vorschein und die Stellen der beiden groflen Abszesse. Der Arzt zweifelte nicht mehr. Aber man verglich noch anderes. Louis-Onze hatte ein paar Schritte weiter den Kadaver des groflen schwarzen Pferdes Moreau gefunden, das der Herzog am Tage von Nancy geritten hatte. Er safl darauf und liefl die kurzen Beine h‰ngen. Das Blut rann ihm noch immer aus der Nase in den Mund, und man sah ihm an, dafl er es schmeckte. Einer der Diener dr¸ben erinnerte, dafl ein Nagel an des Herzogs linkem Fufl eingewachsen gewesen w‰re; nun suchten alle den Nagel. Der Narr aber zappelte, als w¸rde er gekitzelt, und schrie: “Ach, Monseigneur, verzeih ihnen, dafl sie deine groben Fehler aufdecken, die Dummkˆpfe, und dich nicht erkennen an meinem langen Gesicht, in dem deine Tugenden stehn.”

(Des Herzogs Narr war auch der erste, der eintrat, als die Leiche gebettet war. Es war im Hause eines gewissen Georg Marquis, niemand konnte sagen, wieso. Das Bahrtuch war noch nicht ¸bergelegt, und so hatte er den ganzen Eindruck. Das Weifl des Kamisols und das Karmesin vom Mantel sonderten sich schroff und unfreundlich voneinander ab zwischen den beiden Schwarz von Baldachin und Lager. Vorne standen scharlachne Schaftstiefel ihm entgegen mit groflen, vergoldeten Sporen. Und dafl das dort oben ein Kopf war, dar¸ber konnte kein Streit entstehen, sobald man die Krone sah. Es war eine grofle Herzogs-Krone mit irgendwelchen Steinen. Louis-Onze ging umher und besah alles genau. Er bef¸hlte sogar den Atlas, obwohl er wenig davon verstand. Es mochte guter Atlas sein, vielleicht ein biflchen billig f¸r das Haus Burgund. Er trat noch einmal zur¸ck um des ‹berblicks willen. Die Farben waren merkw¸rdig unzusammenh‰ngend im Schneelicht. Er pr‰gte sich jede einzeln ein. “Gut angekleidet”, sagte er schliefllich anerkennend, “vielleicht eine Spur zu deutlich.” Der Tod kam ihm vor wie ein Puppenspieler, der rasch einen Herzog braucht.)

Man tut gut, gewisse Dinge, die sich nicht mehr ‰ndern werden, einfach festzustellen, ohne die Tatsachen zu bedauern oder auch nur zu beurteilen. So ist mir klar geworden, dafl ich nie ein richtiger Leser war. In der Kindheit kam mir das Lesen vor wie ein Beruf, den man auf sich nehmen w¸rde, sp‰ter einmal, wenn alle die Berufe kamen, einer nach dem andern. Ich hatte, aufrichtig gesagt, keine bestimmte Vorstellung, wann das sein kˆnnte. Ich verliefl mich darauf, dafl man es merken w¸rde, wenn das Leben gewissermaflen umschlug und nur noch von auflen kam, so wie fr¸her von innen. Ich bildete mir ein, es w¸rde dann deutlich und eindeutig sein und gar nicht miflzuverstehn. Durchaus nicht einfach, im Gegenteil recht anspruchsvoll, verwickelt und schwer meinetwegen, aber immerhin sichtbar. Das eigent¸mlich Unbegrenzte der Kindheit, das Unverh‰ltnism‰flige, das Nie-recht-Absehbare, das w¸rde dann ¸berstanden sein. Es war freilich nicht einzusehen, wieso. Im Grunde nahm es immer noch zu und schlofl sich auf allen Seiten, und je mehr man hinaussah, desto mehr Inneres r¸hrte man in sich auf: Gott weifl, wo es herkam. Aber wahrscheinlich wuchs es zu einem ƒuflersten an und brach dann mit einem Schlage ab. Es war leicht zu beobachten, dafl die Erwachsenen sehr wenig davon beunruhigt wurden; sie gingen herum und urteilten und handelten, und wenn sie je in Schwierigkeiten waren, so lag das an ‰ufleren Verh‰ltnissen.

An den Anfang solcher Ver‰nderungen verlegte ich auch das Lesen. Dann w¸rde man mit B¸chern umgehen wie mit Bekannten, es w¸rde Zeit daf¸r da sein, eine bestimmte, gleichm‰flig und gef‰llig vergehende Zeit, gerade so viel, als einem eben paflte. Nat¸rlich w¸rden einzelne einem n‰her stehen, und es ist nicht gesagt, dafl man davor sicher sein w¸rde, ab und zu eine halbe Stunde ¸ber ihnen zu vers‰umen: einen Spaziergang, eine Verabredung, den Anfang im Theater oder einen dringenden Brief. Dafl sich einem aber das Haar verbog und verwirrte, als ob man darauf gelegen h‰tte, dafl man gl¸hende Ohren bekam und H‰nde kalt wie Metall, dafl eine lange Kerze neben einem herunterbrannte und in den Leuchter hinein, das w¸rde dann, Gott sei Dank, vˆllig ausgeschlossen sein.

Ich f¸hre diese Erscheinungen an, weil ich sie ziemlich auff‰llig an mir erfuhr, damals in jenen Ferien auf Ulsgaard, als ich so plˆtzlich ins Lesen geriet. Da zeigte es sich gleich, dafl ich es nicht konnte. Ich hatte es freilich vor der Zeit begonnen, die ich mir daf¸r in Aussicht gestellt hatte. Aber dieses Jahr in Sorˆ unter lauter andern ungef‰hr Altersgleichen hatte mich mifltrauisch gemacht gegen solche Berechnungen. Dort waren rasche, unerwartete Erfahrungen an mich herangekommen, und es war deutlich zu sehen, dafl sie mich wie einen Erwachsenen behandelten. Es waren lebensgrofle Erfahrungen, die sich so schwer machten, wie sie waren. In demselben Mafle aber, als ich ihre Wirklichkeit begriff, gingen mir auch f¸r die unendliche Realit‰t meines Kindseins die Augen auf. Ich wuflte, dafl es nicht aufhˆren w¸rde, so wenig wie das andere erst begann. Ich sagte mir, dafl es nat¸rlich jedem freistand, Abschnitte zu machen, aber sie waren erfunden. Und es erwies sich, dafl ich zu ungeschickt war, mir welche auszudenken. Sooft ich es versuchte, gab mir das Leben zu verstehen, dafl es nichts von ihnen wuflte. Bestand ich aber darauf, dafl meine Kindheit vor¸ber sei, so war in demselben Augenblick auch alles Kommende fort, und mir blieb nur genau so viel, wie ein Bleisoldat unter sich hat, um stehen zu kˆnnen.

Diese Entdeckung sonderte mich begreiflicherweise noch mehr ab. Sie besch‰ftigte mich in mir und erf¸llte mich mit einer Art endg¸ltiger Frohheit, die ich f¸r K¸mmernis nahm, weil sie weit ¸ber mein Alter hinausging. Es beunruhigte mich auch, wie ich mich entsinne, dafl man nun, da nichts f¸r eine bestimmte Frist vorgesehen war, manches ¸berhaupt vers‰umen kˆnne. Und als ich so nach Ulsgaard zur¸ckkehrte und alle die B¸cher sah, machte ich mich dar¸ber her; recht in Eile, mit fast schlechtem Gewissen. Was ich sp‰ter so oft empfunden habe, das ahnte ich damals irgendwie voraus: dafl man nicht das Recht hatte, ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Von den B¸chern war sie heil und vielleicht wieder ganz dahinter. Wie aber sollte ich, der nicht lesen konnte, es mit allen aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem bescheidenen B¸cherzimmer, in so aussichtsloser ‹berzahl und hielten zusammen. Ich st¸rzte mich trotzig und verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich durch die Seiten durch wie einer, der etwas Unverh‰ltnism‰fliges zu leisten hat. Damals las ich Schiller und Baggesen, ÷hlenschl‰ger und Schack-Staffeldt, was von Walter Scott da war und Calderon. Manches kam mir in die H‰nde, was gleichsam schon h‰tte gelesen sein m¸ssen, f¸r anderes war es viel zu fr¸h; f‰llig war fast nichts f¸r meine damalige Gegenwart. Und trotzdem las ich.

In sp‰teren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, dafl ich aufwachte, und die Sterne standen so wirklich da und gingen so bedeutend vor, und ich konnte nicht begreifen, wie man es ¸ber sich brachte, so viel Welt zu vers‰umen. So ‰hnlich war mir, glaub ich, zumut, sooft ich von den B¸chern aufsah und hinaus, wo der Sommer war, wo Abelone rief. Es kam uns sehr unerwartet, dafl sie rufen muflte und dafl ich nicht einmal antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber da es mich nun einmal erfaflt hatte, hielt ich mich krampfhaft ans Lesen und verbarg mich, wichtig und eigensinnig, vor unseren t‰glichen Feiertagen. Ungeschickt wie ich war, die vielen, oft unscheinbaren Gelegenheiten eines nat¸rlichen Gl¸cks auszunutzen, liefl ich mir nicht ungern von dem anwachsenden Zerw¸rfnis k¸nftige Versˆhnungen versprechen, die desto reizender wurden, je weiter man sie hinausschob.

‹brigens war mein Leseschlaf eines Tages so plˆtzlich zu Ende, wie er begonnen hatte; und da erz¸rnten wir einander gr¸ndlich. Denn Abelone ersparte mir nun keinerlei Spott und ‹berlegenheit, und wenn ich sie in der Laube traf, behauptete sie zu lesen. An dem einen Sonntagmorgen lag das Buch zwar geschlossen neben ihr, aber sie schien mehr als genug mit den Johannisbeeren besch‰ftigt, die sie vorsichtig mittels einer Gabel aus ihren kleinen Trauben streifte.

Es mufl dies eine von jenen Tagesfr¸hen gewesen sein, wie es solche im Juli giebt, neue, ausgeruhte Stunden, in denen ¸berall etwas frohes Un¸berlegtes geschieht. Aus Millionen kleinen ununterdr¸ckbaren Bewegungen setzt sich ein Mosaik ¸berzeugtesten Daseins zusammen; die Dinge schwingen ineinander hin¸ber und hinaus in die Luft, und ihre K¸hle macht den Schatten klar und die Sonne zu einem leichten, geistigen Schein. Da giebt es im Garten keine Hauptsache; alles ist ¸berall, und man m¸flte in allem sein, um nichts zu vers‰umen.

In Abelonens kleiner Handlung aber war das Ganze nochmal. Es war so gl¸cklich erfunden, gerade dies zu tun und genau so, wie sie es tat. Ihre im Schattigen hellen H‰nde arbeiteten einander so leicht und einig zu, und vor der Gabel sprangen mutwillig die runden Beeren her, in die mit tauduffem Weinblatt ausgelegte Schale hinein, wo schon andere sich h‰uften, rote und blonde, glanzlichternd, mit gesunden Kernen im herben Innern. Ich w¸nschte unter diesen Umst‰nden nichts als zuzusehen, aber, da es wahrscheinlich war, dafl man mirs verwies, ergriff ich, auch um mich unbefangen zu geben, das Buch, setzte mich an die andere Seite des Tisches und liefl mich, ohne lange zu bl‰ttern, irgendwo damit ein.

“Wenn du doch wenigstens laut l‰sest, Leserich”, sagte Abelone nach einer Weile. Das klang lange nicht mehr so streits¸chtig, und da es, meiner Meinung nach, ernstlich Zeit war, sich auszugleichen, las ich sofort laut, immerzu bis zu einem Abschnitt und weiter, die n‰chste ‹berschrift: An Bettine.

“Nein, nicht die Antworten”, unterbrach mich Abelone und legte auf einmal wie erschˆpft die kleine Gabel nieder. Gleich darauf lachte sie ¸ber das Gesicht, mit dem ich sie ansah.

“Mein Gott, was hast du schlecht gelesen, Malte.”

Da muflte ich nun zugeben, dafl ich keinen Augenblick bei der Sache gewesen sei. “Ich las nur, damit du mich unterbrichst”, gestand ich und wurde heifl und bl‰tterte zur¸ck nach dem Titel des Buches. Nun wuflte ich erst, was es war. “Warum denn nicht die Antworten?” fragte ich neugierig.

Es war, als h‰tte Abelone mich nicht gehˆrt. Sie safl da in ihrem lichten Kleid, als ob sie ¸berall innen ganz dunkel w¸rde, wie ihre Augen wurden.

“Gieb her”, sagte sie plˆtzlich wie im Zorn und nahm mir das Buch aus der Hand und schlug es richtig dort auf, wo sie es wollte. Und dann las sie einen von Bettinens Briefen.

Ich weifl nicht, was ich davon verstand, aber es war, als w¸rde mir feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen. Und w‰hrend ihre Stimme zunahm und endlich fast jener glich, die ich vom Gesang her kannte, sch‰mte ich mich, dafl ich mir unsere Versˆhnung so gering vorgestellt hatte. Denn ich begriff wohl, dafl sie das war. Aber nun geschah sie irgendwo ganz im Groflen, weit ¸ber mir, wo ich nicht hinreichte.

Das Versprechen erf¸llt sich noch immer, irgendwann ist dasselbe Buch unter meine B¸cher geraten, unter die paar B¸cher, von denen ich mich nicht trenne. Nun schl‰gt es sich auch mir an den Stellen auf, die ich gerade meine, und wenn ich sie lese, so bleibt es unentschieden, ob ich an Bettine denke oder an Abelone. Nein, Bettine ist wirklicher in mir geworden, Abelone, die ich gekannt habe, war wie eine Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie in ihrem eigenen, unwillk¸rlichen Wesen. Denn diese wunderliche Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, ger‰umigste Gestalt. Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so ausgebreitet, als w‰r sie nach ihrem Tod. ‹berall hat sie sich ganz weit ins Sein hineingelegt, zugehˆrig dazu, und was ihr geschah, das war ewig in der Natur; dort erkannte sie sich und lˆste sich beinah schmerzhaft heraus; erriet sich m¸hsam zur¸ck wie aus ‹berlieferungen, beschwor sich wie einen Geist und hielt sich aus.

Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht die Erde noch warm von dir, und die Vˆgel lassen noch Raum f¸r deine Stimme. Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne deiner N‰chte. Oder ist nicht die Welt ¸berhaupt von dir? Denn wie oft hast du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und hast sie lodern sehen und aufbrennen und hast sie heimlich durch eine andere ersetzt, wenn alle schliefen. Du f¸hltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn du jeden Morgen eine neue Erde von ihm verlangtest, damit doch alle drank‰men, die er gemacht hatte. Es kam dir arms‰lig vor, sie zu schonen und auszubessern, du verbrauchtest sie und hieltest die H‰nde hin um immer noch Welt. Denn deine Liebe war allem gewachsen.

Wie ist es mˆglich, dafl nicht noch alle erz‰hlen von deiner Liebe? Was ist denn seither geschehen, was merkw¸rdiger war? Was besch‰ftigt sie denn? Du selber wufltest um deiner Liebe Wert, du sagtest sie laut deinem grˆflesten Dichter vor, dafl er sie menschlich mache; denn sie war noch Element. Er aber hat sie den Leuten ausgeredet, da er dir schrieb. Alle haben diese Antworten gelesen und glauben ihnen mehr, weil der Dichter ihnen deutlicher ist als die Natur. Aber vielleicht wird es sich einmal zeigen, dafl hier die Grenze seiner Grˆfle war. Diese Liebende ward ihm auferlegt, und er hat sie nicht bestanden. Was heiflt es, dafl er nicht hat erwidern kˆnnen? Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhˆrt sich selbst. Aber dem¸tigen h‰tte er sich m¸ssen vor ihr in seinem ganzen Staat und schreiben was sie diktiert, mit beiden H‰nden, wie Johannes auf Patmos, knieend. Es gab keine Wahl dieser Stimme gegen¸ber, die “das Amt der Engel verrichtete”; die gekommen war, ihn einzuh¸llen und zu entziehen ins Ewige hinein. Da war der Wagen seiner feurigen Himmelfahrt. Da war seinem Tod der dunkle Mythos bereitet, den er leer liefl.

Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine Schwierigkeit beruht im Komplizierten. Das Leben selbst aber ist schwer aus Einfachheit. Es hat nur ein paar Dinge von uns nicht angemessener Grˆfle. Der Heilige, indem er das Schicksal ablehnt, w‰hlt diese, Gott gegen¸ber. Dafl aber die Frau, ihrer Natur nach, in Bezug auf den Mann die gleiche Wahl treffen mufl, ruft das Verh‰ngnis aller Liebesbeziehungen herauf: entschlossen und schicksalslos, wie eine Ewige, steht sie neben ihm, der sich verwandelt. Immer ¸bertrifft die Liebende den Geliebten, weil das Leben grˆfler ist als das Schicksal. Ihre Hingabe will unermefllich sein: dies ist ihr Gl¸ck. Das namenlose Leid ihrer Liebe aber ist immer dieses gewesen: dafl von ihr verlangt wird, diese Hingabe zu beschr‰nken.

Es ist keine andere Klage je von Frauen geklagt worden: die beiden ersten Briefe HeloÔsens enthalten nur sie, und f¸nfhundert Jahre sp‰ter erhebt sie sich aus den Briefen der Portugiesin; man erkennt sie wieder wie einen Vogelruf. Und plˆtzlich geht durch den hellen Raum dieser Einsicht der Sappho fernste Gestalt, die die Jahrhunderte nicht fanden, da sie sie im Schicksal suchten.

Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich bin nicht sicher, dafl er wirklich immer einige Nummern bei sich hat, wenn er sich auflen am Luxembourg-Garten langsam hin und zur¸ck schiebt den ganzen Abend lang. Er kehrt dem Gitter den R¸cken, und seine Hand streift den Steinrand, auf dem die St‰be aufstehen. Er macht sich so flach, dafl t‰glich viele vor¸bergehen, die ihn nie gesehen haben. Zwar hat er noch einen Rest von Stimme in sich und mahnt; aber das ist nicht anders als ein Ger‰usch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es in eigent¸mlichen Abst‰nden in einer Grotte tropft. Und die Welt ist so eingerichtet, dafl es Menschen giebt, die ihr ganzes Leben lang in der Pause vorbeikommen, wenn er, lautloser als alles was sich bewegt, weiter r¸ckt wie ein Zeiger, wie eines Zeigers Schatten, wie die Zeit.

Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich sch‰me mich aufzuschreiben, dafl ich oft in seiner N‰he den Schritt der andern annahm, als w¸flte ich nicht um ihn. Dann hˆrte ich es in ihm “La Presse” sagen und gleich darauf noch einmal und ein drittes Mal in raschen Zwischenr‰umen. Und die Leute neben mir sahen sich um und suchten die Stimme. Nur ich tat eiliger als alle, als w‰re mir nichts aufgefallen, als w‰re ich innen ¸beraus besch‰ftigt.

Und ich war es in der Tat. Ich war besch‰ftigt, ihn mir vorzustellen, ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und der Schweifl trat mir aus vor Anstrengung. Denn ich muflte ihn machen wie man einen Toten macht, f¸r den keine Beweise mehr da sind, keine Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist. Ich weifl jetzt, dafl es mir ein wenig half, an die vielen abgenommenen Christusse aus streifigem Elfenbein zu denken, die bei allen Alth‰ndlern herumliegen. Der Gedanke an irgendeine Piet‡ trat vor und ab–: dies alles wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt, und den trostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten und die endg¸ltig schmerzvolle Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks, der schr‰g aufw‰rts gehalten war. Aber es war auflerdem so vieles, was zu ihm gehˆrte; denn dies begriff ich schon damals, dafl nichts an ihm nebens‰chlich sei: nicht die Art, wie der Rock oder der Mantel, hinten abstehend, ¸berall den Kragen sehen liefl, diesen niedrigen Kragen, der in einem groflen Bogen um den gestreckten, nischigen Hals stand, ohne ihn zu ber¸hren; nicht die gr¸nlich schwarze Krawatte, die weit um das Ganze herumgeschnallt war; und ganz besonders nicht der Hut, ein alter, hochgewˆlbter, steifer Filzhut, den er trug wie alle Blinden ihre H¸te tragen: ohne Bezug zu den Zeilen des Gesichts, ohne die Mˆglichkeit, aus diesem Hinzukommenden und sich selbst eine neue ‰uflere Einheit zu bilden; nicht anders als irgendeinen verabredeten fremden Gegenstand. In meiner Feigheit, nicht hinzusehen, brachte ich es so weit, dafl das Bild dieses Mannes sich schliefllich oft auch ohne Anlafl stark und schmerzhaft in mir zusammenzog zu so hartem Elend, dafl ich mich, davon bedr‰ngt, entschlofl, die zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch die ausw‰rtige Tatsache einzusch¸chtern und aufzuheben. Es war gegen Abend. Ich nahm mir vor, sofort aufmerksam an ihm vorbeizugehen.

Nun mufl man wissen: es ging auf den Fr¸hling zu. Der Tagwind hatte sich gelegt, die Gassen waren lang und befriedigt; an ihrem Ausgang schimmerten H‰user, neu wie frische Bruchstellen eines weiflen Metalls. Aber es war ein Metall, das einen ¸berraschte durch seine Leichtigkeit. In den breiten, fortlaufenden Straflen zogen viele Leute durcheinander, fast ohne die Wagen zu f¸rchten, die selten waren. Es muflte ein Sonntag sein. Die Turmaufs‰tze von Saint-Sulpice zeigten sich heiter und unerwartet hoch in der Windstille, und durch die schmalen, beinah rˆmischen Gassen sah man unwillk¸rlich hinaus in die Jahreszeit. Im Garten und davor war so viel Bewegung von Menschen, dafl ich ihn nicht gleich sah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht zwischen der Menge durch?

Ich wuflte sofort, dafl meine Vorstellung wertlos war. Die durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschr‰nkte Hingegebenheit seines Elends ¸bertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite seiner Lider ihn fortw‰hrend zu erf¸llen schien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die ÷ffnung eines Ablaufs. Mˆglicherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele hinzu als t‰glich das amorphe Gef¸hl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand sich abnutzte. Ich war stehngeblieben, und w‰hrend ich das alles fast gleichzeitig sah, f¸hlte ich, dafl er einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonnt‰gliche Halsbinde; sie war schr‰g in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem gr¸nen Band. Es liegt nat¸rlich nichts an diesen Farben, und es ist kleinlich, dafl ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, dafl sie an ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um) durfte meinen, dieser Staat w‰re um seinetwillen?

Mein Gott, fiel es mir mit Ungest¸m ein, so bist du also. Es giebt Beweise f¸r deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche unge heuere Verpflichtung l‰ge in deiner Gewiflheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Dafl wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gn‰digen? Du allein weiflt es.

Wenn es wieder Winter wird und ich mufl einen neuen Mantel haben,–gieb mir, dafl ich ihn so trage, solang er neu ist.

Es ist nicht, dafl ich mich von ihnen unterscheiden will, wenn ich in besseren, von Anfang an meinigen Kleidern herumgehe und darauf halte, irgendwo zu wohnen. Ich bin nicht so weit. Ich habe nicht das Herz zu ihrem Leben. Wenn mir der Arm einginge, ich glaube, ich versteckte ihn. Sie aber (ich weifl nicht, wer sie sonst war), sie erschien jeden Tag vor den Terrassen der CafÈh‰user, und obwohl es sehr schwer war f¸r sie, den Mantel abzutun und sich aus dem unklaren Zeug und Unterzeug herauszuziehen, sie scheute der M¸he nicht und tat ab und zog aus so lange, dafl mans kaum mehr erwarten konnte. Und dann stand sie vor uns, bescheiden, mit ihrem d¸rren, verk¸mmerten St¸ck, und man sah, dafl es rar war.

Nein, es ist nicht, dafl ich mich von ihnen unterscheiden will; aber ich ¸berh¸be mich, wollte ich ihnen gleich sein. Ich bin es nicht. Ich h‰tte weder ihre St‰rke noch ihr Mafl. Ich ern‰hre mich, und so bin ich von Mahlzeit zu Mahlzeit, vˆllig geheimnislos; sie aber erhalten sich fast wie Ewige. Sie stehen an ihren t‰glichen Ecken, auch im November, und schreien nicht vor Winter. Der Nebel kommt und macht sie undeutlich und ungewifl: sie sind gleichwohl. Ich war verreist, ich war krank, vieles ist mir vergangen: sie aber sind nicht gestorben.

(Ich weifl ja nicht einmal, wie es mˆglich ist, dafl die Schulkinder aufstehn in den Kammern voll grauriechender K‰lte; wer sie best‰rkt, die ¸berst¸rzten Skelettchen, dafl sie hinauslaufen in die erwachsene Stadt, in die tr¸be Neige der Nacht, in den ewigen Schultag, immer noch klein, immer voll Vorgef¸hl, immer versp‰tet. Ich habe keine Vorstellung von der Menge Beistand, die fortw‰hrend verbraucht wird.)

Diese Stadt ist voll von solchen, die langsam zu ihnen hinabgleiten. Die meisten str‰uben sich erst; aber dann giebt es diese verblichenen, alternden M‰dchen, die sich fortw‰hrend ohne Widerstand hin¸berlassen, starke, im Innersten ungebrauchte, die nie geliebt worden sind.

Vielleicht meinst du, mein Gott, dafl ich alles lassen soll und sie lieben. Oder warum wird es mir so schwer, ihnen nicht nachzugehen, wenn sie mich ¸berholen? Warum erfind ich auf einmal die s¸flesten, n‰chtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft in mir zwischen Kehle und Herz. Warum stell ich mir vor, wie ich sie uns‰glich vorsichtig an meinen Atem halten w¸rde, diese Puppen, mit denen das Leben gespielt hat, ihnen Fr¸hling um Fr¸hling f¸r nichts und wieder nichts die Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in den Schultern. Sie sind nie sehr hoch von einer Hoffnung gefallen, so sind sie nicht zerbrochen; aber abgeschlagen sind sie und schon dem Leben zu schlecht. Nur verlorene Katzen kommen abends zu ihnen in die Kammer und zerkratzen sie heimlich und schlafen auf ihnen. Manchmal folge ich einer zwei Gassen weit. Sie gehen an den H‰usern hin, fortw‰hrend kommen Menschen, die sie verdecken, sie schwinden hinter ihnen weiter wie nichts.

Und doch, ich weifl, wenn einer nun versuchte, sie liebzuhaben, so w‰ren sie schwer an ihm wie Zuweitgegangene, die aufhˆren zu gehn. Ich glaube, nur Jesus ertr¸ge sie, der noch das Auferstehen in allen Gliedern hat; aber ihm liegt nichts an ihnen. Nur die Liebenden verf¸hren ihn, nicht die, die warten mit einem kleinen Talent zur Geliebten wie mit einer kalten Lampe.

Ich weifl, wenn ich zum ƒuflersten bestimmt bin, so wird es mir nichts helfen, dafl ich mich verstelle in meinen besseren Kleidern. Glitt er nicht mitten im Kˆnigtum unter die Letzten? Er, der statt aufzusteigen hinabsank bis auf den Grund. Es ist wahr, ich habe zuzeiten an die anderen Kˆnige geglaubt, obwohl die Parke nichts mehr beweisen. Aber es ist Nacht, es ist Winter, ich friere, ich glaube an ihn. Denn die Herrlichkeit ist nur ein Augenblick, und wir haben nie etwas L‰ngeres gesehen als das Elend. Der Kˆnig aber soll dauern.

Ist nicht dieser der Einzige, der sich erhielt unter seinem Wahnsinn wie Wachsblumen unter einem Glassturz? F¸r die anderen beteten sie in den Kirchen um langes Leben, von ihm aber verlangte der Kanzler Jean Charlier Gerson, dafl er ewig sei, und das war damals, als er schon der D¸rftigste war, schlecht und von schierer Armut trotz seiner Krone.

Das war damals, als von Zeit zu Zeit M‰nner fremdlings, mit geschw‰rztem Gesicht, ihn in seinem Bette ¸berfielen, um ihm das in die Schw‰ren hineingefaulte Hemde abzureiflen, das er schon l‰ngst f¸r sich selber hielt. Es war verdunkelt im Zimmer, und sie zerrten unter seinen steifen Armen die m¸rben Fetzen weg, wie sie sie griffen. Dann leuchtete einer vor, und da erst entdeckten sie die j‰sige Wunde auf seiner Brust, in die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es jede Nacht an sich preflte mit aller Kraft seiner Inbrunst; nun stand es tief in ihm, f¸rchterlich kostbar, in einem Perlensaum von Eiter wie ein wundertuender Rest in der Mulde eines Reliqu‰rs. Man hatte harte Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn die W¸rmer, gestˆrt, nach ihnen her¸berstanden aus dem flandrischen Barchent und, aus den Falten abgefallen, sich irgendwo an ihren ƒrmeln aufzogen. Es war ohne Zweifel schlimmer geworden mit ihm seit den Tagen der parva regina; denn sie hatte doch noch bei ihm liegen mˆgen, jung und klar wie sie war. Dann war sie gestorben. Und nun hatte keiner mehr gewagt, eine Beischl‰ferin an dieses Aas anzubetten. Sie hatte die Worte und Z‰rtlichkeiten nicht hinterlassen, mit denen der Kˆnig zu mildern war. So drang niemand mehr durch dieses Geistes Verwilderung; niemand half ihm aus den Schluchten seiner Seele; niemand begriff es, wenn er selbst plˆtzlich heraustrat mit dem runden Blick eines Tiers, das auf die Weide geht. Wenn er dann das besch‰ftigte Gesicht Juvenals erkannte, so fiel ihm das Reich ein, wie es zuletzt gewesen war. Und er wollte nachholen, was er vers‰umt hatte.

Aber es lag an den Ereignissen jener Zeitl‰ufte, dafl sie nicht schonend beizubringen waren. Wo etwas geschah, da geschah es mit seiner ganzen Schwere, und war wie aus einem St¸ck, wenn man es sagte. Oder was war davon abzuziehen, dafl sein Bruder ermordet war, dafl gestern Valentina Visconti, die er immer seine liebe Schwester nannte, vor ihm gekniet hatte, lauter Witwenschwarz weghebend von des entstellten Antlitzes Klage und Anklage? Und heute stand stundenlang ein z‰her, rediger Anwalt da und bewies das Recht des f¸rstlichen Mordgebers, solange bis das Verbrechen durchscheinend wurde und als wollte es licht in den Himmel fahren. Und gerecht sein hiefl, allen recht geben; denn Valentina von OrlÈans starb Kummers, obwohl man ihr Rache versprach. Und was half es, dem burgundischen Herzog zu verzeihen und wieder zu verzeihen; ¸ber den war die finstere Brunst der Verzweiflung gekommen, so dafl er schon seit Wochen tief im Walde von Argilly wohnte in einem Zelt und behauptete, nachts die Hirsche schreien hˆren zu m¸ssen zu seiner Erleichterung.

Wenn man dann das alles bedacht hatte, immer wieder bis ans Ende, kurz wie es war, so begehrte das Volk einen zu sehen, und es sah einen: ratlos. Aber das Volk freute sich des Anblicks; es begriff, dafl dies der Kˆnig sei: dieser Stille, dieser Geduldige, der nur da war, um es zuzulassen, dafl Gott ¸ber ihn weg handelte in seiner sp‰ten Ungeduld. In diesen aufgekl‰rten Augenblicken auf dem Balkon seines HÙtels von Saint-Pol ahnte der Kˆnig vielleicht seinen heimlichen Fortschritt; der Tag von Roosbecke fiel ihm ein, als sein Oheim von Berry ihn an der Hand genommen hatte, um ihn hinzuf¸hren vor seinen ersten fertigen Sieg; da ¸berschaute er in dem merkw¸rdig langhellen Novembertag die Massen der Genter, so wie sie sich erw¸rgt hatten mit ihrer eigenen Enge, da man gegen sie angeritten war von allen Seiten. Ineinandergewunden wie ein unge heueres Gehirn, lagen sie da in den Haufen, zu denen sie sich selber zusammengebunden hatten, um dicht zu sein. Die Luft ging einem weg, wenn man da und dort ihre erstickten Gesichter sah; man konnte es nicht lassen, sich vorzustellen, dafl sie weit ¸ber diesen vor Gedr‰nge noch stehenden Leichen verdr‰ngt worden sei durch den plˆtzlichen Austritt so vieler verzweifelter Seelen.

Dies hatte man ihm eingepr‰gt als den Anfang seines Ruhms. Und er hatte es behalten. Aber, wenn das damals der Triumph des Todes war, so war dieses, dafl er hier stand auf seinen schwachen Knieen, aufrecht in allen diesen Augen: das Mysterium der Liebe. An den anderen hatte er gesehen, dafl man jenes Schlachtfeld begreifen konnte, so ungeheuer es war. Dies hier wollte nicht begriffen sein; es war genau so wunderbar wie einst der Hirsch mit dem goldenen Halsband im Wald von Senlis. Nur dafl er jetzt selber die Erscheinung war, und andere waren versunken in Anschauen. Und er zweifelte nicht, dafl sie atemlos waren und von derselben weiten Erwartung, wie sie einmal ihn an jenem j¸nglinglichen Jagdtag ¸berfiel, als das stille Gesicht, ‰ugend, aus den Zweigen trat. Das Geheimnis seiner Sichtbarkeit verbreitete sich ¸ber seine sanfte Gestalt; er r¸hrte sich nicht, aus Scheu, zu vergehen, das d¸nne L‰cheln auf seinem breiten, einfachen Gesicht nahm eine nat¸rliche Dauer an wie bei steinernen Heiligen und bem¸hte ihn nicht. So hielt er sich hin, und es war einer jener Augenblicke, die die Ewigkeit sind, in Verk¸rzung gesehen. Die Menge ertrug es kaum. Gest‰rkt, von unerschˆpflich vermehrter Trˆstung gespeist, durchbrach sie die Stille mit dem Aufschrei der Freude. Aber oben auf dem Balkon war nur noch Juvenal des Ursins, und er rief in die n‰chste Beruhigung hinein, dafl der Kˆnig rue Saint-Denis kommen w¸rde zu der Passionsbr¸derschaft, die Mysterien sehen.

Zu solchen Tagen war der Kˆnig voll milden Bewufltseins. H‰tte ein Maler jener Zeit einen Anhalt gesucht f¸r das Dasein im Paradiese, er h‰tte kein vollkommeneres Vorbild finden kˆnnen als des Kˆnigs gestillte Figur, wie sie in einem der hohen Fenster des Louvre stand unter dem Sturz ihrer Schultern. Er bl‰tterte in dem kleinen Buch der Christine de Pisan, das “Der Weg des langen Lernens” heiflt und das ihm gewidmet war. Er las nicht die gelehrten Streitreden jenes allegorischen Parlaments, das sich vorgesetzt hatte, den F¸rsten ausfindig zu machen, der w¸rdig sei, ¸ber die Welt zu herrschen. Das Buch schlug sich ihm immer an den einfachsten Stellen auf: wo von dem Herzen die Rede war, das dreizehn Jahre lang wie ein Kolben ¸ber dem Schmerzfeuer nur dazu gedient hatte, das Wasser der Bitternis f¸r die Augen zu destillieren; er begriff, dafl die wahre Konsolation erst begann, wenn das Gl¸ck vergangen genug und f¸r immer vor¸ber war. Nichts war ihm n‰her, als dieser Trost. Und w‰hrend sein Blick scheinbar die Br¸cke dr¸ben umfaflte, liebte er es, durch dieses von der starken Cum‰a zu groflen Wegen ergriffene Herz die Welt zu sehen, die damalige: die gewagten Meere, fremdt¸rmige St‰dte, zugehalten vom Ausdruck der Weiten; der gesammelten Gebirge ekstatische Einsamkeit und die in f¸rchtigem Zweifel erforschten Himmel, die sich erst schlossen wie eines Saugkindes Hirnschale.

Aber wenn jemand eintrat, so erschrak er, und langsam beschlug sich sein Geist. Er gab zu, dafl man ihn vom Fenster fortf¸hrte und ihn besch‰ftigte. Sie hatten ihm die Gewohnheit beigebracht, stundenlang ¸ber Abbildungen zu verweilen, und er war es zufrieden, nur kr‰nkte es ihn, dafl man im Bl‰ttern niemals mehrere Bilder vor sich behielt und dafl sie in den Folianten festsaflen, so dafl man sie nicht untereinander bewegen konnte. Da hatte sich jemand eines Spiels Karten erinnert, das vˆllig in Vergessenheit geraten war, und der Kˆnig nahm den in Gunst, der es ihm brachte; so sehr waren diese Kartons nach seinem Herzen, die bunt waren und einzeln beweglich und voller Figur. Und w‰hrend das Kartenspielen unter den Hofleuten in Mode kam, safl der Kˆnig in seiner Bibliothek und spielte allein. Genau wie er nun zwei Kˆnige nebeneinander aufschlug, so hatte Gott neulich ihn und den Kaiser Wenzel zusammengetan; manchmal starb eine Kˆnigin, dann legte er ein Herz-Afl auf sie, das war wie ein Grabstein. Es wunderte ihn nicht, dafl es in diesem Spiel mehrere P‰pste gab; er richtete Rom ein dr¸ben am Rande des Tisches, und hier, unter seiner Rechten, war Avignon. Rom war ihm gleichg¸ltig, er stellte es sich aus irgendeinem Grunde rund vor und bestand nicht weiter darauf. Aber Avignon kannte er. Und kaum dachte er es, so wiederholte seine Erinnerung den hohen hermetischen Palast und ¸beranstrengte sich. Er schlofl die Augen und muflte tief Atem holen. Er f¸rchtete bˆs zu tr‰umen n‰chste Nacht.

Im ganzen aber war es wirklich eine beruhigende Besch‰ftigung, und sie hatten recht, ihn immer wieder darauf zu bringen. Solche Stunden befestigten ihn in der Ansicht, dafl er der Kˆnig sei, Kˆnig Karl der Sechste. Das will nicht sagen, dafl er sich ¸bertrieb; weit von ihm war die Meinung, mehr zu sein als so ein Blatt, aber die Gewiflheit best‰rkte sich in ihm, dafl auch er eine bestimmte Karte sei, vielleicht eine schlechte, eine zornig ausgespielte, die immer verlor: aber immer die gleiche: aber nie eine andere. Und doch, wenn eine Woche so hingegangen war in gleichm‰fliger Selbstbest‰tigung, so wurde ihm enge in ihm. Die Haut spannte ihn um die Stirn und im Nacken, als empf‰nde er auf einmal seinen zu deutlichen Kontur. Niemand wuflte, welcher Versuchung er nachgab, wenn er dann nach den Mysterien fragte und nicht erwarten konnte, dafl sie beg‰nnen. Und war es einmal so weit, so wohnte er mehr rue Saint-Denis als in seinem Hˆtel von Saint-Pol.

Es war das Verh‰ngnisvolle dieser dargestellten Gedichte, dafl sie sich immerfort erg‰nzten und erweiterten und zu Zehntausenden von Versen anwuchsen, so dafl die Zeit in ihnen schliefllich die wirkliche war; etwa so, als machte man einen Globus im Maflstab der Erde. Die hohle Estrade, unter der die Hˆlle war und ¸ber der, an einen Pfeiler angebaut, das gel‰nderlose Ger¸st eines Balkons das Niveau des Paradieses bedeutete, trug nur noch dazu bei, die T‰uschung zu verringern. Denn dieses Jahr hundert hatte in der Tat Himmel und Hˆlle irdisch gemacht: es lebte aus den Kr‰ften beider, um sich zu ¸berstehen.

Es waren die Tage jener avignonesischen Christenheit, die sich vor einem Menschenalter um Johann den Zweiundzwanzigsten zusammengezogen hatte, mit so viel unwillk¸rlicher Zuflucht, dafl an dem Platze seines Pontifikats, gleich nach ihm, die Masse dieses Palastes entstanden war, verschlossen und schwer wie ein ‰uflerster Notleib f¸r die wohnlose Seele aller. Er selbst aber, der kleine, leichte, geistige Greis, wohnte noch im Offenen. W‰hrend er, kaum angekommen, ohne Aufschub, nach allen Seiten hin rasch und knapp zu handeln begann, standen die Sch¸sseln mit Gift gew¸rzt auf seiner Tafel; der erste Becher muflte immer weggesch¸ttet werden, denn das St¸ck Einhorn war miflfarbig, wenn es der Mundk‰mmerer daraus zur¸ckzog. Ratlos, nicht wissend, wo er sie verbergen sollte, trug der Siebzigj‰hrige die Wachsbildnisse herum, die man von ihm gemacht hatte, um ihn darin zu verderben; und er ritzte sich an den langen Nadeln, mit denen sie durchstochen waren. Man konnte sie einschmelzen. Doch so hatte er sich schon an diesen heimlichen Simulakern entsetzt, dafl er, gegen seinen starken Willen, mehrmals den Gedanken formte, er kˆnnte sich selbst damit tˆdlich sein und hinschwinden wie das Wachs am Feuer. Sein verminderter Kˆrper wurde nur noch trockener vom Grausen und dauerhafter. Aber nun wagte man sich an den Kˆrper seines Reichs; von Granada aus waren die Juden angestiftet worden, alle Christlichen zu vertilgen, und diesmal hatten sie sich furchtbarere Vollzieher erkauft. Niemand zweifelte, gleich auf die ersten Ger¸chte hin, an dem Anschlag der Leprosen; schon hatten einzelne gesehen, wie sie B¸ndel ihrer schrecklichen Zersetzung in die Brunnen warfen. Es war nicht Leichtgl‰ubigkeit, dafl man dies sofort f¸r mˆglich hielt; der Glaube, im Gegenteil, war so schwer geworden, dafl er den Zitternden entsank und bis auf den Grund der Brunnen fiel. Und wieder hatte der eifrige Greis Gift abzuhalten vom Blute. Zur Zeit seiner abergl‰ubischen Anwandlungen hatte er sich und seiner Umgebung das Angelus verschrieben gegen die D‰monen der D‰mmerung; und nun l‰utete man auf der ganzen erregten Welt jeden Abend dieses kalmierende Gebet. Sonst aber glichen alle Bullen und Briefe, die von ihm ausgingen, mehr einem Gew¸rzwein als einer Tisane. Das Kaisertum hatte sich nicht in seine Behandlung gestellt, aber er erm¸dete nicht, es mit Beweisen seines Krankseins zu ¸berh‰ufen; und schon wandte man sich aus dem fernsten Osten an diesen herrischen Arzt.

Aber da geschah das Unglaubliche. Am Allerheiligentag hatte er gepredigt, l‰nger, w‰rmer als sonst; in einem plˆtzlichen Bed¸rfnis, wie um ihn selbst wiederzusehen, hatte er seinen Glauben gezeigt; aus dem f¸nfundachtzigj‰hrigen Tabernakel hatte er ihn mit aller Kraft langsam herausgehoben und auf der Kanzel ausgestellt: und da schrieen sie ihn an. Ganz Europa schrie: dieser Glaube war schlecht.

Damals verschwand der Papst. Tagelang ging keine Aktion von ihm aus, er lag in seinem Betzimmer auf den Knieen und erforschte das Geheimnis der Handelnden, die Schaden nehmen an ihrer Seele. Endlich erschien er, erschˆpft von der schweren Einkehr, und widerrief. Er widerrief einmal ¸ber das andere. Es wurde die senile Leidenschaft seines Geistes, zu widerrufen. Es konnte geschehen, dafl er nachts die Kardin‰le wecken liefl, um mit ihnen von seiner Reue zu reden. Und vielleicht war das, was sein Leben ¸ber die Maflen hinhielt, schliefllich nur die Hoffnung, sich auch noch vor Napoleon Orsini zu dem¸tigen, der ihn haflte und der nicht kommen wollte.

Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man kˆnnte meinen, Gott selber h‰tte seine Irrung erweisen wollen, da er so bald hernach jenen Sohn des Grafen von Ligny aufkommen liefl, der seine M¸ndigkeit auf Erden nur abzuwarten schien, um des Himmels seelische Sinnlichkeiten mannbar anzutreten. Es lebten viele, die sich dieses klaren Knaben in seinem Kardinalat erinnerten, und wie er am Eingang seiner J¸nglingschaft Bischof geworden und mit kaum achtzehn Jahren in einer Ekstase seiner Vollendung gestorben war. Man begegnete Totgewesenen: denn die Luft an seinem Grabe, in der, frei geworden, pures Leben lag, wirkte lange noch auf die Leichname. Aber war nicht etwas Verzweifeltes selbst in dieser fr¸hreifen Heiligkeit? War es nicht ein Unrecht an allen, dafl das reine Gewebe dieser Seele nur eben durchgezogen worden war, als handelte es sich nur darum, es in der garen Scharlachk¸pe der Zeit leuchtend zu f‰rben? Empfand man nicht etwas wie einen Gegenstofl, da dieser junge Prinz von der Erde absprang in seine leidenschaftliche Himmelfahrt? Warum verweilten die Leuchtenden nicht unter den m¸hsamen Lichtziehern? War es nicht diese Finsternis, die Johann den Zweiundzwanzigsten dahin gebracht hatte, zu behaupten, dafl es vor dem j¸ngsten Gericht keine ganze Seligkeit g‰be, nirgends, auch unter den Seligen nicht? Und in der Tat, wieviel rechthaberische Verbissenheit gehˆrte dazu, sich vorzustellen, dafl, w‰hrend hier so dichte Wirrsal geschah, irgendwo Gesichter schon im Scheine Gottes lagen, an Engel zur¸ckgelehnt und gestillt durch die unausschˆpfliche Aussicht auf ihn.

Da sitze ich in der kalten Nacht und schreibe und weifl das alles. Ich weifl es vielleicht, weil mir jener Mann begegnet ist, damals als ich klein war. Er war sehr grofl, ich glaube sogar, dafl er auffallen muflte durch seine Grˆfle.

So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie gelungen, gegen Abend allein aus dem Haus zu kommen; ich lief, ich bog um eine Ecke, und in demselben Augenblick stiefl ich gegen ihn. Ich begreife nicht, wie das, was jetzt geschah, sich in etwa f¸nf Sekunden abspielen konnte. So dicht man es auch erz‰hlt, es dauert viel l‰nger. Ich hatte mir weh getan im Anlauf an ihn; ich war klein, es schien mir schon viel, dafl ich nicht weinte, auch erwartete ich unwillk¸rlich, getrˆstet zu sein. Da er das nicht tat, hielt ich ihn f¸r verlegen; es fiel ihm, vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein, in dem diese Sache aufzulˆsen war. Ich war schon vergn¸gt genug, ihm dabei zu helfen, aber dazu war es nˆtig, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt, dafl er grofl war. Nun hatte er sich nicht, wie es doch nat¸rlich gewesen w‰re, ¸ber mich gebeugt, so dafl er sich in einer Hˆhe befand, auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch war vor mir nichts als der Geruch und die eigent¸mliche H‰rte seines Anzugs, die ich gef¸hlt hatte. Plˆtzlich kam sein Gesicht. Wie es war? Ich weifl es nicht, ich will es nicht wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und neben diesem Gesicht, dicht nebenan, in der Hˆhe der schrecklichen Augen, stand, wie ein zweiter Kopf, seine Faust. Ehe ich noch Zeit hatte, mein Gesicht wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm vorbei und lief geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die Gasse einer fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts vergeben wird.

Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive, verzweifelte Zeit. Die Zeit, in der der Kufl zweier, die sich versˆhnten, nur das Zeichen f¸r die Mˆrder war, die herumstanden. Sie tranken aus demselben Becher, sie bestiegen vor aller Augen das gleiche Reitpferd, und es wurde verbreitet, dafl sie die Nacht in einem Bette schlafen w¸rden: und ¸ber allen diesen Ber¸hrungen wurde ihr Widerwillen aneinander so dringend, dafl, sooft einer die schlagenden Adern des andern sah, ein krankhafter Ekel ihn b‰umte, wie beim Anblick einer Krˆte. Die Zeit, in der ein Bruder den Bruder um dessen grˆfleren Erbteils willen ¸berfiel und gefangenhielt; zwar trat der Kˆnig f¸r den Miflhandelten ein und erreichte ihm Freiheit und Eigentum; in anderen, fernen Schicksalen besch‰ftigt, gestand ihm der ƒltere Ruhe zu und bereute in Briefen sein Unrecht. Aber ¸ber alledem kam der Befreite nicht mehr zur Fassung. Das Jahrhundert zeigt ihn im Pilgerkleid von Kirche zu Kirche ziehen, immer wunderlichere Gel¸bde erfindend. Mit Amuletten behangen, fl¸stert er den Mˆnchen von Saint-Denis seine Bef¸rchtungen zu, und in ihren Registern stand lange die hundertpf¸ndige Wachskerze verzeichnet, die er f¸r gut hielt, dem heiligen Ludwig zu weihen. Zu seinem eigenen Leben kam es nicht; bis an sein Ende f¸hlte er seines Bruders Neid und Zorn in verzerrter Konstellation ¸ber seinem Herzen. Und jener Graf von Foix, Gaston Phˆbus, der in aller Bewunderung war, hatte er nicht seinen Vetter Ernault, des englischen Kˆnigs Hauptmann zu Lourdes, offen getˆtet? Und was war dieser deutliche Mord gegen den grauenvollen Zufall, dafl er das kleine scharfe Nagelmesser nicht fortgelegt hatte, als er mit seiner ber¸hmt schˆnen Hand in zuckendem Vorwurf den bloflen Hals seines liegenden Sohnes streifte? Die Stube war dunkel, man muflte leuchten, um das Blut zu sehen, das so weit herkam und nun f¸r immer ein kˆstliches Geschlecht verliefl, da es heimlich aus der winzigen Wunde dieses erschˆpften Knaben austrat.

Wer konnte stark sein und sich des Mordes enthalten? Wer in dieser Zeit wuflte nicht, dafl das ƒuflerste unvermeidlich war? Da und dort ¸ber einen, dessen Blick untertags dem kostenden Blick seines Mˆrders begegnet war, kam ein seltsames Vorgef¸hl. Er zog sich zur¸ck, er schlofl sich ein, er schrieb das Ende seines Willens und verordnete zum Schlufl die Trage aus Weidengeflecht, die Cˆlestinerkutte und Aschenstreu. Fremde Minstrel erschienen vor seinem Schlofl, und er beschenkte sie f¸rstlich f¸r ihre Stimme, die mit seinen vagen Ahnungen einig war. Im Aufblick der Hunde war Zweifel, und sie wurden weniger sicher in ihrer Aufwartung. Aus der Devise, die das ganze Leben lang gegolten hatte, trat leise ein neuer, offener Nebensinn. Manche lange Gewohnheit kam einem veraltet vor, aber es war, als bildete sich kein Ersatz mehr fur sie. Stellten sich Pl‰ne ein, so ging man im groflen mit ihnen um, ohne wirklich an sie zu glauben; dagegen griffen gewisse Erinnerungen zu einer unerwarteten Endg¸ltigkeit. Abends, am Feuerplatz, meinte man sich ihnen zu ¸berlassen. Aber die Nacht drauflen, die man nicht mehr kannte, wurde auf einmal ganz stark im Gehˆr. Das an so vielen freien oder gef‰hrlichen N‰chten erfahrene Ohr unterschied einzelne St¸cke der Stille. Und doch war es anders diesmal. Nicht die Nacht zwischen gestern und heute: eine Nacht. Nacht. Beau Sire Dieu, und dann die Auferstehung. Kaum dafl in solche Stunden die Ber¸hmung um eine Geliebte hineinreichte: sie waren alle verstellt in Tagliedern und Diengedichten; unbegreiflich geworden unter langen nachschleppenden Prunknamen. Hˆchstens, im Dunkel, wie das volle, frauige Aufschaun eines Bastardsohns.

Und dann, vor dem sp‰ten Nachtessen diese Nachdenklichkeit ¸ber die H‰nde in dem silbernen Waschbecken. Die eigenen H‰nde. Ob ein Zusammenhang in das Ihre zu bringen war? Eine Folge, eine Fortsetzung im Greifen und Lassen? Nein. Alle versuchten das Teil und das Gegenteil. Alle hoben sich auf, Handlung war keine.

Es gab keine Handlung, aufler bei den Missionsbr¸dern. Der Kˆnig, so wie er sie hatte sich geb‰rden sehn, erfand selbst den Freibrief f¸r sie. Er redete sie seine lieben Br¸der an; nie war ihm jemand so nahegegangen. Es wurde ihnen wˆrtlich bewilligt, in ihrer Bedeutung unter den Zeitlichen herumzugehen; denn der Kˆnig w¸nschte nichts mehr, als dafl sie viele anstecken sollten und hineinreiflen in ihre starke Aktion, in der Ordnung war. Was ihn selbst betrifft, so sehnte er sich, von ihnen zu lernen. Trug er nicht, ganz wie sie, die Zeichen und Kleider eines Sinnes an sich? Wenn er ihnen zusah, so konnte er glauben, dies m¸flte sich erlernen lassen: zu kommen und zu gehen, auszusagen und sich abzubiegen, so dafl kein Zweifel war. Ungeheuere Hoffnungen ¸berzogen sein Herz. In diesem unruhig beleuchteten, merkw¸rdig unbestimmten Saal des Dreifaltigkeitshospitals safl er t‰glich an seinem besten Platz und stand auf vor Erregung und nahm sich zusammen wie ein Sch¸ler. Andere weinten; er aber war innen voll gl‰nzender Tr‰nen und preflte nur die kalten H‰nde ineinander, um es zu ertragen. Manchmal im ƒuflersten, wenn ein abgesprochener Spieler plˆtzlich wegtrat aus seinem groflen Blick, hob er das Gesicht und erschrak: seit wie lange schon war Er da: Monseigneur Sankt MichaÎl, oben, vorgetreten an den Rand des Ger¸sts in seiner spiegelnden silbernen R¸stung.

In solchen Momenten richtete er sich auf. Er sah um sich wie vor einer Entscheidung. Er war ganz nahe daran, das Gegenst¸ck zu dieser Handlung hier einzusehen: die grofle, bange, profane Passion, in der er spielte. Aber auf einmal war es vorbei. Alle bewegten sich ohne Sinn. Offene Fackeln kamen auf ihn zu, und in die Wˆlbung hinauf warfen sich formlose Schatten. Menschen, die er nicht kannte, zerrten an ihm. Er wollte spielen: aber aus seinem Mund kam nichts, seine Bewegungen ergaben keine Geb‰rde. Sie dr‰ngten sich so eigent¸mlich um ihn, es kam ihm die Idee, dafl er das Kreuz tragen sollte. Und er wollte warten, dafl sie es br‰chten. Aber sie waren st‰rker, und sie schoben ihn langsam hinaus.

Aussen ist vieles anders geworden. Ich weifl nicht wie. Aber innen und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne Handlung? Wir entdecken wohl, dafl wir die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir mˆchten abschminken und das Falsche abnehmen und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein St¸ck Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur ‹bertreibung bleibt in unseren Augenbrauen, wir merken nicht, dafl unsere Mundwinkel verbogen sind. Und so gehen wir herum, ein Gespˆtt und eine H‰lfte: weder Seiende, noch Schauspieler.

Das war im Theater zu Orange. Ohne recht aufzusehen, nur im Bewufltsein des rustiken Bruchs, der jetzt seine Fassade ausmacht, war ich durch die kleine Glast¸r des W‰chters eingetreten. Ich befand mich zwischen liegenden S‰ulenkˆrpern und kleinen Althaeab‰umen, aber sie verdeckten mir nur einen Augenblick die offene Muschel des Zuschauerhangs, die dalag, geteilt von den Schatten des Nachmittags, wie eine riesige konkave Sonnenuhr. Ich ging rasch auf sie zu. Ich f¸hlte, zwischen den Sitzreihen aufsteigend, wie ich abnahm in dieser Umgebung. Oben, etwas hˆher, standen, schlecht verteilt, ein paar Fremde herum in m¸fliger Neugier; ihre Anz¸ge waren unangenehm deutlich, aber ihr Maflstab war nicht der Rede wert. Eine Weile faflten sie mich ins Auge und wunderten sich ¸ber meine Kleinheit. Das machte, dafl ich mich umdrehte.

Oh, ich war vˆllig unvorbereitet. Es wurde gespielt. Ein immenses, ein ¸bermenschliches Drama war im Gange, das Drama dieser gewaltigen Szenenwand, deren senkrechte Gliederung dreifach auftrat, drˆhnend vor Grˆfle, fast vernichtend und plˆtzlich maflvoll im ‹bermafl.

Ich liefl mich hin vor gl¸cklicher Best¸rzung. Dieses Ragende da mit der antlitzhaften Ordnung seiner Schatten, mit dem gesammelten Dunkel im Mund seiner Mitte, begrenzt, oben, von des Kranzgesimses gleichlockiger Haartracht: dies war die starke, alles verstellende antikische Maske, hinter der die Welt zum Gesicht zusammenschofl. Hier, in diesem groflen, eingebogenen Sitzkreis herrschte ein wartendes, leeres, saugendes Dasein: alles Geschehen war dr¸ben: Gˆtter und Schicksal. Und von dr¸ben kam (wenn man hoch aufsah) leicht, ¸ber den Wandgrat: der ewige Einzug der Himmel.

Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schlofl mich f¸r immer aus von unseren Theatern. Was soll ich dort? Was soll ich vor einer Szene, in der diese Wand (die Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen wurde, weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre H‰rte die Handlung durchzupressen, die gasfˆrmige, die in vollen schweren ÷ltropfen austritt. Nun fallen die St¸cke in Brocken durch das lochige Grobsieb der B¸hnen und h‰ufen sich an und werden wegger‰umt, wenn es genug ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den Straflen liegt und in den H‰usern, nur dafl mehr davon dort zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht.

(Laflt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir einen Gott haben: dazu gehˆrt Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einf‰lle und Bef¸rchtungen, und er l‰flt den andern so viel davon sehen, als ihm n¸tzt und paflt. Wir verd¸nnen fortw‰hrend unser Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der Wand einer gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu sammeln und anzuspannen.)

H‰tten wir ein Theater, st¸ndest du dann, du Tragische immer wieder so schmal, so bar, so ohne Gestaltvorwand vor denen, die an deinem ausgestellten Schmerz ihre eilige Neugier vergn¸gen? Du sahst, uns‰glich R¸hrende, das Wirklichsein deines Leidens voraus, in Verona damals, als du, fast noch ein Kind, theaterspielend, lauter Rosen vor dich hieltst wie eine maskige Vorderansicht, die dich gesteigert verbergen sollte.

Es ist wahr, du warst ein Schauspielerkind, und wenn die Deinen spielten, so wollten sie gesehen sein; aber du schlugst aus der Art. Dir sollte dieser Beruf werden, was f¸r Marianna Alcoforado, ohne dafl sie es ahnte, die Nonnenschaft war, eine Verkleidung, dicht und dauernd genug, um hinter ihr r¸ckhaltlos elend zu sein, mit der Inst‰ndigkeit, mit der unsichtbare Selige selig sind. In allen St‰dten, wohin du kamst, beschrieben sie deine Geb‰rde; aber sie begriffen nicht, wie du, aussichtsloser von Tag zu Tag, immer wieder eine Dichtung vor dich hobst, ob sie dich berge. Du hieltest dein Haar, deine H‰nde, irgendein dichtes Ding vor die durchscheinenden Stellen. Du hauchtest die an, die durchsichtig waren; du machtest dich klein; du verstecktest dich, wie Kinder sich verstecken, und dann hattest du jenen kurzen, gl¸cklichen Auflaut, und hˆchstens ein Engel h‰tte dich suchen d¸rfen. Aber, schautest du dann vorsichtig auf, so war kein Zweifel, dafl sie dich die ganze Zeit gesehen hatten, alle in dem h‰fllichen, hohlen, ‰ugigen Raum: dich, dich, dich und nichts anderes.

Und es kam dich an, ihnen den Arm verk¸rzt entgegenzustrecken mit dem Fingerzeichen gegen den bˆsen Blick. Es kam dich an, ihnen dein Gesicht zu entreiflen, an dem sie zehrten. Es kam dich an, du selber zu sein. Deinen Mitspielern fiel der Mut; als h‰tte man sie mit einem Pantherweibchen zusammengesperrt, krochen sie an den Kulissen entlang und sprachen was f‰llig war, nur um dich nicht zu reizen. Da aber zogst sie hervor und stelltest sie hin und gingst mit ihnen um wie mit Wirklichen. Die schlappen T¸ren, die hinget‰uschten Vorh‰nge, die Gegenst‰nde ohne Hinterseite dr‰ngten dich zum Widerspruch. Du f¸hltest, wie dein Herz sich unaufhaltsam steigerte zu einer immensen Wirklichkeit und, erschrocken, versuchtest du noch einmal die Blicke von dir abzunehmen wie lange F‰den Altweibersommers–: Aber da brachen sie schon in Beifall aus in ihrer Angst vor dem ƒuflersten: wie um im letzten Moment etwas von sich abzuwenden, was sie zwingen w¸rde, ihr Leben zu ‰ndern.

Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, dafl sie sich ¸berst¸nden und Liebende w¸rden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit. Niemand verd‰chtigt sie mehr, und sie selbst sind nicht imstande, sich zu verraten. In ihnen ist das Geheimnis heil geworden, sie schreien es im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine Teile. Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist die Klage um einen Ewigen. Sie st¸rzen sich dem Verlorenen nach, aber schon mit den ersten Schritten ¸berholen sie ihn, und vor ihnen ist nur noch Gott. Ihre Legende ist die der Byblis, die den Kaunos verfolgt bis nach Lykien hin. Ihres Herzens Andrang jagte sie durch die L‰nder auf seiner Spur, und schliefllich war sie am Ende der Kraft; aber so stark war ihres Wesens Bewegtheit, dafl sie, hinsinkend, jenseits vom Tod als Quelle wiedererschien, eilend, als eilende Quelle.

Was ist anderes der Portugiesin geschehen: als dafl sie innen zur Quelle ward? Was dir, HeloÔse? Was euch, Liebenden, deren Klagen auf uns gekommen sind: Gaspara Stampa; Gr‰fin von Die und Clara d’Anduze; Louise LabbÈ, Marceline Desbordes, Elisa Mercúur? Aber du, arme fl¸chtige AÔssÈ, du zˆgertest schon und gabst nach. M¸de Julie Lespinasse. Trostlose Sage des gl¸cklichen Parks: Marie-Anne de Clermont.

Ich weifl noch genau, einmal, vorzeiten, zuhaus, fand ich ein Schmucketui; es war zwei H‰nde grofl, f‰cherfˆrmig mit einem eingepreflten Blumenrand im dunkelgr¸nen Saffian. Ich schlug es auf: es war leer. Das kann ich nun sagen nach so langer Zeit. Aber damals, da ich es geˆffnet hatte, sah ich nur, woraus diese Leere bestand: aus Samt, aus einem kleinen H¸gel lichten, nicht mehr frischen Samtes; aus der Schmuckrille, die, um eine Spur Wehmut heller, leer, darin verlief. Einen Augenblick war das auszuhalten. Aber vor denen, die als Geliebte zur¸ckbleiben, ist es vielleicht immer so.

Bl‰ttert zur¸ck in euren Tageb¸chern. War da nicht immer um die Fr¸hlinge eine Zeit, da das ausbrechende Jahr euch wie ein Vorwurf betraf? Es war Lust zum Frohsein in euch, und doch, wenn ihr hinaustratet in das ger‰umige Freie, so entstand drauflen eine Befremdung in der Luft, und ihr wurdet unsicher im Weitergehen wie auf einem Schiffe. Der Garten fing an; ihr aber (das war es), ihr schlepptet Winter herein und voriges Jahr; f¸r euch war es bestenfalls eine Fortsetzung. W‰hrend ihr wartetet, dafl eure Seele teiln‰hme, empfandet ihr plˆtzlich eurer Glieder Gewicht, und etwas wie die Mˆglichkeit, krank zu werden, drang in euer offenes Vorgef¸hl. Ihr schobt es auf euer zu leichtes Kleid, ihr spanntet den Schal um die Schultern, ihr lieft die Allee bis zum Schlufl: und dann standet ihr, herzklopfend, in dem weiten Rondell, entschlossen mit alledem einig zu sein. Aber ein Vogel klang und war allein und verleugnete euch. Ach, h‰ttet ihr m¸ssen gestorben sein?

Vielleicht. Vielleicht ist das neu, dafl wir das ¸berstehen: das Jahr und die Liebe. Bl¸ten und Fr¸chte sind reif, wenn sie fallen; die Tiere f¸hlen sich und finden sich zueinander und sind es zufrieden. Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir kˆnnen nicht fertig werden. Wir r¸cken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: lafl uns die Nacht ¸berstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.

Dafl ClÈmence de Bourges hat sterben m¸ssen in ihrem Aufgang. Sie, die ohne gleichen war; unter den Instrumenten, die sie wie keine zu spielen verstand, das schˆnste, selber im mindesten Klang ihrer Stimme unvergefllich gespielt. Ihr M‰dchentum war von so hoher Entschlossenheit, dafl eine flutende Liebende diesem aufkommenden Herzen das Buch Sonette zueignen konnte, darin jeder Vers ungestillt war. Louise LabbÈ f¸rchtete nicht, dieses Kind zu erschrecken mit der Leidensl‰nge der Liebe. Sie zeigte ihr das n‰chtliche Steigen der Sehnsucht; sie versprach ihr den Schmerz wie einen grˆfleren Weltraum; und sie ahnte, dafl sie mit ihrem erfahrenen Weh hinter dem dunkel erwarteten zur¸ckblieb, von dem diese J¸nglingin schˆn war.

M‰dchen in meiner Heimat. Dafl die schˆnste von euch im Sommer an einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch f‰nde, das Jan des Tournes 1556 gedruckt hat. Dafl sie den k¸hlenden, glatten Band mitn‰hme hinaus in den summenden Obstgarten oder hin¸ber zum Phlox, in dessen ¸bers¸fltem Duft ein Bodensatz schierer S¸fligkeit steht. Dafl sie es fr¸h f‰nde. In den Tagen, da ihre Augen anfangen, auf sich zu halten, w‰hrend der j¸ngere Mund noch imstande ist, viel zu grofle St¸cke von einem Apfel abzubeiflen und voll zu sein.

Und wenn dann die Zeit der bewegteren Freundschaften kommt, M‰dchen, dafl es euer Geheimnis w‰re, einander Dika zu rufen und Anaktoria, Gyrinno und Atthis. Dafl einer, ein Nachbar vielleicht, ein ‰lterer Mann, der in seiner Jugend gereist ist und l‰ngst als Sonderling gilt, euch diese Namen verriete. Dafl er euch manchmal zu sich einl¸de, um seiner ber¸hmten Pfirsiche willen oder wegen der Ridingerstiche zur Equitation oben im weiflen Gang, von denen so viel gesprochen wird, dafl man sie m¸flte gesehen haben.

Vielleicht ¸berredet ihr ihn zu erz‰hlen. Vielleicht ist die unter euch, die ihn erbitten kann, die alten Reisetageb¸cher hervorzuholen, wer kann es wissen? Dieselbe, die es ihm eines Tags zu entlocken versteht, dafl einzelne Gedichtstellen der Sappho auf uns gekommen sind, und die nicht ruht bis sie weifl, was fast ein Geheimnis ist: dafl dieser zur¸ckgezogene Mann es liebte, zuzeiten seine Mufle an die ‹bertragung dieser Versst¸cke zu wenden. Er mufl zugeben, dafl er lange nicht mehr daran gedacht hat, und was da ist, versichert er, sei nicht der Rede wert. Aber nun freut es ihn doch, vor diesen arglosen Freundinnen, wenn sie sehr dr‰ngen, eine Strophe zu sagen. Er entdeckt sogar den griechischen Wortlaut in seinem Ged‰chtnis, er spricht ihn vor, weil die ‹bersetzung nichts giebt, seiner Meinung nach, und um dieser Jugend den schˆnen, echten Bruch der massiven Schmucksprache zu zeigen, die in so starken Flammen gebogen ward.

‹ber dem allen erw‰rmt er sich wieder f¸r seine Arbeit. Es kommen schˆne, fast jugendliche Abende f¸r ihn, Herbstabende zum Beispiel, die sehr viel stille Nacht vor sich haben. In seinem Kabinett ist dann lange Licht. Er bleibt nicht immer ¸ber die Bl‰tter gebeugt, er lehnt sich oft zur¸ck, er schlieflt die Augen ¸ber einer wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut. Nie war er der Antike so gewifl. Fast mˆchte er der Generationen l‰cheln, die sie beweint haben wie ein verlorenes Schauspiel, in dem sie gerne aufgetreten w‰ren. Nun begreift er momentan die dynamische Bedeutung jener fr¸hen Welteinheit, die etwas wie ein neues, gleichzeitiges Aufnehmen aller menschlichen Arbeit war. Es beirrt ihn nicht, dafl jene konsequente Kultur mit ihren gewissermaflen vollz‰hligen Versichtbarungen f¸r viele sp‰tere Blicke ein Ganzes zu bilden schien und ein im Ganzen Vergangenes. Zwar ward dort wirklich des Lebens himmlische H‰lfte an die halbrunde Schale des Daseins gepaflt, wie zwei volle Hemisph‰ren zu einer heilen, goldenen Kugel zusammengehen. Doch dies war kaum geschehen, so empfanden die in ihr eingeschlossenen Geister diese restlose Verwirklichung nur noch als Gleichnis; das massive Gestirn verlor an Gewicht und stieg auf in den Raum, und in seiner goldenen Rundung spiegelte sich zur¸ckhaltend die Traurigkeit dessen, was noch nicht zu bew‰ltigen war.

Wie er dies denkt, der Einsame in seiner Nacht, denkt und einsieht, bemerkt er einen Teller mit Fr¸chten auf der Fensterbank. Unwillk¸rlich greift er einen Apfel heraus und legt ihn vor sich auf den Tisch. Wie steht mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich.

Und da, ¸ber dem Ungetanen, ersteht ihm, fast zu schnell, die kleine, ins Unendliche hinaus gespannte Gestalt, die (nach Galiens Zeugnis) alle meinten, wenn sie sagten: die Dichterin. Denn wie hinter den Werken des Herakles Abbruch und Umbau der Welt verlangend aufstand, so dr‰ngten sich, gelebt zu werden, aus den Vorr‰ten des Seins an die Taten ihres Herzens die Seligkeiten und Verzweiflungen heran, mit denen die Zeiten auskommen m¸ssen.

Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das bereit war, die ganze Liebe zu leisten bis ans Ende. Es wundert ihn nicht, dafl man es verkannte; dafl man in dieser ¸beraus k¸nftigen Liebenden nur das ‹bermafl sah, nicht die neue Mafleinheit von Liebe und Herzleid. Dafl man die Inschrift ihres Daseins auslegte wie sie damals gerade glaubhaft war, dafl man ihr endlich den Tod derjenigen zuschrieb, die der Gott einzeln anreizt, aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung. Vielleicht waren selbst unter den von ihr gebildeten Freundinnen solche, die es nicht begriffen: dafl sie auf der Hˆhe ihres Handelns nicht um einen klagte, der ihre Umarmung offen liefl, sondern um den nicht mehr Mˆglichen, der ihrer Liebe gewachsen war.

Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster, sein hohes Zimmer ist ihm zu nah, er mˆchte Sterne sehen, wenn es mˆglich ist. Er t‰uscht sich nicht ¸ber sich selbst. Er weifl, dafl diese Bewegung ihn erf¸llt, weil unter den jungen M‰dchen aus der Nachbarschaft die eine ist, die ihn angeht. Er hat W¸nsche (nicht f¸r sich, nein, aber f¸r sie); f¸r sie versteht er in einer n‰chtlichen Stunde, die vor¸bergeht, den Anspruch der Liebe. Er verspricht sich, ihr nichts davon zu sagen. Es scheint ihm das ƒuflerste, allein zu sein und wach und um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht jene Liebende war: wenn sie wuflte, dafl mit der Vereinigung nichts gemeint sein kann, als ein Zuwachs an Einsamkeit; wenn sie den zeitlichen Zweck des Geschlechtes durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im Dunkel der Umarmungen nicht nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht. Wenn sie es verachtete, dafl von Zweien einer der Liebende sei und einer Geliebter, und die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager trug, an sich zu Liebenden gl¸hte, die sie verlieflen. An solchen hohen Abschieden wurde ihr Herz zur Natur. ‹ber dem Schicksal sang sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied; erhˆhte ihnen die Hochzeit; ¸bertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammenn‰hmen f¸r ihn wie f¸r einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit ¸berst¸nden.

Einmal noch, Abelone, in den letzten Jahren f¸hlte ich und sah dich ein, unerwartet, nachdem ich lange nicht an dich gedacht hatte.

Das war in Venedig, im Herbst, in einem jener Salons, in denen Fremde sich vor¸bergehend um die Dame des Hauses versammeln, die fremd ist wie sie. Diese Leute stehen herum mit ihrer Tasse Tee und sind entz¸ckt, sooft ein kundiger Nachbar sie kurz und verkappt nach der T¸r dreht, um ihnen einen Namen zuzufl¸stern, der venezianisch klingt. Sie sind auf die ‰uflersten Namen gefaflt, nichts kann sie ¸berraschen; denn so sparsam sie sonst auch im Erleben sein mˆgen, in dieser Stadt geben sie sich nonchalant den ¸bertriebensten Mˆglichkeiten hin. In ihrem gewˆhnlichen Dasein verwechseln sie best‰ndig das Auflerordentliche mit dem Verbotenen, so dafl die Erwartung des Wunderbaren, die sie sich nun gestatten, als ein grober, ausschweifender Ausdruck in ihre Gesichter tritt. Was ihnen zu Hause nur momentan in Konzerten passiert oder wenn sie mit einem Roman allein sind, das tragen sie unter diesen schmeichelnden Verh‰ltnissen als berechtigten Zustand zur Schau. Wie sie, ganz unvorbereitet, keine Gefahr begreifend, von den fast tˆdlichen Gest‰ndnissen der Musik sich anreizen lassen wie von kˆrperlichen Indiskretionen, so ¸berliefern sie sich, ohne die Existenz Venedigs im geringsten zu bew‰ltigen, der lohnenden Ohnmacht der Gondeln. Nicht mehr neue Eheleute, die w‰hrend der ganzen Reise nur geh‰ssige Repliken f¸r einander hatten, versinken in schweigsame Vertr‰glichkeit; ¸ber den Mann kommt die angenehme M¸digkeit seiner Ideale, w‰hrend sie sich jung f¸hlt und den tr‰gen Einheimischen aufmunternd zunickt mit einem L‰cheln, als h‰tte sie Z‰hne aus Zucker, die sich best‰ndig auflˆsen. Und hˆrt man hin, so ergiebt es sich, dafl sie morgen reisen oder ¸bermorgen oder Ende der Woche.

Da stand ich nun zwischen ihnen und freute mich, dafl ich nicht reiste. In kurzem w¸rde es kalt sein. Das weiche, opiatische Venedig ihrer Vorurteile und Bed¸rfnisse verschwindet mit diesen somnolenten Ausl‰ndern, und eines Morgens ist das andere da, das wirkliche, wache, bis zum Zerspringen sprˆde, durchaus nicht ertr‰umte: das mitten im Nichts auf versenkten W‰ldern gewollte, erzwungene und endlich so durch und durch vorhandene Venedig. Der abgeh‰rtete, auf das Nˆtigste beschr‰nkte Kˆrper, durch den das nachtwache Arsenal das Blut seiner Arbeit trieb, und dieses Kˆrpers penetranter, sich fortw‰hrend erweiternder Geist, der st‰rker war als der Duft aromatischer L‰nder. Der suggestive Staat, der das Salz und Glas seiner Armut austauschte gegen die Sch‰tze der Vˆlker. Das schˆne Gegengewicht der Welt, das bis in seine Zierate hinein voll latenter Energien steht, die sich immer feiner vernervten–: dieses Venedig.

Das Bewufltsein, dafl ich es kannte, ¸berkam mich unter allen diesen sich t‰uschenden Leuten mit so viel Widerspruch, dafl ich aufsah, um mich irgendwie mitzuteilen. War es denkbar, dafl in diesen S‰len nicht einer war, der unwillk¸rlich darauf wartete, ¸ber das Wesen dieser Umgebung aufgekl‰rt zu sein? Ein junger Mensch, der es sofort begriff, dafl hier nicht ein Genufl aufgeschlagen war, sondern ein Beispiel des Willens, wie es nirgends anfordernder und strenger sich finden liefl? Ich ging umher, meine Wahrheit beunruhigte mich. Da sie mich hier unter 50 vielen ergriffen hatte, brachte sie den Wunsch mit, ausgesprochen, verteidigt, bewiesen zu sein. Die groteske Vorstellung entstand in mir, wie ich im n‰chsten Augenblick in die H‰nde klatschen w¸rde aus Hafl gegen das von allen zerredete Miflverst‰ndnis.

In dieser l‰cherlichen Stimmung bemerkte ich sie. Sie stand allein vor einem strahlenden Fenster und betrachtete mich; nicht eigentlich mit den Augen, die ernst und nachdenklich waren, sondern geradezu mit dem Mund, der den offenbar bˆsen Ausdruck meines Gesichtes ironisch nachahmte. Ich f¸hlte sofort die ungeduldige Spannung in meinen Z¸gen und nahm ein gelassenes Gesicht an, worauf ihr Mund nat¸rlich wurde und hochm¸tig. Dann, nach kurzem Bedenken, l‰chelten wir einander gleichzeitig zu.

Sie erinnerte, wenn man will, an ein gewisses Jugendbildnis der schˆnen Benedicte von Qualen, die in Baggesens Leben eine Rolle spielt. Man konnte die dunkle Stille ihrer Augen nicht sehen ohne die klare Dunkelheit ihrer Stimme zu vermuten. ‹brigens war die Flechtung ihres Haars und der Halsausschnitt ihres hellen Kleides so kopenhagisch, dafl ich entschlossen war, sie d‰nisch anzureden.

Ich war aber noch nicht nahe genug, da schob sich von der andern Seite eine Strˆmung zu ihr hin; unsere g‰stegl¸ckliche Gr‰fin selbst, in ihrer warmen, begeisterten Zerstreutheit, st¸rzte sich mit einer Menge Beistand ¸ber sie, um sie auf der Stelle zum Singen abzuf¸hren. Ich war sicher, dafl das junge M‰dchen sich damit entschuldigen w¸rde, dafl niemand in der Gesellschaft Interesse haben kˆnne, d‰nisch singen zu hˆren. Dies tat sie auch, sowie sie zu Worte kam. Das Gedr‰nge um die lichte Gestalt herum wurde eifriger; jemand wuflte, dafl sie auch deutsch singe. “Und italienisch”, erg‰nzte eine lachende Stimme mit boshafter ‹berzeugung. Ich wuflte keine Ausrede, die ich ihr h‰tte w¸nschen kˆnnen, aber ich zweifelte nicht, dafl sie widerstehen w¸rde. Schon breitete sich eine trockene Gekr‰nktheit ¸ber die vom langen L‰cheln abgespannten Gesichter der ‹berredenden aus, schon trat die gute Gr‰fin, um sich nichts zu vergeben, mitleidig und w¸rdig einen Schritt ab, da, als es durchaus nicht mehr nˆtig war, gab sie nach. Ich f¸hlte, wie ich blafl wurde vor Entt‰uschung; mein Blick f¸llte sich mit Vorwurf, aber ich wandte mich weg, es lohnte nicht, sie das sehn zu lassen. Sie aber machte sich von den andern los und war auf einmal neben mir. Ihr Kleid schien mich an, der blumige Geruch ihrer W‰rme stand um mich.

“Ich will wirklich singen”, sagte sie auf d‰nisch meine Wange entlang, “nicht weil sie’s verlangen, nicht zum Schein: weil ich jetzt singen mufl.” Aus ihren Worten brach dieselbe bˆse Unduldsamkeit, von welcher sie mich eben befreit hatte.

Ich folgte langsam der Gruppe, mit der sie sich entfernte. Aber an einer hohen T¸r blieb ich zur¸ck und liefl die Menschen sich verschieben und ordnen. Ich lehnte mich an das schwarzspiegelnde T¸rinnere und wartete. Jemand fragte mich, was sich vorbereite, ob man singen werde. Ich gab vor, es nicht zu wissen. W‰hrend ich log, sang sie schon.

Ich konnte sie nicht sehen. Es wurde allm‰hlich Raum um eines jener italienischen Lieder, die die Fremden f¸r sehr echt halten, weil sie von so deutlicher ‹bereinkunft sind. Sie, die es sang, glaubte nicht daran. Sie hob es mit M¸he hinauf, sie nahm es viel zu schwer. An dem Beifall vorne konnte man merken, wann es zu Ende war. Ich war traurig und besch‰mt. Es entstand einige Bewegung, und ich nahm mir vor, sowie jemand gehen w¸rde, mich anzuschlieflen.

Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab sich, die eben noch niemand f¸r mˆglich gehalten h‰tte; sie dauerte an, sie spannte sich, und jetzt erhob sich in ihr die Stimme. (Abelone, dachte ich. Abelone.) Diesmal war sie stark, voll und doch nicht schwer; aus einem St¸ck, ohne Bruch, ohne Naht. Es war ein unbekanntes deutsches Lied. Sie sang es merkw¸rdig einfach, wie etwas Notwendiges. Sie sang:

“Du, der ichs nicht sage, dafl ich bei Nacht weinend liege,
deren Wesen mich m¸de macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertr¸gen?
(kurze Pause und zˆgernd):
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie l¸gen.”

Wieder die Stille. Gott weifl, wer sie machte. Dann r¸hrten sich die Leute, stieflen aneinander, entschuldigten sich, h¸stelten. Schon wollten sie in ein allgemeines verwischendes Ger‰usch ¸bergehen, da brach plˆtzlich die Stimme aus, entschlossen, breit und gedr‰ngt:

“Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne Rest.

Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.”

Niemand hatte es erwartet. Alle standen gleichsam geduckt unter dieser Stimme. Und zum Schlufl war eine solche Sicherheit in ihr, als ob sie seit Jahren gewuflt h‰tte, dafl sie in diesem Augenblick w¸rde einzusetzen haben.

Manchmal fr¸her fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres groflartigen Gef¸hls nicht an Gott wandte. Ich weifl, sie sehnte sich, ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges Herz sich dar¸ber t‰uschen, dafl Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand? Wuflte sie nicht, dafl keine Gegenliebe von ihm zu f¸rchten war? Kannte sie nicht die Zur¸ckhaltung dieses ¸berlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns, Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder–wollte sie Christus vermeiden? F¸rchtete sie, halben Wegs von ihm aufgehalten, an ihm zur Geliebten zu werden? Dachte sie deshalb ungern an Julie Reventlow?

Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung Gottes eine so einf‰ltige Liebende wie Mechthild, eine so hinreiflende wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima, hinsinken konnte, nachgiebig, doch geliebt. Ach, der f¸r die Schwachen ein Helfer war) ist diesen Starken ein Unrecht; wo sie schon nichts mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie noch einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwˆhnt sie mit Unterkunft und verwirrt sie mit Mannheit. Seines stark brechenden Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen zusamm, und sie, die die Engel schon ganz f¸r Gott zu erhalten hofften, flammen auf in der D¸rre ihrer Sehnsucht.

(Geliebtsein heiflt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit unerschˆpflichem ÷le. Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)

Es ist gleichwohl mˆglich, dafl Abelone in sp‰teren Jahren versucht hat, mit dem Herzen zu denken, um unauff‰llig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen. Ich kˆnnte mir vorstellen, dafl es Briefe von ihr giebt, die an die aufmerksame innere Beschauung der F¸rstin Amalie Galitzin erinnern; aber wenn diese Briefe an jemanden gerichtet waren, dem sie seit Jahren nahestand, wie mag der gelitten haben unter ihrer Ver‰nderung. Und sie selbst: ich vermute, sie f¸rchtete nichts als jenes gespenstische Anderswerden, das man nicht merkt, weil man best‰ndig alle Beweise daf¸r, wie das Fremdeste, aus den H‰nden l‰flt.

Man wird mich schwer davon ¸berzeugen, dafl die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wuflte es nicht anders und gewˆhnte sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war.

Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er h‰tte es nicht sagen kˆnnen, aber wenn er drauflen herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn liebten: weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen oder zu kr‰nken. Was er aber damals meinte, das war die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal fr¸h in den Feldern mit solcher Reinheit ergriff, dafl er zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der Morgen zum Bewufltsein kommt.

Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus. Unwillk¸rlich verliefl er den Fuflpfad und lief weiter feldein, die Arme ausgestreckt, als kˆnnte er in dieser Breite mehrere Richtungen auf einmal bew‰ltigen. Und dann warf er sich irgendwo hinter eine Flecke, und niemand legte Wert auf ihn. Er sch‰lte sich eine Flˆte, er schleuderte einen Stein nach einem kleinen Raubtier, er neigte sich vor und zwang einen K‰fer umzukehren: dies alles wurde kein Schicksal, und die Himmel gingen wie ¸ber Natur. Schliefllich kam der Nachmittag mit lauter Einf‰llen; man war ein Bucanier auf der Insel Tortuga, und es lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man belagerte CampÍche, man eroberte Vera-Cruz; es war mˆglich, das ganze Heer zu sein oder ein Anf¸hrer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer: je nachdem man sich f¸hlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und vernahm, ganz heifl, dafl dieses Heldentum hoff‰hrtig war, ohne Gehorsam. Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache gehˆrte. Soviel Einbildungen sich aber auch einstellten, zwischendurch war immer noch Zeit, nichts als ein Vogel zu sein, ungewifl welcher. Nur dafl der Heimweg dann kam.

Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig vergessen, das war nˆtig; sonst verriet man sich, wenn sie dr‰ngten. Wie sehr man auch zˆgerte und sich umsah, schliefllich kam doch der Giebel herauf. Das erste Fenster oben faflte einen ins Auge, es mochte wohl jemand dort stehen. Die Hunde, in denen die Erwartung den ganzen Tag angewachsen war, preschten durch die B¸sche und trieben einen zusammen zu dem, den sie meinten. Und den Rest tat das Haus. Man muflte nur eintreten in seinen vollen Geruch, schon war das Meiste entschieden. Kleinigkeiten konnten sich noch ‰ndern; im ganzen war man schon der, f¸r den sie einen hier hielten; der, dem sie aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen W¸nschen l‰ngst ein Leben gemacht hatten; das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.

So einem n¸tzt es nichts, mit uns‰glicher Vorsicht die Treppen zu steigen. Alle werden im Wohnzimmer sein, und die T¸re mufl nur gehn, so sehen sie hin. Er bleibt im Dunkel, er will ihre Fragen abwarten. Aber dann kommt das ƒrgste. Sie nehmen ihn bei den H‰nden, sie ziehen ihn an den Tisch, und alle, soviel ihrer da sind, strecken sich neugierig vor die Lampe. Sie haben es gut, sie halten sich dunkel, und auf ihn allein f‰llt, mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu haben.

Wird er bleiben und das ungef‰hre Leben nachl¸gen, das sie ihm zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ‰hnlich werden? Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch ein schwaches Herz haben, schaden kˆnnte?

Nein, er wird fortgehen. Zum Beispiel w‰hrend sie alle besch‰ftigt sind, ihm den Geburtstagstisch zu bestellen mit den schlecht erratenen Gegenst‰nden, die wieder einmal alles ausgleichen sollen. Fortgehen f¸r immer. Viel sp‰ter erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein. Jahre hernach f‰llt es ihm ein und, wie andere Vors‰tze, so ist auch dieser unmˆglich gewesen. Denn er hat geliebt und wieder geliebt in seiner Einsamkeit; jedesmal mit Verschwendung seiner ganzen Natur und unter uns‰glicher Angst um die Freiheit des andern. Langsam hat er gelernt, den geliebten Gegenstand mit den Strahlen seines Gef¸hls zu durchscheinen, statt ihn darin zu verzehren. Und er war verwˆhnt von dem Entz¸cken, durch die immer transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die sie seinem unendlichen Besitzenwollen auftat.

Wie konnte er dann n‰chtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die nachgiebt, ist noch lang keine Liebende. O, trostlose N‰chte, da er seine flutenden Gaben in St¸cken wiederempfing, schwer von Verg‰nglichkeit. Wie gedachte er dann der Troubadours, die nichts mehr f¸rchteten als erhˆrt zu sein. Alles erworbene und vermehrte Geld gab er daf¸r hin, dies nicht noch zu erfahren. Er kr‰nkte sie mit seiner groben Bezahlung, von Tag zu Tag bang, sie kˆnnten versuchen, auf seine Liebe einzugehen. Denn er hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu erleben, die ihn durchbrach.

Selbst in der Zeit, da die Armut ihn t‰glich mit neuen H‰rten erschreckte, da sein Kopf das Lieblingsding des Elends war und ganz abgegriffen, da sich ¸berall an seinem Leibe Geschw¸re aufschlugen wie