Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl by Clemens Brentano

Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl Es war Sommersfrühe, die Nachtigallen sangen erst seit einigen Tagen durch die Straßen und verstummten heut in einer kühlen Nacht, welche von fernen Gewittern zu uns herwehte; der Nachtwächter rief die elfte Stunde an, da sah ich, nach Hause gehend, vor der Tür eines großen Gebäudes einen
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  • 1817
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Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl

Es war Sommersfrühe, die Nachtigallen sangen erst seit einigen Tagen
durch die Straßen und verstummten heut in einer kühlen Nacht, welche
von fernen Gewittern zu uns herwehte; der Nachtwächter rief die elfte
Stunde an, da sah ich, nach Hause gehend, vor der Tür eines großen
Gebäudes einen Trupp von allerlei Gesellen, die vom Biere kamen, um
jemand, der auf den Türstufen saß, versammelt. Ihr Anteil schien mir
so lebhaft, daß ich irgendein Unglück besorgte und mich näherte.

Eine alte Bäuerin saß auf der Treppe, und so lebhaft die Gesellen
sich um sie kümmerten, so wenig ließ sie sich von den neugierigen
Fragen und gutmütigen Vorschlägen derselben stören. Es hatte etwas
sehr Befremdendes, ja schier Großes, wie die gute alte Frau so sehr
wußte, was sie wollte, daß sie, als sei sie ganz allein in ihrem
Kämmerlein, mitten unter den Leuten es sich unter freiem Himmel zur
Nachtruhe bequem machte. Sie nahm ihre Schürze als ein Mäntelchen um,
zog ihren großen schwarzen, wachsleinenen Hut tiefer in die Augen,
legte sich ihr Bündel unter den Kopf zurecht und gab auf keine Frage
Antwort.

“Was fehlt dieser alten Frau?” fragte ich einen der Anwesenden; da
kamen Antworten von allen Seiten: “Sie kömmt sechs Meilen Weges vom
Lande, sie kann nicht weiter, sie weiß nicht Bescheid in der Stadt,
sie hat Befreundete am andern Ende der Stadt und kann nicht hinfinden,
“–“Ich wollte sie führen”, sagte einer, “aber es ist ein weiter Weg,
und ich habe meinen Hausschlüssel nicht bei mir. Auch würde sie das
Haus nicht kennen, wo sie hin will.”–“Aber hier kann die Frau nicht
liegen bleiben”, sagte ein Neuhinzugetretener. “Sie will aber
platterdings”, antwortete der erste; “ich habe es ihr längst gesagt,
ich wolle sie nach Haus bringen, doch sie redet ganz verwirrt, ja sie
muß wohl betrunken sein.”–“Ich glaube, sie ist blödsinnig. Aber
hier kann sie doch in keinem Falle bleiben”, wiederholte jener, “die
Nacht ist kühl und lang.”

Während allem diesem Gerede war die Alte, grade als ob sie taub und
blind sei, ganz ungestört mit ihrer Zubereitung fertig geworden, und
da der letzte abermals sagte: “Hier kann sie doch nicht bleiben”,
erwiderte sie, mit einer wunderlich tiefen und ernsten Stimme:

“Warum soll ich nicht hier bleiben? Ist dies nicht ein herzogliches
Haus? Ich bin achtundachtzig Jahre alt, und der Herzog wird mich
gewiß nicht von seiner Schwelle treiben. Drei Söhne sind in seinem
Dienst gestorben, und mein einziger Enkel hat seinen Abschied
genommen;–Gott verzeiht es ihm gewiß, und ich will nicht sterben,
bis er in seinem ehrlichen Grab liegt.”

“Achtundachtzig Jahre und sechs Meilen gelaufen!” sagten die
Umstehenden, “sie ist müd und kindisch, in solchem Alter wird der
Mensch schwach.”

“Mutter, Sie kann aber den Schnupfen kriegen und sehr krank werden
hier, und Langeweile wird Sie auch haben”, sprach nun einer der
Gesellen und beugte sich näher zu ihr.

Da sprach die Alte wieder mit ihrer tiefen Stimme, halb bittend, halb
befehlend:

“O laßt mir meine Ruhe und seid nicht unvernünftig; ich brauch keinen
Schnupfen, ich brauche keine Langeweile; es ist ja schon spät an der
Zeit, achtundachtzig bin ich alt, der Morgen wird bald anbrechen, da
geh ich zu meinen Befreundeten. Wenn ein Mensch fromm ist und hat
Schicksale und kann beten, so kann er die paar armen Stunden auch
noch wohl hinbringen.”

Die Leute hatten sich nach und nach verloren, und die letzten, welche
noch da standen, eilten auch hinweg, weil der Nachtwächter durch die
Straße kam und sie sich von ihm ihre Wohnungen wollten öffnen lassen.
So war ich allein noch gegenwärtig. Die Straße ward ruhiger. Ich
wandelte nachdenkend unter den Bäumen des vor mir liegenden freien
Platzes auf und nieder; das Wesen der Bäuerin, ihr bestimmter,
ernster Ton, ihre Sicherheit im Leben, das sie achtundachtzigmal mit
seinen Jahreszeiten hatte zurückkehren sehen, und das ihr nur wie ein
Vorsaal im Bethause erschien, hatten mich mannigfach erschüttert.
“Was sind alle Leiden, alle Begierden meiner Brust? Die Sterne gehen
ewig unbekümmert ihren Weg–wozu suche ich Erquickung und Labung, und
von wem suche ich sie und für wen? Alles, was ich hier suche und
liebe und erringe, wird es mich je dahin bringen, so ruhig wie diese
gute, fromme Seele die Nacht auf der Schwelle des Hauses zubringen zu
können, bis der Morgen erscheint, und werde ich dann den Freund
finden wie sie? Ach, ich werde die Stadt gar nicht erreichen, ich
werde wegemüde schon in dem Sande vor dem Tore umsinken und
vielleicht gar in die Hände der Räuber fallen.” So sprach ich zu mir
selbst, und als ich durch den Lindengang mich der Alten wieder
näherte, hörte ich sie halblaut mit gesenktem Kopfe vor sich hin
beten. Ich war wunderbar gerührt und trat zu ihr hin und sprach:
“Mit Gott, fromme Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich!”–bei
welchen Worten ich ihr einen Taler in die Schürze warf.

Die Alte sagte hierauf ganz ruhig: “Hab tausend Dank, mein lieber
Herr, daß du mein Gebet erhört.”

Ich glaubte, sie spreche mit mir, und sagte: “Mutter, habt Ihr mich
denn um etwas gebeten? Ich wüßte nicht.”

Da fuhr die Alte überrascht auf und sprach: “Lieber Herr, gehe Er
doch nach Haus und bete Er fein und lege Er sich schlafen. Was zieht
Er so spät noch auf der Gasse herum? Das ist jungen Gesellen gar
nichts nütze; denn der Feind geht um und suchet, wo er sich einen
erfange. Es ist mancher durch solch Nachtlaufen verdorben. Wen
sucht Er? Den Herrn? Der ist in des Menschen Herz, so er
züchtiglich lebt, und nicht auf der Gasse. Sucht Er aber den Feind,
so hat Er ihn schon; gehe Er hübsch nach Haus und bete Er, daß Er ihn
loswerde. Gute Nacht!”

Nach diesen Worten wendete sie sich ganz ruhig nach der andern Seite
und steckte den Taler in ihren Reisesack. Alles, was die Alte tat,
machte einen eigentümlichen ernsten Eindruck auf mich, und ich sprach
zu ihr: “Liebe Mutter, Ihr habt wohl recht, aber Ihr selbst seid es,
was mich hier hält; ich hörte Euch beten und wollte Euch ansprechen,
meiner dabei zu gedenken.”

“Das ist schon geschehen”, sagte sie; “als ich Ihn so durch den
Lindengang wandeln sah, bat ich Gott, er möge Euch gute Gedanken
geben. Nun habe Er sie, und gehe Er fein schlafen!”

Ich aber setzte mich zu ihr nieder auf die Treppe und ergriff ihre
dürre Hand und sagte: “Lasset mich hier bei Euch sitzen die Nacht
hindurch, und erzählet mir, woher Ihr seid, und was Ihr hier in der
Stadt sucht; Ihr habt hier keine Hülfe, in Eurem Alter ist man Gott
näher als den Menschen; die Welt hat sich verändert, seit Ihr jung
wart.”

“Daß ich nicht wüßte”, erwiderte die Alte, “ich habs mein Lebetag
ganz einerlei gefunden; Er ist noch zu jung, da verwundert man sich
über alles; mir ist alles schon so oft wieder vorgekommen, daß ich es
nur noch mit Freuden ansehe, weil es Gott so treulich damit meinet.
Aber man soll keinen guten Willen von sich weisen, wenn er einem auch
grade nicht not tut, sonst möchte der liebe Freund ausbleiben, wenn
er ein andermal gar willkommen wäre; bleibe Er drum immer sitzen, und
sehe Er, was Er mir helfen kann. Ich will Ihm erzählen, was mich in
die Stadt den weiten Weg treibt. Ich hätt es nicht gedacht, wieder
hierher zu kommen. Es sind siebenzig Jahre, daß ich hier in dem
Hause als Magd gedient habe, auf dessen Schwelle ich sitze, seitdem
war ich nicht mehr in der Stadt; was die Zeit herumgeht! Es ist, als
wenn man eine Hand umwendet. Wie oft habe ich hier am Abend gesessen
vor siebzig Jahren und habe auf meinen Schatz gewartet, der bei der
Garde stand! Hier haben wir uns auch versprochen. Wenn er
hier–aber still, da kömmt die Runde vorbei.”

Da hob sie an, mit gemäßigter Stimme, wie etwa junge Mägde und Diener
in schönen Mondnächten, vor der Tür zu singen, und ich hörte mit
innigem Vergnügen folgendes schöne alte Lied von ihr:

Wann der jüngste Tag wird werden,
Dann fallen die Sternelein auf die Erden.
Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn,
Ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn;
Ihr sollt treten auf die Spitzen,
Da die lieben Engelein sitzen.
Da kam der liebe Gott gezogen
Mit einem schönen Regenbogen.
Da kamen die falschen Juden gegangen,
Die führten einst unsern Herrn Christum gefangen.
Die hohen Bäum erleuchten sehr,
Die harten Stein zerknirschten sehr.
Wer dies Gebetlein beten kann,
Der bets des Tages nur einmal,
Die Seele wird vor Gott bestehn,
Wann wir werden zum Himmel eingehn!
Amen.

Als die Runde uns näher kam, wurde die gute Alte gerührt. “Ach”,
sagte sie, “es ist heute der sechszehnte Mai, es ist doch alles
einerlei, grade wie damals, nur haben sie andere Mützen auf und keine
Zöpfe mehr. Tut nichts, wenns Herz nur gut ist!” Der Offizier der
Runde blieb bei uns stehen und wollte eben fragen, was wir hier so
spät zu schaffen hätten, als ich den Fähnrich Graf Grossinger, einen
Bekannten, in ihm erkannte. Ich sagte ihm kurz den ganzen Handel,
und er sagte, mit einer Art von Erschütterung: “Hier haben Sie einen
Taler für die Alte und eine Rose”–die er in der Hand trug–; “so
alte Bauersleute haben Freude an Blumen. Bitten Sie die Alte, Ihnen
morgen das Lied in die Feder zu sagen, und bringen Sie mir es. Ich
habe lange nach dem Lied getrachtet, aber es nie ganz habhaft werden
können.” Hiermit schieden wir, denn der Posten der nah gelegenen
Hauptwache, bis zu welcher ich ihn über den Platz begleitet hatte,
rief: “Wer da?” Er sagte mir noch, daß er die Wache am Schlosse habe,
ich solle ihn dort besuchen. Ich ging zu der Alten zurück und gab
ihr die Rose und den Taler.

Die Rose ergriff sie mit einer rührenden Heftigkeit und befestigte
sie sich auf ihren Hut, indem sie mit einer etwas feineren Stimme und
fast weinend die Worte sprach:

Rosen die Blumen auf meinem Hut,
Hätt ich viel Geld, das wäre gut,
Rosen und mein Liebchen.

Ich sagte zu ihr: “Ei, Mütterchen, Ihr seid ja ganz munter geworden”,
und sie erwiderte:

Munter, munter
Immer bunter,
Immer runder.
Oben stund er,
Nun bergunter,
‘s ist kein Wunder!

“Schau Er, lieber Mensch, ist es nicht gut, daß ich hier sitzen
geblieben? Es ist alles einerlei, glaub Er mir; heut sind es
siebenzig Jahre, da saß ich hier vor der Türe, ich war eine flinke
Magd und sang gern alle Lieder. Da sang ich auch das Lied vom
Jüngsten Gericht wie heute, da die Runde vorbeiging, und da warf mir
ein Grenadier im Vorübergehn eine Rose in den Schoß–die Blätter hab
ich noch in meiner Bibel liegen–, das war meine erste Bekanntschaft
mit meinem seligen Mann. Am andern Morgen hatte ich die Rose
vorgesteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward bald
richtig. Drum hat es mich gar sehr gefreut, daß mir heut wieder eine
Rose ward. Es ist ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll, und
darauf freu ich mich herzlich. Vier Söhne und eine Tochter sind mir
gestorben, vorgestern hat mein Enkel seinen Abschied genommen–Gott
helfe ihm und erbarme sich seiner!–und morgen verläßt mich eine
andre gute Seele, aber was sag ich morgen, ist es nicht schon
Mitternacht vorbei?”

“Es ist zwölfe vorüber”, erwiderte ich, verwundert über ihre Rede.

“Gott gebe ihr Trost und Ruhe die vier Stündlein, die sie noch hat!”
sagte die Alte und ward still, indem sie die Hände faltete. Ich
konnte nicht sprechen, so erschütterten mich ihre Worte und ihr
ganzes Wesen. Da sie aber ganz stille blieb und der Taler des
Offiziers noch in ihrer Schürze lag, sagte ich zu ihr: “Mutter,
steckt den Taler zu Euch, Ihr könntet ihn verlieren.”

“Den wollen wir nicht weglegen, den wollen wir meiner Befreundeten
schenken in ihrer letzten Not!” erwiderte sie. “Den ersten Taler
nehm ich morgen wieder mit nach Haus, der gehört meinem Enkel, der
soll ihn genießen. Ja seht, es ist immer ein herrlicher Junge
gewesen und hielt etwas auf seinen Leib und auf seine Seele–ach Gott,
auf seine Seele!–Ich habe gebetet den ganzen Weg, es ist nicht
möglich, der liebe Herr läßt ihn gewiß nicht verderben. Unter allen
Burschen war er immer der reinlichste und fleißigste in der Schule,
aber auf die Ehre war er vor allem ganz erstaunlich. Sein Leutnant
hat auch immer gesprochen: “Wenn meine Schwadron Ehre im Leibe hat,
so sitzt sie bei dem Finkel im Quartier.” Er war unter den Ulanen.
Als er zum erstenmal aus Frankreich zurückkam, erzählte er allerlei
schöne Geschichten, aber immer war von der Ehre dabei die Rede. Sein
Vater und sein Stiefbruder waren bei dem Landsturm und kamen oft mit
ihm wegen der Ehre in Streit; denn was er zuviel hatte, hatten sie
nicht genug. Gott verzeih mir meine schwere Sünde, ich will nicht
schlecht von ihnen reden, jeder hat sein Bündel zu tragen: aber meine
selige Tochter, seine Mutter, hat sich zu Tode gearbeitet bei dem
Faulpelz, sie konnte nicht erschwingen, seine Schulden zu tilgen.
Der Ulan erzählte von den Franzosen, und als der Vater und
Stiefbruder sie ganz schlecht machen wollten, sagte der Ulan: “Vater,
das versteht Ihr nicht, sie haben doch viel Ehre im Leibe!” Da ward
der Stiefbruder tückisch und sagte: “Wie kannst du deinem Vater so
viel von der Ehre vorschwatzen? War er doch Unteroffizier im N…
schen Regiment und muß es besser als du verstehn, der nur Gemeiner
ist!”–“Ja”, sagte da der alte Finkel, der nun auch rebellisch ward,
“das war ich und habe manchen vorlauten Burschen fünfundzwanzig
aufgezählt; hätte ich nur Franzosen in der Kompanie gehabt, die
sollten sie noch besser gefühlt haben, mit ihrer Ehre!” Die Rede tat
dem Ulanen gar weh, und er sagte: “Ich will ein Stückchen von einem
französischen Unteroffizier erzählen, das gefällt mir besser. Unterm
vorigen König sollten auf einmal die Prügel bei der französischen
Armee eingeführt werden. Der Befehl des Kriegsministers wurde zu
Straßburg bei einer großen Parade bekanntgemacht, und die Truppen
hörten in Reih und Glied die Bekanntmachung mit stillem Grimm an. Da
aber noch am Schluß der Parade ein Gemeiner einen Exzeß machte, wurde
sein Unteroffizier vorkommandiert, ihm zwölf Hiebe zu geben. Es
wurde ihm mit Strenge befohlen, und er mußte es tun. Als er aber
fertig war, nahm er das Gewehr des Mannes, den er geschlagen hatte,
stellte es vor sich an die Erde und drückte mit dem Fuße los, daß ihm
die Kugel durch den Kopf fuhr und er tot niedersank. Das wurde an
den König berichtet, und der Befehl, Prügel zu geben, ward gleich
zurückgenommen. Seht, Vater, das war ein Kerl, der Ehre im Leib
hatte!”–“Ein Narr war es”, sprach der Bruder. “Freß deine Ehre,
wenn du Hunger hast!” brummte der Vater. Da nahm mein Enkel seinen
Säbel und ging aus dem Haus und kam zu mir in mein Häuschen und
erzählte mir alles und weinte die bittern Tränen. Ich konnte ihm
nicht helfen; die Geschichte, die er mir auch erzählte, konnte ich
zwar nicht ganz verwerfen, aber ich sagte ihm doch immer zuletzt:
“Gib Gott allein die Ehre!” Ich gab ihm noch den Segen, denn sein
Urlaub war am andern Tage aus, und er wollte noch eine Meile umreiten
nach dem Orte, wo ein Patchen von mir auf dem Edelhof diente, auf die
er gar viel hielt; er wollte einmal mit ihr hausen.–Sie werden auch
wohl bald zusammenkommen, wenn Gott mein Gebet erhört. Er hat seinen
Abschied schon genommen, mein Patchen wird ihn heut erhalten, und die
Aussteuer hab ich auch schon beisammen, es soll auf der Hochzeit
weiter niemand sein als ich.” Da ward die Alte wieder still und
schien zu beten. Ich war in allerlei Gedanken über die Ehre, und ob
ein Christ den Tod des Unteroffiziers schön finden dürfe. Ich wollte,
es sagte mir einmal einer etwas Hinreichendes darüber.

Als der Wächter ein Uhr anrief, sagte die Alte: “Nun habe ich noch
zwei Stunden. Ei, ist Er noch da, warum geht Er nicht schlafen? Er
wird morgen nicht arbeiten können und mit seinem Meister Händel
kriegen; von welchem Handwerk ist Er denn, mein guter Mensch?”

Da wußte ich nicht recht, wie ich es ihr deutlich machen sollte, daß
ich ein Schriftsteller sei. “Ich bin ein Gestudierter”, durfte ich
nicht sagen, ohne zu lügen. Es ist wunderbar, daß ein Deutscher
immer sich ein wenig schämt, zu sagen, er sei ein Schriftsteller; zu
Leuten aus den untern Ständen sagt man es am ungernsten, weil diesen
gar leicht die Schriftgelehrten und Pharisäer aus der Bibel dabei
einfallen. Der Name Schriftsteller ist nicht so eingebürgert bei uns,
wie das homme de lettres bei den Franzosen, welche überhaupt als
Schriftsteller zünftig sind und in ihren Arbeiten mehr hergebrachtes
Gesetz haben, ja, bei denen man auch fragt: “Où avez-vous fait votre
philosophie? Wo haben Sie Ihre Philosophie gemacht?”, wie denn ein
Franzose selbst viel mehr von einem gemachten Manne hat. Doch diese
nicht deutsche Sitte ist es nicht allein, welche das Wort
Schriftsteller so schwer auf der Zunge macht, wenn man am Tore um
seinen Charakter gefragt wird, sondern eine gewisse innere Scham hält
uns zurück, ein Gefühl, welches jeden befällt, der mit freien und
geistigen Gütern, mit unmittelbaren Geschenken des Himmels Handel
treibt. Gelehrte brauchen sich weniger zu schämen als Dichter; denn
sie haben gewöhnlich Lehrgeld gegeben, sind meist in ämtern des
Staats, spalten an groben Klötzen oder arbeiten in Schachten, wo viel
wilde Wasser auszupumpen sind. Aber ein sogenannter Dichter ist am
übelsten daran, weil er meistens aus dem Schulgarten nach dem Parnaß
entlaufen, und es ist auch wirklich ein verdächtiges Ding um einen
Dichter von Profession, der es nicht nur nebenher ist. Man kann sehr
leicht zu ihm sagen: “Mein Herr, ein jeder Mensch hat, wie Hirn, Herz,
Magen, Milz, Leber und dergleichen, auch eine Poesie im Leibe; wer
aber eines dieser Glieder überfüttert, verfüttert oder mästet und es
über alle andre hinüber treibt, ja es gar zum Erwerbszweig macht, der
muß sich schämen vor seinem ganzen übrigen Menschen. Einer, der von
der Poesie lebt, hat das Gleichgewicht verloren, und eine übergroße
Gänseleber, sie mag noch so gut schmecken, setzt doch immer eine
kranke Gans voraus.” Alle Menschen, welche ihr Brot nicht im Schweiß
ihres Angesichts verdienen, müssen sich einigermaßen schämen, und das
fühlt einer, der noch nicht ganz in der Tinte war, wenn er sagen soll,
er sei ein Schriftsteller. So dachte ich allerlei und besann mich,
was ich der Alten sagen sollte, welche, über mein Zögern verwundert,
mich anschaute und sprach:

“Welch ein Handwerk Er treibt, frage ich; warum will Er mirs nicht
sagen? Treibt Er kein ehrlich Handwerk, so greif Ers noch an, es hat
einen goldnen Boden. Er ist doch nicht etwa gar ein Henker oder
Spion, der mich ausholen will? Meinethalben sei Er, wer Er will, sag
Ers, wer Er ist? Wenn Er bei Tage so hier säße, würde ich glauben,
Er sei ein Lehnerich, so ein Tagedieb, der sich an die Häuser lehnt,
damit er nicht umfällt vor Faulheit.”

Da fiel mir ein Wort ein, das mir vielleicht eine Brücke zu ihrem
Verständnis schlagen könnte: “Liebe Mutter”, sagte ich, “ich bin ein
Schreiber.”–“Nun”, sagte sie, “das hätte Er gleich sagen sollen. Er
ist also ein Mann von der Feder; dazu gehören feine Köpfe und
schnelle Finger und ein gutes Herz, sonst wird einem drauf geklopft.
Ein Schreiber ist Er? Kann Er mir dann wohl eine Bittschrift
aufsetzen an den Herzog, die aber gewiß erhört wird und nicht bei den
vielen andern liegen bleibt?”

“Eine Bittschrift, liebe Mutter”, sprach ich, “kann ich Ihr wohl
aufsetzen, und ich will mir alle Mühe geben, daß sie recht
eindringlich abgefaßt sein soll.”

“Nun, das ist brav von Ihm”, erwiderte sie, “Gott lohn es Ihm und
lasse Ihn älter werden als mich und gebe Ihm auch in Seinem Alter
einen so geruhigen Mut und eine so schöne Nacht mit Rosen und Talern
wie mir und auch einen Freund, der ihm eine Bittschrift macht, wenn
es Ihm not tut. Aber jetzt gehe Er nach Haus, lieber Freund, und
kaufe Er sich einen Bogen Papier und schreibe Er die Bittschrift; ich
will hier auf Ihn warten, noch eine Stunde, dann gehe ich zu meiner
Pate, Er kann mitgehen; sie wird sich auch freuen an der Bittschrift.
Sie hat gewiß ein gut Herz, aber Gottes Gerichte sind wunderbar.”

Nach diesen Worten ward die Alte wieder still, senkte den Kopf und
schien zu beten. Der Taler lag noch auf ihrem Schoß. Sie weinte.
“Liebe Mutter, was fehlt Euch, was tut Euch so weh, Ihr weinet?”
sprach ich.

“Nun, warum soll ich denn nicht weinen? Ich weine auf den Taler, ich
weine auf die Bittschrift, auf alles weine ich. Aber es hilft nichts,
es ist doch alles viel, viel besser auf Erden, als wir Menschen es
verdienen, und gallenbittre Tränen sind noch viel zu süße. Sehe Er
nur einmal das goldne Kamel da drüben, an der Apotheke, wie doch Gott
alles so herrlich und wunderbar geschaffen hat! Aber der Mensch
erkennt es nicht, und ein solch Kamel geht eher durch ein Nadelöhr
als ein Reicher in das Himmelreich.–Aber was sitzt Er denn immer da?
Gehe Er, den Bogen Papier zu kaufen, und bringe Er mir die
Bittschrift.”

“Liebe Mutter”, sagte ich, “wie kann ich Euch die Bittschrift machen,
wenn Ihr mir nicht sagt, was ich hineinschreiben soll?”

“Das muß ich Ihm sagen?” erwiderte sie; “dann ist es freilich keine
Kunst, und wundre ich mich nicht mehr, daß Er sich einen Schreiber zu
nennen schämte. wenn man Ihm alles sagen soll. Nun, ich will mein
Mögliches tun. Setz Er in die Bittschrift, daß zwei Liebende
beieinander ruhen sollen, und daß sie einen nicht auf die Anatomie
bringen sollen, damit man seine Glieder beisammen hat, wenn es heißt:
“Ihr Toten, ihr Toten sollt auf erstehn, ihr sollt vor das Jüngste
Gerichte gehn!”” Da fing sie wieder bitterlich an zu weinen.

Ich ahnete, ein schweres Leid müsse auf ihr lasten, aber sie fühle
bei der Bürde ihrer Jahre nur in einzelnen Momenten sich schmerzlich
gerührt. Sie weinte, ohne zu klagen, ihre Worte waren immer gleich
ruhig und kalt. Ich bat sie nochmals, mir die ganze Veranlassung zu
ihrer Reise in die Stadt zu erzählen, und sie sprach: “Mein Enkel,
der Ulan, von dem ich Ihm erzählte, hatte doch mein Patchen sehr lieb,
wie ich Ihm vorher sagte, und sprach der schönen Annerl, wie die
Leute sie ihres glatten Spiegels wegen nannten, immer von der Ehre
vor und sagte ihr immer, sie solle auf ihre Ehre halten und auch auf
seine Ehre. Da kriegte dann das Mädchen etwas ganz Apartes in ihr
Gesicht und ihre Kleidung von der Ehre; sie war feiner und
manierlicher als alle andere Dirnen. Alles saß ihr knapper am Leibe,
und wenn sie ein Bursche einmal ein wenig derb beim Tanze anfaßte
oder sie etwa höher als den Steg der Baßgeige schwang, so konnte sie
bitterlich darüber bei mir weinen und sprach dabei immer, es sei
wider ihre Ehre. Ach, das Annerl ist ein eignes Mädchen immer
gewesen. Manchmal, wenn kein Mensch es sich versah, fuhr sie mit
beiden Händen nach ihrer Schürze und riß sie sich vom Leibe, als ob
Feuer drin sei, und dann fing sie gleich entsetzlich an zu weinen;
aber das hat seine Ursache, es hat sie mit Zähnen hingerissen, der
Feind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre
her gewesen und hätte sich lieber an unsren lieben Gott gehalten,
hätte ihn nie von sich gelassen, in aller Not, und hätte seinetwillen
Schande und Verachtung ertragen statt ihrer Menschenehre. Der Herr
hätte sich gewiß erbarmt und wird es auch noch; ach, sie kommen gewiß
zusammen, Gottes Wille geschehe!

Der Ulan stand wieder in Frankreich, er hatte lange nicht geschrieben,
und wir glaubten ihn fast tot und weinten oft um ihn. Er war aber
im Hospital an einer schweren Blessur krank gelegen, und als er
wieder zu seinen Kameraden kam und zum Unteroffizier ernannt wurde,
fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren sein Stiefbruder so übers Maul
gefahren: er sei nur Gemeiner und der Vater Korporal, und dann die
Geschichte von dem französischen Unteroffizier, und wie er seinem
Annerl von der Ehre so viel geredet, als er Abschied genommen. Da
verlor er seine Ruhe und kriegte das Heimweh und sagte zu seinem
Rittmeister, der ihn um sein Leid fragte: “Ach, Herr Rittmeister, es
ist, als ob es mich mit den Zähnen nach Hause zöge.” Da ließen sie
ihn heimreisen mit seinem Pferd, denn alle seine Offiziere trauten
ihm. Er kriegte auf drei Monate Urlaub und sollte mit der Remonte
wieder zurückkommen. Er eilte, so sehr er konnte, ohne seinem Pferde
wehe zu tun, welches er besser pflegte als jemals, weil es ihm war
anvertraut worden. An einem Tage trieb es ihn ganz entsetzlich, nach
Hause zu eilen; es war der Tag vor dem Sterbetage seiner Mutter, und
es war ihm immer, als laufe sie vor seinem Pferde her und riefe:
“Kasper, tue mir eine Ehre an!” Ach, ich saß an diesem Tage auf
ihrem Grabe ganz allein und dachte auch: wenn Kasper doch bei mir
wäre! Ich hatte Blümelein Vergißnichtmein in einen Kranz gebunden
und an das eingesunkene Kreuz gehängt und maß mir den Platz umher aus
und dachte: hier will ich liegen, und da soll Kasper liegen, wenn ihm
Gott sein Grab in der Heimat schenkt, daß wir fein beisammen sind,
wenns heißt: “Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, ihr sollt zum
Jüngsten Gerichte gehn!” Aber Kasper kam nicht, ich wußte auch nicht,
daß er so nahe war und wohl hätte kommen können. Es trieb ihn auch
gar sehr, zu eilen; denn er hatte wohl oft an diesen Tag in
Frankreich gedacht und hatte einen kleinen Kranz von schönen
Goldblumen von daher mitgebracht, um das Grab seiner Mutter zu
schmücken, und auch einen Kranz für Annerl, den sollte sie sich bis
zu ihrem Ehrentage bewahren.”

Hier ward die Alte still und schüttelte mit dem Kopf; als ich aber
die letzten Worte wiederholte: “Den sollte sie sich bis zu ihrem
Ehrentage bewahren”, fuhr sie fort: “Wer weiß, ob ich es nicht
erflehen kann; ach, wenn ich den Herzog nur wecken dürfte!”–“Wozu?”
fragte ich, “welch Anliegen habt Ihr denn, Mutter?” Da sagte sie
ernst: “O, was läge am ganzen Leben, wenns kein End nähme; was läge
am Leben, wenn es nicht ewig wäre!” und fuhr dann in ihrer Erzählung
fort.

“Kasper wäre noch recht gut zu Mittag in unserm Dorfe angekommen,
aber morgens hatte ihm sein Wirt im Stalle gezeigt, daß sein Pferd
gedrückt sei, und dabei gesagt: “Mein Freund, das macht dem Reiter
keine Ehre.” Das Wort hatte Kasper tief empfunden; er legte deswegen
den Sattel hohl und leicht auf, tat alles, ihm die Wunde zu heilen,
und setzte seine Reise, das Pferd am Zügel führend, zu Fuße fort. So
kam er am späten Abend bis an eine Mühle, eine Meile von unserm Dorf,
und weil er den Müller als einen alten Freund seines Vaters kannte,
sprach er bei ihm ein und wurde wie ein recht lieber Gast aus der
Fremde empfangen. Kasper zog sein Pferd in den Stall, legte den
Sattel und sein Felleisen in einen Winkel und ging nun zu dem Müller
in die Stube. Da fragte er dann nach den Seinigen und hörte, daß ich
alte Großmutter noch lebe, und daß sein Vater und sein Stiefbruder
gesund seien, und daß es recht gut mit ihnen gehe; sie wären erst
gestern mit Getreide auf der Mühle gewesen, sein Vater habe sich auf
den Roß–und Ochsenhandel gelegt und gedeihe dabei recht gut, auch
halte er jetzt etwas auf seine Ehre und gehe nicht mehr so zerrissen
umher. Darüber war der gute Kasper nun herzlich froh, und da er nach
der schönen Annerl fragte, sagte ihm der Müller: er kenne sie nicht,
aber wenn es die sei, die auf dem Rosenhof gedient habe, die hätte
sich, wie er gehört, in der Hauptstadt vermietet, weil sie da eher
etwas lernen könne und mehr Ehre dabei sei; so habe er vor einem
Jahre von dem Knecht auf dem Rosenhof gehört. Das freute den Kasper
auch; wenn es ihm gleich leid tat, daß er sie nicht gleich sehen
sollte, so hoffte er sie doch in der Hauptstadt bald recht fein und
schmuck zu finden, daß es ihm, als einem Unteroffizier, auch eine
rechte Ehre sei, mit ihr am Sonntag spazieren zu gehn. Nun erzählte
er dem Müller noch mancherlei aus Frankreich, sie aßen und tranken
miteinander, er half ihm Korn aufschütten, und dann brachte ihn der
Müller in die Oberstube zu Bett und legte sich selbst unten auf
einigen Säcken zur Ruhe. Das Geklapper der Mühle und die Sehnsucht
nach der Heimat ließen den guten Kasper, wenn er gleich sehr müde war,
nicht fest einschlafen. Er war sehr unruhig und dachte an seine
selige Mutter und an das schöne Annerl und an die Ehre, die ihm
bevorstehe, wenn er als Unteroffizier vor die Seinigen treten würde.
So entschlummerte er endlich leis und wurde von ängstlichen Träumen
oft aufgeschreckt. Es war ihm mehrmals, als trete seine selige
Mutter zu ihm und bäte ihn händeringend um Hülfe; dann war es ihm,
als sei er gestorben und würde begraben, gehe aber selbst zu Fuße als
Toter mit zu Grabe, und schön Annerl gehe ihm zur Seite; er weinte
heftig, daß ihn seine Kameraden nicht begleiteten, und da er auf den
Kirchhof komme, sei sein Grab neben dem seiner Mutter; und Annerls
Grab sei auch dabei, und er gebe Annerl das Kränzlein, das er ihr
mitgebracht, und hänge das der Mutter an ihr Grab, und dann habe er
sich umgeschaut und niemand mehr gesehen als mich und die Annerl; die
habe einer an der Schürze ins Grab gerissen, und er sei dann auch ins
Grab gestiegen und habe gesagt: “Ist denn niemand hier, der mir die
letzte Ehre antut und mir ins Grab schießen will als einem braven
Soldaten?” und da habe er sein Pistol gezogen und sich selbst ins
Grab geschossen. über dem Schuß wachte er mit großem Schrecken auf,
denn es war ihm, als klirrten die Fenster davon. Er sah um sich in
der Stube, da hörte er noch einen Schuß fallen und hörte Getöse in
der Mühle und Geschrei durch das Geklapper. Er sprang aus dem Bett
und griff nach seinem Säbel; in dem Augenblick ging seine Türe auf,
und er sah beim Vollmondschein zwei Männer mit berußten Gesichtern
mit Knitteln auf sich zustürzen, aber er setzte sich zur Wehre und
hieb den einen über den Arm, und so entflohen beide, indem sie die
Tür, welche nach außen aufging und einen Riegel draußen hatte, hinter
sich verriegelten. Kasper versuchte umsonst, ihnen nachzukommen;
endlich gelang es ihm, eine Tafel in der Türe einzutreten. Er eilte
durch das Loch die Treppe hinunter und hörte das Wehgeschrei des
Müllers, den er geknebelt zwischen den Kornsäcken liegend fand.
Kasper band ihn los und eilte dann gleich in den Stall, nach seinem
Pferde und Felleisen, aber beides war geraubt. Mit großem Jammer
eilte er in die Mühle zurück und klagte dem Müller sein Unglück, daß
ihm all sein Hab und Gut und das ihm anvertraute Pferd gestohlen sei,
über welches letztere er sich gar nicht zufrieden geben konnte. Der
Müller aber stand mit einem vollen Geldsack vor ihm, er hatte ihn in
der Oberstube aus dem Schranke geholt und sagte zu dem Ulan: Lieber
Kasper, sei Er zufrieden, ich verdanke Ihm die Rettung meines
Vermögens; auf diesen Sack, der oben in Seiner Stube lag, hatten es
die Räuber gemünzt, und Seiner Verteidigung danke ich alles, mir ist
nichts gestohlen. Die Sein Pferd und Sein Felleisen im Stall fanden,
müssen ausgestellte Diebeswachen gewesen sein, sie zeigten durch die
Schüsse an, daß Gefahr da sei, weil sie wahrscheinlich am Sattelzeug
erkannten, daß ein Kavallerist im Hause herberge. Nun soll Er
meinethalben keine Not haben, ich will mir alle Mühe geben und kein
Geld sparen, Ihm Seinen Gaul wiederzufinden, und finde ich ihn nicht,
so will ich Ihm einen kaufen, so teuer er sein mag., Kasper sagte:
“Geschenkt nehme ich nichts, das ist gegen meine Ehre; aber wenn Er
mir im Notfall siebzig Taler vorschießen will, so kriegt er meine
Verschreibung, ich schaffe sie in zwei Jahren wieder.” Hierüber
wurden sie einig, und der Ulan trennte sich von ihm, um nach seinem
Dorfe zu eilen, wo auch ein Gerichtshalter der umliegenden Edelleute
wohnt, bei dem er die Sache berichten wollte. Der Müller blieb
zurück, um seine Frau und seinen Sohn zu erwarten, welche auf einem
Dorfe in der Nähe bei einer Hochzeit waren. Dann wollte er dem
Ulanen nachkommen und die Anzeige vor Gericht auch machen.

Er kann sich denken, lieber Herr Schreiber, mit welcher Betrübnis der
arme Kasper den Weg nach unserm Dorfe eilte, zu Fuß und arm, wo er
hatte stolz einreiten wollen; einundfunfzig Taler, die er erbeutet
hatte, sein Patent als Unteroffizier, sein Urlaub, und die Kränze auf
seiner Mutter Grab und für die schöne Annerl waren ihm gestohlen. Es
war ihm ganz verzweifelt zumute, und so kam er um ein Uhr in der
Nacht in seiner Heimat an und pochte gleich an der Türe des
Gerichtshalters, dessen Haus das erste vor dem Dorfe ist. Er ward
eingelassen und machte seine Anzeige und gab alles an, was ihm
geraubt worden war. Der Gerichtshalter trug ihm auf, er solle gleich
zu seinem Vater gehn, welches der einzige Bauer im Dorfe sei, der
Pferde habe, und solle mit diesem und seinem Bruder in der Gegend
herum patrouillieren, ob er vielleicht den Räubern auf die Spur komme;
indessen wolle er andere Leute zu Fuß aussenden und den Müller, wenn
er komme, um die weiteren Umstände vernehmen. Kasper ging nun von
dem Gerichtshalter weg nach dem väterlichen Hause; da er aber an
meiner Hütte vorüber mußte und durch das Fenster hörte, daß ich ein
geistliches Lied sang, wie ich denn vor Gedanken an seine selige
Mutter nicht schlafen konnte, so pochte er an und sagte: “Gelobt sei
Jesus Christus, liebe Großmutter, Kasper ist hier.” Ach, wie fuhren
mir die Worte durch Mark und Bein! Ich stürzte an das Fenster,
öffnete es und küßte und drückte ihn mit unendlichen Tränen. Er
erzählte mir sein Unglück mit großer Eile und sagte, welchen Auftrag
er an seinen Vater vom Gerichtshalter habe; er müsse drum jetzt
gleich hin, um den Dieben nachzusetzen, denn seine Ehre hänge davon
ab, daß er sein Pferd wiedererhalte.

Ich weiß nicht, aber das Wort Ehre fuhr mir recht durch alle Glieder,
denn ich wußte schwere Gerichte, die ihm bevorstanden. “Tue deine
Pflicht und gib Gott allein die Ehre!” sagte ich; und er eilte von
mir nach Finkels Hof, der am andern Ende des Dorfs liegt. Ich sank,
als er fort war, auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn doch in
seinen Schutz nehmen; ach, ich betete mit einer Angst wie niemals und
mußte dabei immer sagen: “Herr, dein Wille geschehe wie im Himmel, so
auf Erden.”

Der Kasper lief zu seinem Vater mit einer entsetzlichen Angst. Er
stieg hinten über den Gartenzaun, er hörte die Plumpe gehen, er hörte
im Stall wiehern, das fuhr ihm durch die Seele; er stand still, er
sah im Mondschein, daß zwei Männer sich wuschen, es wollte ihm das
Herz brechen. Der eine sprach: “Das verfluchte Zeug geht nicht
herunter”; da sagte der andre: “Komm erst in den Stall, dem Gaul den
Schwanz abzuschlagen und die Mähnen zu verschneiden. Hast du das
Felleisen auch tief genug unterm Mist begraben?”–“Ja”, sagte der
andre. Da gingen sie nach dem Stall, und Kasper, vor Jammer wie ein
Rasender, sprang hervor und schloß die Stalltüre hinter ihnen und
schrie: “Im Namen des Herzogs! Ergebt euch! Wer sich widersetzt,
den schieße ich nieder!” Ach, da hatte er seinen Vater und seinen
Stiefbruder als die Räuber seines Pferdes gefangen. “Meine Ehre,
meine Ehre ist verloren!” schrie er, “ich bin der Sohn eines ehrlosen
Diebes.” Als die beiden im Stall diese Worte hörten, ist ihnen bös
zumute geworden; sie schrien: “Kasper, lieber Kasper, um Gottes
willen, bringe uns nicht ins Elend, Kasper, du sollst ja alles
wiederhaben, um deiner seligen Mutter willen, deren Sterbetag heute
ist, erbarme dich deines Vaters und Bruders!” Kasper aber war wie
verzweifelt, er schrie nur immer: “Meine Ehre, meine Pflicht!”, und
da sie nun mit Gewalt die Türe erbrechen wollten und ein Fach in der
Lehmwand einstoßen, um zu entkommen, schoß er ein Pistol in die Luft
und schrie: “Hülfe, Hülfe, Diebe, Hülfe!” Die Bauern, von dem
Gerichtshalter erweckt, welche schon herannahten, um sich über die
verschiedenen Wege zu bereden, auf denen sie die Einbrecher in die
Mühle verfolgen wollten, stürzten auf den Schuß und das Geschrei ins
Haus. Der alte Finkel flehte immer noch, der Sohn solle ihm die Türe
öffnen; der aber sagte: “Ich bin ein Soldat und muß der Gerechtigkeit
dienen.” Da traten der Gerichtshalter und die Bauern heran. Kasper
sagte: “Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Gerichtshalter, mein
Vater, mein Bruder sind selbst die Diebe, o daß ich nie geboren wäre!
Hier im Stalle habe ich sie gefangen, mein Felleisen liegt im Miste
vergraben.” Da sprangen die Bauern in den Stall und banden den alten
Finkel und seinen Sohn und schleppten sie in ihre Stube. Kasper aber
grub das Felleisen hervor und nahm die zwei Kränze heraus und ging
nicht in die Stube, er ging nach dem Kirchhofe an das Grab seiner
Mutter. Der Tag war angebrochen. Ich war auf der Wiese gewesen und
hatte für mich und für Kasper zwei Kränze von Blümelein
Vergißnichtmein geflochten; ich dachte: er soll mit mir das Grab
seiner Mutter schmücken, wenn er von seinem Ritt zurückkommt. Da
hörte ich allerlei ungewohnten Lärm im Dorf, und weil ich das
Getümmel nicht mag und am liebsten alleine bin, so ging ich ums Dorf
herum nach dem Kirchhof. Da fiel ein Schuß, ich sah den Dampf in die
Höhe steigen, ich eilte auf den Kirchhof–o du lieber Heiland,
erbarme dich sein! Kasper lag tot auf dem Grabe seiner Mutter, er
hatte sich die Kugel durch das Herz geschossen, auf welches er sich
das Kränzlein, das er für schön Annerl mitgebracht, am Knopfe
befestigt hatte; durch diesen Kranz hatte er sich ins Herz geschossen.
Den Kranz für die Mutter hatte er schon an das Kreuz befestigt.
Ich meinte, die Erde täte sich unter mir auf bei dem Anblick, ich
stürzte über ihn hin und schrie immer: “Kasper, o du unglückseliger
Mensch, was hast du getan? Ach, wer hat dir denn dein Elend erzählt?
O warum habe ich dich von mir gelassen, ehe ich dir alles gesagt!
Gott, was wird dein armer Vater, dein Bruder sagen, wenn sie dich so
finden!” Ich wußte nicht, daß er sich wegen diesen das Leid angetan;
ich glaubte, es habe eine ganz andere Ursache. Da kam es noch ärger.
Der Gerichtshalter und die Bauern brachten den alten Finkel und
seinen Sohn mit Stricken gebunden; der Jammer erstickte mir die
Stimme in der Kehle, ich konnte kein Wort sprechen; der
Gerichtshalter fragte mich, ob ich meinen Enkel nicht gesehn. Ich
zeigte hin, wo er lag. Er trat zu ihm; er glaubte, er weine auf dem
Grabe; er schüttelte ihn, da sah er das Blut niederstürzen. “Jesus,
Marie!” rief er aus, “der Kasper hat Hand an sich gelegt.” Da sahen
die beiden Gefangenen sich schrecklich an; man nahm den Leib des
Kaspers und trug ihn neben ihnen her nach dem Hause des
Gerichtshalters; es war ein Wehgeschrei im ganzen Dorfe, die
Bauernweiber führten mich nach. Ach, das war wohl der schrecklichste
Weg in meinem Leben!”

Da ward die Alte wieder still, und ich sagte zu ihr: “Liebe Mutter,
Euer Leid ist entsetzlich, aber Gott hat Euch auch recht lieb; die er
am härtesten schlägt, sind seine liebsten Kinder. Sagt mir nun,
liebe Mutter, was Euch bewogen hat, den weiten Weg hierher zu gehen,
und um was Ihr die Bittschrift einreichen wollt?”

“Ei, das kann Er sich doch wohl denken”, fuhr sie ganz ruhig fort,
“um ein ehrliches Grab für Kasper und die schöne Annerl, der ich das
Kränzlein zu ihrem Ehrentag mitbringe; es ist ganz mit Kaspers Blut
unterlaufen, seh Er einmal!”

Da zog sie einen kleinen Kranz von Flittergold aus ihrem Bündel und
zeigte ihn mir; ich konnte bei dem anbrechenden Tage sehen, daß er
vom Pulver geschwärzt und mit Blut besprengt war. Ich war ganz
zerrissen von dem Unglück der guten Alten, und die Größe und
Festigkeit, womit sie es trug, erfüllte mich mit Verehrung. “Ach,
liebe Mutter”, sagte ich, “wie werdet Ihr der armen Annerl aber ihr
Elend beibringen, daß sie gleich nicht vor Schrecken tot niedersinkt,
und was ist denn das für ein Ehrentag, zu welchem Ihr dem Annerl den
traurigen Kranz bringet?”

“Lieber Mensch”, sprach sie, “komme Er nur mit, Er kann mich zu ihr
begleiten, ich kann doch nicht geschwind fort, so werden wir sie
gerade zu rechter Zeit noch finden. Ich will Ihm unterwegs noch
alles erzählen.”

Nun stand sie auf und betete ihren Morgensegen ganz ruhig und brachte
ihre Kleider in Ordnung, und ihren Bündel hängte sie dann an meinen
Arm; es war zwei Uhr des Morgens, der Tag graute, und wir wandelten
durch die stillen Gassen.

“Seh Er”, erzählte die Alte fort, “als der Finkel und sein Sohn
eingesperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter auf die Gerichtsstube;
der tote Kasper wurde auf einen Tisch gelegt und, mit seinem
Ulanenmantel bedeckt, hereingetragen, und nun mußte ich alles dem
Gerichtshalter sagen, was ich von ihm wußte, und was er mir heute
morgen durch das Fenster gesagt hatte. Das schrieb er alles auf sein
Papier nieder, das vor ihm lag. Dann sah er die Schreibtafel durch,
die sie bei Kasper gefunden; da standen mancherlei Rechnungen drin,
einige Geschichten von der Ehre und auch die von dem französischen
Unteroffizier, und hinter ihr war mit Bleistift etwas geschrieben.”
Da gab mir die Alte die Brieftasche, und ich las folgende letzte
Worte des unglücklichen Kaspers: “Auch ich kann meine Schande nicht
überleben. Mein Vater und mein Bruder sind Diebe, sie haben mich
selbst bestohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte sie
gefangennehmen und den Gerichten übergeben, denn ich bin ein Soldat
meines Fürsten, und meine Ehre erlaubt mir keine Schonung. Ich habe
meinen Vater und Bruder der Rache übergeben um der Ehre willen. Ach,
bitte doch jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich gefallen bin,
ein ehrliches Grab neben meiner Mutter vergönne! Das Kränzlein,
durch welches ich mich erschossen, soll die Großmutter der schönen
Annerl schicken und sie von mir grüßen; ach, sie tut mir leid durch
Mark und Bein, aber sie soll doch den Sohn eines Diebes nicht
heiraten, denn sie hat immer viel auf Ehre gehalten. Liebe schöne
Annerl, mögest du nicht so sehr erschrecken über mich, gib dich
zufrieden, und wenn du mir jemals ein wenig gut warst, so rede nicht
schlecht von mir! Ich kann ja nichts für meine Schande! Ich hatte
mir so viele Mühe gegeben, in Ehren zu bleiben mein Leben lang, ich
war schon Unteroffizier und hatte den besten Ruf bei der Schwadron,
ich wäre gewiß noch einmal Offizier geworden, und Annerl, dich hätte
ich doch nicht verlassen und hätte keine Vornehmere gefreit–aber der
Sohn eines Diebes, der seinen Vater aus Ehre selbst fangen und
richten lassen muß, kann seine Schande nicht überleben. Annerl,
liebes Annerl, nimm doch ja das Kränzlein, ich bin dir immer treu
gewesen, so Gott mir gnädig sei! Ich gebe dir nun deine Freiheit
wieder, aber tue mir die Ehre und heirate nie einen, der schlechter
wäre als ich. Und wenn du kannst, so bitte für mich, daß ich ein
ehrliches Grab neben meiner Mutter erhalte; und wenn du hier in
unserm Ort sterben solltest, so lasse dich auch bei uns begraben; die
gute Großmutter wird auch zu uns kommen, da sind wir alle beisammen.
Ich habe funfzig Taler in meinem Felleisen, die sollen auf Interessen
gelegt werden für dein erstes Kind. Meine silberne Uhr soll der Herr
Pfarrer haben, wenn ich ehrlich begraben werde. Mein Pferd, die
Uniform und Waffen gehören dem Herzog, diese meine Brieftasche gehört
dein. Adies, herztausender Schatz, adies, liebe Großmutter, betet
für mich und lebt alle wohl!–Gott erbarme sich meiner ach, meine
Verzweiflung ist groß!”

Ich konnte diese letzten Worte eines gewiß edeln unglücklichen
Menschen nicht ohne bittere Tränen lesen.–“Der Kasper muß ein gar
guter Mensch gewesen sein, liebe Mutter”, sagte ich zu der Alten,
welche nach diesen Worten stehen blieb und meine Hand drückte und mit
tiefbewegter Stimme sagte: “Ja, es war der beste Mensch auf der Welt.
Aber die letzten Worte von der Verzweiflung hätte er nicht schreiben
sollen, die bringen ihn um sein ehrliches Grab, die bringen ihn auf
die Anatomie. Ach, lieber Schreiber, wenn Er hierin nur helfen
könnte!”

“Wieso, liebe Mutter?” fragte ich, “was können diese letzten Worte
dazu beitragen?”–“Ja, gewiß”, erwiderte sie, “der Gerichtshalter hat
es mir selbst gesagt. Es ist ein Befehl an alle Gerichte ergangen,
daß nur die Selbstmörder aus Melancholie ehrlich sollen begraben
werden, alle aber, die aus Verzweiflung Hand an sich gelegt, sollen
auf die Anatomie; und der Gerichtshalter hat mir gesagt, daß er den
Kasper, weil er selbst seine Verzweiflung eingestanden, auf die
Anatomie schicken müsse.”

“Das ist ein wunderlich Gesetz”, sagte ich, “denn man könnte wohl bei
jedem Selbstmord einen Prozeß anstellen, ob er aus Melancholie oder
Verzweiflung entstanden, der so lange dauern müßte, daß der Richter
und die Advokaten drüber in Melancholie und Verzweiflung fielen und
auf die Anatomie kämen. Aber seid nur getröstet, liebe Mutter, unser
Herzog ist ein so guter Herr, wenn er die ganze Sache hört, wird er
dem armen Kasper gewiß ein Plätzchen neben der Mutter vergönnen.”

“Das gebe Gott!” erwiderte die Alte. “Sehe Er nun, lieber Mensch:
als der Gerichtshalter alles zu Papier gebracht hatte, gab er mir die
Brieftasche und den Kranz für die schöne Annerl, und so bin ich dann
gestern hierher gelaufen, damit ich ihr an ihrem Ehrentag den Trost
noch mit auf den Weg geben kann.–Der Kasper ist zu rechter Zeit
gestorben; hätte er alles gewußt, er wäre närrisch geworden vor
Betrübnis.”

“Was ist es denn nun mit der schönen Annerl?” fragte ich die Alte;
“bald sagt Ihr, sie habe nur noch wenige Stunden, bald sprecht Ihr
von ihrem Ehrentag, und sie werde Trost gewinnen durch Eure traurige
Nachricht. Sagt mir doch alles heraus; will sie Hochzeit halten mit
einem andern, ist sie tot, krank? Ich muß alles wissen, damit ich es
in die Bittschrift setzen kann.”

Da erwiderte die Alte: “Ach, lieber Schreiber, es ist nun so, Gottes
Wille geschehe! Sehe Er, als Kasper kam, war ich doch nicht recht
froh, als Kasper sich das Leben nahm, war ich doch nicht recht
traurig; ich hätte es nicht überleben können, wenn Gott sich meiner
nicht erbarmt gehabt hätte mit größerem Leid. Ja, ich sage Ihm: es
war mir ein Stein vor das Herz gelegt, wie ein Eisbrecher, und alle
die Schmerzen, die wie Grundeis gegen mich stürzten und mir das Herz
gewiß abgestoßen hätten, die zerbrachen an diesem Stein und trieben
kalt vorüber. Ich will Ihm etwas erzählen, das ist betrübt:

Als mein Patchen, die schöne Annerl, ihre Mutter verlor, die eine
Base von mir war und sieben Meilen von uns wohnte, war ich bei der
kranken Frau. Sie war die Witwe eines armen Bauern und hatte in
ihrer Jugend einen Jäger liebgehabt, ihn aber wegen seines wilden
Lebens nicht genommen. Der Jäger war endlich in solch Elend gekommen,
daß er auf Tod und Leben wegen eines Mordes gefangen saß. Das
erfuhr meine Base auf ihrem Krankenlager, und es tat ihr so weh, daß
sie täglich schlimmer wurde und endlich in ihrer Todesstunde, als sie
mir die liebe schöne Annerl als mein Patchen übergab und Abschied von
mir nahm, noch in den letzten Augenblicken zu mir sagte: “Liebe Anne
Margret, wenn du durch das Städtchen kömmst, wo der arme Jürge
gefangen liegt, so lasse ihm sagen durch den Gefangenwärter, daß ich
ihn bitte auf meinem Todesbett, er solle sich zu Gott bekehren, und
daß ich herzlich für ihn gebetet habe in meiner letzten Stunde, und
daß ich ihn schön grüßen lasse.”–Bald nach diesen Worten starb die
gute Base, und als sie begraben war, nahm ich die kleine Annerl, die
drei Jahr alt war, auf den Arm und ging mit ihr nach Haus.

Vor dem Städtchen, durch das ich mußte, kam ich an der
Scharfrichterei vorüber, und weil der Meister berühmt war als ein
Viehdoktor, sollte ich einige Arznei mitnehmen für unsern Schulzen.
Ich trat in die Stube und sagte dem Meister, was ich wollte, und er
antwortete, daß ich ihm auf den Boden folgen solle, wo er die Kräuter
liegen habe, und ihm helfen aussuchen. Ich ließ Annerl in der Stube
und folgte ihm. Als wir zurück in die Stube traten, stand Annerl vor
einem kleinen Schranke, der an der Wand befestigt war, und sprach:
“Großmutter, da ist eine Maus drin; hört, wie es klappert; da ist
eine Maus drin!”

Auf diese Rede des Kindes machte der Meister ein sehr ernsthaftes
Gesicht, riß den Schrank auf und sprach: “Gott sei uns gnädig!”, denn
er sah sein Richtschwert, das allein in dem Schranke an einem Nagel
hing, hin und her wanken. Er nahm das Schwert herunter, und mir
schauderte. “Liebe Frau”, sagte er, “wenn Ihr das kleine liebe
Annerl liebhabt, so erschreckt nicht, wenn ich ihm mit meinem Schwert,
rings um das Hälschen, die Haut ein wenig aufritze; denn das Schwert
hat vor ihm gewankt, es hat nach seinem Blut verlangt, und wenn ich
ihm den Hals damit nicht ritze, so steht dem Kinde groß Elend im
Leben bevor.” Da faßte er das Kind, welches entsetzlich zu schreien
begann, ich schrie auch und riß das Annerl zurück. Indem trat der
Bürgermeister des Städtchens herein, der von der Jagd kam und dem
Richter einen kranken Hund zur Heilung bringen wollte. Er fragte
nach der Ursache des Geschreis, Annerl schrie: “Er will mich
umbringen!” Ich war außer mir vor Entsetzen. Der Richter erzählte
dem Bürgermeister das Ereignis. Dieser verwies ihm seinen
Aberglauben, wie er es nannte, heftig und unter starken Drohungen;
der Richter blieb ganz ruhig dabei und sprach: “So habens meine Väter
gehalten, so halt ichs.” Da sprach der Bürgermeister: “Meister Franz,
wenn Ihr glaubtet, Euer Schwert habe sich gerührt, weil ich Euch
hiermit anzeige, daß morgen früh um sechs Uhr der Jäger Jürge von
Euch soll geköpft werden, so wollt ich es noch verzeihen; aber daß
Ihr daraus etwas auf dies liebe Kind schließen wollt, das ist
unvernünftig und toll. Es könnte so etwas einen Menschen in
Verzweiflung bringen, wenn man es ihm später in seinem Alter sagte,
daß es ihm in seiner Jugend geschehen sei. Man soll keinen Menschen
in Versuchung führen.”–“Aber auch keines Richters Schwert”, sagte
Meister Franz vor sich und hing sein Schwert wieder in den Schrank.
Nun küßte der Bürgermeister das Annerl und gab ihm eine Semmel aus
seiner Jagdtasche, und da er mich gefragt, wer ich sei, wo ich her
komme und wo ich hin wolle, und ich ihm den Tod meiner Base erzählt
hatte und auch den Auftrag an den Jäger Jürge, sagte er mir: “Ihr
sollt ihn ausrichten, ich will Euch selbst zu ihm führen; er hat ein
hartes Herz, vielleicht wird ihn das Andenken einer guten Sterbenden
in seinen letzten Stunden rühren.” Da nahm der gute Herr mich und
Annerl auf seinen Wagen, der vor der Tür hielt, und fuhr mit uns in
das Städtchen hinein.

Er hieß mich zu seiner Köchin gehn; da kriegten wir gutes Essen, und
gegen Abend ging er mit mir zu dem armen Sünder; und als ich dem die
letzten Worte meiner Base erzählte, fing er bitterlich an zu weinen
und schrie: “Ach Gott, wenn sie mein Weib geworden, wäre es nicht so
weit mit mir gekommen.” Dann begehrte er, man solle den Herrn
Pfarrer doch noch einmal zu ihm bitten, er wolle mit ihm beten. Das
versprach ihm der Bürgermeister und lobte ihn wegen seiner
Sinnesveränderung und fragte ihn, ob er vor seinem Tode noch einen
Wunsch hätte, den er ihm erfüllen könne. Da sagte der Jäger Jürge:
“Ach, bittet hier die gute alte Mutter, daß sie doch morgen mit dem
Töchterlein ihrer seligen Base bei meinem Rechte zugegen sein mögen;
das wird mir das Herz stärken in meiner letzten Stunde.” Da bat mich
der Bürgermeister, und so graulich es mir war, so konnte ich es dem
armen, elenden Menschen nicht abschlagen. Ich mußte ihm die Hand
geben und es ihm feierlich versprechen, und er sank weinend auf das
Stroh. Der Bürgermeister ging dann mit mir zu seinem Freunde, dem
Pfarrer, dem ich nochmals alles erzählen mußte, ehe er sich ins
Gefängnis begab.

Die Nacht mußte ich mit dem Kinde in des Bürgermeisters Haus schlafen,
und am andern Morgen ging ich den schweren Gang zu der Hinrichtung
des Jägers Jürge. Ich stand neben dem Bürgermeister im Kreis und sah,
wie er das Stäblein brach. Da hielt der Jäger Jürge noch eine
schöne Rede, und alle Leute weinten, und er sah mich und die kleine
Annerl, die vor mir stand, gar beweglich an, und dann küßte er den
Meister Franz, der Pfarrer betete mit ihm, die Augen wurden ihm
verbunden, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter den
Todesstreich. “Jesus, Maria, Joseph!” schrie ich aus; denn der Kopf
des Jürgen flog gegen Annerl zu und biß mit seinen Zähnen dem Kinde
in sein Röckchen, das ganz entsetzlich schrie. Ich riß meine Schürze
vom Leibe und warf sie über den scheußlichen Kopf, und Meister Franz
eilte herbei, riß ihn los und sprach: “Mutter, Mutter, was habe ich
gestern morgen gesagt? Ich kenne mein Schwert, es ist lebendig!
“–Ich war niedergesunken vor Schreck, das Annerl schrie entsetzlich.
Der Bürgermeister war ganz bestürzt und ließ mich und das Kind nach
seinem Hause fahren; da schenkte mir seine Frau andre Kleider für
mich und das Kind, und nachmittag schenkte uns der Bürgermeister noch
Geld, und viele Leute des Städtchens auch, die Annerl sehen wollten,
so daß ich an zwanzig Taler und viele Kleider für sie bekam. Am
Abend kam der Pfarrer ins Haus und redete mir lange zu, daß ich das
Annerl nur recht in der Gottesfurcht erziehen sollte und auf alle die
betrübten Zeichen gar nichts geben, das seien nur Schlingen des
Satans, die man verachten müsse; und dann schenkte er mir noch eine
schöne Bibel für das Annerl, die sie noch hat, und dann ließ uns der
gute Bürgermeister, am andern Morgen, noch an drei Meilen weit nach
Haus fahren. Ach, du mein Gott, und alles ist doch eingetroffen!”
sagte die Alte und schwieg.

Eine schauerliche Ahnung ergriff mich, die Erzählung der Alten hatte
mich ganz zermalmt. “Um Gottes willen, Mutter”, rief ich aus, “was
ist es mit der armen Annerl geworden; ist denn gar nicht zu helfen?”

“Es hat sie mit den Zähnen dazu gerissen”, sagte die Alte; “heut wird
sie gerichtet; aber sie hat es in der Verzweiflung getan, die Ehre,
die Ehre lag ihr im Sinn. Sie war zuschanden gekommen aus Ehrsucht,
sie wurde verführt von einem Vornehmen, er hat sie sitzen lassen, sie
hat ihr Kind erstickt in derselben Schürze, die ich damals über den
Kopf des Jägers Jürge warf, und die sie mir heimlich entwendet hat.
Ach, es hat sie mit Zähnen dazu gerissen, sie hat es in der
Verwirrung getan. Der Verführer hatte ihr die Ehe versprochen und
gesagt, der Kasper sei in Frankreich geblieben. Dann ist sie
verzweifelt und hat das Böse getan und hat sich selbst bei den
Gerichten angegeben. Um vier Uhr wird sie gerichtet. Sie hat mir
geschrieben, ich möchte noch zu ihr kommen; das will ich nun tun und
ihr das Kränzlein und den Gruß von dem armen Kasper bringen und die
Rose, die ich heut nacht erhalten; das wird sie trösten. Ach, lieber
Schreiber, wenn Er es nur in der Bittschrift auswirken kann, daß ihr
Leib und auch der Kasper dürfen auf unsern Kirchhof gebracht werden.”

“Alles, alles will ich versuchen!” rief ich aus, “gleich will ich
nach dem Schlosse laufen; mein Freund, der Ihr die Rose gab, hat die
Wache dort, er soll mir den Herzog wecken, ich will vor sein Bett
knien und ihn um Pardon für Annerl bitten.”

“Pardon?” sagte die Alte kalt. “Es hat sie ja mit Zähnen dazu
gezogen; hör Er, lieber Freund, Gerechtigkeit ist besser als Pardon;
war hilft aller Pardon auf Erden? Wir müssen doch alle vor das
Gericht:

Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn,
Ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn.

Seht, sie will keinen Pardon, man hat ihn ihr angeboten, wenn sie den
Vater des Kindes nennen wolle; aber das Annerl hat gesagt: “Ich habe
sein Kind ermordet und will sterben und ihn nicht unglücklich machen;
ich muß meine Strafe leiden, daß ich zu meinem Kinde komme, aber ihn
kann es verderben, wenn ich ihn nenne.” Darüber wurde ihr das
Schwert zuerkannt. Gehe Er zum Herzog, und bitte Er für Kasper und
Annerl um ein ehrlich Grab! Gehe Er gleich! Seh Er: dort geht der
Herr Pfarrer ins Gefängnis; ich will ihn ansprechen, daß er mich mit
hinein zum schönen Annerl nimmt. Wenn Er sich eilt, so kann Er uns
draußen am Gerichte vielleicht den Trost noch bringen mit dem
ehrlichen Grab für Kasper und Annerl.”

Unter diesen Worten waren wir mit dem Prediger zusammengetroffen; die
Alte erzählte ihr Verhältnis zu der Gefangenen, und er nahm sie
freundlich mit zum Gefängnis. Ich aber eilte nun, wie ich noch nie
gelaufen, nach dem Schlosse, und es machte mir einen tröstenden
Eindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung, als ich an Graf
Grossingers Hause vorüberstürzte und aus einem offenen Fenster des
Gartenhauses eine liebliche Stimme zur Laute singen hörte:

Die Gnade sprach von Liebe,
Die Ehre aber wacht
Und wünscht voll Lieb der Gnade
In Ehren gute Nacht.

Die Gnade nimmt den Schleier,
Wenn Liebe Rosen gibt,
Die Ehre grüßt den Freier,
Weil sie die Gnade liebt.

Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr! Einhundert Schritte
weiter fand ich einen weißen Schleier auf der Straße liegend; ich
raffte ihn auf, er war voll von duftenden Rosen. Ich hielt ihn in
der Hand und lief weiter, mit dem Gedanken: ach Gott, das ist die
Gnade. Als ich um die Ecke bog, sah ich einen Mann, der sich in
seinem Mantel verhüllte, als ich vor ihm vorübereilte, und mir heftig
den Rücken wandte, um nicht gesehen zu werden. Er hätte es nicht
nötig gehabt, ich sah und hörte nichts in meinem Innern als: Gnade,
Gnade! und stürzte durch das Gittertor in den Schloßhof. Gott sei
Dank, der Fähndrich, Graf Grossinger, der unter den blühenden
Kastanienbäumen vor der Wache auf und ab ging, trat mir schon
entgegen.

“Lieber Graf”, sagte ich mit Ungestüm, “Sie müssen mich gleich zum
Herzog bringen, gleich auf der Stelle, oder alles ist zu spät, alles
ist verloren!”

Er schien verlegen über diesen Antrag und sagte: “Was fällt Ihnen ein,
zu dieser ungewohnten Stunde? Es ist nicht möglich; kommen Sie zur
Parade, da will ich Sie vorstellen.”

Mir brannte der Boden unter den Füßen; “jetzt”, rief ich aus, “oder
nie! Es muß sein, es betrifft das Leben eines Menschen.”

“Es kann jetzt nicht sein”, erwiderte Grossinger scharf absprechend,
“es betrifft meine Ehre; es ist mir untersagt, heute nacht irgendeine
Meldung zu tun.”

Das Wort Ehre machte mich verzweifeln; ich dachte an Kaspers Ehre, an
Annerls Ehre und sagte: “Die vermaledeite Ehre! Gerade um die letzte
Hülfe zu leisten, welche so eine Ehre übriggelassen, muß ich zum
Herzoge, Sie müssen mich melden, oder ich schreie laut nach dem
Herzog.”

“So Sie sich rühren”, sagte Grossinger heftig, “lasse ich Sie in die
Wache werfen, Sie sind ein Phantast, Sie kennen keine Verhältnisse.”

“O, ich kenne Verhältnisse, schreckliche Verhältnisse! Ich muß zum
Herzoge, jede Minute ist unerkauflich!” versetzte ich; “wollen Sie
mich nicht gleich melden, so eile ich allein zu ihm.”

Mit diesen Worten wollte ich nach der Treppe, die zu den Gemächern
des Herzogs hinaufführte, als ich den nämlichen in einen Mantel
Verhüllten, der mir begegnete, nach dieser Treppe eilend bemerkte.
Grossinger drehte mich mit Gewalt um, daß ich diesen nicht sehen
sollte. “Was machen Sie, Töriger?” flüsterte er mir zu, “schweigen
Sie, ruhen Sie, Sie machen mich unglücklich!”

“Warum halten Sie den Mann nicht zurück, der da hinaufging?” sagte
ich; “er kann nichts Dringenderes vorzubringen haben als ich. Ach,
es ist so dringend, ich muß, ich muß! Es betrifft das Schicksal
eines unglücklichen, verführten, armen Geschöpfs.”

Grossinger erwiderte: “Sie haben den Mann hinaufgehen sehen; wenn Sie
je ein Wort davon äußern, so kommen Sie vor meine Klinge; gerade,
weil er hinaufging, können Sie nicht hinauf, der Herzog hat Geschäfte
mit ihm.”

Da erleuchteten sich die Fenster des Herzogs. “Gott, er hat Licht,
er ist auf!” sagte ich, “ich muß ihn sprechen, um des Himmels willen,
lassen Sie mich, oder ich schreie Hülfe.”

Grossinger faßte mich beim Arm und sagte: “Sie sind betrunken, kommen
Sie in die Wache. Ich bin Ihr Freund, schlafen Sie aus und sagen Sie
mir das Lied, das die Alte heut nacht an der Tür sang, als ich die
Runde vorüberführte; das Lied interessiert mich sehr.”

“Gerade wegen der Alten und den Ihrigen muß ich mit dem Herzoge
sprechen!” rief ich aus.

“Wegen der Alten?” versetzte Grossinger, “wegen der sprechen Sie mit
mir, die großen Herrn haben keinen Sinn für so etwas; geschwind
kommen Sie nach der Wache!”

Er wollte mich fortziehen; da schlug die Schloßuhr halb vier. Der
Klang schnitt mir wie ein Schrei der Not durch die Seele, und ich
schrie aus voller Brust zu den Fenstern des Herzogs hinauf:

“Hülfe! Um Gottes willen, Hülfe für ein elendes, verführtes Geschöpf!”
Da ward Grossinger wie unsinnig. Er wollte mir den Mund zuhalten,
aber ich rang mit ihm; er stieß mich in den Nacken, er schimpfte; ich
fühlte, ich hörte nichts. Er rief nach der Wache, der Korporal eilte
mit etlichen Soldaten herbei, mich zu greifen; aber in dem Augenblick
ging des Herzogs Fenster auf, und es rief herunter:

“Fähndrich Graf Grossinger, was ist das für ein Skandal? Bringen Sie
den Menschen herauf, gleich auf der Stelle!”

Ich wartete nicht auf den Fähndrich; ich stürzte die Treppe hinauf,
ich fiel nieder zu den Füßen des Herzogs, der mich betroffen und
unwillig aufstehen hieß. Er hatte Stiefel und Sporen an, und doch
einen Schlafrock, den er sorgfältig über der Brust zusammenhielt.

Ich trug dem Herzoge alles, was mir die Alte von dem Selbstmorde des
Ulans, von der Geschichte der schönen Annerl erzählt hatte, so
gedrängt vor, als es die Not erforderte, und flehte ihn wenigstens um
den Aufschub der Hinrichtung auf wenige Stunden und um ein ehrliches
Grab für die beiden Unglücklichen an, wenn Gnade unmöglich sei.–“Ach,
Gnade, Gnade!” rief ich aus, indem ich den gefundenen weißen
Schleier voll Rosen aus dem Busen zog; “dieser Schleier, den ich auf
meinem Wege hierher gefunden, schien mir Gnade zu verheißen.”

Der Herzog griff mit Ungestüm nach dem Schleier und war heftig bewegt;
er drückte den Schleier in seinen Händen, und als ich die Worte
aussprach: “Euer Durchlaucht! Dieses arme Mädchen ist ein Opfer
falscher Ehrsucht; ein Vornehmer hat sie verführt und ihr die Ehe
versprochen; ach, sie ist so gut, daß sie lieber sterben will als ihn
nennen”–da unterbrach mich der Herzog, mit Tränen in den Augen, und
sagte: “Schweigen Sie, ums Himmels willen, schweigen Sie!”–Und nun
wendete er sich zu dem Fähndrich, der an der Türe stand, und sagte
mit dringender Eile: “Fort eilend zu Pferde mit diesem Menschen hier;
reiten Sie das Pferd tot; nur nach dem Gerichte hin: heften sie
diesen Schleier an Ihren Degen, winken und schreien Sie Gnade, Gnade!
Ich komme nach.”

Grossinger nahm den Schleier; er war ganz verwandelt, er sah aus wie
ein Gespenst vor Angst und Eile; wir stürzten in den Stall, saßen zu
Pferde und ritten im Galopp; er stürmte wie ein Wahnsinniger zum Tore
hinaus. Als er den Schleier an seine Degenspitze heftete, schrie er.
“Herr Jesus, meine Schwester!” Ich verstand nicht, was er wollte.
Er stand hoch im Bügel und wehte und schrie: “Gnade, Gnade!” Wir
sahen auf dem Hügel die Menge um das Gericht versammelt. Mein Pferd
scheute vor dem wehenden Tuch. Ich bin ein schlechter Reiter, ich
konnte den Grossinger nicht einholen, er flog im schnellsten Karriere;
ich strengte alle Kräfte an. Trauriges Schicksal! Die Artillerie
exerzierte in der Nähe, der Kanonendonner machte es unmöglich, unser
Geschrei aus der Ferne zu hören. Grossinger stürzte, das Volk stob
auseinander, ich sah in den Kreis, ich sah einen Stahlblitz in der
frühen Sonne–ach Gott, es war der Schwertblitz des Richters!–Ich
sprengte heran, ich hörte das Wehklagen der Menge. “Pardon, Pardon!”
schrie Grossinger und stürzte mit wehendem Schleier durch den Kreis,
wie ein Rasender, aber der Richter hielt ihm das blutende Haupt der
schönen Annerl entgegen, das ihn wehmütig anlächelte. Da schrie er:
“Gott sei mir gnädig!” und fiel auf die Leiche hin zur Erde; “tötet
mich, tötet mich, ihr Menschen; ich habe sie verführt, ich bin ihr
Mörder!”

Eine rächende Wut ergriff die Menge; die Weiber und Jungfrauen
drangen heran und rissen ihn von der Leiche und traten ihn mit Füßen,
er wehrte sich nicht; die Wachen konnten das wütende Volk nicht
bändigen. Da erhob sich ein Geschrei: “Der Herzog, der Herzog!”–Er
kam im offnen Wagen gefahren; ein blutjunger Mensch, den Hut tief ins
Gesicht gedrückt, in einen Mantel gehüllt, saß neben ihm. Die
Menschen schleiften Grossinger herbei. “Jesus, mein Bruder!” schrie
der junge Offizier mit der weiblichsten Stimme aus dem Wagen. Der
Herzog sprach bestürzt zu ihm: “Schweigen Sie!” Er sprang aus dem
Wagen, der junge Mensch wollte folgen, der Herzog drängte ihn schier
unsanft zurück, aber so beförderte sich die Entdeckung, daß der junge
Mensch die als Offizier verkleidete Schwester Grossingers sei. Der
Herzog ließ den mißhandelten, ohnmächtigen Grossinger in den Wagen
legen, die Schwester nahm keine Rücksicht mehr, sie warf ihren Mantel
über ihn; jedermann sah sie in weiblicher Kleidung. Der Herzog war
verlegen, aber er sammelte sich und befahl, den Wagen sogleich
umzuwenden und die Gräfin mit ihrem Bruder nach ihrer Wohnung zu
fahren. Dieses Ereignis hatte die Wut der Menge einigermaßen
gestillt. Der Herzog sagte laut zu dem wachthabenden Offizier: “Die
Gräfin Grossinger hat ihren Bruder an ihrem Hause vorbereiten sehen,
den Pardon zu bringen, und wollte diesem freudigen Ereignis beiwohnen;
als ich zu demselben Zwecke vorüberfuhr, stand sie am Fenster und
bat mich, sie in meinem Wagen mitzunehmen; ich konnte es dem
gutmütigen Kinde nicht abschlagen. Sie nahm einen Mantel und Hut
ihres Bruders, um kein Aufsehen zu erregen, und hat, von dem
unglücklichen Zufall überrascht, die Sache gerade dadurch zu einem
abenteuerlichen Skandal gemacht. Aber wie konnten Sie, Herr Leutnant,
den unglücklichen Grafen Grossinger nicht vor dem Pöbel schützen?
Es ist ein gräßlicher Fall, daß er, mit dem Pferde stürzend, zu spät
kam; er kann doch aber nichts dafür. Ich will die Mißhandler des
Grafen verhaftet und bestraft wissen.”

Auf diese Rede des Herzogs erhob sich ein allgemeines Geschrei: “Er
ist ein Schurke, er ist der Verführer, der Mörder der schönen Annerl
gewesen, er hat es selbst gesagt, der elende, der schlechte Kerl!”

Als dies von allen Seiten hertönte und auch der Prediger und der
Offizier und die Gerichtspersonen es bestätigten, war der Herzog so
tief erschüttert, daß er nichts sagte, als: “Entsetzlich, entsetzlich,
o, der elende Mensch!”

Nun trat der Herzog blaß und bleich in den Kreis; er wollte die
Leiche der schönen Annerl sehen. Sie lag auf dem grünen Rasen in
einem schwarzen Kleide mit weißen Schleifen. Die alte Großmutter,
welche sich um alles, was vorging, nicht bekümmerte, hatte ihr das
Haupt an den Rumpf gelegt und die schreckliche Trennung mit ihrer
Schürze bedeckt; sie war beschäftigt, ihr die Hände über die Bibel zu
falten, welche der Pfarrer in dem kleinen Städtchen der kleinen
Annerl geschenkt hatte; das goldene Kränzlein band sie ihr auf den
Kopf und steckte die Rose vor die Brust, welche ihr Grossinger in der
Nacht gegeben hatte, ohne zu wissen, wem er sie gab.

Der Herzog sprach bei diesem Anblick: “Schönes, unglückliches Annerl!
Schändlicher Verführer, du kamst zu spät!–Arme alte Mutter, du bist
ihr allein treu geblieben, bis in den Tod.” Als er mich bei diesen
Worten in seiner Nähe sah, sprach er zu mir: “Sie sagten mir von
einem letzten Willen des Korporal Kasper, haben Sie ihn bei sich?”
Da wendete ich mich zu der Alten und sagte: “Arme Mutter, gebt mir
die Brieftasche Kaspers; Seine Durchlaucht wollen seinen letzten
Willen lesen.”

Die Alte, welche sich um nichts bekümmerte, sagte mürrisch: “Ist Er
auch wieder da? Er hätte lieber ganz zu Hause bleiben können. Hat
Er die Bittschrift? Jetzt ist es zu spät; ich habe dem armen Kinde
den Trost nicht geben können, daß sie zu Kasper in ein ehrliches Grab
soll; ach, ich hab es ihr vorgelogen, aber sie hat mir nicht geglaubt.”

Der Herzog unterbrach sie und sprach: “Ihr habt nicht gelogen, gute
Mutter; der Mensch hat sein Möglichstes getan, der Sturz des Pferdes
ist an allem schuld. Aber sie soll ein ehrliches Grab haben bei
ihrer Mutter und bei Kasper, der ein braver Kerl war; es soll ihnen
beiden eine Leichenpredigt gehalten werden über die Worte: “Gebt Gott
allein die Ehre!” Der Kasper soll als Fähndrich begraben werden,
seine Schwadron soll ihm dreimal ins Grab schießen, und des
Verderbers Grossingers Degen soll auf seinen Sarg gelegt werden.”

Nach diesen Worten ergriff er Grossingers Degen, der mit dem Schleier
noch an der Erde lag, nahm den Schleier herunter, bedeckte Annerl
damit und sprach: “Dieser unglückliche Schleier, der ihr so gern
Gnade gebracht hätte, soll ihr die Ehre wiedergeben; sie ist ehrlich
und begnadigt gestorben, der Schleier soll mit ihr begraben werden.”

Den Degen gab er dem Offizier der Wache mit den Worten: “Sie werden
heute noch meine Befehle wegen der Bestattung des Ulanen und dieses
armen Mädchens bei der Parade empfangen.”

Nun las er auch die letzten Worte Kaspers laut mit vieler Rührung;
die alte Großmutter umarmte mit Freudentränen seine Füße, als wäre
sie das glücklichste Weib. Er sagte zu ihr: “Gebe Sie sich zufrieden,
Sie soll eine Pension haben bis an Ihr seliges Ende, ich will Ihrem
Enkel und der Annerl einen Denkstein setzen lassen.–Nun befahl er
dem Prediger, mit der Alten und einem Sarge, in welchen die
Gerichtete gelegt wurde, nach seiner Wohnung zu fahren und sie dann
nach ihrer Heimat zu bringen und das Begräbnis zu besorgen. Da
währenddem seine Adjutanten mit Pferden gekommen waren, sagte er noch
zu mir: “Geben Sie meinem Adjutanten Ihren Namen an, ich werde Sie
rufen lassen; Sie haben einen schönen menschlichen Eifer gezeigt.”
Der Adjutant schrieb meinen Namen in seine Schreibtafel und machte
mir ein verbindliches Kompliment. Dann sprengte der Herzog, von den
Segenswünschen der Menge begleitet, in die Stadt. Die Leiche der
schönen Annerl ward nun mit der guten alten Großmutter in das Haus
des Pfarrers gebracht, und in der folgenden Nacht fuhr dieser mit ihr
nach der Heimat zurück. Der Offizier traf, mit dem Degen Grossingers
und einer Schwadron Ulanen, auch daselbst am folgenden Abend ein. Da
wurde nun der brave Kasper, mit Grossingers Degen auf der Bahre und
dem Fähndrichspatent, neben der schönen Annerl, zur Seite seiner
Mutter begraben. Ich war auch hingeeilt und führte die alte Mutter,
welche kindisch vor Freude war, aber wenig redete; und als die Ulanen
dem Kasper zum drittenmal ins Grab schossen, fiel sie mir tot in die
Arme. Sie hat ihr Grab auch neben den Ihrigen empfangen. Gott gebe
ihnen allen eine freudige Auferstehung!

Sie sollen treten auf die Spitzen,
Wo die lieben Engelein sitzen,
Wo kömmt der liebe Gott gezogen
Mit einem schönen Regenbogen;
Da sollen ihre Seelen vor Gott bestehn,
Wann wir werden zum Himmel eingehn.
Amen.

Als ich in die Hauptstadt zurückkam, hörte ich, Graf Grossinger sei
gestorben; er habe Gift genommen. In meiner Wohnung fand ich einen
Brief von ihm; er sagte mir darin:

“Ich habe Ihnen viel zu danken. Sie haben meine Schande, die mir
lange das Herz abnagte, zutage gebracht. Jenes Lied der Alten kannte
ich wohl, die Annerl hatte es mir oft vorgesagt, sie war ein
unbeschreiblich edles Geschöpf. Ich war ein elender Verbrecher. Sie
hatte ein schriftliches Eheversprechen von mir gehabt und hat es
verbrannt. Sie diente bei einer alten Tante von mir, sie litt oft an
Melancholie. Ich habe mich durch gewisse medizinische Mittel, die
etwas Magisches haben, ihrer Seele bemächtigt.–Gott sei mir gnädig!
–Sie haben auch die Ehre Meiner Schwester gerettet. Der Herzog
liebt sie, ich war sein Günstling–die Geschichte hat ihn
erschüttert–Gott helfe mir, ich habe Gift genommen

Joseph Graf Grossinger.”

Die Schürze der schönen Annerl, in welche ihr der Kopf des Jägers
Jürge bei seiner Enthauptung gebissen, ist auf der herzoglichen
Kunstkammer bewahrt worden. Man sagt, die Schwester des Grafen
Grossinger werde der Herzog mit dem Namen: Voile de Grace, auf
deutsch “Gnadenschleier”, in den Fürstenstand erheben und sich mit
ihr vermählen. Bei der nächsten Revue in der Gegend von D… soll
das Monument auf den Gräbern der beiden unglücklichen Ehrenopfer, auf
dem Kirchhofe des Dorfs, errichtet und eingeweiht werden, der Herzog
wird mit der Fürstin selbst zugegen sein. Er ist ausnehmend
zufrieden damit; die Idee soll von der Fürstin und dem Herzoge
zusammen erfunden sein. Es stellt die falsche und wahre Ehre vor,
die sich vor einem Kreuze beiderseits gleich tief zur Erde beugen;
die Gerechtigkeit steht mit dem geschwungenen Schwerte zur einen
Seite, die Gnade zur andern Seite und wirft einen Schleier heran.
Man will im Kopfe der Gerechtigkeit ähnlichkeit mit dem Herzoge, in
dem Kopfe der Gnade ähnlichkeit mit dem Gesichte der Fürstin finden.