Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge by Rainer Maria Rilke

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Rainer Maria Rilke Ich sehe seit einer Weile ein, dafl ich Menschen, die in der Entwicklung ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor warnen mufl, in den Aufzeichnungen Analogien f¸r das zu finden, was sie durchmachen; wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch parallel geht, mufl notwendig abw‰rts
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  • 1910
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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Rainer Maria Rilke

Ich sehe seit einer Weile ein, dafl ich Menschen, die in der Entwicklung ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor warnen mufl, in den Aufzeichnungen Analogien f¸r das zu finden, was sie durchmachen; wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch parallel geht, mufl notwendig abw‰rts kommen; erfreulich wird es wesentlich nur denen werden, die es gewissermaflen gegen den Strom zu lesen unternehmen.

Diese Aufzeichnungen indem sie ein Mafl an sehr angewachsene Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Hˆhe die Seligkeit steigen kˆnnte, die mit der F¸lle dieser selben Kr‰fte zu leisten w‰re.

R.M.R (Aus den Briefen vom Februar 1912) II. September, rue Toallier.

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich w¸rde eher meinen, es st¸rbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospit‰ler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu ¸berzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden–man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein grofles Geb‰ude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-gr‚ce, HÙspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden liefl, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle St‰dte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigent¸mlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber ¸ber der T¸r stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, gr¸nlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, dafl man lebte. Das war die Hauptsache.

Dafl ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen l‰utend durch meine Stube. Automobile gehen ¸ber mich hin. Eine T¸r f‰llt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich hˆre ihre groflen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plˆtzlich dumpfer, eingeschlossener L‰rm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhˆrlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Strafle. Ein M‰dchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, dar¸ber fort, fort ¸ber alles. Jemand ruft. Leute laufen, ¸berholen sich. Ein Hund bellt. Was f¸r eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kr‰ht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plˆtzlich ein.

Das sind die Ger‰usche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei groflen Br‰nden tritt manchmal so ein Augenblick ‰uflerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand r¸hrt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse voroben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auff‰hrt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter ¸ber die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.

Ich lerne sehen. Ich weifl nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wuflte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weifl nicht, was dort geschieht.

Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen, dafl ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, dafl ich mich ver‰ndere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, dafl ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmˆglich schreiben.

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen–ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.

Dafl es mir zum Beispiel niemals zum Bewufltsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, nat¸rlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, dafl ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie h‰tten f¸r immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat nat¸rlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Lˆcher, ist an vielen Stellen d¸nn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vorn¸ber in ihre H‰nde. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stˆren. Vielleicht f‰llt es ihnen doch ein.

Die Strafle war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den F¸flen weg und klappte mit ihm herum, dr¸ben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so dafl das Gesicht in den zwei H‰nden blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen H‰nden zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich f¸rchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloflen wunden Kopf ohne Gesicht.

Ich f¸rchte mich. Gegen die Furcht mufl man etwas tun, wenn man sie einmal hat. Es w‰re sehr h‰fllich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich ins HÙtel-Dieu zu schaffen, so w¸rde ich dort gewifl sterben. Dieses HÙtel ist ein angenehmes HÙtel, ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie mˆglich ¸ber den freien Plan dort hinein m¸ssen, ¸berfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortw‰hrend l‰uten, und selbst der Herzog von Sagan m¸flte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes HÙtel zu wollen. Sterbende sind starrkˆpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der CitÈ gefahren kommt. Es ist zu bemerken, dafl diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vor stellen kann; daf¸r gen¸gt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und schl‰gt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der ¸blichen Taxe fuhren: Zwei Francs f¸r die Sterbestunde.

Dieses ausgezeichnete HÙtel ist sehr alt, schon zu Kˆnig Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Nat¸rlich fabrikm‰flig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgef¸hrt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas f¸r einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten kˆnnten, ausf¸hrlich zu sterben, fangen an, nachl‰ssig und gleichg¸ltig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott; das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voil‡ votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehˆrt, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weifl man auch, dafl die verschiedenen letalen Abschl¸sse zu den Krankheiten gehˆren und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun).

In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen ƒrzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu Hause stirbt, ist es nat¸rlich, jenen hˆflichen Tod der guten Kreise zu w‰hlen, mit dem gleichsam das Begr‰bnis erster Klasse schon anf‰ngt und die ganze Folge seiner wunderschˆnen Gebr‰uche. Da stehen dann die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist nat¸rlich banal, ohne alle Umst‰nde. Sie sind froh, wenn sie einen finden, der ungef‰hr paflt. Zu weit darf er sein: man w‰chst immer noch ein biflchen. Nur wenn er nicht zugeht ¸ber der Brust oder w¸rgt, dann hat es seine Not.

Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich, das mufl fr¸her anders gewesen sein. Fr¸her wuflte man (oder vielleicht man ahnte es), dafl man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen groflen. Die Frauen hatten ihn im Schoofl und die M‰nner in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigent¸mliche W¸rde und einen stillen Stolz.

Meinem Groflvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es an, dafl er einen Tod in sich trug. Und was war das f¸r einer: zwei Monate lang und so laut, dafl man ihn hˆrte bis aufs Vorwerk hinaus.

Das lange, alte Herrenhaus war zu klein f¸r diesen Tod, es schien, als m¸flte man Fl¸gel anbauen, denn der Kˆrper des Kammerherrn wurde immer grˆfler, und er wollte fortw‰hrend aus einem Raum in den anderen getragen sein und geriet in f¸rchterlichen Zorn, wenn der Tag noch nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er nicht schon gelegen hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern und Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf und, unter Vorantritt des Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten worden war und das sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort ein. Die Vorh‰nge wurden zur¸ckgezogen, und das robuste Licht eines Sommernachmittags untersuchte alle die scheuen, erschrockenen Gegenst‰nde und drehte sich ungeschickt um in den aufgerissenen Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab da Zofen, die vor Neugierde nicht wuflten, wo ihre H‰nde sich gerade aufhielten, junge Bediente, die alles anglotzten, und ‰ltere Dienstleute, die herumgingen und sich zu erinnern suchten, was man ihnen von diesem verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun gl¸cklich befanden, alles erz‰hlt hatte.

Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo alle Dinge rochen, ungemein anregend. Die groflen, schmalen russischen Windhunde liefen besch‰ftigt hinter den Lehnst¸hlen hin und her, durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung das Gemach, hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die schmalen Pfoten auf das weiflgoldene Fensterbrett gest¸tzt, mit spitzem, gespanntem Gesicht und zur¸ckgezogener Stirn nach rechts und nach links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saflen, mit Gesichtern, als w‰re alles ganz in der Ordnung, in dem breiten, seidenen Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger, m¸rrisch aussehender H¸hnerhund rieb seinen R¸cken an der Kante eines goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die SËvrestassen zitterten.

Ja, es war f¸r diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine schreckliche Zeit. Es passierte, dafl aus B¸chern, die irgendeine hastige Hand ungeschickt geˆffnet hatte, Rosenbl‰tter heraustaumelten, die zertreten wurden; kleine, schw‰chliche Gegenst‰nde wurden ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen waren, schnell wieder hingelegt, manches Verbogene auch unter Vorh‰nge gesteckt oder gar hinter das goldene Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu Zeit fiel etwas, fiel verh¸llt auf Teppich, fiel hell auf das harte Parkett, aber es zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach fast lautlos auf, denn diese Dinge, verwˆhnt wie sie waren, vertrugen keinerlei Fall.

Und w‰re es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von alledem sei, was ¸ber dieses ‰ngstlich geh¸tete Zimmer alles Untergangs F¸lle herabgerufen habe,–so h‰tte es nur eine Antwort gegeben: der Tod.

Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard. Denn dieser lag, grofl ¸ber seine dunkelblaue Uniform hinausquellend, mitten auf dem Fuflboden und r¸hrte sich nicht. In seinem groflen, fremden, niemandem mehr bekannten Gesicht waren die Augen zugefallen: er sah nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu legen, aber er hatte sich dagegen gewehrt, denn er haflte Betten seit jenen ersten N‰chten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch hatte sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts anderes ¸brig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen; denn hinunter hatte er nicht gewollt.

Da lag er nun, und man konnte denken, dafl er gestorben sei. Die Hunde hatten sich, da es langsam zu d‰mmern begann, einer nach dem anderen durch die T¸rspalte gezogen, nur der Harthaarige mit dem m¸rrischen Gesicht safl bei seinem Herrn, und eine von seinen breiten, zottigen Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs grofler, grauer Hand. Auch von der Dienerschaft standen jetzt die meisten drauflen in dem weiflen Gang, der heller war als das Zimmer; die aber, welche noch drinnen geblieben waren, sahen manchmal heimlich nach dem groflen, dunkelnden Haufen in der Mitte, und sie w¸nschten, dafl das nichts mehr w‰re als ein grofler Anzug ¸ber einem verdorbenen Ding.

Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme gehˆrte, es war Christoph Detlevs Tod.

Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon, verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, dafl man lache, spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.

Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den ¸berm¸den Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten, dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stˆhnte, br¸llte so lange und anhaltend, dafl die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken, zitternden Beinen stehend, sich f¸rchteten. Und wenn sie es durch die weite, silberne, d‰nische Sommernacht im Dorfe hˆrten, dafl er br¸llte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und blieben ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vor¸ber war. Und die Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die entlegensten Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschl‰ge; aber sie hˆrten es, sie hˆrten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe w‰re, und sie flehten, auch aufstehen zu d¸rfen, und kamen, weifl und weit, und setzten sich zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern. Und die K¸he, welche kalbten in dieser Zeit, waren h¸lflos und verschlossen, und einer rifl man die tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als sie gar nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht und vergaflen das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage ‰ngstigten vor der Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten Aufstehen so er mattet waren, dafl sie sich auf nichts besinnen konnten. Und wenn sie am Sonntag in die weifle, friedliche Kirche gingen, so beteten sie, es mˆge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine N‰chte mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte es, die einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die ganze Nacht drˆhnte und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall zu l‰uten begann, nichts vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab einen unter den jungen Leuten, der getr‰umt hatte, er w‰re ins Schlofl gegangen und h‰tte den gn‰digen Herrn erschlagen mit seiner Mistforke, und so aufgebracht war man, so zu Ende, so ¸berreizt, dafl alle zuhˆrten, als er seinen Traum erz‰hlte, und ihn, ganz ohne es zu wissen, daraufhin ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen sei. So f¸hlte und sprach man in der ganzen Gegend, in der man den Kammerherrn noch vor einigen Wochen geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl man so sprach, ver‰nderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf Ulsgaard wohnte, liefl sich nicht dr‰ngen. Er war f¸r zehn Wochen gekommen, und die blieb er. Und w‰hrend dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein Kˆnig, den man den Schrecklichen nennt, sp‰ter und immer.

Das war nicht der Tod irgendeines Wassers¸chtigen, das war der bˆse, f¸rstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich getragen und aus sich gen‰hrt hatte. Alles ‹bermafl an Stolz, Willen und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen Tagen nicht hatte verbrauchen kˆnnen, war in seinen Tod eingegangen, in den Tod, der nun auf Ulsgaard safl und vergeudete.

Wie h‰tte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt h‰tte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen schweren Tod.

Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von denen ich gehˆrt habe: es ist immer dasselbe. Sie alle haben einen eigenen Tod gehabt. Diese M‰nner, die ihn in der R¸stung trugen, innen, wie einen Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein wurden und dann auf einem ungeheueren Bett, wie auf einer Schaub¸hne, vor der ganzen Familie, dem Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich hin¸bergingen. Ja die Kinder, sogar die ganz kleinen, hatten nicht irgendeinen Kindertod, sie nahmen sich zusammen und starben das, was sie schon waren, und das, was sie geworden w‰ren.

Und was gab das den Frauen f¸r eine wehm¸tige Schˆnheit, wenn sie schwanger waren und standen, und in ihrem groflen Leib, auf welchem die schmalen H‰nde unwillk¸rlich liegen blieben, waren zwei Fr¸chte: ein Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte L‰cheln in ihrem ganz ausger‰umten Gesicht nicht davon her, dafl sie manchmal meinten, es w¸chsen beide?

Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben, und jetzt bin ich so gut m¸de wie nach einem weiten Weg ¸ber die Felder von Ulsgaard. Es ist doch schwer zu denken, dafl alles das nicht mehr ist, dafl fremde Leute wohnen in dem alten langen Herrenhaus. Es kann sein, dafl in dem weiflen Zimmer oben im Giebel jetzt die M‰gde schlafen, ihren schweren, feuchten Schlaf schlafen von Abend bis Morgen.

Und man hat niemand und nichts und f‰hrt in der Welt herum mit einem Koffer und mit einer B¸cherkiste und eigentlich ohne Neugierde. Was f¸r ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde. H‰tte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die? W‰re die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht mufl man alt sein, um an das alles heranreichen zu kˆnnen. Ich denke es mir gut, alt zu sein.

Heute war ein schˆner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht enth¸llten G‰rten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. Dann kam ein sehr grofler, schlanker Mann um die Ecke, von den Champs-ElysÈes her; er trug eine Kr¸cke, aber nicht mehr unter die Schulter geschoben,–er hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit stellte er sie fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er konnte ein L‰cheln der Freude nicht unterdr¸cken und l‰chelte, an allem vorbei, der Sonne, den B‰umen zu. Sein Schritt war sch¸chtern wie der eines Kindes, aber ungewˆhnlich leicht, voll von Erinnerung an fr¸heres Gehen.

Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich. Das N‰chste schon hat Tˆne der Ferne, ist weggenommen und nur gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat: der Flufl, die Br¸cken, die langen Straflen und die Pl‰tze, die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgr¸ner Wagen sein kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen H‰usergruppe. Alles ist vereinfacht, auf einige richtige, helle plans gebracht wie das Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist gering und ¸berfl¸ssig. Die Bouquinisten am Quai tun ihre K‰sten auf, und das frische oder vernutzte Gelb der B¸cher, das violette Braun der B‰nde, das grˆflere Gr¸n einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil und bildet eine Vollz‰hligkeit, in der nichts fehlt.

Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner Handwagen, von einer Frau geschoben; vorn darauf ein Leierkasten, der L‰nge nach. Dahinter quer ein Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf festen Beinen steht, vergn¸gt in seiner Haube, und sich nicht mag setzen lassen. Von Zeit zu Zeit dreht die Frau am Orgelkasten. Das ganz Kleine stellt sich dann sofort stampfend in seinem Korbe wieder auf, und ein kleines M‰dchen in einem gr¸nen Sonntagskleid tanzt und schl‰gt Tamburin zu den Fenstern hinauf.

Ich glaube, ich m¸flte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie ¸ber Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das ‘Ehe’ heiflt und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie fr¸h schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und S¸fligkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womˆglich, und dann, ganz zum Schlufl, vielleicht kˆnnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gef¸hle (die hat man fr¸h genug),–es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen mufl man viele St‰dte sehen, Menschen und Dinge, man mufl die Tiere kennen, man mufl f¸hlen, wie die Vˆgel fliegen, und die Geb‰rde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man mufl zur¸ckdenken kˆnnen an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah,–an Kindheitstage, die noch unaufgekl‰rt sind, an die Eltern, die man kr‰nken muflte, wenn sie einem eine Freude brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude f¸r einen anderen–), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer ¸berhaupt, an Meere, an Reisen‰chte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, –und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man mufl Erinnerungen haben an viele Liebesn‰chte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Kreiflenden und an leichte, weifle, schlafende Wˆchnerinnen, die sich schlieflen. Aber auch bei Sterbenden mufl man gewesen sein, mufl bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoflweisen Ger‰uschen. Und es gen¸gt auch noch nicht, dafl man Erinnerungen hat. Man mufl sie vergessen kˆnnen, wenn es viele sind, und man mufl die grofle Geduld haben, zu warten, dafl sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbstes noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Geb‰rde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dafl in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.

Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine.–Und als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein Nachahmer und Narr, dafl ich eines Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier Menschen zu erz‰hlen, die es einander schwer machten? Wie leicht ich in die Falle fiel. Und ich h‰tte doch wissen m¸ssen, dafl dieser Dritte, der durch alle Leben und Literaturen geht, dieses Gespenst eines Dritten, der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, dafl man ihn leugnen mufl. Er gehˆrt zu den Vorw‰nden der Natur, welche immer bem¸ht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich abspielt. Er ist der L‰rm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines wirklichen Konfliktes. Man mˆchte meinen, es w‰re allen bisher zu schwer gewesen, von den Zweien zu reden, um die es sich handelt; der Dritte, gerade weil er so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe, ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt man die Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie kˆnnten ihn kaum erwarten. Sowie er da ist, ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich versp‰tet, es kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker, und du, Publikum, welches das Leben kennt, wie, wenn er verschollen w‰re, dieser beliebte Lebemann oder dieser anmaflende junge Mensch, der in allen Ehen schlieflt wie ein Nachschl¸ssel? Wie, wenn ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt h‰tte? Nehmen wirs an. Man merkt auf einmal die k¸nstliche Leere der Theater, sie werden vermauert wie gef‰hrliche Lˆcher, nur die Motten aus den Logenr‰ndern taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker genieflen nicht mehr ihre Villenviertel. Alle ˆffentlichen Aufpassereien suchen f¸r sie in entlegenen Weltteilen nach dem Unersetzlichen, der die Handlung selbst war.

Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese ‘Dritten’, aber die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen w‰re, von denen noch nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich nicht zu helfen wissen.

Es ist l‰cherlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weifl. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts f‰ngt an zu denken und denkt, f¸nf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:

Ist es mˆglich, denkt es, dafl man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es mˆglich, dafl man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dafl man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot iflt und einen Apfel?

Ja, es ist mˆglich.

Ist es mˆglich, dafl man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfl‰che des Lebens geblieben ist? Ist es mˆglich, dafl man sogar diese Oberfl‰che, die doch immerhin etwas gewesen w‰re, mit einem unglaublich langweiligen Stoff ¸berzogen hat, so dafl sie aussieht, wie die Salonmˆbel in den Sommerferien?

Ja, es ist mˆglich.

Ist es mˆglich, dafl die ganze Weltgeschichte miflverstanden worden ist? Ist es mˆglich, dafl die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erz‰hlte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?

Ja, es ist mˆglich.

Ist es mˆglich, dafl man glaubte, nachholen zu m¸ssen, was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es mˆglich, dafl man jeden einzelnen erinnern m¸flte, er sei ja aus allen Fr¸heren entstanden, w¸flte es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen, die anderes w¸flten?

Ja, es ist mˆglich.

Ist es mˆglich, dafl alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es mˆglich, dafl alle Wirklichkeiten nichts sind f¸r sie; dafl ihr Leben abl‰uft, mit nichts verkn¸pft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer–?

Ja, es ist mˆglich.

Ist es mˆglich, dafl man von den M‰dchen nichts weifl, die doch leben? Ist es mˆglich, dafl man ‘die Frauen’ sagt, ‘die Kinder’, ‘die Knaben’ und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), dafl diese Worte l‰ngst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unz‰hlige Einzahlen?

Ja, es ist mˆglich.

Ist es mˆglich, dafl es Leute giebt, welche ‘Gott’ sagen und meinen, das w‰re etwas Gemeinsames?–Und sieh nur zwei Schulkinder: Es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, dafl sie sich nur noch ganz entfernt ‰hnlich sehen,–so verschieden haben sie sich in verschiedenen H‰nden entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen m¸flt.–) Ach so: Ist es mˆglich, zu glauben, man kˆnne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?

Ja, es ist mˆglich.

Wenn aber dieses alles mˆglich ist, auch nur einen Schein von Mˆglichkeit hat,–dann mufl ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der N‰chstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, mufl anfangen, etwas von dem Vers‰umten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge, belanglose Ausl‰nder, Brigge, wird sich f¸nf Treppen hoch hinsetzen m¸ssen und schreiben, Tag und Nacht. Ja er wird schreiben m¸ssen, das wird das Ende sein.

Zwˆlf Jahre oder hˆchstens dreizehn mufl ich damals gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weifl nicht, was ihn veranlaflte, seinen Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden M‰nner hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter, nicht gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in welches der Graf Brahe sich erst sp‰t zur¸ckgezogen hatte. Ich habe das merkw¸rdige Haus sp‰ter nie wiedergesehen, das, als mein Groflvater starb, in fremde H‰nde kam. So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Geb‰ude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein St¸ck Gang, das diese beiden R‰ume nicht verbindet, sondern f¸r sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut,–die Zimmer, die Treppen, die mit so grofler Umst‰ndlichkeit sich niederlieflen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgeh‰ngten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen T¸r hinausgedr‰ngt wurde:–alles das ist noch in mir und wird nie aufhˆren, in mir zu sein. Es ist, als w‰re das Bild dieses Hauses aus unendlicher Hˆhe in mich hineingest¸rzt und auf meinem Grunde zerschlagen.

Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen; jedes mal, so oft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man vergafl in einigen Minuten die Tageszeit und alles, was man drauflen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich vermute, gewˆlbte Raum war st‰rker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden Hˆhe, mit seinen niemals ganz aufgekl‰rten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz daf¸r zu geben. Man safl da wie aufgelˆst; vˆllig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere mich, dafl dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast ‹belkeit verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch ¸berwand, dafl ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fufl das Knie meines Vaters ber¸hrte, der mir gegen¸bersafl. Erst sp‰ter fiel es mir auf, dafl er dieses merkw¸rdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien, obwohl zwischen uns ein fast k¸hles Verh‰ltnis bestand, aus dem ein solches Gebaren nicht erkl‰rlich war. Es war indessen jene leise Ber¸hrung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten. Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte ich, mit der fast unbegrenzten Anpasssung des Kindes, mich so sehr an das Unheimliche jener Zusammenk¸nfte gewˆhnt, dafl es mich keine Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt vergingen sie sogar verh‰ltnism‰flig schnell, weil ich mich damit besch‰ftigte, die Anwesenden zu beobachten.

Mein Groflvater nannte es die Familie, und ich hˆrte auch die andern diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willk¸rlich war. Denn obwohl diese vier Menschen miteinander in entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen standen, so gehˆrten sie doch in keiner Weise zusammen. Der Oheim, welcher neben mir safl, war ein alter Mann, dessen hartes und verbranntes Gesicht einige schwarze Flecke zeigte, wie ich erfuhr, die Folgen einer explodierten Pulverladung; m¸rrisch und malkontent wie er war, hatte er als Major seinen Abschied genommen, und nun machte er in einem mir unbekannten Raum des Schlosses alchymistische Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen hˆrte, mit einem Stockhause in Verbindung, von wo man ihm ein- oder zweimal j‰hrlich Leichen zusandte, mit denen er sich Tage und N‰chte einschlofl und die er zerschnitt und auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so dafl sie der Verwesung widerstanden. Ihm gegen¸ber war der Platz des Fr‰uleins Mathilde Brahe. Es war das eine Person von unbestimmtem Alter, eine entfernte Cousine meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als dafl sie eine sehr rege Korrespondenz mit einem ˆsterreichischen Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie vollkommen ergeben war, so dafl sie nicht das geringste unternahm, ohne vorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segen einzuholen. Sie war zu jener Zeit auflerordentlich stark, von einer weichen, tr‰gen F¸lle, die gleichsam achtlos in ihre losen, hellen Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen waren m¸de und unbestimmt, und ihre Augen flossen best‰ndig ¸ber. Und trotzdem war etwas in ihr, das mich an meine zarte und schlanke Mutter erinnerte.

Ich fand, je l‰nger ich sie betrachtete, alle die feinen und leisen Z¸ge in ihrem Gesichte, an die ich mich seit meiner Mutter Tode nie mehr recht hatte erinnern kˆnnen; nun erst, seit ich Mathilde Brahe t‰glich sah, wuflte ich wieder, wie die Verstorbene ausgesehen hatte; ja, ich wuflte es vielleicht zum erstenmal. Nun erst setzte sich aus hundert und hundert Einzelheiten ein Bild der Toten in mir zusammen, jenes Bild, das mich ¸berall begleitet. Sp‰ter ist es mir klar geworden, dafl in dem Gesicht des Fr‰uleins Brahe wirklich alle Einzelheiten vorhanden waren, die die Z¸ge meiner Mutter bestimmten, –sie waren nur, als ob ein fremdes Gesicht sich dazwischen geschoben h‰tte, auseinandergedr‰ngt, verbogen und nicht mehr in Verbindung miteinander.

Neben dieser Dame safl der kleine Sohn einer Cousine, ein Knabe, etwa gleichaltrig mit mir, aber kleiner und schw‰chlicher. Aus einer gef‰ltelten Krause stieg sein d¸nner, blasser Hals und verschwand unter einem langen Kinn. Seine Lippen waren schmal und fest geschlossen, seine Nasenfl¸gel zitterten leise, und von seinen schˆnen dunkelbraunen Augen war nur das eine beweglich. Es blickte manchmal ruhig und traurig zu mir her¸ber, w‰hrend das andere immer in dieselbe Ecke gerichtet blieb, als w‰re es verkauft und k‰me nicht mehr in Betracht.

Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheure Lehnsessel meines Groflvaters, den ein Diener, der nichts anderes zu tun hatte, ihm unterschob und in dem der Greis nur einen geringen Raum einnahm. Es gab Leute, die diesen schwerhˆrigen und herrischen alten Herrn Exzellenz und Hofmarschall nannten, andere gaben ihm den Titel General. Und er besafl gewifl auch alle diese W¸rden, aber es war so lange her, seit er ƒmter bekleidet hatte, dafl diese Benennungen kaum mehr verst‰ndlich waren. Mir schien es ¸berhaupt, als ob an seiner in gewissen Momenten so scharfen und doch immer wieder aufgelˆsten Persˆnlichkeit kein bestimmter Name haften kˆnne. Ich konnte mich nie entschlieflen, ihn Groflvater zu nennen, obwohl er bisweilen freundlich zu mir war, ja mich sogar zu sich rief, wobei er meinem Namen eine scherzhafte Betonung zu geben versuchte. ‹brigens zeigte die ganze Familie ein aus Ehrfurcht und Scheu gemischtes Benehmen dem Grafen gegen¸ber, nur der kleine Erik lebte in einer gewissen Vertraulichkeit mit dem greisen Hausherrn; sein bewegliches Auge hatte zuzeiten rasche Blicke des Einverst‰ndnisses mit ihm, die ebensorasch von dem Groflvater erwidert wurden; auch konnte man sie zuweilen in den langen Nachmittagen am Ende der tiefen Galerie auftauchen sehen und beobachten, wie sie, Hand in Hand, die dunklen alten Bildnisse entlang gingen, ohne zu sprechen, offenbar auf eine andere Weise sich verst‰ndigend.

Ich befand mich fast den ganzen Tag im Parke und drauflen in den Buchenw‰ldern oder auf der Heide; und es gab zum Gl¸ck Hunde auf Urnekloster, die mich begleiteten; es gab da und dort ein P‰chterhaus oder einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und Fr¸chte bekommen konnte, und ich glaube, dafl ich meine Freiheit ziemlich sorglos genofl, ohne mich, wenigstens in den folgenden Wochen, von dem Gedanken an die abendlichen Zusammenk¸nfte ‰ngstigen zu lassen. Ich sprach fast mit niemandem, denn es war meine Freude, einsam zu sein; nur mit den Hunden hatte ich kurze Gespr‰che dann und wann: mit ihnen verstand ich mich ausgezeichnet. Schweigsamkeit war ¸brigens eine Art Familieneigenschaft; ich kannte sie von meinem Vater her, und es wunderte mich nicht, dafl w‰hrend der Abendtafel fast nichts gesprochen wurde.

In den ersten Tagen nach unserer Ankunft allerdings benahm sich Mathilde Brahe ‰uflerst gespr‰chig. Sie fragte den Vater nach fr¸heren Bekannten in ausl‰ndischen St‰dten, sie erinnerte sich entlegener Eindr¸cke, sie r¸hrte sich selbst bis zu Tr‰nen, indem sie verstorbener Freundinnen und eines gewissen jungen Mannes gedachte, von dem sie andeutete, dafl er sie geliebt habe, ohne dafl sie seine inst‰ndige und hoffnungslose Neigung h‰tte erwidern mˆgen. Mein Vater hˆrte hˆflich zu, neigte dann und wann zustimmend sein Haupt und antwortete nur das Nˆtigste. Der Graf, oben am Tisch, l‰chelte best‰ndig mit herabgezogenen Lippen, sein Gesicht erschien grˆfler als sonst, es war, als tr¸ge er eine Maske. Er ergriff ¸brigens selbst manchmal das Wort, wobei seine Stimme sich auf niemanden bezog, aber, obwohl sie sehr leise war, doch im ganzen Saal gehˆrt werden konnte; sie hatte etwas von dem gleichm‰fligen unbeteiligten Gang einer Uhr; die Stille um sie schien eine eigene leere Resonanz zu haben, f¸r jede Silbe die gleiche.

Graf Brahe hielt es f¸r eine besondere Artigkeit meinem Vater gegen¸ber, von dessen verstorbener Gemahlin, meiner Mutter, zu sprechen. Er nannte sie Gr‰fin Sibylle, und alle seine S‰tze schlossen, als fragte er nach ihr. Ja es kam mir, ich weifl nicht weshalb, vor, als handle es sich um ein ganz junges M‰dchen in Weifl, das jeden Augenblick bei uns eintreten kˆnne. In demselben Tone hˆrte ich ihn auch von ‘unserer kleinen Anna Sophie’ reden. Und als ich eines Tages nach diesem Fr‰ulein fragte, das dem Groflvater besonders lieb zu sein schien, erfuhr ich, dafl er des Groflkanzlers Conrad Reventlow Tochter meinte, weiland Friedrichs des Vierten Gemahlin zur linken Hand, die seit nahezu anderthalb hundert Jahren zu Roskilde ruhte. Die Zeitfolgen spielten durchaus keine Rolle f¸r ihn, der Tod war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte, Personen, die er einmal in seine Erinnerung aufgenommen hatte, existierten, und daran konnte ihr Absterben nicht das geringste ‰ndern. Mehrere Jahre sp‰ter, nach dem Tode des alten Herrn, erz‰hlte man sich, wie er auch das Zuk¸nftige mit demselben Eigensinn als gegenw‰rtig empfand. Er soll einmal einer gewissen jungen Frau von ihren Sˆhnen gesprochen haben, von den Reisen eines dieser Sˆhne insbesondere, w‰hrend die junge Dame, eben im dritten Monate ihrer ersten Schwangerschaft, fast besinnungslos vor Entsetzen und Furcht neben dem unabl‰ssig redenden Alten safl.

Aber es begann damit, dafl ich lachte. Ja ich lachte laut und ich konnte mich nicht beruhigen. Eines Abends fehlte n‰mlich Mathilde Brahe. Der alte, fast ganz erblindete Bediente hielt, als er zu ihrem Platze kam, dennoch die Sch¸ssel anbietend hin. Eine Weile verharrte er so; dann ging er befriedigt und w¸rdig und als ob alles in Ordnung w‰re weiter. Ich hatte diese Szene beobachtet, und sie kam mir, im Augenblick da ich sie sah, durchaus nicht komisch vor. Aber eine Weile sp‰ter, als ich eben einen Bissen in den Mund steckte, stieg mir das Gel‰chter mit solcher Schnelligkeit in den Kopf, dafl ich mich verschluckte und groflen L‰rm verursachte. Und trotzdem diese Situation mir selber l‰stig war, trotzdem ich mich auf alle mˆgliche Weise anstrengte, ernst zu sein, kam das Lachen stoflweise immer wieder und behielt vˆllig die Herrschaft ¸ber mich.

Mein Vater, gleichsam um mein Benehmen zu verdecken, fragte mit seiner breiten ged‰mpften Stimme: “Ist Mathilde krank?” Der Groflvater l‰chelte in seiner Art und antwortete dann mit einem Satze, auf den ich, mit mir selber besch‰ftigt, nicht achtgab und der etwa lautete: Nein, sie w¸nscht nur, Christinen nicht zu begegnen. Ich sah es also auch nicht als Wirkung dieser Worte an, dafl mein Nachbar, der braune Major, sich erhob und, mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung und einer Verbeugung gegen den Grafen hin, den Saal verliefl. Es fiel mir nur auf, dafl er sich hinter dem R¸cken des Hausherrn in der T¸r nochmals umdrehte und dem kleinen Erik und zu meinem grˆflten Erstaunen plˆtzlich auch mir winkende und nickende Zeichen machte, als forderte er uns auf, ihm zu folgen. Ich war so ¸berrascht, dafl mein Lachen aufhˆrte, mich zu bedr‰ngen. Im ¸brigen schenkte ich dem Major weiter keine Aufmerksamkeit; er war mir unangenehm, und ich bemerkte auch, dafl der kleine Erik ihn nicht beachtete.

Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und man war gerade beim Nachtisch angelangt, als meine Blicke von einer Bewegung ergriffen und mitgenommen wurden, die im Hintergrund des Saales, im Halbdunkel, vor sich ging. Dort war nach und nach eine, wie ich meinte, stets verschlossene T¸re, von welcher man mir gesagt hatte, dafl sie in das Zwischengeschofl f¸hre, aufgegangen, und jetzt, w‰hrend ich mit einem mir ganz neuen Gef¸hl von Neugier und Best¸rzung hinsah, trat in das Dunkel der T¸rˆffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam langsam auf uns zu. Ich weifl nicht, ob ich eine Bewegung machte oder einen Laut von mir gab, der L‰rm eines umst¸rzenden Stuhles zwang mich, meine Blicke von der merkw¸rdigen Gestalt abzureiflen, und ich sah meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht, mit herabh‰ngenden geballten H‰nden, auf die Dame zuging. Sie bewegte sich indessen, von dieser Szene ganz unber¸hrt, auf uns zu, Schritt f¸r Schritt, und sie war schon nicht mehr weit von dem Platze des Grafen, als dieser sich mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim Arme faflte, ihn an den Tisch zur¸ckzog und festhielt, w‰hrend die fremde Dame, langsam und teilnahmlos, durch den nun freigewordenen Raum vor¸berging, Schritt f¸r Schritt, durch unbeschreibliche Stille, in der nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer T¸r der gegen¸berliegenden Wand des Saales verschwand.

In diesem Augenblick bemerkte ich, dafl es der kleine Erik war, der mit einer tiefen Verbeugung diese T¸re hinter der Fremden schlofl.

Ich war der einzige, der am Tische sitzengeblieben war; ich hatte mich so schwer gemacht in meinem Sessel, mir schien, ich kˆnnte allein nie wieder auf. Eine Weile sah ich, ohne zu sehen. Dann fiel mir mein Vater ein, und ich gewahrte, dafl der Alte ihn noch immer am Arme festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig, voller Blut, aber der Groflvater, dessen Finger wie eine weifle Kralle meines Vaters Arm umklammerten, l‰chelte sein maskenhaftes L‰cheln. Ich hˆrte dann, wie er etwas sagte, Silbe f¸r Silbe, ohne dafl ich den Sinn seiner Worte verstehen konnte. Dennoch fielen sie mir tief ins Gehˆr, denn vor etwa zwei Jahren fand ich sie eines Tages unten in meiner Erinnerung, und seither weifl ich sie. Er sagte: “Du bist heftig, Kammerherr, und unhˆflich. Was l‰flt du die Leute nicht an ihre Besch‰ftigungen gehn?” “Wer ist das?” schrie mein Vater dazwischen. “Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde. Christine Brahe.”–Da entstand wieder jene merkw¸rdig d¸nne Stille, und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber rifl sich mein Vater mit einer Bewegung los und st¸rzte aus dem Saale.

Ich hˆrte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn auch ich konnte nicht schlafen. Aber plˆtzlich gegen Morgen erwachte ich doch aus irgend etwas Schlaf‰hnlichem und sah mit einem Entsetzen, dafl mich bis ins Herz hinein l‰hmte, etwas Weifles, das an meinem Bette safl. Meine Verzweiflung gab mir schliefllich die Kraft, den Kopf unter die Decke zu stecken, und dort begann ich aus Angst und H¸lflosigkeit zu weinen. Plˆtzlich wurde es k¸hl und hell ¸ber meinen weinenden Augen; ich dr¸ckte sie, um nichts sehen zu m¸ssen, ¸ber den Tr‰nen zu. Aber die Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach, kam lau und s¸fllich an mein Gesicht, und ich erkannte sie: es war Fr‰ulein Mathildes Stimme. Ich beruhigte mich sofort und liefl mich trotzdem, auch als ich schon ganz ruhig war, immer noch weiter trˆsten; ich f¸hlte zwar, dafl diese G¸te zu weichlich sei, aber ich genofl sie dennoch und meinte sie irgendwie verdient zu haben. “Tante”, sagte ich schliefllich und versuchte in ihrem zerflossenen Gesicht die Z¸ge meiner Mutter zusammenzufassen: “Tante, wer war die Dame?”

“Ach”, antwortete das Fr‰ulein Brahe mit einem Seufzer, der mir komisch vorkam, “eine Ungl¸ckliche, mein Kind, eine Ungl¸ckliche.”

Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer einige Bediente, die mit Packen besch‰ftigt waren. Ich dachte, dafl wir reisen w¸rden, ich fand es ganz nat¸rlich, dafl wir nun reisten. Vielleicht war das auch meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn bewog, nach jenem Abend noch auf Urnekloster zu bleiben. Aber wir reisten nicht. Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf, wir ertrugen den Druck seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch dreimal Christine Brahe.

Ich wuflte damals nichts von ihrer Geschichte. Ich wuflte nicht, dafl sie vor langer, langer Zeit in ihrem zweiten Kindbett gestorben war, einen Knaben geb‰hrend, der zu einem bangen und grausamen Schicksal heranwuchs,–ich wuflte nicht, dafl sie eine Gestorbene war. Aber mein Vater wuflte es. Hatte er, der leidenschaftlich war und auf Konsequenz und Klarheit angelegt, sich zwingen wollen, in Fassung und ohne zu fragen, dieses Abenteuer auszuhalten? Ich sah, ohne zu begreifen, wie er mit sich k‰mpfte, ich erlebte es, ohne zu verstehen, wie er sich endlich bezwang.

Das war, als wir Christine Brahe zum letztenmal sahen. Dieses Mal war auch Fr‰ulein Mathilde zu Tische erschienen; aber sie war anders als sonst. Wie in den ersten Tagen nach unserer Ankunft sprach sie unaufhˆrlich ohne bestimmten Zusammenhang und fortw‰hrend sich verwirrend, und dabei war eine kˆrperliche Unruhe in ihr, die sie nˆtigte, sich best‰ndig etwas am Haar oder am Kleide zu richten,–bis sie unvermutet mit einem hohen klagenden Schrei aufsprang und verschwand.

In demselben Augenblick wandten sich meine Blicke unwillk¸rlich nach der gewissen T¸re, und wirklich: Christine Brahe trat ein. Mein Nachbar, der Major, machte eine heftige, kurze Bewegung, die sich in meinen Kˆrper fortpflanzte, aber er hatte offenbar keine Kraft mehr, sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht wendete sich von einem zum andern, sein Mund stand offen, und die Zunge wand sich hinter den verdorbenen Z‰hnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort, und sein grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme lagen wie in St¸cken dar¸ber und darunter, und irgendwo kam eine welke, fleckige Hand hervor und bebte.

Und nun ging Christine Brahe vorbei, Schritt f¸r Schritt, langsam wie eine Kranke, durch unbeschreibliche Stille, in die nur ein einziger wimmernder Laut hineinklang wie eines alten Hundes. Aber da schob sich links von dem groflen silbernen Schwan, der mit Narzissen gef¸llt war, die grofle Maske des Alten hervor mit ihrem grauen L‰cheln. Er hob sein Weinglas meinem Vater zu. Und nun sah ich, wie mein Vater, gerade als Christine Brahe hinter seinem Sessel vor¸berkam, nach seinem Glase griff und es wie etwas sehr Schweres eine Handbreit ¸ber den Tisch hob. Und noch in dieser Nacht reisten wir.

BibliothËque Nationale.

Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal aber man sp¸rt sie nicht. Sie sind in den B¸chern. Manchmal bewegen sie sich in den Bl‰ttern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Tr‰umen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anr¸hren: er f¸hlt nichts. Und stˆflt du einen Nachbar beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der Seite, auf der er deine Stimme hˆrt, sein Gesicht wendet sich dir zu und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das Haar eines Schlafenden. Wie wohl das tut. Und ich sitze und habe einen Dichter. Was f¸r ein Schicksal. Es sind jetzt vielleicht dreihundert Leute im Saale, die lesen; aber es ist unmˆglich, dafl sie jeder einzelne einen Dichter haben. (Weifl Gott, was sie haben.) Dreihundert Dichter giebt es nicht. Aber sieh nur, was f¸r ein Schicksal, ich, vielleicht der arms‰ligste von diesen Lesenden, ein Ausl‰nder: ich habe einen Dichter. Obwohl ich arm bin. Obwohl mein Anzug, den ich t‰glich trage, anf‰ngt, gewisse Stellen zu bekommen, obwohl gegen meine Schuhe sich das und jenes einwenden liefle. Zwar mein Kragen ist rein, meine W‰sche auch, und ich kˆnnte, wie ich bin, in eine beliebige Konditorei gehen, womˆglich auf den groflen Boulevards, und kˆnnte mit meiner Hand getrost in einen Kuchenteller greifen und etwas nehmen. Man w¸rde nichts Auff‰lliges darin finden und mich nicht schelten und hinausweisen, denn es ist immerhin eine Hand aus den guten Kreisen, eine Hand, die vier- bis f¸nfmal t‰glich gewaschen wird. Ja, es ist nichts hinter den N‰geln, der Schreibfinger ist ohne Tinte, und besonders die Gelenke sind tadellos. Bis dorthin waschen arme Leute sich nicht, das ist eine bekannte Tatsache. Man kann also aus ihrer Reinlichkeit gewisse Schl¸sse ziehen. Man zieht sie auch. In den Gesch‰ften zieht man sie. Aber es giebt doch ein paar Existenzen, auf dem Boulevard Saint-Michel zum Beispiel und in der rue Racine, die lassen sich nicht irremachen, die pfeifen auf die Gelenke. Die sehen mich an und wissen es. Die wissen, dafl ich eigentlich zu ihnen gehˆre, dafl ich nur ein biflchen Komˆdie spiele. Es ist ja Fasching. Und sie wollen mir den Spafl nicht verderben; sie grinsen nur so ein biflchen und zwinkern mit den Augen. Kein Mensch hats gesehen. Im ¸brigen behandeln sie mich wie einen Herrn. Es mufl nur jemand in der N‰he sein, dann tun sie sogar untert‰nig. Tun, als ob ich einen Pelz anh‰tte und mein Wagen hinter mir herf¸hre. Manchmal gebe ich ihnen zwei Sous und zittere, sie kˆnnten sie abweisen; aber sie nehmen sie an. Und es w‰re alles in Ordnung, wenn sie nicht wieder ein wenig gegrinst und gezwinkert h‰tten. Wer sind diese Leute? Was wollen sie von mir? Warten sie auf mich? Woran erkennen sie mich? Es ist wahr, mein Bart sieht etwas vernachl‰ssigt aus, ein ganz, ganz klein wenig erinnert er an ihre kranken, alten, verblichenen B‰rte, die mir immer Eindruck gemacht haben. Aber habe ich nicht das Recht, meinen Bart zu vernachl‰ssigen? Viele besch‰ftigte Menschen tun das, und es f‰llt doch niemandem ein, sie deshalb gleich zu den Fortgeworfenen zu z‰hlen. Denn das ist mir klar, dafl das die Fortgeworfenen sind, nicht nur Bettler; nein, es sind eigentlich keine Bettler, man mufl Unterschiede machen. Es sind Abf‰lle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakats‰ule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her. Was in aller Welt wollte diese Alte von mir, die, mit einer Nachttischschublade, in der einige Knˆpfe und Nadeln herumrollten, aus irgendeinem Loch herausgekrochen war? Weshalb ging sie immer neben mir und beobachtete mich? Als ob sie versuchte, mich zu erkennen mit ihren Triefaugen, die aussahen, als h‰tte ihr ein Kranker gr¸nen Schleim in die blutigen Lider gespuckt. Und wie kam damals jene graue, kleine Frau dazu, eine Viertelstunde lang vor einem Schaufenster an meiner Seite zu stehen, w‰hrend sie mir einen alten, langen Bleistift zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten, geschlossenen H‰nden sich herausschob. Ich tat, als betrachtete ich die ausgelegten Sachen und merkte nichts. Sie aber wuflte, dafl ich sie gesehen hatte, sie wuflte, dafl ich stand und nachdachte, was sie eigentlich t‰te. Denn dafl es sich nicht um den Bleistift handeln konnte, begriff ich wohl: ich f¸hlte, dafl das ein Zeichen war, ein Zeichen f¸r Eingeweihte, ein Zeichen, das die Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete mir, ich m¸flte irgendwohin kommen oder etwas tun. Und das Seltsamste war, dafl ich immerfort das Gef¸hl nicht los wurde, es best¸nde tats‰chlich eine gewisse Verabredung, zu der dieses Zeichen gehˆrte, und diese Szene w‰re im Grunde etwas, was ich h‰tte erwarten m¸ssen.

Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tag ohne eine solche Begegnung. Nicht nur in der D‰mmerung, am Mittag in den dichtesten Straflen geschieht es, dafl plˆtzlich ein kleiner Mann oder eine alte Frau da ist, nickt, mir etwas zeigt und wieder verschwindet, als w‰re nun alles Nˆtige getan. Es ist mˆglich, dafl es ihnen eines Tages einf‰llt, bis in meine Stube zu kommen, sie wissen bestimmt, wo ich wohne, und sie werden es schon einrichten, dafl der Concierge sie nicht aufh‰lt. Aber hier, meine Lieben, hier bin ich sicher vor euch. Man mufl eine besondere Karte haben, um in diesen Saal eintreten zu kˆnnen. Diese Karte habe ich vor euch voraus. Ich gehe ein wenig scheu, wie man sich denken kann, durch die Straflen, aber schliefllich stehe ich vor einer Glast¸r, ˆffne sie, als ob ich zuhause w‰re, weise an der n‰chsten T¸r meine Karte vor (ganz genau wie ihr mir eure Dinge zeigt, nur mit dem Unterschiede, dafl man mich versteht und begreift, was ich meine–), und dann bin ich zwischen diesen B¸chern, bin euch weggenommen, als ob ich gestorben w‰re, und sitze und lese einen Dichter.

Ihr wiflt nicht, was das ist, ein Dichter?–Verlaine… Nichts? Keine Erinnerung? Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden unter denen, die ihr kanntet? Unterschiede macht ihr keine, ich weifl. Aber es ist ein anderer Dichter, den ich lese, einer, der nicht in Paris wohnt, ein ganz anderer. Einer, der ein stilles Haus hat im Gebirge. Der klingt wie eine Glocke in reiner Luft. Ein gl¸cklicher Dichter, der von seinem Fenster erz‰hlt und von den Glast¸ren seines B¸cherschrankes, die eine liebe, einsame Weite nachdenklich spiegeln. Gerade der Dichter ist es, der ich h‰tte werden wollen; denn er weifl von den M‰dchen so viel, und ich h‰tte auch viel von ihnen gewuflt. Er weifl von M‰dchen, die vor hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, dafl sie tot sind, denn er weifl alles. Und das ist die Hauptsache. Er spricht ihre Namen aus, diese leisen, schlankgeschriebenen Namen mit den altmodischen Schleifen in den langen Buchstaben und die erwachsenen Namen ihrer ‰lteren Freundinnen, in denen schon ein klein wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Entt‰uschung und Tod. Vielleicht liegen in einem Fach seines Mahagonischreibtisches ihre verblichenen Briefe und die gelˆsten Bl‰tter ihrer Tageb¸cher, in denen Geburtstage stehen, Sommerpartien, Geburtstage. Oder es kann sein, dafl es in der bauchigen Kommode im Hintergrunde seines Schlafzimmers eine Schublade giebt, in der ihre Fr¸hjahrskleider aufgehoben sind; weifle Kleider, die um Ostern zum erstenmal angezogen wurden, Kleider aus getupftem T¸ll, die eigentlich in den Sommer gehˆren, den man nicht erwarten konnte. O was f¸r ein gl¸ckliches Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauses zu sitzen unter lauter ruhigen, seflhaften Dingen und drauflen im leichten, lichtgr¸nen Garten die ersten Meisen zu hˆren, die sich versuchen, und in der Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einen warmen Streifen Nachmittagssonne zu sehen und vieles von vergangenen M‰dchen zu wissen und ein Dichter zu sein. Und zu denken, dafl ich auch so ein Dichter geworden w‰re, wenn ich irgendwo h‰tte wohnen d¸rfen, irgendwo auf der Welt, in einem von den vielen verschlossenen Landh‰usern, um die sich niemand bek¸mmert. Ich h‰tte ein einziges Zimmer gebraucht (das lichte Zimmer im Giebel). Da h‰tte ich drinnen gelebt mit meinen alten Dingen, den Familienbildern, den B¸chern. Und einen Lehnstuhl h‰tte ich gehabt und Blumen und Hunde und einen starken Stock f¸r die steinigen Wege. Und nichts sonst. Nur ein Buch in gelbliches, elfenbeinfarbiges Leder gebunden mit einem alten blumigen Muster als Vorsatz: dahinein h‰tte ich geschrieben. Ich h‰tte viel geschrieben, denn ich h‰tte viele Gedanken gehabt und Erinnerungen von Vielen. Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen, warum. Meine alten Mˆbel faulen in einer Scheune, in die ich sie habe stellen d¸rfen, und ich selbst, ja, mein Gott, ich habe kein Dach ¸ber mir, und es regnet mir in die Augen.

Manchmal gehe ich an kleinen L‰den vorbei in der rue de Seine etwa. H‰ndler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oder Kupferstichverk‰ufer mit ¸berf¸llten Schaufenstern. Nie tritt jemand bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Gesch‰fte. Sieht man aber hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sorgen nicht um morgen, ‰ngstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch grˆfler macht, indem sie die B¸cherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den R¸cken.

Ach, wenn das gen¸gte: ich w¸nschte manchmal, mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen f¸r zwanzig Jahre.

Es ist gut, es laut zu sagen: “Es ist nichts geschehen.” Noch einmal: “Es ist nichts geschehen.” Hilft es?

Dafl mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehen muflte, das ist doch wirklich kein Ungl¸ck. Dafl ich mich matt und erk‰ltet f¸hle, hat nichts zu bedeuten. Dafl ich den ganzen Tag in den Gassen umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich h‰tte ebensogut im Louvre sitzen kˆnnen. Oder nein, das h‰tte ich nicht. Dort sind gewisse Leute, die sich w‰rmen wollen. Sie sitzen auf den Samtb‰nken, und ihre F¸fle stehen wie grofle leere Stiefel nebeneinander auf den Gittern der Heizungen. Es sind ‰uflerst bescheidene M‰nner, die dankbar sind, wenn die Diener in den dunklen Uniformen mit den vielen Orden sie dulden. Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen und nicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern hin und her gehe, behalten sie mich im Auge, immer im Auge, immer in diesem umger¸hrten, zusammengeflossenen Auge. Es war also gut, dafl ich nicht ins Louvre gegangen bin. Ich bin immer unterwegs gewesen. Weifl der Himmel in wie vielen St‰dten, Stadtteilen, Friedhˆfen, Br¸cken und Durchg‰ngen. Irgendwo habe ich einen Mann gesehen, der einen Gem¸sewagen vor sich herschob. Er schrie: Choufleur, Chou-fleur, das fleur mit eigent¸mlich tr¸bem eu. Neben ihm ging eine eckige, h‰flliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstiefl. Und wenn sie ihn anstiefl, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann war es umsonst gewesen, und er muflte gleich darauf wieder schreien, weil man vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon gesagt, dafl er blind war? Nein? Also er war blind. Er war blind und schrie. Ich f‰lsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er schob, ich tue, als h‰tte ich nicht bemerkt, dafl er Blumenkohl ausrief. Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich w‰re, kommt es nicht darauf an, was die ganze Sache f¸r mich gewesen ist? Ich habe einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich gesehen. Gesehen.

Wird man es glauben, dafl es solche H‰user giebt? Nein, man wird sagen, ich f‰lsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, nat¸rlich auch nichts hinzugetan. Woher sollte ich es nehmen? Man weifl, dafl ich arm bin. Man weifl es. H‰user? Aber, um genau zu sein, es waren H‰user, die nicht mehr da waren. H‰user, die man abgebrochen hatte von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen H‰user, die danebengestanden hatten, hohe Nachbarh‰user. Offenbar waren sie in Gefahr, umzufallen, seit man nebenan alles weggenommen hatte; denn ein ganzes Ger¸st von langen, geteerten Mastb‰umen war schr‰g zwischen den Grund des Schuttplatzes und die bloflgelegte Mauer gerammt. Ich weifl nicht, ob ich schon gesagt habe, dafl ich diese Mauer meine. Aber es war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen H‰user (was man doch h‰tte annehmen m¸ssen), sondern die letzte der fr¸heren. Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerw‰nde, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fuflbodens oder der Decke. Neben den Zimmerw‰nden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweifler Raum, und durch diesen kroch in uns‰glich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortrˆhre. Von den Wegen, die das Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spuren am Rande der Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet, rund um und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein, das schwarz und r¸cksichtslos ausgerissen war. Am unvergefllichsten aber waren die W‰nde selbst. Das z‰he Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den N‰geln, die geblieben waren, es stand auf dem bandbreiten Rest der Fuflbˆden, es war unter den Ans‰tzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab, zusammengekrochen. Man konnte sehen, dafl es in der Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Gr¸n, Gr¸n in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes Weifl, das fault. Aber es war auch in den frischeren Stellen, die sich hinter Spiegeln, Bildern und Schr‰nken erhalten hatten; denn es hatte ihre Umrisse gezogen und nachgezogen und war mit Spinnen und Staub auch auf diesen versteckten Pl‰tzen gewesen, die jetzt blofllagen. Es war in jedem Streifen, der abgeschunden war, es war in den feuchten Blasen am unteren Rande der Tapeten, es schwankte in den abgerissenen Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, gr¸n und gelb gewesenen W‰nden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstˆrten Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die z‰he, tr‰ge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweifl, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch g‰render F¸fle. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Rufl und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der s¸fle, lange Geruch von vernachl‰ssigten S‰uglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schw¸le aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles hatte sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus dem Abgrund der Gasse, die verdunstete, und anderes war von oben herabgesickert mit dem Regen, der ¸ber den St‰dten nicht rein ist. Und manches hatte die schwachen, zahm gewordenen Hauswinde, die immer in derselben Strafle bleiben, zugetragen, und es war noch vieles da, wovon man den Ursprung nicht wuflte. Ich habe doch gesagt, dafl man alle Mauern abgebrochen hatte bis auf die letzte–? Nun von dieser Mauer spreche ich fortw‰hrend. Man wird sagen, ich h‰tte lange davorgestanden; aber ich will einen Eid geben daf¸r, dafl ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, dafl ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.

Ich war etwas erschˆpft nach alledem, man kann wohl sagen angegriffen, und darum war es zuviel f¸r mich, dafl auch er noch auf mich warten muflte. Er wartete in der kleinen CrÈmerie, wo ich zwei Spiegeleier essen wollte; ich war hungrig, ich war den ganzen Tag nicht dazu gekommen zu essen. Aber ich konnte auch jetzt nichts zu mir nehmen; ehe die Eier noch fertig waren, trieb es mich wieder hinaus in die Straflen, die ganz dickfl¸ssig von Menschen mir entgegenrannen. Denn es war Fasching und Abend, und die Leute hatten alle Zeit und trieben umher und rieben sich einer am andern. Und ihre Gesichter waren voll von dem Licht, das aus den Schaubuden kam, und das Lachen quoll aus ihren Munden wie Eiter aus offenen Stellen. Sie lachten immer mehr und dr‰ngten sich immer enger zusammen, je ungeduldiger ich versuchte vorw‰rts zu kommen. Das Tuch eines Frauenzimmers hakte sich irgendwie an mir fest, ich zog sie hinter mir her, und die Leute hielten mich auf und lachten, und ich f¸hlte, dafl ich auch lachen sollte, aber ich konnte es nicht. Jemand warf mir eine Hand Confetti in die Augen, und es brannte wie eine Peitsche. An den Ecken waren die Menschen festgekeilt, einer in den andern geschoben, und es war keine Weiterbewegung in ihnen, nur ein leises, weiches Auf und Ab, als ob sie sich stehend paarten. Aber obwohl sie standen und ich am Rande der Fahrbahn, wo es Risse im Gedr‰nge gab, hinlief wie ein Rasender, war es in Wahrheit doch so, dafl sie sich bewegten und ich mich nicht r¸hrte. Denn es ver‰nderte sich nichts; wenn ich aufsah, gewahrte ich immer noch dieselben H‰user auf der einen Seite und auf der anderen die Schaubuden. Vielleicht auch stand alles fest, und es war nur ein Schwindel in mir und ihnen, der alles zu drehen schien. Ich hatte keine Zeit, dar¸ber nachzudenken, ich war schwer von Schweifl, und es kreiste ein bet‰ubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute etwas zu Grofles mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. Und dabei f¸hlte ich, dafl die Luft l‰ngst zu Ende war und dafl ich nur mehr Ausgeatmetes einzog, das meine Lungen stehen lieflen.

Aber nun ist es vorbei; ich habe es ¸berstanden. Ich sitze in meinem Zimmer bei der Lampe; es ist ein wenig kalt, denn ich wage es nicht, den Ofen zu versuchen; was, wenn er rauchte und ich m¸flte wieder hinaus? Ich sitze und denke: wenn ich nicht arm w‰re, w¸rde ich mir ein anderes Zimmer mieten, ein Zimmer mit Mˆbeln, die nicht so aufgebraucht sind, nicht so voll von fr¸heren Mietern wie diese hier. Zuerst war es mir wirklich schwer, den Kopf in diesen Lehnstuhl zu legen; es ist da n‰mlich eine gewisse schmierig-graue Mulde in seinem gr¸nen Bezug, in die alle Kˆpfe zu passen scheinen. L‰ngere Zeit gebrauchte ich die Vorsicht, ein Taschentuch unter meine Haare zu legen, aber jetzt bin ich zu m¸de dazu; ich habe gefunden, dafl es auch so geht und dafl die kleine Vertiefung genau f¸r meinen Hinterkopf gemacht ist, wie nach Mafl. Aber ich w¸rde mir, wenn ich nicht arm w‰re, vor allem einen guten Ofen kaufen, und ich w¸rde das reine, starke Holz heizen, welches aus dem Gebirge kommt, und nicht diese trostlosen tÍtes-de-moineau, deren Dunst das Atmen so bang macht und den Kopf so wirr. Und dann m¸flte jemand da sein, der ohne grobes Ger‰usch aufr‰umt und der das Feuer besorgt, wie ich es brauche; denn oft, wenn ich eine Viertelstunde vor dem Ofen knien mufl und r¸tteln, die Stirnhaut gespannt von der nahen Glut und mit Hitze in den offenen Augen, gebe ich alles aus, was ich f¸r den Tag an Kraft habe, und wenn ich dann unter die Leute komme, haben sie es nat¸rlich leicht. Ich w¸rde manchmal, wenn grofles Gedr‰nge ist, einen Wagen nehmen, vorbeifahren, ich w¸rde t‰glich in einem Duval essen… und nicht mehr in die CrÈmerien kriechen… Ob er wohl auch in einem Duval gewesen w‰re? Nein. Dort h‰tte er nicht auf mich warten d¸rfen. Sterbende l‰flt man nicht hinein. Sterbende? Ich sitze ja jetzt in meiner Stube; ich kann ja versuchen, ruhig ¸ber das nachzudenken, was mir begegnet ist. Es ist gut, nichts im Ungewissen zu lassen. Also ich trat ein und sah zuerst nur, dafl der Tisch, an dem ich ˆfters zu sitzen pflegte, von jemandem anderen eingenommen war. Ich gr¸flte nach dem kleinen Buffet hin, bestellte und setzte mich nebenan. Aber da f¸hlte ich ihn, obwohl er sich nicht r¸hrte. Gerade seine Regungslosigkeit f¸hlte ich und begriff sie mit einem Schlage. Die Verbindung zwischen uns war hergestellt, und ich wuflte, dafl er erstarrt war vor Entsetzen. Ich wuflte, dafl das Entsetzen ihn gel‰hmt hatte, Entsetzen ¸ber etwas, was in ihm geschah. Vielleicht brach ein Gef‰fl in ihm, vielleicht trat ein Gift, das er lange gef¸rchtet hatte, gerade jetzt in seine Herzkammer ein, vielleicht ging ein grofles Geschw¸r auf in seinem Gehirn wie eine Sonne, die ihm die Welt verwandelte. Mit unbeschreiblicher Anstrengung zwang ich mich, nach ihm hinzusehen, denn ich hoffte noch, dafl alles Einbildung sei. Aber es geschah, dafl ich aufsprang und hinausst¸rzte; denn ich hatte mich nicht geirrt. Er safl da in einem dicken, schwarzen Wintermantel, und sein graues, gespanntes Gesicht hing tief in ein wollenes Halstuch. Sein Mund war geschlossen, als w‰re er mit grofler Wucht zugefallen, aber es war nicht mˆglich zu sagen, ob seine Augen noch schauten: beschlagene, rauchgraue Brillengl‰ser lagen davor und zitterten ein wenig. Seine Nasenfl¸gel waren aufgerissen, und das lange Haar ¸ber seinen Schl‰fen, aus denen alles weggenommen war, welkte wie in zu grofler Hitze. Seine Ohren waren lang, gelb, mit groflen Schatten hinter sich. Ja, er wuflte, dafl er sich jetzt von allem entfernte, nicht nur von den Menschen. Ein Augenblick noch, und alles wird seinen Sinn verloren haben, und dieser Tisch und die Tasse und der Stuhl, an den er sich klammert, alles T‰gliche und N‰chste wird unverst‰ndlich geworden sein, fremd und schwer. So safl er da und wartete, bis es geschehen sein w¸rde. Und wehrte sich nicht mehr.

Und ich wehre mich noch. Ich wehre mich, obwohl ich weifl, dafl mir das Herz schon heraush‰ngt und dafl ich doch nicht mehr leben kann, auch wenn meine Qu‰ler jetzt von mir ablieflen. Ich sage mir: es ist nichts geschehen, und doch habe ich jenen Mann nur begreifen kˆnnen, weil auch in mir etwas vor sich geht, das anf‰ngt, mich von allem zu entfernen und abzutrennen. Wie graute mir immer, wenn ich von einem Sterbenden sagen hˆrte: er konnte schon niemanden mehr erkennen. Dann stellte ich mir ein einsames Gesicht vor, das sich aufhob aus Kissen und suchte, nach etwas Bekanntem suchte, nach etwas schon einmal Gesehenem suchte, aber es war nichts da. Wenn meine Furcht nicht so grofl w‰re, so w¸rde ich mich damit trˆsten, dafl es nicht unmˆglich ist, alles anders zu sehen und doch zu leben. Aber ich f¸rchte mich, ich f¸rchte mich namenlos vor dieser Ver‰nderung. Ich bin ja noch gar nicht in dieser Welt eingewˆhnt gewesen, die mir gut scheint. Was soll ich in einer anderen? Ich w¸rde so gerne unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden sind, und wenn schon etwas sich ver‰ndern mufl, so mˆchte ich doch wenigstens unter den Hunden leben d¸rfen, die eine verwandte Welt haben und dieselben Dinge.

Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heiflen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflˆsen und wie Wasser niedergehen. Bei aller Furcht bin ich schliefllich doch wie einer, der vor etwas Groflem steht, und ich erinnere mich, dafl es fr¸her oft ‰hnlich in mir war, eh ich zu schreiben begann. Aber diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird. Oh, es fehlt nur ein kleines, und ich kˆnnte das alles begreifen und gutheiflen. Nur ein Schritt, und mein tiefes Elend w¸rde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen Schritt nicht tun, ich bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin. Ich habe ja immer noch geglaubt, es kˆnnte eine H¸lfe kommen. Da liegt es vor mir in meiner eigenen Schrift, was ich gebetet habe, Abend f¸r Abend. Ich habe es mir aus den B¸chern, in denen ich es fand, abgeschrieben, damit es mir ganz nahe w‰re und aus meiner Hand entsprungen wie Eigenes. Und ich will es jetzt noch einmal schreiben, hier vor meinem Tisch kniend will ich es schreiben; denn so habe ich es l‰nger, als wenn ich es lese, und jedes Wort dauert an und hat Zeit zu verhallen.

‘MÈcontent de tous et mÈcontent de moi, je voudrais bien me racheter et m’enorgueillir un peu dans le silence et la solitude de la nuit. ¬mes de ceux que j’ai aimÈs, ‚mes de ceux que j’ai chantÈs, fortifiez-moi, soutenez-moi, Èloignez de moi le mensonge et les vapeurs corruptrices du monde; et vous, Seigneur mon Dieu! accordez-moi la gr‚ce de produire quelques beaux vers qui me prouvent ‡ moi-mÍme que je ne suis pas le dernier des hommes, que je ne suis pas infÈrieur ‡ ceux que je mÈprise.’

‘Die Kinder loser und verachteter Leute, die die Geringsten im Lande waren. Nun bin ich ihr Saitenspiel worden und mufl ihr M‰rlein sein.

… sie haben ¸ber mich einen Weg gemacht…

… es war ihnen so leicht, mich zu besch‰digen, dafl sie keiner H¸lfe dazu durften.

… nun aber geuflet sich aus meiner Seele ¸ber mich, und mich hat ergriffen die elende Zeit.

Des Nachts wird mein Gebein durchbohret allenthalben; und die mich jagen, legen sich nicht schlafen.

Durch die Menge der Kraft werde ich anders und anders gekleidet; und man g¸rtet mich damit wie mit dem Loch meines Rocks…

Meine Eingeweide sieden und hˆren nicht auf; mich hat ¸berfallen die elende Zeit…

Meine Harfe ist eine Klage worden, und meine Pfeife ein Weinen.’

Der Arzt hat mich nicht verstanden. Nichts. Es war ja auch schwer zu erz‰hlen. Man wollte einen Versuch machen mit dem Elektrisieren. Gut. Ich bekam einen Zettel: ich sollte um ein Uhr in der SalpÍtrËre sein. Ich war dort. Ich muflte lange an verschiedenen Baracken vor¸ber, durch mehrere Hˆfe gehen, in denen da und dort Leute mit weiflen Hauben wie Str‰flinge unter den leeren B‰umen standen. Endlich kam ich in einen langen, dunklen, gangartigen Raum, der auf der einen Seite vier Fenster aus mattem, gr¸nlichem Glase hatte, eines vom anderen durch eine breite, schwarze Zwischenwand getrennt. Davor lief eine Holzbank hin, an allem vorbei, und auf dieser Bank saflen sie, die mich kannten, und warteten. Ja, sie waren alle da. Als ich mich an die D‰mmerung des Raumes gewˆhnt hatte, merkte ich, dafl unter denen, welche Schulter an Schulter in endloser Reihe dasaflen, auch einige andere Leute sein konnten, kleine Leute, Handwerker, Bedienernnen und Lastkutscher. Unten an der Schmalseite des Ganges auf besonderen St¸hlen hatten sich zwei dicke Frauen ausgebreitet, die sich unterhielten, vermutlich Conciergen. Ich sah nach der Uhr; es war f¸nf Minuten vor Eins. Nun in f¸nf, sagen wir in zehn Minuten, muflte ich drankommen; es war also nicht so schlimm. Die Luft war schlecht, schwer, voll Kleider und Atem. An einer gewissen Stelle schlug die starke, steigernde K¸hle von ƒther aus einer T¸rspalte. Ich begann auf und ab zu gehen. Es kam mir in den Sinn, dafl man mich hierher gewiesen hatte, unter diese Leute, in diese ¸berf¸llte, allgemeine Sprechstunde. Es war sozusagen die erste ˆffentliche Best‰tigung, dafl ich zu den Fortgeworfenen gehˆrte; hatte der Arzt es mir angesehen? Aber ich hatte meinen Besuch in einem leidlich guten Anzuge gemacht, ich hatte meine Karte hineingeschickt. Trotzdem, er muflte es irgendwie erfahren haben, vielleicht hatte ich mich selbst verraten. Nun, da es einmal Tatsache war, fand ich es auch gar nicht so arg; die Leute saflen still und achteten nicht auf mich. Einige hatten Schmerzen und schwenkten ein wenig das eine Bein, um sie leichter auszuhalten. Verschiedene M‰nner hatten den Kopf in die flachen H‰nde gelegt, andere schliefen tief mit schweren, versch¸tteten Gesichtern. Ein dicker Mann mit rotem, angeschwollenem Halse safl vor¸bergebeugt da, stierte auf den Fuflboden und spie von Zeit zu Zeit klatschend auf einen Fleck, der ihm dazu passend schien. Ein Kind schluchzte in einer Ecke; die langen magern Beine hatte es zu sich auf die Bank gezogen, und nun hielt es sie umfaflt und an sich gepreflt, als m¸flte es von ihnen Abschied nehmen. Eine kleine, blasse Frau, der ein mit runden, schwarzen Blumen geputzter Krepphut schief auf den Haaren safl, hatte die Grimasse eines L‰chelns um die d¸rftigen Lippen, aber ihre wunden Lider gingen best‰ndig ¸ber. Nicht weit von ihr hatte man ein M‰dchen hingesetzt mit rundem glatten Gesicht und herausgedr‰ngten Augen, die ohne Ausdruck waren; sein Mund stand offen, so dafl man das weifle, schleimige Zahnfleisch sah mit den alten, verk¸mmerten Z‰hnen. Und viele Verb‰nde gab es. Verb‰nde, die den ganzen Kopf Schichte um Schichte umzogen, bis nur noch ein einziges Auge da war, das niemandem mehr gehˆrte. Verb‰nde, die verbargen, und Verb‰nde, die zeigten, was darunter war. Verb‰nde, die man geˆffnet hatte und in denen nun, wie in einem schmutzigen Bett, eine Hand lag, die keine mehr war; und ein eingebundenes Bein, das aus der Reihe herausstand, grofl wie ein ganzer Mensch. Ich ging auf und ab und gab mir M¸he, ruhig zu sein. Ich besch‰ftigte mich viel mit der gegen¸berliegenden Wand. Ich bemerkte, dafl sie eine Anzahl einfl¸geliger T¸ren enthielt und nicht bis an die Decke reichte, so dafl dieser Gang von den R‰umen, die daneben liegen muflten, nicht ganz abgetrennt war. Ich sah nach der Uhr; ich war eine Stunde auf und ab gegangen. Eine Weile sp‰ter kamen die ƒrzte. Zuerst ein paar junge Leute, die mit gleichg¸ltigen Gesichtern vorbeigingen, schliefllich der, bei dem ich gewesen war, in lichten Handschuhen, Chapeau ‰huit reflets, tadellosem ‹berzieher. Als er mich sah, hob er ein wenig den Hut und l‰chelte zerstreut. Ich hatte nun Hoffnung, gleich gerufen zu werden, aber es verging wieder eine Stunde. Ich kann mich nicht erinnern, womit ich sie verbrachte. Sie verging. Ein alter Mann kam in einer fleckigen Sch¸rze, eine Art W‰rter, und ber¸hrte mich an der Schulter. Ich trat in eines der Nebenzimmer. Der Arzt und die jungen Leute saflen um einen Tisch und sahen mich an, man gab mir einen Stuhl. So. Und nun sollte ich erz‰hlen, wie das eigentlich mit mir w‰re. Mˆglichst kurz, s’il vous plaÓt. Denn viel Zeit h‰tten die Herren nicht. Mir war seltsam zumut. Die jungen Leute saflen und sahen mich an mit jener ¸berlegenen, fachlichen Neugier, die sie gelernt hatten. Der Arzt, den ich kannte, strich seinen schwarzen Spitzbart und l‰chelte zerstreut. Ich dachte, dafl ich in Weinen ausbrechen w¸rde, aber ich hˆrte mich franzˆsisch sagen: “Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen, mein Herr, alle Ausk¸nfte zu geben, die ich geben kann. Halten Sie es f¸r nˆtig, dafl diese Herren eingeweiht werden, so sind Sie nach unserer Unterredung gewifl imstande, dies mit einigen Worten zu tun, w‰hrend es mir sehr schwer f‰llt.” Der Arzt erhob sich mit hˆflichem L‰cheln, trat mit den Assistenten ans Fenster und sagte ein paar Worte, die er mit einer waagerechten, schwankenden Handbewegung begleitete. Nach drei Minuten kam einer von den jungen Leuten, kurzsichtig und fahrig, an den Tisch zur¸ck und sagte, indem er versuchte, mich strenge anzusehen: “Sie schlafen gut, mein Herr?” “Nein, schlecht.” Worauf er wieder zu der Gruppe zur¸ck sprang. Dort verhandelte man noch eine Weile, dann wandte sich der Arzt an mich und teilte mir mit, dafl man mich rufen lassen w¸rde. Ich erinnerte ihn, dafl ich auf ein Uhr bestellt worden sei. Er l‰chelte und machte ein paar schnelle, sprunghafte Bewegungen mit seinen kleinen weiflen H‰nden, die bedeuten wollten, dafl er ungemein besch‰ftigt sei. Ich kehrte also in meinen Gang zur¸ck, in dem die Luft viel lastender geworden war, und fing wieder an, hin und her zu gehen, obwohl ich mich todm¸de f¸hlte. Schliefllich machte der feuchte, angeh‰ufte Geruch mich schwindlig; ich blieb an der Eingangst¸r stehen und ˆffnete sie ein wenig. Ich sah, dafl drauflen noch Nachmittag und etwas Sonne war, und das tat mir unsagbar wohl. Aber ich hatte kaum eine Minute so gestanden, da hˆrte ich, dafl man mich rief. Eine Frauenperson, die zwei Schritte entfernt bei einem kleinen Tische safl, zischte mir etwas zu. Wer mich geheiflen h‰tte, die T¸re ˆffnen. Ich sagte, ich kˆnnte die Luft nicht vertragen. Gut, das sei meine Sache, aber die T¸re m¸sse geschlossen bleiben. Ob es denn nicht anginge, ein Fenster aufzumachen. Nein, das sei verboten. Ich beschlofl, das Aufundabgehen wieder aufzunehmen, weil es schliefllich eine Art Bet‰ubung war und niemanden kr‰nkte. Aber der Frau an dem kleinen Tische miflfiel jetzt auch das. Ob ich denn keinen Platz h‰tte. Nein, den h‰tte ich nicht. Das Herumgehen sei aber nicht gestattet; ich m¸flte mir einen Platz suchen. Es w¸rde schon noch einer da sein. Die Frau hatte recht. Es fand sich wirklich sogleich ein Platz neben dem M‰dchen mit den herausdr‰ngenden Augen. Da safl ich nun in dem Gef¸hle, dafl dieser Zustand unbedingt auf etwas F¸rchterliches vorbereiten m¸sse. Links war also das M‰dchen mit dem faulenden Zahnfleisch; was rechts von mir war, konnte ich erst nach einer Weile erkennen. Es war eine ungeheuere, unbewegliche Masse, die ein Gesicht hatte und eine grofle, schwere, reglose Hand. Die Seite des Gesichtes, die ich sah, war leer, ganz ohne Z¸ge und ohne Erinnerungen, und es war un heimlich, dafl der Anzug wie der einer Leiche war, die man f¸r den Sarg angekleidet hatte. Die schmale, schwarze Halsbinde war in derselben losen unpersˆnlichen Weise um den Kragen geschnallt, und dem Rock sah man es an, dafl er von anderen ¸ber diesen willenlosen Kˆrper gezogen worden war. Die Hand hatte man auf diese Hose gelegt, dorthin wo sie lag, und sogar das Haar war wie von Leichenw‰scherinnen gek‰mmt und war, wie das Haar ausgestopfter Tiere, steif geordnet. Ich betrachtete das alles mit Aufmerksamkeit, und es fiel mir ein, dafl dies also der Platz sei, der f¸r mich bestimmt gewesen war, denn ich glaubte nun endlich an diejenige Stelle meines Lebens gekommen zu sein, an der ich bleiben w¸rde. Ja, das Schicksal geht wunderbare Wege.

Plˆtzlich erhoben sich ganz in der N‰he rasch hintereinander die erschreckten, abwehrenden Schreie eines Kindes, denen ein leises, zugehaltenes Weinen folgte. W‰hrend ich mich anstrengte, herauszufinden, wo das kˆnnte gewesen sein, verzitterte wieder ein kleiner, unterdr¸ckter Schrei, und ich hˆrte Stimmen, die fragten, eine Stimme, die halblaut befahl, und dann schnurrte irgend eine gleichg¸ltige Maschine los und k¸mmerte sich um nichts. Jetzt erinnerte ich mich jener halben Wand, und es war mir klar, dafl das alles von jenseits der T¸ren kam und dafl man dort an der Arbeit war. Wirklich erschien von Zeit zu Zeit der W‰rter mit der fleckigen Sch¸rze und winkte. Ich dachte gar nicht mehr daran, dafl er mich meinen kˆnnte. Galt es mir? Nein. Zwei M‰nner waren da mit einem Rollstuhl; sie hoben die Masse hinein, und ich sah jetzt, dafl es ein alter, lahmer Mann war, der noch eine andere, kleinere, vom Leben abgenutzte Seite hatte mit einem offenen, tr¸ben, traurigen Auge. Sie fuhren ihn hinein, und neben mir entstand eine Menge Platz. Und ich safl und dachte, was sie wohl dem blˆden M‰dchen tun wollten und ob es auch schreien w¸rde. Die Maschinen dahinten schnurrten so angenehm fabrikm‰flig, es hatte gar nichts Beunruhigendes.

Plˆtzlich aber war alles still, und in die Stille sagte eine ¸berlegene, selbstgef‰llige Stimme, die ich zu kennen glaubte:

“Riez!” Pause. “Riez. Mais riez, riez.” Ich lachte schon. Es war unerkl‰rlich, weshalb der Mann da dr¸ben nicht lachen wollte. Eine Maschine ratterte los, verstummte aber sofort wieder, Worte wurden gewechselt, dann erhob sich wieder dieselbe energische Stimme und befahl: “Dites-nous le mot: avant.” Buchstabierend: “a-v-a-n-t”… Stille. “On n’entend rien. Encore une fois:… ”

Und da, als es dr¸ben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Grofle. Ja, so hatte ich immer gesagt, wenn sie alle um mein Bett standen und mir den Puls f¸hlten und mich fragten, was mich erschreckt habe: Das Grofle. Und wenn sie den Doktor holten und er war da und redete mir zu, so bat ich ihn, er mˆchte nur machen, dafl das Grofle wegginge, alles andere w‰re nichts. Aber er war wie die andern. Er konnte es nicht fortnehmen, obwohl ich damals doch klein war und mir leicht zu helfen gewesen w‰re. Und jetzt war es wieder da. Es war sp‰ter einfach ausgeblieben, auch in Fiebern‰chten war es nicht wiedergekommen, aber jetzt war es da, obwohl ich kein Fieber hatte. Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst, wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von mir, obwohl es doch gar nicht zu mir gehˆren konnte, weil es so grofl war. Es war da, wie ein grofles totes Tier, das einmal, als es noch lebte, meine Hand gewesen war oder mein Arm. Und mein Blut ging durch mich und durch es, wie durch einen und denselben Kˆrper. Und mein Herz muflte sich sehr anstrengen, um das Blut in das Grofle zu treiben: es war fast nicht genug Blut da. Und das Blut trat ungern ein in das Grofle und kam krank und schlecht zur¸ck. Aber das Grofle schwoll an und wuchs mir vor das Gesicht wie eine warme bl‰uliche Beule und wuchs mir vor den Mund, und ¸ber meinem letzten Auge war schon der Schatten von seinem Rande.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen Hˆfe hinausgekommen war. Es war Abend, und ich verirrte mich in der fremden Gegend und ging Boulevards mit endlosen Mauern in einer Richtung hinauf und, wenn dann kein Ende da war, in der entgegengesetzten Richtung zur¸ck bis an irgendeinen Platz. Dort begann ich eine Strafle zu gehen, und es kamen andere Straflen, die ich nie gesehen hatte, und wieder andere. Elektrische Bahnen rasten manchmal ¸berhell und mit hartem, klopfendem Gel‰ute heran und vorbei. Aber auf ihren Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wuflte nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine Wohnung hatte und was ich tun muflte, um nicht mehr gehen zu m¸ssen.

Und jetzt auch noch diese Krankheit, die mich immer schon so eigent¸mlich ber¸hrt hat. Ich bin sicher, dafl man sie untersch‰tzt. Genau wie man die Bedeutung anderer Krankheiten ¸bertreibt. Diese Krankheit hat keine bestimmten Eigenheiten, sie nimmt die Eigenheiten dessen an, den sie ergreift. Mit einer somnambulen Sicherheit holt sie aus einem jeden seine tiefste Gefahr heraus, die vergangen schien, und stellt sie wieder vor ihn hin, ganz nah, in die n‰chste Stunde. M‰nner, die einmal in der Schulzeit das h¸lflose Laster versucht haben, dessen betrogene Vertraute die armen, harten Knabenh‰nde sind, finden sich wieder dar¸ber, oder es f‰ngt eine Krankheit, die sie als Kinder ¸berwunden haben, wieder in ihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit ist wieder da, ein gewisses zˆgerndes Wenden des Kopfes, das ihnen vor Jahren eigen war. Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daranh‰ngt wie nasser Tang an einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren h‰tte, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und verdr‰ngen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist m¸de von zu oftem Erinnern.

Ich liege in meinem Bett, f¸nf Treppen hoch, und mein Tag, den nichts unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. Wie ein Ding, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlustes, ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen w‰re–: so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle verlorenen ƒngste sind wieder da.

Die Angst, dafl ein kleiner Wollfaden, der auf dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine st‰hlerne Nadel; die Angst, dafl dieser kleine Knopf meines Nachthemdes grˆfler sei als mein Kopf, grofl und schwer; die Angst, dafl dieses Kr¸mchen Brot, das jetzt von meinem Bette f‰llt, gl‰sern und zerschlagen unten ankommen w¸rde, und die dr¸ckende Sorge, dafl damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles f¸r immer; die Angst, dafl der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen d¸rfe, etwas unbeschreiblich Kostbares, f¸r das keine Stelle in der Stube sicher genug sei; die Angst, dafl ich, wenn ich einschliefe, das St¸ck Kohle verschlucken w¸rde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, dafl irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; die Angst, dafl das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, dafl ich schreien kˆnnte und dafl man vor meiner T¸re zusammenliefe und sie schliefllich aufbr‰che, die Angst, dafl ich mich verraten kˆnnte und alles das sagen, wovor ich mich f¸rchte, und die Angst, dafl ich nichts sagen kˆnnte, weil alles unsagbar ist,–und die anderen ƒngste… die ƒngste.

Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und ich f¸hle, dafl sie immer noch so schwer ist wie damals und dafl es nichts gen¸tzt hat, ‰lter zu werden.

Gestern war mein Fieber besser, und heute f‰ngt der Tag wie Fr¸hling an, wie Fr¸hling in Bildern. Ich will versuchen, auszugehen in die BibliothËque Nationale zu meinem Dichter, den ich so lange nicht gelesen habe, und vielleicht kann ich sp‰ter langsam durch die G‰rten gehen. Vielleicht ist Wind ¸ber dem groflen Teich, der so wirkliches Wasser hat, und es kommen Kinder, die ihre Schiffe mit den roten Segeln hineinlassen und zuschauen.

Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als w‰re das das Nat¸rlichste und Einfachste. Und doch, es war wieder etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenkn¸llte und fortwarf, es war etwas Unerhˆrtes da.

Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf seiner leisen Neigung. Fensterfl¸gel oben ˆffneten sich mit gl‰sernem Aufklang, und ihr Gl‰nzen flog wie ein weifler Vogel ¸ber die Strafle. Ein Wagen mit hellroten R‰dern kam vor¸ber, und weiter unten trug jemand etwas Lichtgr¸nes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu, mild, und alles stieg auf: Ger¸che, Rufe, Glocken.

Ich kam an einem der CafÈh‰user vorbei, in denen am Abend die falschen roten Zigeuner spielen. Aus den offenen Fenstern kroch mit schlechtem Gewissen die ¸bern‰chtige Luft. Glattgek‰mmte Kellner waren dabei, vor der T¸re zu scheuern. Der eine stand geb¸ckt und warf, handvoll nach handvoll, gelblichen Sand unter die Tische. Da stiefl ihn einer von den Vor¸bergehenden an und zeigte die Strafle hinunter. Der Kellner, der ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile scharf hin, dann verbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen Wangen, als w‰re es darauf versch¸ttet worden. Er winkte den andern Kellnern, drehte das lachende Gesicht ein paarmal schnell von rechts nach links, um alle herbeizurufen und selbst nichts zu vers‰umen. Nun standen alle und blickten hinuntersehend oder -suchend, l‰chelnd oder ‰rgerlich, dafl sie noch nicht entdeckt hatten, was L‰cherliches es g‰be.

Ich f¸hlte, dafl ein wenig Angst in mir anfing. Etwas dr‰ngte mich auf die andere Seite hin¸ber; aber ich begann nur schneller zu gehen und ¸berblickte unwillk¸rlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich nichts Besonderes bemerkte. Doch ich sah, dafl der eine, ein Laufbursche mit einer blauen Sch¸rze und einem leeren Henkelkorb ¸ber der einen Schulter, jemandem nachschaute. Als er genug hatte, drehte er sich auf derselben Stelle nach den H‰usern um und machte zu einem lachenden Kommis hin¸ber die schwankende Bewegung vor der Stirne, die allen gel‰ufig ist. Dann blitzte er mit den schwarzen ƒugen und kam mir befriedigt und sich wiegend entgegen.

Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine ungewˆhnliche und auffallende Figur zu sehen, aber es zeigte sich, dafl vor mir niemand ging, als ein grofler hagerer Mann in einem dunklen ‹berzieher und mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen, fahlblonden Haar. Ich vergewisserte mich, dafl weder an der Kleidung, noch in dem Benehmen dieses Mannes etwas L‰cherliches sei, und versuchte schon, an ihm vor¸ber den Boulevard hinunter zu schauen, als er ¸ber irgend etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht, aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe. Jetzt kam ein Straflen¸bergang, und da geschah es, dafl der Mann vor mir mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterh¸pfte in der Art etwa, wie Kinder manchmal w‰hrend des Gehens aufh¸pfen oder springen, wenn sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gangsteig kam er einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum war er oben, zog er das eine Bein ein wenig an und h¸pfte auf dem anderen einmal hoch und gleich darauf wieder und wieder. Jetzt konnte man diese plˆtzliche Bewegung wieder ganz gut f¸r ein Stolpern halten, wenn man sich einredete, es w‰re da eine Kleinigkeit gewesen, ein Kern, die glitschige Schale einer Frucht, irgend etwas; und das Seltsame war, dafl der Mann selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu glauben schien, denn er sah sich jedesmal mit jenem halb ‰rgerlichen, halb vorwurfsvollen Blick, den die Leute in solchen Augenblicken haben, nach der l‰stigen Stelle um. Noch einmal rief mich etwas Warnendes auf die andere Seite der Strafle, aber ich folgte nicht und blieb immerfort hinter diesem Manne, indem ich meine ganze Aufmerksamkeit auf seine Beine richtete. Ich mufl gestehen, dafl ich mich merkw¸rdig erleichtert f¸hlte, als etwa zwanzig Schritte lang jenes H¸pfen nicht wiederkam, aber da ich nun meine ƒugen aufhob, bemerkte ich, dafl dem Manne ein anderes ƒrgernis entstanden war. Der Kragen seines ‹berziehers hatte sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit einer Hand, bald mit beiden umst‰ndlich bem¸hte, ihn niederzulegen, es wollte nicht gelingen. Das kam vor. Es beunruhigte mich nicht. Aber gleich darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, dafl in den besch‰ftigten H‰nden dieses Menschen zwei Bewegungen waren: eine heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich hochklappte, und jene andere ausf¸hrliche, anhaltende, gleichsam ¸bertrieben buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, dafl zwei Minuten vergingen, ehe ich erkannte, dafl im Halse des Mannes, hinter dem hochgeschobenen ‹berzieher und den nervˆs agierenden H‰nden dasselbe schreckliche, zweisilbige H¸pfen war, das seine Beine eben verlassen hatte. Von diesem Augenblick an war ich an ihn gebunden. Ich begriff, dafl dieses H¸pfen in seinem Kˆrper herumirrte, dafl es versuchte, hier und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und ich begann selber vorsichtig zu pr¸fen, ob die Vor¸bergehenden etwas merkten. Ein kalter Stich fuhr mir durch den R¸cken, als seine Beine plˆtzlich einen kleinen, zuckenden Sprung machten, aber niemand hatte es gesehen, und ich dachte mir aus, dafl auch ich ein wenig stolpern wollte, im Falle jemand aufmerksam wurde. Das w‰re gewifl ein Mittel, Neugierige glauben zu machen, es h‰tte da doch ein kleines, unscheinbares Hindernis im Wege gelegen, auf das wir zuf‰llig beide getreten h‰tten. Aber w‰hrend ich so auf H¸lfe sann, hatte er selbst einen neuen, ausgezeichneten Ausweg gefunden. Ich habe vergessen zu sagen, dafl er einen Stock trug, nun, es war ein einfacher Stock, aus dunklem Holze mit einem schlichten, rund gebogenen Handgriff. Und es war ihm in seiner suchenden Angst in den Sinn gekommen, diesen Stock zun‰chst mit einer Hand (denn wer weifl, wozu die zweite noch nˆtig sein w¸rde) auf den R¸cken zu halten, gerade ¸ber die Wirbels‰ule, ihn fest ins Kreuz zu dr¸cken und das Ende der runden Kr¸cke in den Kragen zu schieben, so dafl man es hart und wie einen Halt hinter dem Halswirbel und dem ersten R¸ckenwirbel sp¸rte. Das war eine Haltung, die nicht auff‰llig, hˆchstens ein wenig ¸berm¸tig war; der unerwartete Fr¸hlingstag konnte das entschuldigen. Niemandem fiel es ein, sich umzusehen, und nun ging es. Es ging vortrefflich. Freilich beim n‰chsten Straflen¸bergange kamen zwei H¸pfer aus, zwei kleine, halbunterdr¸ckte H¸pfer, die vollkommen belanglos waren; und der eine, wirklich sichtbare Sprung war so geschickt angebracht (es lag gerade ein Spritzschlauch quer ¸ber dem Weg), dafl nichts zu bef¸rchten war. Ja, noch ging alles gut; von Zeit zu Zeit griff auch die zweite Hand an den Stock und preflte ihn fester an, und die Gefahr war gleich wieder ¸berstanden. Ich konnte nichts dagegen tun, dafl meine Angst dennoch wuchs. Ich wuflte, dafl, w‰hrend er ging und mit unendlicher Anstrengung versuchte, gleichg¸ltig und zerstreut auszusehen, das furchtbare Zucken in seinem Kˆrper sich anh‰ufte; auch in mir war die Angst, mit der er es wachsen und wachsen f¸hlte, und ich sah, wie er sich an den Stock klammerte, wenn es innen in ihm zu r¸tteln begann. Dann war der Ausdruck dieser H‰nde so unerbittlich und streng, dafl ich alle Hoffnung in seinen Willen setzte, der grofl sein muflte. Aber was war da ein Wille. Der Augenblick muflte kommen, da seine Kraft zu Ende war, er konnte nicht weit sein. Und ich, der ich hinter ihm herging mit stark schlagendem Herzen, ich legte mein biflchen Kraft zusammen wie Geld, und indem ich auf seine H‰nde sah, bat ich ihn, er mˆchte nehmen, wenn er es brauchte.

Ich glaube, dafl er es genommen hat; was konnte ich daf¸r, dafl es nicht mehr war.

Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin und her eilende Leute, wir waren oft zwischen zwei Wagen und dann holte er Atem und liefl sich ein wenig gehen, wie um auszuruhen, und ein wenig h¸pfte es und nickte ein wenig. Vielleicht war das die List, mit der die gefangene Krankheit ihn ¸berwinden wollte. Der Wille war an zwei Stellen durchbrochen, und das Nachgeben hatte in den besessenen Muskeln einen leisen, lockenden Reiz zur¸ckgelassen und den zwingenden Zweitakt. Aber der Stock war noch an seinem Platz, und die H‰nde sahen bˆse und zornig aus; so betraten wir die Br¸cke, und es ging. Es ging. Nun kam etwas Unsicheres in den Gang, nun lief er zwei Schritte, und nun stand er. Stand. Die linke Hand lˆste sich leise vom Stock ab und hob sich so langsam empor, dafl ich sie vor der Luft zittern sah; er schob den Hut ein wenig zur¸ck und strich sich ¸ber die Stirn. Er wandte ein wenig den Kopf, und sein Blick schwankte ¸ber Himmel, H‰user und Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab er nach. Der Stock war fort, er spannte die Arme aus, als ob er auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie eine Naturkraft und bog ihn vor und rifl ihn zur¸ck und liefl ihn nicken und neigen und schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon waren viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr.

Was h‰tte es f¸r einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu gehen, ich war leer. Wie ein leeres Papier trieb ich an den H‰usern entlang, den Boulevard wieder hinauf.

Ein Briefentwurf.

Ich versuche es, Dir zu schreiben, obwohl es eigentlich nichts giebt nach einem notwendigen Abschied. Ich versuche es dennoch, ich glaube, ich mufl es tun, weil ich die Heilige gesehen habe im Pantheon, die einsame, heilige Frau und das Dach und die T¸r und drin die Lampe mit dem bescheidnen Lichtkreis und dr¸ben die schlafende Stadt und den Flufl und die Ferne im Mondschein. Die Heilige wacht ¸ber der schlafenden Stadt. Ich habe geweint. Ich habe geweint, weil das alles auf einmal so unerwartet da war. Ich habe davor geweint, ich wuflte mir nicht zu helfen.

Ich bin in Paris, die es hˆren freuen sich, die meisten beneiden mich. Sie haben recht. Es ist eine grofle Stadt, grofl, voll merkw¸rdiger Versuchungen. Was mich betrifft, ich mufl zugeben, dafl ich ihnen in gewisser Beziehung erlegen bin. Ich glaube, es l‰flt sich nicht anders sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse Ver‰nderungen zur Folge gehabt, wenn nicht in meinem Charakter, so doch in meiner Weltanschauung, jedenfalls in meinem Leben. Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen Einfl¸ssen in mir herausgebildet, und es sind gewisse Unterschiede da, die mich von den Menschen mehr als alles Bisherige abtrennen. Eine ver‰nderte Welt. Ein neues Leben voll neuer Bedeutungen. Ich habe es augenblicklich etwas schwer, weil alles zu neu ist. Ich bin ein Anf‰nger in meinen eigenen Verh‰ltnissen.

Ob es nicht mˆglich w‰re, einmal das Meer zu sehen?

Ja, aber denke nur, ich bildete mir ein, Du kˆnntest kommen. H‰ttest Du mir vielleicht sagen kˆnnen, ob es einen Arzt giebt? Ich habe vergessen, mich danach zu erkundigen. ‹brigens brauche ich es jetzt nicht mehr.

Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht ‘Une Charogne’? Es kann sein, dafl ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerw‰rtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung giebt es nicht. H‰ltst Du es f¸r einen Zufall, dafl Flaubert seinen Saint-Julien-l’Hospitalier geschrieben hat? Es kommt mir vor, als w‰re das das Entscheidende: ob einer es ¸ber sich bringt, sich zu dem Auss‰tzigen zu legen und ihn zu erw‰rmen mit der Herzw‰rme der Liebesn‰chte, das kann nicht anders als gut ausgehen.

Glaube nur nicht, dafl ich hier an Entt‰uschungen leide, im Gegenteil. Es wundert mich manchmal, wie bereit ich alles Erwartete aufgebe f¸r das Wirkliche, selbst wenn es arg ist.

Mein Gott, wenn etwas davon sich teilen liefle. Aber w‰re es dann, w‰re es dann? Nein, es ist nur um den Preis des Alleinseins.

Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. Du atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber schl‰gt es sich nieder, wird hart, nimmt spitze, geometrische Formen an zwischen den Organen; denn alles, was sich an Qual und Grauen begeben hat auf den Richt pl‰tzen, in den Folterstuben, den Tollh‰usern, den Operationss‰len, unter den Br¸ckenbˆgen im Nachherbst: alles das ist von einer z‰hen Unverg‰nglichkeit, alles das besteht auf sich und h‰ngt, eifers¸chtig auf alles Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen mˆchten vieles davon vergessen d¸rfen; ihr Schlaf feilt sanft ¸ber solche Furchen im Gehirn, aber Tr‰ume dr‰ngen ihn ab und ziehen die Zeichnungen nach. Und sie wachen auf und keuchen und lassen einer Kerze Schein sich auflˆsen in der Finsternis und trinken, wie gezuckertes Wasser, die halbhelle Beruhigung. Aber, ach, auf welcher Kante h‰lt sich diese Sicherheit. Nur eine geringste Wendung, und schon wieder steht der Blick ¸ber Bekanntes und Freundliches hinaus, und der eben noch so trˆstliche Kontur wird deutlicher als ein Rand von Grauen. H¸te dich vor dem Licht, das den Raum hohler macht; sieh dich nicht um, ob nicht vielleicht ein Schatten hinter deinem Aufsitzen aufsteht wie dein Herr. Besser vielleicht, du w‰rest in der Dunkelheit geblieben und dein unabgegrenztes Herz h‰tte versucht, all des Ununterscheidbaren schweres Herz zu sein. Nun hast du dich zusammengenommen in dich, siehst dich vor dir aufhˆren in deinen H‰nden, ziehst von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein Gesicht nach. Und in dir ist beinah kein Raum; und fast stillt es dich, dafl in dieser Engheit in dir unmˆglich sehr Grofles sich aufhalten kann; dafl auch das Unerhˆrte binnen werden mufl und sich beschr‰nken den Verh‰ltnissen nach. Aber drauflen, drauflen ist es ohne Absehen; und wenn es da drauflen steigt, so f¸llt es sich auch in dir, nicht in den Gef‰flen, die teilweise in deiner Macht sind, oder im Phlegma deiner gleichm¸tigen Organe: im Kapillaren nimmt es zu, rˆhrig aufw‰rts gesaugt in die ‰uflersten Ver‰stelungen deines zahlloszweigigen Daseins. Dort hebt es sich, dort ¸bersteigt es dich, kommt hˆher als dein Atem, auf den du dich hinauffl¸chtest wie auf deine letzte Stelle. Ach, und wohin dann, wohin dann? Dein Herz treibt dich aus dir hinaus, dein Herz ist hinter dir her, und du stehst fast schon aufler dir und kannst nicht mehr zur¸ck. Wie ein K‰fer, auf den man tritt, so quillst du aus dir hinaus, und dein biflchen obere H‰rte und Anpassung ist ohne Sinn.

O Nacht ohne Gegenst‰nde. O stumpfes Fenster hinaus, O sorgsam verschlossene T¸ren; Einrichtungen von alters her, ¸bernommen, beglaubigt, nie ganz verstanden. O Stille im Stiegenhaus. Stille aus den Nebenzimmern, Stille hoch oben an der Decke. O Mutter: o du Einzige, die alle diese Stille verstellt hat, einst in der Kindheit. Die sie auf sich nimmt, sagt: erschrick nicht, ich bin es. Die den Mut hat, ganz in der Nacht diese Stille zu sein f¸r das, was sich f¸rchtet, was verkommt vor Furcht. Du z¸ndest ein Licht an, und schon das Ger‰usch bist du. Und du h‰lst es vor dich und sagst: ich bin es, erschrick nicht. Und du stellst es hin, langsam, und es ist kein Zweifel: du bist es, du bist das Licht um die gewohnten herzlichen Dinge, die ohne Hintersinn da sind, gut, einf‰ltig, eindeutig. Und wenn es unruhigt in der Wand irgendwo, oder einen Schritt macht in den Dielen: so l‰chelst du nur, l‰chelst, l‰chelst durchsichtig auf hellem Grund in das bangsame Gesicht, das an dir forscht, als w‰rst du eins und unterm Geheimnis mit jedem Halblaut, abgeredet mit ihm und einverstanden. Gleicht eine Macht deiner Macht in der irdischen Herrschaft? Sieh, Kˆnige liegen und starren, und der Geschichtenerz‰hler kann sie nicht ablenken. An den seligen Br¸sten ihrer Lieblingin ¸berkriecht sie das Grauen und macht sie schlottrig und lustlos. Du aber kommst und h‰ltst das Ungeheuere hinter dir und bist ganz und gar vor ihm; nicht wie ein Vorhang, den es da oder da aufschlagen kann. Nein, als h‰ttest du es ¸berholt auf den Ruf hin, der dich bedurfte. Als w‰rest du weit allem zuvorgekommen, was kommen kann, und h‰ttest im R¸cken nur dein Hereilen, deinen ewigen Weg, den Flug deiner Liebe.

Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vor¸berkomme, hat zwei Masken neben seiner T¸r ausgeh‰ngt. Das Gesicht der jungen Ertr‰nkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schˆn war, weil es l‰chelte, weil es so t‰uschend l‰chelte, als w¸flte es. Und darunter sein wissendes Gesicht. Diesen harten Knoten aus fest zusammengezogenen Sinnen. Diese unerbittliche Selbstverdichtung fortw‰hrend ausdampfen wollender Musik. Das Antlitz dessen, dem ein Gott das Gehˆr verschlossen hat, damit es keine Kl‰nge g‰be, aufler seinen. Damit er nicht beirrt w¸rde durch das Tr¸be und Hinf‰llige der Ger‰usche. Er, in dem ihre Klarheit und Dauer war; damit nur die tonlosen Sinne ihm Welt eintr¸gen, lautlos, eine gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der Erschaffung des Klanges.

Weltvollendender: wie, was als Regen f‰llt ¸ber die Erde und an die Gew‰sser, nachl‰ssig niederf‰llt, zuf‰llig fallend,–unsichtbarer und froh von Gesetz wieder aufstehend aus allem und steigt und schwebt und die Himmel bildet: so erhob sich aus dir der Aufstieg unserer Niederschl‰ge und umwˆlbte die Welt mit Musik.

Deine Musik: dafl sie h‰tte um die Welt sein d¸rfen; nicht um uns. Dafl man dir ein Hammerklavier erbaut h‰tte in der ThebaÔs; und ein Engel h‰tte dich hingef¸hrt vor das einsame Instrument, durch die Reihen der W¸stengebirge, in denen Kˆnige ruhen und Het‰ren und Anachoreten. Und er h‰tte sich hoch geworfen und fort, ‰ngstlich, dafl du beg‰nnest.

Und dann h‰ttest du ausgestrˆmt, Strˆmender, ungehˆrt; an das All zur¸ckgebend, was nur das All ertr‰gt. Die Beduinen w‰ren in der Ferne vorbeigejagt, abergl‰ubisch; die Kaufleute aber h‰tten sich hingeworfen am Rande deiner Musik, als w‰rst du der Sturm. Einzelne Lˆwen nur h‰tten dich weit bei Nacht umkreist, erschrocken vor sich selbst, von ihrem bewegten Blute bedroht.

Denn wer holt dich jetzt aus den Ohren zur¸ck, die l¸stern sind? Wer treibt sie aus den Musiks‰len, die K‰uflichen mit dem unfruchtbaren Gehˆr, das hurt und niemals empf‰ngt? Da strahlt Samen aus, und sie halten sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er f‰llt, w‰hrend sie daliegen in ihren ungetanen Befriedigungen, wie Samen Onans zwischen sie alle.

Wo aber, Herr, ein Jungfr‰ulicher unbeschlafenen Ohrs l‰ge bei deinem Klang: er st¸rbe an Seligkeit oder er tr¸ge Unendliches aus und sein befruchtetes Hirn m¸flte bersten an lauter Geburt.

Ich untersch‰tze es nicht. Ich weifl, es gehˆrt Mut dazu. Aber nehmen wir f¸r einen Augenblick an, es h‰tte ihn einer, diesen Courage de luxe, ihnen nachzugehen, um dann f¸r immer (denn wer kˆnnte das wieder vergessen oder verwechseln?) zu wissen, wo sie hernach hineinkriechen und was sie den vielen ¸brigen Tag beginnen und ob sie schlafen bei Nacht. Dies ganz besonders w‰re festzustellen: ob sie schlafen. Aber mit dem Mut ist es noch nicht getan. Denn sie kommen und gehen nicht wie die ¸brigen Leute, denen zu folgen eine Kleinigkeit w‰re. Sie sind da und wieder fort, hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten. Es sind ein wenig abgelegene Stellen, wo man sie findet, aber durchaus nicht versteckte. Die B¸sche treten zur¸ck, der Weg wendet sich ein wenig um den Rasenplatz herum: da stehen sie und haben eine Menge durchsichtigen Raumes um sich, als ob sie unter einem Glassturz st¸nden. Du kˆnntest sie f¸r nachdenkliche Spazierg‰nger halten, diese unscheinbaren M‰nner von kleiner, in jeder Beziehung bescheidener Gestalt. Aber du irrst. Siehst du die linke Hand, wie sie nach etwas greift in der schiefen Tasche des alten ‹berziehers; wie sie es findet und herausholt und den kleinen Gegenstand linkisch und auff‰llig in die Luft h‰lt? Es dauert keine Minute, so sind zwei, drei Vˆgel da, Spatzen, die neugierig heranh¸pfen. Und wenn es dem Manne gelingt, ihrer sehr genauen Auffassung von Unbeweglichkeit zu entsprechen, so ist kein Grund, warum sie nicht noch n‰her kommen sollen. Und schliefllich steigt der erste und schwirrt eine Weile nervˆs in der Hˆhe jener Hand, die (weifl Gott) ein kleines St¸ck abgenutzten s¸flen Brotes mit anspruchslosen, ausdr¸cklich verzichtenden Fingern hinbietet. Und je mehr Menschen sich um ihn sammeln, in entsprechendem Abstand nat¸rlich, desto weniger hat er mit ihnen gemein. Wie ein Leuchter steht er da, der ausbrennt, und leuchtet mit dem Rest von Docht und ist ganz warm davon und hat sich nie ger¸hrt. Und wie er lockt, wie er anlockt, das kˆnnen die vielen, kleinen, dummen Vˆgel gar nicht beurteilen. Wenn die Zuschauer nicht w‰ren und man liefle ihn lange genug dastehen, ich bin sicher, dafl auf einmal ein Engel k‰me und ¸berw‰nde sich und ‰fle den alten, s¸fllichen Bissen aus der verk¸mmerten Hand. Dem sind nun, wie immer, die Leute im Wege. Sie sorgen daf¸r, dafl nur Vˆgel kommen; sie finden das reichlich, und sie behaupten, er erwarte sich nichts anderes. Was sollte sie auch erwarten, diese alte, verregnete Puppe, die ein wenig schr‰g in der Erde steckt wie die Schiffsfiguren in den kleinen G‰rten zuhause; kommt auch bei ihr diese Haltung davon her, dafl sie einmal irgendwo vorne gestanden hat auf ihrem Leben, wo die Bewegung am grˆflten ist? Ist sie nun so verwaschen, weil sie einmal bunt war? Willst du sie fragen?

Nur die Frauen frag nichts, wenn du eine f¸ttern siehst. Denen kˆnnte man sogar folgen; sie tun es so im Vorbeigehen; es w‰re ein Leichtes. Aber lafl sie. Sie wissen nicht, wie es kam. Sie haben auf einmal eine Menge Brot in ihrem Handsack, und sie halten grofle St¸cke hinaus aus ihrer d¸nnen Mantille, St¸cke, die ein biflchen gekaut sind und feucht. Das tut ihnen wohl, dafl ihr Speichel ein wenig in die Welt kommt, dafl die kleinen Vˆgel mit diesem Beigeschmack herumfliegen, wenn sie ihn nat¸rlich auch gleich wieder vergessen.

Da safl ich an deinen B¸chern, Eigensinniger, und versuchte sie zu meinen wie die andern, die dich nicht beisammen lassen und sich ihren Anteil genommen haben, befriedigt. Denn da begriff ich noch nicht den Ruhm, diesen ˆffentlichen Abbruch eines Werdenden, in dessen Bauplatz die Menge einbricht, ihm die Steine verschiebend.

Junger Mensch irgendwo, in dem etwas aufsteigt, was ihn erschauern macht, n¸tz es, dafl dich keiner kennt. Und wenn sie dir widersprechen, die dich f¸r nichts nehmen, und wenn sie dich ganz aufgeben, die, mit denen du umgehst, und wenn sie dich ausrotten wollen, um deiner lieben Gedanken willen, was ist diese deutliche Gefahr, die dich zusammenh‰lt in dir, gegen die listige Feindschaft sp‰ter des Ruhms, die dich unsch‰dlich macht, indem sie dich ausstreut.

Bitte keinen, dafl er von dir spr‰che, nicht einmal ver‰chtlich. Und wenn die Zeit geht und du merkst, wie dein Name herumkommt unter den Leuten, nimm ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab. Nimm einen andern an, irgendeinen, damit Gott dich rufen kann in der Nacht. Und verbirg ihn vor allen.

Du Einsamster, Abseitiger, wie haben sie dich eingeholt auf deinem Ruhm. Wie lang ist es her, da waren sie wider dich von Grund aus, und jetzt gehen sie mit dir um, wie mit ihresgleichen. Und deine Worte f¸hren sie mit sich in den K‰figen ihres D¸nkels und zeigen sie auf den Pl‰tzen und reizen sie ein wenig von ihrer Sicherheit aus. Alle deine schrecklichen Raubtiere.

Da las ich dich erst, da sie mir ausbrachen und mich anfielen in meiner W¸ste, die Verzweifelten. Verzweifelt, wie du selber warst am Schlufl, du, dessen Bahn falsch eingezeichnet steht in allen Karten. Wie ein Sprung geht sie durch die Himmel, diese hoffnungslose Hyperbel deines Weges, die sich nur einmal heranbiegt an uns und sich entfernt voll Entsetzen. Was lag dir daran, ob eine Frau bleibt oder fortgeht und ob einen der Schwindel ergreift und einen der Wahnsinn und ob Tote lebendig sind und Lebendige scheintot: was lag dir daran? Dies alles war so nat¸rlich f¸r dich; da gingst du durch, wie man durch einen Vorraum geht, und hieltst dich nicht auf. Aber dort weiltest du und warst geb¸ckt, wo unser Geschehen kocht und sich niederschl‰gt und die Farbe ver‰ndert, innen. Innerer als dort, wo je einer war; eine T¸r war dir aufgesprungen, und nun warst du bei den Kolben im Feuerschein. Dort, wohin du nie einen mitnahmst, Mifltrauischer, dort saflest du und unterschiedest ‹berg‰nge. Und dort, weil das Aufzeigen dir im Blute war und nicht das Bilden oder das Sagen, dort fafltest du den ungeheuren Entschlufl, dieses Winzige, das du selber zuerst nur durch Gl‰ser gewahrtest, ganz allein gleich so zu vergrˆflern, dafl es vor Tausenden sei, riesig, vor allen. Dein Theater entstand. Du konntest nicht warten, dafl dieses fast raumlose von den Jahrhunderten zu Tropfen zusammengepreflte Leben von den anderen K¸nsten gefunden und allm‰hlich versichtbart werde f¸r einzelne, die sich nach und nach zusammenfinden zur Einsicht und die endlich verlangen, gemeinsam die erlauchten Ger¸chte best‰tigt zu sehen im Gleichnis der vor ihnen aufgeschlagenen Szene. Dies konntest du nicht abwarten, du warst da, du mufltest das kaum Meflbare: ein Gef¸hl, das um einen halben Grad stieg, den Ausschlagswinkel eines von fast nichts beschwerten Willens, den du ablasest von ganz nah, die leichte Tr¸bung in einem Tropfen Sehnsucht und dieses Nichts von Farbenwechsel in einem Atom von Zutrauen: dieses mufltest du feststellen und aufbehalten; denn in solchen Vorg‰ngen war jetzt das Leben, unser Leben, das in uns hineingeglitten war, das sich nach innen zur¸ckgezogen hatte, so tief, dafl es kaum noch Vermutungen dar¸ber gab.

So wie du warst, auf das Zeigen angelegt, ein zeitlos tragischer Dichter, mufltest du dieses Kapillare mit einem Schlag umsetzen in die ¸berzeugendsten Geb‰rden, in die vorhandensten Dinge. Da gingst du an die beispiellose Gewalttat deines Werkes, das immer ungeduldiger, immer verzweifelter unter dem Sichtbaren nach den ƒquivalenten suchte f¸r das innen Gesehene. Da war ein Kaninchen, ein Bodenraum, ein Saal, in dem einer auf und nieder geht: da war ein Glasklirren im Nebenzimmer, ein Brand vor den Fenstern, da war die Sonne. Da war eine Kirche und ein Felsental, das einer Kirche glich. Aber das reichte nicht aus; schliefllich muflten die T¸rme herein und die ganzen Gebirge; und die Lawinen, die die Landschaften begraben, versch¸tteten die mit Greifbarem ¸berladene B¸hne um des Unfafllichen willen. Da konntst du nicht mehr. Die beiden Enden, die du zusammengebogen hattest, schnellten aus einander; deine wahnsinnige Kraft entsprang aus dem elastischen Stab, und dein Werk war wie nicht.

Wer begriffe es sonst, dafl du zum Schlufl nicht vom Fenster fortwolltest, eigensinnig wie du immer warst. Die Vor¸bergehenden wolltest du sehen; denn es war dir der Gedanke gekommen, ob man nicht eines Tages etwas machen kˆnnte aus ihnen, wenn man sich entschlˆsse anzufangen.

Damals zuerst fiel es mir auf, dafl man von einer Frau nichts sagen kˆnne; ich merkte, wenn sie von ihr erz‰hlten, wie sie sie aussparten, wie sie die anderen nannten und beschrieben, die Umgebungen, die ÷rtlichkeiten, die Gegenst‰nde bis an eine bestimmte Stelle heran, wo das alles aufhˆrte, sanft und gleichsam vorsichtig aufhˆrte mit dem leichten, niemals nachgezogenen Kontur, der sie einschlofl. Wie war sie? fragte ich dann. “Blond, ungef‰hr wie du”, sagten sie und z‰hlten allerhand auf, was sie sonst noch wuflten; aber dar¸ber wurde sie wieder ganz ungenau, und ich konnte mir nichts mehr vorstellen. Sehen eigentlich konnte ich sie nur, wenn Maman mir die Geschichte erz‰hlte, die ich immer wieder verlangte–.–Dann pflegte sie jedesmal, wenn sie zu der Szene mit dem Hunde kam, die Augen zu schlieflen und das ganz verschlossene, aber ¸berall durchscheinende Gesicht irgendwie inst‰ndig zwischen ihre beiden H‰nde zu halten, die es kalt an den Schl‰fen ber¸hrten. “Ich hab es gesehen, Malte”, beschwor sie: “Ich hab es gesehen.” Das war schon in ihren letzten Jahren, da ich dies von ihr gehˆrt habe. In der Zeit, wo sie niemanden mehr sehen wollte und wo sie immer, auch auf Reisen, das kleine, dichte, silberne Sieb bei sich hatte, durch das sie alle Getr‰nke seihte. Speisen von fester Form nahm sie nie mehr zu sich,