breit die Ortschaften, namentlich das heutige Baden bei Zuerich, jagten die in die Berge Fluechtenden aus ihrem Versteck auf und machten sie zu Tausenden nieder oder verkauften die Gefangenen nach Kriegsrecht. Obwohl die Hauptstadt Aventicum (Avenches bei Murten) sich ohne Gegenwehr unterwarf, forderten die Agitatoren der Armee ihre Schleifung und alles, was der Feldherr gewaehrte, war die Verweisung der Frage nicht etwa an den Kaiser, sondern an die Soldaten des grossen Hauptquartiers; diese sassen ueber das Schicksal der Stadt zu Gericht und nur der Umschlag ihrer Laune rettete den Ort vor der Zerstoerung. Dergleichen Misshandlungen brachten die Provinzialen aufs aeusserste; noch bevor Vitellius Gallien verliess, trat ein gewisser Mariccus aus dem von den Haeduern abhaengigen Gau der Boier auf, ein Gott auf Erden, wie er sagte, und bestimmt, die Freiheit der Kelten wieder herzustellen; und scharenweise stroemten die Leute unter seine Fahnen. Indes kam auf die Erbitterung im Keltenland nicht allzu viel an. Eben der Aufstand des Vindex hatte auf das deutlichste gezeigt, wie voellig unfaehig die Gallier waren, sich der roemischen Umklammerung zu entwinden. Aber die Stimmung der zu Gallien gerechneten germanischen Distrikte in den heutigen Niederlanden, der Bataver, der Cannenefaten, der Friesen, deren Sonderstellung schon hervorgehoben ward, hatte etwas mehr zu bedeuten; und es traf sich, dass eben diese einerseits aufs aeusserste erbittert worden waren, andererseits ihre Kontingente zufaellig sich in Gallien befanden. Die Masse der batavischen Truppen, 8000 Mann, der 14. Legion beigegeben, hatte laengere Zeit mit dieser bei dem oberen Rheinheere gestanden und war dann unter Claudius bei der Besetzung Britanniens nach dieser Insel gekommen, wo dieses Korps kurz zuvor die entscheidende Schlacht unter Paullinus durch seine unvergleichliche Tapferkeit fuer die Roemer gewonnen hatte; von diesem Tag an nahm dasselbe unter allen roemischen Heeresabteilungen unbestritten den ersten Platz ein. Eben dieser Auszeichnung wegen von Nero abberufen, um mit ihm zum Kriege in den Orient abzugehen, hatte die in Gallien ausbrechende Revolution ein Zerwuerfnis zwischen der Legion und ihren Hilfsmannschaften herbeigefuehrt: jene, dem Nero treu ergeben, eilte nach Italien, die Bataver dagegen weigerten sich zu folgen. Vielleicht hing dies damit zusammen, dass zwei ihrer angesehensten Offiziere, die Brueder Paulus und Civilis, ohne jeden Grund und ohne Ruecksicht auf vieljaehrige treue Dienste und ehrenvolle Wunden, kurz vorher als des Hochverrats verdaechtig in Untersuchung gezogen, der erstere hingerichtet, der zweite gefangengesetzt worden war. Nach Neros Sturz, zu welchem der Abfall der batavischen Kohorten wesentlich beigetragen hatte, gab Galba den Civilis frei und sandte die Bataver in ihr altes Standquartier nach Britannien zurueck. Waehrend sie auf dem Marsch dahin bei den Lingonen (Langres) lagerten, fielen die Rheinlegionen von Galba ab und riefen den Vitellius zum Kaiser aus. Die Bataver schlossen nach laengerem Schwanken schliesslich sich an; dieses Schwanken vergab ihnen Vitellius nicht, doch wagte er nicht, den Fuehrer des maechtigen Korps geradezu zur Verantwortung zu ziehen. So waren die Bataver mit den Legionen von Untergermanien nach Italien marschiert und hatten mit gewohnter Tapferkeit in der Schlacht von Betriacum fuer Vitellius gefochten, waehrend ihre alten Legionskameraden ihnen in dem Heere Othos gegenueberstanden. Aber der Uebermut dieser Germanen erbitterte ihre roemischen Siegesgenossen, wie sehr sie ihre Tapferkeit im Kampf anerkannten; auch die kommandierenden Generale trauten ihnen nicht und machten sogar einen Versuch, durch Detachierung sie zu teilen, was freilich in diesem Krieg, in dem die Soldaten kommandierten und die Generale gehorchten, nicht durchzufuehren war und fast dem General das Leben gekostet haette. Nach dem Siege wurden sie beauftragt, ihre feindlichen Kameraden von der 14. Legion nach Britannien zu eskortieren; aber da es zwischen beiden in Turin zum Handgemenge gekommen war, gingen diese allein dorthin und sie selbst nach Germanien. Inzwischen war im Orient Vespasianus zum Kaiser ausgerufen worden, und waehrend infolgedessen Vitellius sowohl den batavischen Kohorten Marschbefehl nach Italien gab wie auch bei den Batavern neue umfassende Aushebungen anordnete, knuepften Vespasians Beauftragte mit den batavischen Offizieren an, um diesen Abmarsch zu verhindern und in Germanien selbst einen Aufstand hervorzurufen, der die Truppen dort festhielte. Civilis ging darauf ein. Er begab sich in seine Heimat und gewann leicht die Zustimmung der Seinigen, sowie der benachbarten Cannenefaten und Friesen. Bei jenen brach der Aufstand aus; die beiden Kohortenlager in der Naehe wurden ueberfallen und die roemischen Posten aufgehoben; die roemischen Rekruten schlugen sich schlecht; bald warf Civilis mit seiner Kohorte, die er hatte nachkommen lassen, um sie angeblich gegen die Insurgenten zu gebrauchen, sich selbst offen in die Bewegung, sagte mit den drei germanischen Gauen dem Vitellius auf und forderte die uebrigen, eben damals von Mainz zum Abmarsch nach Italien aufbrechenden Bataver und Cannenefaten auf, sich ihm anzuschliessen. Das alles war mehr ein Soldatenaufstand als eine Insurrektion der Provinz oder gar ein germanischer Krieg. Wenn damals die Rheinlegionen mit denen von der Donau und weiter mit diesen und der Euphratarmee schlugen, so war es nur folgerichtig, dass auch die Soldaten zweiter Klasse, und vor allem die angesehenste Truppe derselben, die batavische, selbstaendig in diesen Korpskrieg eintrat. Wer diese Bewegung bei den Kohorten der Bataver und den linksrheinischen Germanen mit der Insurrektion der rechtsrheinischen unter Augustus zusammenstellt, der darf nicht uebersehen, dass in jener die Alen und Kohorten die Rolle des Landsturms der Cherusker uebernahmen; und wenn der treulose Offizier des Varus seine Nation aus der Roemerherrschaft erloeste, so handelte der batavische Fuehrer im Auftrag Vespasians, ja vielleicht auf geheime Anweisung des im stillen Vespasian geneigten Statthalters seiner Provinz, und richtete sich der Aufstand zunaechst lediglich gegen Vitellius. Freilich war die Lage der Dinge von der Art, dass dieser Soldatenaufstand jeden Augenblick in einen Germanenkrieg gefaehrlichster Art sich verwandeln konnte. Dieselben roemischen Truppen, die den Rhein gegen die Germanen des rechten Ufers deckten, standen infolge der Korpskriege den linksrheinischen Germanen feindlich gegenueber; die Rollen waren solcher Art, dass es fast leichter schien, sie zu wechseln als sie durchzufuehren. Civilis selbst mag es wohl auf den Erfolg haben ankommen lassen, ob die Bewegung auf einen Kaiserwechsel oder auf die Vertreibung der Roemer aus Gallien durch die Germanen hinauslaufen werde. Das Kommando ueber die beiden Rheinarmeen fuehrte damals, nachdem der Statthalter von Untergermanien Kaiser geworden war, sein bisheriger Kollege in Obergermanien Hordeonius Flaccus, ein hochbejahrter podagrischer Mann, ohne Energie und ohne Autoritaet, dazu entweder in der Tat im geheimen zu Vespasian haltend oder doch bei den eifrig dem Kaiser ihrer Mache anhaengenden Legionen solcher Treulosigkeit sehr verdaechtig. Es zeichnet ihn und seine Stellung, dass er, um sich von dem Verdacht des Verrats zu reinigen, Befehl gab, die einlaufenden Regierungsdepeschen uneroeffnet den Adlertraegern der Legionen zuzustellen und diese sie zunaechst den Soldaten vorlasen, bevor sie dieselben an ihre Adresse befoerderten. Von den vier Legionen des unteren Heeres, das zunaechst mit den Aufstaendischen zu tun hatte, standen zwei, die 5. und die 15., unter dem Legaten Munius Lupercus im Hauptquartier zu Vetera, die 16. unter Numisius Rufus in Novaesium (Neuss), die 1. unter Herennius Gallus in Bonna (Bonn). Von dem oberen Heer, das damals nur drei Legionen zaehlte ^8, blieb die eine, die 21., in ihrem Standquartier Vindonissa diesen Vorgaengen fern, wenn sie nicht vielmehr ganz nach Italien gezogen worden war; die beiden anderen, die 4. makedonische und die 22., standen im Hauptquartier Mainz, wo auch Flaccus sich befand und faktisch der tuechtige Legat des letzteren, Dillius Vocula, den Oberbefehl fuehrte. Die Legionen hatten durchgaengig nur die Haelfte der vollen Zahl, und die meisten Soldaten waren Halbinvalide oder Rekruten. ————————————————- ^8 Die 4. obergermanische Legion war im Jahre 58 nach Kleinasien geschickt, wegen des Armenisch-Parthischen Krieges (Tac. ann. 13, 35). ————————————————- Civilis, an der Spitze einer kleinen Zahl regulaerer Truppen, aber des Gesamtaufgebots der Bataver, Cannenefaten und Friesen, ging aus der Heimat zum Angriff vor. Zunaechst am Rhein stiess er auf Reste der aus den noerdlichen Gauen vertriebenen roemischen Besatzungen und eine Abteilung der roemischen Rheinflotte; als er angriff, lief nicht bloss die grossenteils aus Batavern bestehende Schiffsmannschaft zu ihm ueber, sondern auch eine Kohorte der Tungrer – es war der erste Abfall einer gallischen Abteilung; was von italischen Mannschaften dabei war, wurde erschlagen oder gefangen. Dieser Erfolg brachte endlich die rechtsrheinischen Germanen in Bewegung. Was sie seit langem vergeblich gehofft hatten, die Erhebung der roemischen Untertanen auf dem anderen Ufer, ging nun in Erfuellung und sowohl die Chauker und die Friesen an der Kueste wie vor allem die Bructerer zu beiden Seiten der oberen Ems bis hinab zur Lippe, und am Mittelrhein, Koeln gegenueber, die Tencterer, in minderem Masse die suedlich an diese sich anschliessenden Voelkerschaften, Usiper, Mattiaker, Chatten, warfen sich in den Kampf. Als auf Befehl des Flaccus die beiden schwachen Legionen von Vetera gegen die Insurgenten ausrueckten, konnten ihnen diese schon mit zahlreichem ueberrheinischem Zuzug entgegentreten; und die Schlacht endigte wie das Gefecht am Rhein mit einer Niederlage der Roemer durch den Abfall der batavischen Reiterei, welche zu der Garnison von Vetera gehoerte, und durch die schlechte Haltung der Reiter der Ubier wie der Treverer. Die insurgierten wie die zustroemenden Germanen schritten dazu, das Hauptquartier des unteren Heeres zu umstellen und zu belagern. Waehrend dieser Belagerung erreichte die Kunde der Vorgaenge am Unterrhein die uebrigen batavischen Kohorten in der Naehe von Mainz; sie machten sofort kehrt gegen Norden. Statt sie zusammenhauen zu lassen, liess der schwachmuetige Oberfeldherr sie ziehen, und als der Legionskommandant in Bonn sich ihnen entgegenwarf, unterstuetzte Flaccus diesen nicht, wie er es gekonnt und sogar anfaenglich zugesagt hatte. So sprengten die tapferen Germanen die Bonner Legion auseinander und gelangten gluecklich zu Civilis, fortan der geschlossene Kern seines Heeres, in welchem jetzt die roemischen Kohortenfahnen neben den Tierstandarten aus den heiligen Hainen der Germanen standen. Noch immer aber hielt der Bataver, wenigstens angeblich, an Vespasian; er schwur die roemischen Truppen auf dessen Namen ein und forderte die Besatzung von Vetera auf, sich mit ihm fuer diesen zu erklaeren. Indes diese Mannschaften sahen darin, vermutlich mit Recht, nur einen Versuch der Ueberlistung und wiesen diesen ebenso entschlossen ab wie die anstuermenden Scharen der Feinde, die bald durch die ueberlegene roemische Taktik sich gezwungen sahen, die Belagerung in eine Blockade zu verwandeln. Aber da die roemische Heerleitung durch diese Vorgaenge ueberrascht worden war, waren die Vorraete knapp und baldiger Entsatz dringend geboten. Um diesen zu bringen, brachen Flaccus und Vocula mit ihrer gesamten Mannschaft von Mainz auf, zogen unterwegs die beiden Legionen aus Bonna und Novaesium sowie die auf den erhaltenen Befehl zahlreich sich einstellenden Hilfstruppen der gallischen Gaue an sich und naeherten sich Vetera. Aber statt sofort die gesamte Macht von innen und aussen auf die Belagerer zu werfen, mochte deren Ueberzahl noch so gewaltig sein, schlug Vocula sein Lager bei Gelduba (Gellep am Rhein, unweit Krefeld), einen starken Tagemarsch entfernt von Vetera, waehrend Flaccus weiter zurueckstand. Die Nichtigkeit des sogenannten Feldherrn und die immer steigende Demoralisation der Truppen, vor allem das oft bis zu Misshandlungen und Mordanschlaegen sich steigernde Misstrauen gegen die Offiziere kann allein dies Einhalten wenigstens erklaeren. Also zog sich das Unheil immer dichter von allen Seiten zusammen. Ganz Germanien schien sich an dem Krieg beteiligen zu wollen; waehrend die belagernde Armee bestaendig neuen Zuzug von dort erhielt, gingen andere Schwaerme ueber den in diesem trocknen Sommer ungewoehnlich niedrigen Rhein teils in den Ruecken der Roemer in die Gaue der Ubier und der Treverer, das Moseltal zu brandschatzen, teils unterhalb Vetera in das Gebiet der Maas und der Schelde; weitere Haufen erschienen vor Mainz und machten Miene, dies zu belagern. Da kam die Nachricht von der Katastrophe in Italien. Auf die Kunde von der zweiten Schlacht bei Betriacum im Herbst des Jahres 69 gaben die germanischen Legionen die Sache des Vitellius verloren und schwuren, wenn auch widerwillig, dem Vespasian; vielleicht in der Hoffnung, dass Civilis, der ja auch den Namen Vespasians auf seine Fahnen geschrieben hatte, dann seinen Frieden machen werde. Aber die germanischen Schwaerme, die inzwischen ueber ganz Nordgallien sich ergossen hatten, waren nicht gekommen, um die Flavische Dynastie einzusetzen; selbst wenn Civilis dies einmal gewollt hatte, jetzt haette er es nicht mehr gekonnt. Er warf die Maske weg und sprach es offen aus, was freilich laengst feststand, dass die Germanen Nordgalliens sich mit Hilfe der freien Landsleute der roemischen Herrschaft zu entwinden gedachten. Aber das Kriegsglueck schlug um. Civilis versuchte das Lager von Gelduba zu ueberrumpeln; der Ueberfall begann gluecklich und der Abfall der Kohorten der Nervier brachte Voculas kleine Schar in eine kritische Lage. Da fielen ploetzlich zwei spanische Kohorten den Germanen in den Ruecken; die drohende Niederlage verwandelte sich in einen glaenzenden Sieg; der Kern der angreifenden Armee blieb auf dem Schlachtfeld. Vocula rueckte zwar nicht sofort gegen Vetera vor, was er wohl gekonnt haette, aber drang einige Tage spaeter, nach einem abermaligen heftigen Gefecht mit den Feinden, in die belagerte Stadt. Freilich Lebensmittel brachte er nicht; und da der Fluss in der Gewalt des Feindes war, mussten diese auf dem Landweg von Novaesium herbeigeschafft werden, wo Flaccus lagerte. Der erste Transport kam durch; aber die inzwischen wieder gesammelten Feinde griffen die zweite Proviantkolonne unterwegs an und noetigten sie, sich nach Gelduba zu werfen. Zu ihrer Unterstuetzung ging Vocula mit seinen Truppen und einem Teil der alten Besatzung von Vetera dorthin ab. In Gelduba angelangt, weigerten sich die Mannschaften, nach Vetera zurueckzukehren und die Leiden der abermals in Aussicht stehenden Belagerung weiter auf sich zu nehmen; statt dessen marschierten sie nach Novaesium, und Vocula, welcher den Rest der alten Garnison von Vetera einigermassen verproviantiert wusste, musste wohl oder uebel folgen. In Novaesium war inzwischen die Meuterei zum Ausbruch gelangt. Die Soldaten hatten in Erfahrung gebracht, dass ein von Vitellius fuer sie bestimmtes Donativ an den Feldherrn gelangt sei und erzwangen dessen Verteilung auf den Namen Vespasians. Kaum hatten sie es, so brach in den wuesten Gelagen, welche die Spende im Gefolge hatte, der alte Soldatengroll wieder hervor; sie pluenderten das Haus des Feldherrn, der die Rheinarmee an den General der syrischen Legionen verraten hatte, erschlugen ihn und haetten auch dem Vocula das gleiche Schicksal bereitet, wenn dieser nicht in Vermummung entkommen waere. Darauf riefen sie abermals den Vitellius zum Kaiser aus, nicht wissend, dass dieser schon tot war. Als diese Kunde ins Lager kam, kam der bessere Teil der Soldaten, namentlich die beiden obergermanischen Legionen, einigermassen zur Besinnung; sie vertauschten an ihren Standarten das Bildnis des Vitellius wieder mit dem Vespasians und stellten sich unter Voculas Befehle; dieser fuehrte sie nach Mainz, wo er den Rest des Winters 69/70 verblieb. Civilis besetzte Gelduba und schnitt damit Vetera ab, das aufs neue eng blockiert ward; die Lager von Novaesium und Bonna wurden noch gehalten. Bisher hatte das gallische Land, abgesehen von den wenigen insurgierten germanischen Gauen im Norden, fest an Rom gehalten. Allerdings ging die Parteiung durch die einzelnen Gaue; unter den Tungrern zum Beispiel hatten die Bataver starken Anhang, und die schlechte Haltung der gallischen Hilfsmannschaften waehrend des ganzen Feldzugs wird wohl zum Teil durch dergleichen roemerfeindliche Stimmungen hervorgerufen sein. Aber auch unter den Insurgierten gab es eine ansehnliche roemisch gesinnte Partei; ein vornehmer Bataver, Claudius Labeo, fuehrte gegen seine Landsleute in seiner Heimat und der Nachbarschaft einen Parteigaengerkrieg nicht ohne Erfolg und Civilis’ Schwestersohn Iulius Briganticus fiel in einem dieser Gefechte an der Spitze einer roemischen Reiterschar. Dem Befehl, Zuzug zu senden, hatten alle gallischen Gaue ohne weiteres Folge geleistet; die Ubier, obwohl germanischer Herkunft, waren auch in diesem Kriege lediglich ihres Roemerrums eingedenk und sie, wie die Treverer, hatten den in ihr Gebiet einbrechenden Germanen tapferen und erfolgreichen Widerstand geleistet. Es war das begreiflich. Die Dinge lagen in Gallien noch so wie in den Zeiten Caesars und Ariovists; eine Befreiung der gallischen Heimat von der roemischen Herrschaft durch diejenigen Schwaerme, welche, um dem Civilis landsmannschaftlichen Beistand zu leisten, eben damals das Mosel-, Maas- und Scheldetal ausraubten, war ebensosehr eine Auslieferung des Landes an die germanischen Nachbarn; in diesem Krieg, der aus einer Fehde zwischen zwei roemischen Truppenkorps zu einem roemisch-germanischen sich entwickelt hatte, waren die Gallier eigentlich nichts als der Einsatz und die Beute. Dass die Stimmung der Gallier, trotz aller wohlbegruendeten allgemeinen und besonderen Beschwerden ueber das roemische Regiment, ueberwiegend antigermanisch war und fuer jene aufflammende und ruecksichtslose nationale Erhebung, wie sie vor Zeiten wohl durch das Volk gegangen war, in diesem inzwischen halb romanisierten Gallien der Zuendstoff fehlte, hatten die bisherigen Vorgaenge auf das deutlichste gezeigt. Aber unter den bestaendigen Misserfolgen der roemischen Armee wuchs allmaehlich den roemerfeindlichen Galliern der Mut, und ihr Abfall vollendete die Katastrophe. Zwei vornehme Treverer, Iulius Classicus, der Befehlshaber der treverischen Reiterei, und Iulius Tutor, der Kommandant der Uferbesatzungen am Mittelrhein, der Lingone Iulius Sabinus, Nachkomme, wie er wenigstens sich beruehmte, eines Bastards Caesars, und einige andere gleichgesinnte Maenner aus verschiedenen Gauen glaubten in der fahrigen keltischen Weise zu erkennen, dass der Untergang Roms in den Sternen geschrieben und durch den Brand des Kapitols (Dezember 69) der Welt verkuendigt sei. So beschlossen sie, die Roemerherrschaft zu beseitigen und ein Gallisches Reich zu errichten. Dazu gingen sie den Weg des Arminius. Vocula liess sich wirklich durch gefaelschte Rapporte dieser roemischen Offiziere bestimmen, mit den unter ihrem Kommando stehenden Kontingenten und einem Teil der Mainzer Besatzung im Fruehjahr 70 nach dem Unterrhein aufzubrechen, um mit diesen Truppen und den Legionen von Bonna und Novaesium das hart bedraengte Vetera zu entsetzen. Auf dem Marsch von Novaesium nach Vetera verliessen Classicus und die mit ihm einverstandenen Offiziere das roemische Heer und proklamierten das neue Gallische Reich. Vocula fuehrte die Legionen zurueck nach Novaesium; unmittelbar davor schlug Classicus sein Lager auf. Vetera konnte sich nicht mehr lange halten; die Roemer mussten erwarten, nach dessen Fall die gesamte Macht des Feindes sich gegenueber zu finden. Dies vor Augen, versagten die roemischen Truppen und kapitulierten mit den abgefallenen Offizieren. Vergeblich versuchte Vocula noch einmal die Bande der Zucht und der Ehre anzuziehen; die Legionen Roms liessen es geschehen, dass ein roemischer Ueberlaeufer von der ersten Legion auf Befehl des Classicus den tapferen Feldherrn niederstiess und lieferten selbst die uebrigen Oberoffiziere gefesselt an den Vertreter des Reiches Gallien aus, der dann die Soldaten auf dieses Reich in Eid und Pflicht nahm. Denselben Schwur leistete in die Haende der eidbruechigen Offiziere die Besatzung von Vetera, die, durch Hunger bezwungen, sofort sich ergab, und ebenso die Besatzung von Mainz, wo nur wenige einzelne der Schande sich durch Flucht oder Tod entzogen. Das ganze stolze Rheinheer, die erste Armee des Reiches, hatte vor seinen eigenen Auxilien, Rom vor Gallien kapituliert.
Es war ein Trauerspiel und zugleich eine Posse. Das Gallische Reich verlief, wie es musste. Civilis und seine Germanen liessen es zunaechst sich wohl gefallen, dass der Zwist im roemischen Lager ihnen die eine wie die andere Haelfte der Feinde in die Haende lieferte, aber er dachte nicht daran, jenes Reich anzuerkennen, und noch weniger seine rechtsrheinischen Genossen. Ebenso wenig wollten die Gallier selbst davon etwas wissen, wobei allerdings der schon bei dem Aufstand des Vindex hervorgetretene Riss zwischen den oestlichen Distrikten und dem uebrigen Lande mit ins Gewicht fiel. Die Treverer und die Lingonen, deren leitende Maenner jene Lagerverschwoerung angezettelt hatten, standen zu ihren Fuehrern, aber sie blieben so gut wie allein, nur die Vangionen und Triboker schlossen sich an. Die Sequaner, in deren Gebiet die benachbarten Lingonen einrueckten, um sie zum Beitritt zu bestimmen, schlugen dieselben kurzweg zum Lande hinaus. Die angesehenen Remer, der fuehrende Gau in der Belgica, riefen den Landtag der drei Gallien ein, und obwohl es an politischen Freiheitsrednern auf demselben nicht mangelte, so beschloss derselbe lediglich, die Treverer von der Auflehnung abzumahnen. Wie die Verfassung des neuen Reiches ausgefallen sein wuerde, wenn es zustande gekommen waere, ist schwer zu sagen; wir erfahren nur, dass jener Sabinus, der Urenkel der Kebse Caesars, sich auch Caesar nannte und in dieser Eigenschaft sich von den Sequanern schlagen liess, Classicus dagegen, dem solche Aszendenz nicht zu Gebote stand, die Abzeichen der roemischen Magistratur anlegte, also wohl den republikanischen Prokonsul spielte. Dazu passt eine Muenze, die von Classicus oder seinen Anhaengern geschlagen sein muss, welche den Kopf der Gallia zeigt, wie die Muenzen der roemischen Republik den der Roma, und daneben das Legionssymbol mit der recht verwegenen Umschrift der “Treue” (fides).
Zunaechst am Rhein freilich hatten die Reichsmaenner in Gemeinschaft mit den insurgierten Germanen freie Hand. Die Reste der beiden Legionen, die in Vetera kapituliert hatten, wurden gegen die Kapitulation und gegen Civilis’ Willen niedergemacht, die beiden von Novaesium und Bonna nach Trier geschickt, die saemtlichen roemischen Rheinlager, grosse und kleine, mit Ausnahme von Mogontiacum niedergebrannt. In der schlimmsten Lage fanden sich die Agrippinenser. Die Reichsmaenner hatten sich allerdings darauf beschraenkt, von ihnen den Treueid zu fordern; aber ihnen vergassen es die Germanen nicht, dass sie eigentlich die Ubier waren. Eine Botschaft der Tencterer vom rechten Rheinufer – es war dies einer der Staemme, deren alte Heimat die Roemer oedegelegt hatten und als Viehtrift benutzten, und die infolgedessen sich andere Wohnsitze hatten suchen muessen – forderte die Schleifung dieses Hauptsitzes der germanischen Apostaten und die Hinrichtung aller ihrer Buerger roemischer Herkunft. Dies waere auch wohl beschlossen worden, wenn nicht sowohl Civilis, der ihnen persoenlich verpflichtet war, wie auch die germanische Prophetin, Veleda im Bructerergau, welche diesen Sieg vorhergesagt hatte und deren Autoritaet das ganze Insurgentenheer anerkannte, ihr Fuerwort eingelegt haetten. Lange Zeit blieb den Siegern nicht, ueber die Beute zu streiten. Die Reichsmaenner versicherten allerdings, dass der Buergerkrieg in Italien ausgebrochen, alle Provinzen vom Feinde ueberzogen und Vespasianus wahrscheinlich tot sei; aber der schwere Arm Roms wurde bald genug empfunden. Das neu befestigte Regiment konnte die besten Feldherren und zahlreiche Legionen an den Rhein entsenden, und es bedurfte allerdings hier einer imposanten Machtentwicklung. Annius Gallus uebernahm das Kommando in der oberen, Petillius Cerialis in der unteren Provinz, der letztere, ein ungestuemer und oft unvorsichtiger, aber tapferer und faehiger Offizier, die eigentliche Aktion. Ausser der 21. Legion von Vindonissa kamen fuenf aus Italien, drei aus Spanien, eine nebst der Flotte aus Britannien, dazu ein weiteres Korps von der raetischen Besatzung. Dieses und die 21. Legion trafen zuerst ein. Die Reichsmaenner hatten wohl davon geredet, die Alpenpaesse zu sperren; aber geschehen war nichts und das ganze oberrheinische Land bis nach Mainz lag offen da. Die beiden Mainzer Legionen hatten zwar dem gallischen Reich geschworen und leisteten anfaenglich Widerstand; aber sowie sie erkannten, dass eine groessere roemische Armee ihnen gegenueberstand, kehrten sie zum Gehorsam zurueck und ihrem Beispiel folgten sofort die Vangionen und die Triboker. Sogar die Lingonen unterwarfen sich ohne Schwertstreich, bloss gegen Zusage milder Behandlung, ihrer 70000 waffenfaehigen Maenner ^9. Fast haetten die Treverer selbst das gleiche getan; doch wurden sie daran durch den Adel verhindert. Die beiden von der niederrheinischen Armee uebriggebliebenen Legionen, die hier standen, hatten auf die erste Kunde von dem Annahen der Roemer die gallischen Insignien von ihren Feldzeichen gerissen und rueckten ab zu den treugebliebenen Mediomatrikern (Metz), wo sie sich der Gnade des neuen Feldherrn unterwarfen. Als Cerialis bei dem Heer eintraf, fand er schon ein gutes Stueck der Arbeit getan. Die Insurgentenfuehrer freilich boten das Aeusserste auf – damals sind auf ihr Geheiss die bei Novaesium ausgelieferten Legionslegaten umgebracht worden -, aber militaerisch waren sie ohnmaechtig und ihr letzter politischer Schachzug, dem roemischen Feldherrn selber die Herrschaft des Gallischen Reiches anzutragen, des Anfangs wuerdig. Nach kurzem Gefecht besetzte Cerialis die Hauptstadt der Treverer, nachdem die Fuehrer und der ganze Rat zu den Germanen gefluechtet waren; das war das Ende des Gallischen Reiches.
—————————————————- ^9 Frontin strat. 4, 3, 14. In ihrem Gebiet muessen die einrueckenden Truppen eine Reservestellung und ein Depot angelegt haben; nach kuerzlich bei Mirabeau-sur-Beze, 22 Kilometer nordoestlich von Dijon, gefundenen Ziegeln haben Mannschaften von wenigstens fuenf der einrueckenden Legionen hier Bauten ausgefuehrt (Heymes 19, 1884, S. 437).
—————————————————- Ernster war der Kampf mit den Germanen. Civilis ueberfiel mit seiner gesamten Streitmacht, den Batavern, dem Zuzug der Germanen und den landfluechtigen Scharen der gallischen Insurgenten die viel schwaechere roemische Armee in Trier selbst; schon war das roemische Lager in seiner Gewalt und die Moselbruecke von ihm besetzt, als seine Leute, statt den gewonnenen Sieg zu verfolgen, vorzeitig zu pluendern begannen und Cerialis, seine Unvorsichtigkeit durch glaenzende Tapferkeit wiedergutmachend, den Kampf wiederherstellte und schliesslich die Germanen aus dem Lager und der Stadt hinausschlug. Es gelang nichts mehr von Bedeutung. Die Agrippinenser schlugen sich sofort wieder zu den Roemern und brachten die bei ihnen weilenden Germanen in den Haeusern um; eine ganze dort lagernde germanische Kohorte wurde eingesperrt und in ihrem Quartier verbrannt. Was in der Belgica noch zu den Germanen hielt, brachte die aus Britannien eintreffende Legion zum Gehorsam zurueck; ein Sieg der Cannenefaten ueber die roemischen Schiffe, die die Legion gelandet hatten, andere einzelne Erfolg der tapferen germanischen Haufen und vor allem der zahlreicheren und besser gefuehrten germanischen Schiffe aenderten die allgemeine Kriegslage nicht. Auf den Ruinen von Vetera bot Civilis dem Feind die Stirn; aber dem inzwischen verdoppelten roemischen Heere musste er weichen, dann endlich auch die eigene Heimat nach verzweifelter Gegenwehr dem Feind ueberlassen. Wie immer stellte im Gefolge des Ungluecks die Zwietracht sich ein; Civilis war seiner eigenen Leute nicht mehr sicher und suchte und fand Schutz vor ihnen bei den Feinden. Im Spaetherbst des Jahres 70 war der ungleiche Kampf entschieden; die Auxilien kapitulierten nun ihrerseits vor den Buergerlegionen und die Priesterin Veleda kam als Gefangene nach Rom. Blicken wir zurueck auf diesen Krieg, einen der seltsamsten und einen der entsetzlichsten aller Zeiten, so ist kaum je einer Armee eine gleich schwere Aufgabe gestellt worden wie den beiden roemischen Rheinheeren in den Jahren 69 und 70: im Laufe weniger Monate Soldaten Neros, dann des Senats, dann Galbas, dann des Vitellius, dann Vespasians; die einzige Stuetze der Herrschaft Italiens ueber die zwei maechtigen Nationen der Gallier und der Germanen, und die Soldaten der Auxilien fast ganz, die der Legionen grossenteils aus eben diesen Nationen genommen; ihrer besten Mannschaften beraubt, meist ohne Loehnung und oft hungernd und ueber alle Massen elend gefuehrt, ist ihnen allerdings innerlich wie aeusserlich Uebermenschliches zugemutet worden. Sie haben die schwere Probe uebel bestanden. Es ist dieser Krieg weniger einer gewesen zwischen zwei Armeekorps, wie die anderen Buergerkriege dieser entsetzlichen Zeit, als ein Krieg der Soldaten und vor allem der Offiziere zweiter Klasse gegen die der ersten, verbunden mit einer gefaehrlichen Insurrektion und Invasion der Germanen und einer beilaeufigen und unbedeutenden Auflehnung einiger keltischer Distrikte. In der roemischen Militaergeschichte sind Cannae und Karrhae und der Teutoburger Wald Ruhmesblaetter, verglichen mit der Doppelschmach von Novaesium; nur wenige einzelne Maenner, keine einzige Truppe hat in der allgemeinen Verunehrung sich reinen Schild bewahrt. Die grauenhafte Zerruettung des Staats- und vor allem des Heerwesens, welche bei dem Untergang der Julisch-Claudischen Dynastie uns entgegentritt, erscheint deutlicher noch als in der fuehrerlosen Schlacht von Betriacum in diesen Vorgaengen am Rhein, derengleichen die Geschichte Roms nie vorher und nie nachher aufweist. Bei dem Umfang und der Allgemeinheit dieser Frevel war ein entsprechendes Strafgericht unmoeglich. Es verdient Anerkennung, dass der neue Herrscher, der gluecklicherweise persoenlich all diesen Vorgaengen fern geblieben war, in echt staatsmaennischer Weise das Vergangene vergangen sein liess und nur bemueht war, der Wiederholung aehnlicher Auftritte vorzubeugen. Dass die hervorragenden Schuldigen, sowohl aus den Reihen der Truppen wie aus den Insurgenten, fuer ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurden, versteht sich von selbst; man mag das Strafgericht daran messen, dass, als fuenf Jahre spaeter einer der gallischen Insurgentenfuehrer in einem Versteck aufgefunden wurde, in dem seine Gattin ihn bis dahin verborgen gehalten hatte, Vespasian ihn wie sie dem Henker uebergab. Aber man gestattete den abtruennigen Legionen, mit gegen die Deutschen zu kaempfen und in den heissen Schlachten bei Trier und bei Vetera ihre Schuld einigermassen zu suehnen. Allerdings wurden nichtsdestoweniger die vier Legionen des unterrheinischen Heeres alle, und von den beiden beteiligten oberrheinischen die eine kassiert – gern moechte man glauben, dass die 22. verschont ward in ehrender Erinnerung an ihren tapferen Legaten. Auch von den batavischen Kohorten ist wahrscheinlich eine betraechtliche Anzahl von dem gleichen Schicksal betroffen worden, nicht minder, wie es scheint, das Reiterregiment der Treverer und vielleicht noch manche andere besonders hervorgetretene Truppe. Noch viel weniger als gegen die abtruennigen Soldaten konnte gegen die insurgierten keltischen und germanischen Gaue mit der vollen Schaerfe des Gesetzes eingeschritten werden; dass die roemischen Legionen die Schleifung der treverischen Augustuskolonie forderten, diesmal nicht der Beute, sondern der Rache wegen, ist wenigstens ebenso begreiflich wie die von den Germanen begehrte Zerstoerung der Ubierstadt; aber wie Civilis diese, so schuetzte jene Vespasian. Selbst den linksrheinischen Germanen wurde ihre bisherige Stellung im ganzen gelassen. Wahrscheinlich aber trat – wir sind hier ohne sichere Ueberlieferung – in der Aushebung und der Verwendung der Auxilien eine wesentliche Aenderung ein, welche die in dem Auxilienwesen liegende Gefahr minderte. Den Batavern blieb die Steuerfreiheit und ein immer noch bevorzugtes Dienstverhaeltnis; hatte doch ein nicht ganz geringer Teil derselben die Sache der Roemer mit den Waffen verfochten. Aber die batavischen Truppen wurden betraechtlich verringert, und wenn ihnen bisher, wie es scheint von Rechts wegen, die Offiziere aus dem eigenen Adel gesetzt worden waren, und auch gegenueber den sonstigen germanischen und keltischen das gleiche wenigstens haeufig geschehen war, so werden die Offiziere der Alen und Kohorten spaeterhin ueberwiegend aus dem Stande genommen, dem Vespasian selber entstammte, aus dem guten staedtischen Mittelstand Italiens und der italisch geordneten Provinzialstaedte. Offiziere von der Stellung des Cheruskers Arminius, des Batavers Civilis, des Treverers Classicus begegnen seitdem nicht wieder. Die bisherige Geschlossenheit der aus dem gleichen Gau ausgehobenen Truppen findet sich spaeter ebensowenig, sondern die Leute dienen ohne Unterschied ihrer Herkunft in den verschiedensten Abteilungen; es ist das wahrscheinlich eine Lehre, welche die roemische Militaerverwaltung sich aus diesem Kriege gezogen hat. Eine andere durch diesen Krieg gewiesene Aenderung wird es sein, dass, wenn bis dahin die in Germanien verwendeten Auxilien der Mehrzahl nach aus den germanischen und den benachbarten Gauen genommen waren, seitdem eben, wie die dalmatischen und pannonischen infolge des Batonischen Krieges, fortan auch die germanischen Auxiliartruppen ueberwiegend ausserhalb ihrer Heimat Verwendung fanden. Vespasian war ein einsichtiger und erfahrener Militaer; es ist wahrscheinlich zum guten Teil sein Verdienst, wenn von Auflehnung der Auxilien gegen ihre Legionen kein spaeteres Beispiel begegnet.
Dass die eben berichtete Insurrektion der linksrheinischen Germanen, obwohl sie, infolge der zufaelligen Vollstaendigkeit der darueber erhaltenen Berichte, allein uns einen deutlichen Einblick in die politischen und militaerischen Verhaeltnisse am Unterrhein und Galliens ueberhaupt gewaehrt und darum auch eine ausfuehrliche Erzaehlung verdiente, dennoch mehr durch aeussere und zufaellige Ursachen als durch die innere Notwendigkeit der Dinge hervorgerufen wurden, beweist die nun folgende, anscheinend vollstaendige Ruhe daselbst und der, soviel wir sehen, ununterbrochene Status quo eben in dieser Gegend. Die roemischen Germanen sind in dem Reiche nicht minder vollstaendig aufgegangen als die roemischen Gallier; von Insurrektionsversuchen jener ist nie wieder die Rede. Am Ausgang des dritten Jahrhunderts wird von den ueber den Unterrhein in Gallien einbrechenden Franken auch das batavische Gebiet mit erfasst; doch haben sich die Bataver in ihren alten, wenn auch geschmaelerten Sitzen und ebenso die Friesen selbst waehrend der Wirren der Voelkerwanderung behauptet und, soviel wir wissen, auch dem baufaelligen Reichsganzen die Treue bewahrt. Wenden wir uns von den roemischen zu den freien Germanen oestlich vom Rhein, so ist fuer diese mit ihrer Beteiligung an jener batavischen Insurrektion das offensive Vorgehen nicht minder vorbei, wie mit den Expeditionen des Germanicus die Versuche der Roemer zu Ende sind, eine Grenzveraenderung im grossen Stil in diesen Gebieten herbeizufuehren. Unter den freien Germanen sind die dem roemischen Gebiet naechstwohnenden die Bructerer an beiden Ufern der mittleren Ems und in dem Quellgebiet der Ems und der Lippe, weshalb sie auch vor allen uebrigen Germanen sich an der batavischen Insurrektion beteiligten. Aus ihrem Gau war das Maedchen Veleda, die ihre Landsleute in den Krieg gegen Rom entsandte und ihnen den Sieg verhiess, deren Ausspruch ueber das Schicksal der Ubierstadt entschied, zu deren hohem Turm die gefangenen Senatoren und das erbeutete Admiralschiff der Rheinflotte gesendet wurden. Die Niederwerfung der Bataver traf auch sie, vielleicht noch ein besonderer Gegenschlag der Roemer, da jene Jungfrau spaeterhin gefangen nach Rom gefuehrt ward. Diese Katastrophe sowie Fehden mit den benachbarten Voelkern brachen ihre Macht; unter Nerva ist ihnen ein Koenig, den sie nicht wollten, von ihren Nachbarn unter passiver Assistenz des roemischen Legaten mit den Waffen aufgezwungen worden.
Die Cherusker im oberen Wesergebiet, zu Augustus’ und Tiberius’ Zeit der fuehrende Gau in Mitteldeutschland, werden seit Armins Tode selten genannt, immer aber als in guten Beziehungen zu den Roemern stehend. Als der Buergerkrieg, der bei ihnen auch nach Arminius’ Fall weiter gewuetet haben muss, ihr ganzes Fuerstengeschlecht hingerafft, erbaten sie sich den letzten des Hauses, den in Italien lebenden Brudersohn Armins, Italicus, von der roemischen Regierung zum Herrscher; freilich entzuendete die Heimkehr des tapferen, aber mehr seinem Namen als seiner Herkunft entsprechenden Mannes die Fehde abermals und, von den Seinen vertrieben, setzten ihn noch einmal die Langobarden auf den wankenden Herrschersitz. Einer seiner Nachfolger, der Koenig Chariomerus, ergriff in dem Chattenkrieg Domitians so ernstlich fuer die Roemer Partei, dass er nach dessen Beendigung, von den Chatten vertrieben, zu den Roemern fluechtete und deren Intervention, freilich vergebens, anrief. Durch diese ewigen inneren und aeusseren Fehden ward das Cheruskervolk so geschwaecht, dass es seitdem aus der aktiven Politik verschwindet. Der Name der Marser wird seit den Zuegen des Germanicus ueberhaupt nicht mehr gefunden. Dass die weiter oestlich an der Elbe wohnenden Voelkerschaften, wie alle entfernteren Germanen, an den Kaempfen der Bataver und ihrer Genossen in den Jahren 69 und 70 sich so wenig beteiligt haben wie diese an den germanischen Kriegen unter Augustus und Tiberius, darf bei der Ausfuehrlichkeit des Berichtes als sicher bezeichnet werden. Wo sie spaeterhin einmal begegnen, erscheinen sie nie in feindlicher Haltung gegen die Roemer. Dass die Langobarden den roemischen Cheruskerkoenig wieder einsetzten, wurde schon erwaehnt. Der Koenig der Semnonen, Masuus, und merkwuerdigerweise mit ihm die Prophetin Ganna, welche bei diesem, wegen besonderer Glaeubigkeit beruehmten Stamme in hohem Ansehen stand, besuchten den Kaiser Domitianus in Rom und wurden an dessen Hofe freundlich aufgenommen. Es mag in den Gegenden von der Weser bis zur Elbe in diesen Jahrhunderten manche Fehde getobt, manche Machtstellung sich verschoben, mancher Gau den Namen gewechselt oder sich anderer Verbindung eingefuegt haben; den Roemern gegenueber trat, nachdem der feste Verzicht derselben auf Unterwerfung dieser Landschaft allgemein empfunden ward, ein dauernder Grenzfriede ein. Auch Invasionen aus dem fernen Osten koennen denselben in dieser Epoche nicht wesentlich gestoert haben; denn der Rueckschlag davon auf die roemische Grenzwacht haette nicht ausbleiben koennen und von ernsteren Krisen auf diesem Gebiet wuerde die Kunde nicht fehlen. Zu allem diesem gibt das Siegel die Reduktion der niederrheinischen Armee auf die Haelfte des frueheren Bestandes, welche, wir wissen nicht genau wann, aber in dieser Epoche eingetreten ist. Das niederrheinische Heer, mit welchem Vespasian zu kaempfen hatte, zaehlte vier Legionen, das der traianischen Zeit vermutlich die gleiche Zahl, mindestens drei ^10; wahrscheinlich schon unter Hadrian, gewiss unter Marcus, standen daselbst nicht mehr als zwei, die 1. minervische und die 30. Traians.
———————————————– ^10 Unter dem Legaten Q. Acutius Nerva, welcher wahrscheinlich der Konsul des Jahres 100 ist, also nach diesem Jahre Untergermanien verwaltete, standen nach Inschriften von Brohl (Brambach 660, 662, 679, 680) in dieser Provinz vier Legionen, die 1. Minervia, 6. victrix, 10. gemina, 22. primigenia. Da jede dieser Inschriften nur zwei oder drei nennt, so kann die Besatzung damals nur aus drei Legionen bestanden haben, wenn waehrend Acutius’ Statthalterschaft die 1. Minervia fuer die anderswohin abgegebene 22. primigenia eintrat. Aber bei weitem wahrscheinlicher ist es, da bei den Detachierungen in die Steinbrueche bei Brohl nicht immer alle Legionen beteiligt waren, dass jene vier Legionen gleichzeitig in Untergermanien garnisonierten. Diese vier Legionen sind wahrscheinlich eben die, welche bei der Reorganisation der germanischen Heere durch Vespasian nach Untergermanien kamen, nur dass die 1. Minervia von Domitian an die Stelle der wahrscheinlich von ihm aufgeloesten 21. gesetzt ist. ———————————————– In anderer Weise entwickelten sich die germanischen Verhaeltnisse in der oberen Provinz. Von den linksrheinischen Germanen, die dieser angehoerten, den Tribokern, Nemetern, Vangionen, ist geschichtlich nichts hervorzuheben als dass sie, seit langem unter den Kelten ansaessig, die Schicksale Galliens teilten. Die hauptsaechliche Verteidigungslinie der Roemer ist auch hier der Rhein immer geblieben. Alle Standlager der Legionen finden sich zu aller Zeit auf dem linken Rheinufer; nicht einmal das von Argentoratum ist auf das rechte verlegt worden, als das ganze Neckargebiet roemisch war. Aber wenn in der unteren Provinz die roemische Herrschaft auf dem rechten Rheinufer im Laufe der Zeit beschraenkt wird, so wird sie umgekehrt hier erweitert. Die von Augustus beabsichtigte Verknuepfung der Rheinlager mit denen an der Donau durch Vorschiebung der Reichsgrenze in oestlicher Richtung, welche, wenn sie zur Ausfuehrung gekommen waere, mehr Ober- als Untergermanien erweitert haben wuerde, ist in diesem Kommando wohl niemals voellig aufgegeben und spaeterhin, wenn auch in bescheidenerem Massstabe, wieder aufgenommen worden. Die Ueberlieferung gestattet uns nicht, die in diesem Sinne durch Jahrhunderte fortgefuehrten Operationen, die dazu gehoerigen Strassen- und Wallbauten, die deshalb gefuehrten Kriege in ihrem Zusammenhang darzulegen; und auch der noch vorhandene grosse Militaerbau, dessen gleichfalls Jahrhunderte umfassende Entstehung einen guten Teil jener Geschichte in sich schliessen muss, ist bisher nicht so, wie es wohl geschehen koennte, von militaerisch geschaerften Augen in seiner Gesamtheit untersucht worden – die Hoffnung, dass das geeinigte Deutschland sich auch zu der Erforschung dieses seines aeltesten geschichtlichen Gesamtdenkmals vereinigen werde, ist fehlgeschlagen. Was zur Zeit aus den Truemmern der roemischen Annalen oder der roemischen Kastelle darueber ans Licht gekommen ist, soll hier versucht werden zusammenzufassen. Auf dem rechten Ufer legt sich, nicht weit von dem noerdlichen Ende der Provinz, dem ebenen oder huegeligen niederrheinischen Land in westoestlicher Richtung die Taunuskette vor, die gegenueber Bingen auf den Rhein stoesst. Diesem Bergzug parallel, auf der anderen Seite abgeschlossen durch die Auslaeufer des Odenwaldes, erstreckt sich die Ebene des unteren Maintales, der rechte Zugang zum inneren Deutschland, beherrscht von der Schluesselstellung an der Muendung des Mains in den Rhein, Mogontiacum oder Mainz, seit Drusus’ Zeit bis zum Ausgang Roms der Ausfallsburg der Roemer aus Gallien gegen Germanien ^11 wie heutzutage dem rechten Riegel Deutschlands gegen Frankreich. Hier behielten die Roemer, auch nachdem sie auf die Herrschaft im ueberrheinischen Land im allgemeinen verzichtet hatten, nicht bloss den Brueckenkopf am anderen Ufer, das castellum Mogontiacense (Kastel), sondern jene Mainebene selbst in ihrem Besitz; und in diesem Gebiet durfte auch die roemische Zivilisation sich festsetzen. Es war dies urspruenglich chattisches Land und ein chattischer Stamm, die Mattiaker, sind auch unter roemischer Herrschaft hier ansaessig geblieben; aber nachdem die Chatten diesen Distrikt an Drusus hatten abtreten muessen, ist derselbe ein Teil des Reiches geblieben. Die warmen Quellen in der naechsten Naehe von Mainz (aquae Mattiacae, Wiesbaden) wurden erweislich in Vespasians Zeit, und sicher schon lange vorher, von den Roemern benutzt; unter Claudius wurde hier auf Silber gebaut; die Mattiaker haben schon frueh wie andere Untertanendistrikte Truppen zur Armee gestellt. An der allgemeinen Auflehnung der Germanen unter Civilis nahmen sie Anteil; aber nach der Besiegung stellten die frueheren Verhaeltnisse sich wieder her. Seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts finden wir die Gemeinde der taunensischen Mattiaker unter roemisch geordneten Behoerden ^12.
———————————————- ^11 Nach Zangemeisters (Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift 3, 1884, S. 307ff.) schoenen Entzifferungen steht es fest, dass eine Militaerstrasse am linken Rheinufer von Mainz bis an die Grenze der obergermanischen Provinz schon unter Claudius angelegt ward. ^12 Der volle Name c(ivitas) M(attiacorum) Ta(unensium) erscheint auf der Inschrift von Kastel (Brambach 1330); als civitas Mattiacorum oder civitas Taunensium kommt sie oefter vor, mit Duovirn Aedilen, Decurionen, Sacerdotalen Sevirn; eigentuemlich und fuer die Grenzstadt bezeichnend sind die wahrscheinlich als Munizipalmiliz zu fassenden hastiferi civitatis Mattiacorum (Brambach 1336). Das aelteste datierte Dokument dieser Gemeinde ist vom Jahre 198 (Brambach 956).
———————————————- Die Chatten, obwohl also vom Rhein abgedraengt, erscheinen in der folgenden Zeit als der maechtigste Stamm unter denen des germanischen Binnenlandes, die mit den Roemern in Beziehung kamen; die Fuehrung, die unter Augustur und Tiberius die Cherusker an der mittleren Weser gehabt hatten, ging in der stetigen Fehde mit diesen, ihren stammverwandten suedlichen Nachbarn auf die letzteren ueber. Alle Kriege zwischen Roemern und Germanen, von denen wir aus der Zeit nach Arminius’ Tod bis auf die beginnende Voelkerverschiebung am Ende des 3. Jahrhunderts Kunde haben, sind gegen die Chatten gefuehrt worden; so im Jahre 41 unter Claudius durch den spaeteren Kaiser Galba, im Jahre 50 unter demselben Kaiser durch den als Dichter gefeierten Publius Pomponius Secundus. Dies waren die ueblichen Grenzeinfaelle, und an dem grossen Batavischen Kriege waren die Chatten zwar auch, aber nur nebenbei beteiligt. Aber in dem Feldzug, den der Kaiser Domitianus im Jahre 83 unternahm, waren die Roemer die Angreifenden, und dieser Krieg fuehrte zwar nicht zu glaenzenden Siegen, aber wohl zu einer bedeutenden und folgenreichen Vorschiebung der roemischen Grenze ^13. Damals wird die Grenzlinie so, wie wir sie seitdem gezogen finden, geordnet und in dieselbe, welche in ihrem noerdlichsten Stueck sich nicht weit vom Rhein entfernte, hier ein grosser Teil des Taunus und das Maingebiet bis oberhalb Friedberg hineingezogen worden sein. Die Usiper, die nach ihrer schon berichteten Vertreibung aus dem Lippegebiet um die Zeit Vespasians in der Naehe von Mainz auftreten und oestlich von den Mattiakern an der Kinzig oder im Fuldischen neue Sitze gefunden haben moegen, sind damals zum Reiche gezogen worden, und zugleich mit ihnen eine Anzahl kleinerer, von den Chatten abgesprengter Voelkerschaften. Als dann im Jahre 88 unter dem Statthalter Lucius Antonius Saturninus das obergermanische Heer gegen Domitian sich erhob, haette fast der Krieg sich erneuert; die abgefallenen Truppen machten gemeinschaftliche Sache mit den Chatten ^14 und nur die Unterbrechung der Kommunikationen, indem das Eis auf dem Rhein aufging, machte den treu gebliebenen Regimentern moeglich, mit den abgefallenen fertigzuwerden, bevor der gefaehrliche Zuzug eintraf. Es wird berichtet, dass die roemische Herrschaft von Mainz landeinwaerts 80 Leugen weit, also noch ueber Fulda hinaus, sich erstreckt hat ^15; und diese Nachricht erscheint glaubwuerdig, wenn dabei in Betracht gezogen wird, dass die militaerische Grenzlinie, die allerdings nicht weit ueber Friedberg hinausgegangen zu sein scheint, sich wohl auch hier innerhalb der Gebietsgrenze hielt.
^13 Die Berichte ueber diesen Krieg sind verloren gegangen; Zeit und Ort lassen sich bestimmen. Da die Muenzen dem Domitian den Titel Germanicus seit dem Anfang des Jahres 84 geben (Eckhel, Bd. 6, S. 378, 397), so faellt der Feldzug in das Jahr 83. Dazu stimmt die in eben dieses Jahr fallende Aushebung der Usiper und ihr verzweifelter Fluchtversuch (Tac. Agr. 28; vgl. Matt. 6, 60). Es war ein Angriffskrieg (Suet. Dom. 6: expeditio sponte suscepta; Zon. 11, 19: le plt/e/as tina t/o/n peran R/e/noy t/o/n espond/o/n}). Die Verlegung der Postenlinie bezeugt Frontmus, der den Krieg mitgemacht hat (strat. 2, 11, 7): cum in finibus Cubiorum (Name unbekannt und wohl verdorben) castella poneret und (strat. 1, 3, 10): limitibus per CXX m. p. actis, was hier mit den militaerischen Operationen in unmittelbare Verbindung gebracht wird, daher auch von dem Chattenkrieg selbst nicht getrennt und nicht auf die laengst in roemischer Gewalt stehenden agri decumates bezogen werden darf. Auch ist das Mass von 177 Kilometern wohl denkbar fuer die Militaerlinie, die Domitian am Taunus angelegt hat (nach v. Cohausens Ansetzungen – Der roemische Grenzwall in Deutschland. Wiesbaden 1884, S. 8 – stellt sich der spaetere Limes vom Rhein um den Taunus herum bis zum Main auf 237´ Kilometer), aber viel zu klein, um auf die Verbindungslinie von da bis Regensburg bezogen werden zu koennen. ———————————————- ^14 Die Germanen (Suet. Dom. 6) koennen nur die Chatten und deren fruehere Verbuendete sein, vielleicht zunaechst eben die Usiper und ihre Schicksalsgenossen. Ausgebrochen ist der Aufstand in Mainz, das allein ein Doppellager zweier Legionen war. Saturninus wurde von Raetien aus angegriffen durch die Truppen des L. Appius Maximus Korbanus. Denn anders kann das Epigramm Martials 9, 84 um so weniger gefasst werden, als sein Besiegen senatorischen Standes wie er war, ein regulaeres Kommando in Raetien und Vindelicien nicht verwalten und nur durch einen Kriegsfall in diese Landschaft gefuehrt werden konnte, wie denn auch die sacrilegi furores deutlich auf den Aufstand weisen. Die Ziegel desselben Appius, die in den Provinzen Obergermanien und Aquitanien sich gefunden haben, berechtigen nicht, ihn zum Legaten der Lugdunensis zu machen, wie Asbach (Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift 3, 1884, S. 9) vorschlaegt, sondern muessen auf die Epoche nach der Ueberwindung des Antonius bezogen werden (Heymes 19, 1884, S. 438). Wo die Schlacht geliefert ward, bleibt zweifelhaft; am naechsten liegt die Gegend von Vindonissa, bis wohin Saturninus dem Norbanus entgegen gegangen sein kann. Waere Norbanus erst bei Mainz auf die Aufstaendischen gestossen, was an sich auch denkbar erscheint, so hatten diese den Rheinuebergang in der Gewalt und konnte der Zuzug der Germanen durch das Aufgehen des Rheines nicht verhindert werden. ^15 Die abgerissene Notiz findet sich hinter dem Veroneser Provinzialverzeichnis (Notitia dignitatum, ed. Seeck, p. 253): nomina civitatum trans Renum fluvium quae sunt: Usiphorum (schr. Usiporum) – Tuvanium (schr. Tubantum) – Nictrensium – Novarii – Casuariorum: istae omnes civitates trans Renum in formulam Belgicae primae redactae trans castellum .Montiacese: nam LXXX leugas trans Renum Romani possederunt. Istae civitates sub Gallieno imperatore a barbaris occupatae sunt. Dass die Usiper spaeter in dieser Gegend gewohnt haben, bestaetigt Tacitus (hist. 4, 37; Germ. 32); dass sie im Jahre 83 zum Reich gehoert haben, vielleicht aber erst kurz vorher unterworfen waren, geht aus der Erzaehlung Agr. 28 hervor. Die Tubanten und Chasuarier stellt Ptolemaeos (geogr. 2, 11, 11) in die Naehe der Chatten; dass sie das Schicksal der Usiper teilten, ist demnach wahrscheinlich. Eine sichere Identifikation der anderen beiden verdorbenen Namen ist bisher nicht gefunden; vielleicht standen die Tencterer hier oder einige der kleinen, nur bei Ptolemaeos (geogr. 2, 11, 6) mit diesen genannten Staemme. Die Notiz nannte in ihrer urspruenglichen Form die Belgica schlechthin, da die Provinz erst durch Diocletian geteilt worden ist, und diese insofern mit Recht, als die beiden Germanien geographisch zu Belgica gehoerten. Das angegebene Mass fuehrt, wenn man das Kinzigtal nach Nordosten verfolgt, ueber Fulda hinaus nahezu bis Hersfeld. Auch Inschriftenfunde reichen hier oestlich weit ueber den Rhein hinaus, bis in die Wetterau; Friedberg und Butzbach waren stark belegte Militaerpositionen; in Altenstadt zwischen Friedberg und Buedingen ist eine auf Grenzschutz deutende (collegium iuventutis) Inschrift vom Jahre 242 (CIRh 1410) gefunden worden. —————————————
Aber nicht bloss das untere Maintal vorwaerts Mainz ist in die militaerische Grenzlinie hineingezogen worden; auch im suedwestlichen Deutschland wurde die Grenze noch in groesserem Massstab vorgeschoben. Das Neckargebiet, einst von den keltischen Helvetiern eingenommen, dann lange Zeit streitiges Grenzland zwischen diesen und den vordringenden Germanen und darum das helvetische Oedland genannt, spaeterhin vielleicht teilweise von den Markomannen besetzt, bevor diese nach Boehmen zurueckwichen, kam bei der Regulierung der germanischen Grenzen nach der Varusschlacht in die gleiche Verfassung wie der groesste Teil des rechten unterrheinischen Ufers. Es wird auch hier schon damals eine Grenzlinie bezeichnet worden sein, innerhalb deren germanische Ansiedlungen nicht geduldet wurden. Wie auf nicht eingedeichter Marsch liessen dann einzelne, meist gallische Einwanderer, die nicht viel zu verlieren hatten, in diesen fruchtbaren, aber wenig geschuetzten Strichen, dem damals sogenannten Dekumatenland sich nieder ^16. Dieser vermutlich von der Regierung nur geduldeten privaten Okkupation folgte die foermliche Besetzung wahrscheinlich unter Vespasian. Da schon um das Jahr 74 von Strassburg aus eine Chaussee auf das rechte Rheinufer wenigstens bis nach Offenburg gefuehrt worden ist ^17, so wird um diese Zeit in diesem Gebiet ein ernstlicherer Grenzschutz eingerichtet worden sein, als ihn das blosse Verbot germanischer Siedelung gewaehrte. Was der Vater begonnen hatte, fuehrten die Soehne durch. Vielleicht ist sogar, sei es von Vespasian, sei es von Titus oder Domitian, durch die Anlegung der “Flavischen Altaere” ^18 an der Neckarquelle bei dem heutigen Rottweil, von welcher Ansiedlung wir freilich nichts als den Namen kennen, fuer das rechtsrheinische neue Obergermanien ein aehnlicher Mittelpunkt geschaffen worden, wie es frueher der ubische Altar fuer Grossgermanien hatte werden sollen und bald nachher fuer das neu eroberte Dakien der Altar von Sarmizegetusa wurde. Die erste Einrichtung der weiterhin zu schildernden Grenzwehr, durch welche das Neckartal in die roemische Linie hineingezogen wurde, ist also das Werk der Flavier, hauptsaechlich wohl Domitians ^19, welcher damit die Anlage am Taunus weiterfuehrte. Die rechtsrheinische Militaerstrasse von Mogontiacum ueber Heidelberg und Baden in der Richtung auf Offenburg, die notwendige Konsequenz dieser Einziehung des Neckargebiets, ist, wie wir jetzt wissen ^20, im Jahre 100 von Traian angelegt und ein Teil der von demselben Kaiser hergestellten direkteren Verbindung Galliens mit der Donaulinie. Die Soldaten sind bei diesen Werken taetig gewesen, aber schwerlich die Waffen; germanische Voelkerschaften wohnten im Neckargebiet nicht, und noch weniger kann der schmale Streifen am linken Ufer der Donau, welcher dadurch mit in die Grenzlinie gezogen ward, ernstliche Kaempfe gekostet haben. Das naechste namhafte germanische Volk daselbst, die Hermunduren, waren den Roemern freundlich gesinnt wie kein anderes und fuehrten in der Vindelikerstadt Augusta mit ihnen lebhaften Handelsverkehr; dass bei ihnen diese Vorschiebung keinen Widerstand gefunden hat, davon werden wir weiterhin die Spuren finden. Unter den folgenden Regierungen, des Hadrian, des Pius, des Marcus, ist dann an diesen militaerischen Einrichtungen weitergebaut worden.
—————————————- ^16 Was die nur bei Tacitus (Germ. 29) vorkommende Benennung agri decumates denn mit agri wird das letztere Wort doch zu verbinden sein) bedeutet, ist ungewiss; moeglich ist es, dass das in der frueheren Kaiserzeit gewiss als Eigentum des Staats oder vielmehr des Kaisers betrachtete Gebiet, wie der alte ager occupatorius der Republik, von dem zuerst Besitz Ergreifenden gegen Abgabe des Zehnten benutzt werden konnte; aber weder ist es sprachlich erwiesen, dass decumas “zehntpflichtig” heissen kann, noch kennen wir derartige Einrichtungen der Kaiserzeit. Uebrigens sollte man nicht uebersehen, dass die Schilderung des Tacitus sich auf die Zeit vor der Einrichtung der Neckarlinie bezieht; auf die spaetere passt sie so wenig wie die zwar nicht klare, aber doch sicher mit dem frueheren Rechtsverhaeltnis zusammenhaengende Benennung. ^17 Dies hat Zangemeister (a. a.O., S. 246) erwiesen. ^18 Dass hier mehrere Altaere dediziert wurden, waehrend sonst bei diesen Zentralheiligtuemern nur einer genannt wird, erklaert sich vielleicht durch das Zuruecktreten des Romakults neben dem der Kaiser. Wenn gleich zu Anfang mehrere Altaere errichtet wurden, was wahrscheinlich ist, so hat einer der Soehne sowohl dem oder den verstorbenen flavischen Kaisern wie auch seinem eigenen Genius Altaere setzen lassen.
^19 Dass die Verlegung stattfand, kurz bevor Tacitus im Jahre 98 die ‘Germania’ schrieb, sagt er, und dass Domitian der Urheber ist, folgt auch daraus, dass er den Urheber nicht nennt. ^20 Auch dies hat Karl Zangemeister (a.a.O., S. 237f.) urkundlich festgestellt.
—————————————- Den Grenzschutz zwischen Rhein und Donau, wie er zum grossen Teil in seinen Fundamenten noch heute besteht, vermoegen wir nicht in seiner Entstehungsgeschichte zu verfolgen, wohl aber zu erkennen nicht bloss, wie er lief, sondern auch, wozu er diente. Die Anlage ist nach Art und Zweck eine andere in Obergermanien und eine andere in Raetien. Der obergermanische Grenzschutz, in der Gesamtlaenge von etwa 250 roemischen Milien (368 Kilometer) ^21, beginnt unmittelbar an der Nordgrenze der Provinz, umfasst, wie schon gesagt ward, den Taunus und die Mainebene bis in die Gegend von Friedberg und wendet sich von da suedwaerts dem Main zu, auf welchen er bei Grosskrotzenburg, oberhalb Hanau, trifft. Dem Main von da bis Woerth folgend, schlaegt er hier die Richtung nach dem Neckar ein, den er etwas unterhalb Wimpfen erreicht und nicht wieder verlaesst. Spaeter ist der suedlichen Haelfte dieser Grenzlinie eine zweite vorgelegt worden, die dem Main ueber Woerth hinaus bis nach Miltenberg folgt und von da, zum groesseren Teil in schnurgerader Richtung, auf Lorch, zwischen Stuttgart und Aalen, gefuehrt ist. Hier schliesst an den obergermanischen der raetische Grenzschutz an von nur 120 Milien (174 Kilometer) Laenge; er verlaesst die Donau bei Kelheim, oberhalb Regensburg, und laeuft von da, zweimal die Altmuehl ueberschreitend, im Bogen nach Westen zu, ebenfalls bis Lorch.
———————————————- ^21 Dies Mass gilt fuer die Kastellinie von Rheinbrohl bis Lorch (v. Cohausen, Der roemische Grenzwall, S. 7f.). Fuer den Erdwall kommt die Mainstrecke von Miltenberg bis Grosskrotzenburg von etwa 30 roemischen Milien in Abzug. Bei der aelteren Neckarlinie ist der Erdwall betraechtlich kuerzer, da statt desjenigen von Miltenberg bis Lorch hier der viel kuerzere des Odenwaldes von Woerth bis Wimpfen ein tritt.
———————————————- Der obergermanische Limes besteht aus einer Reihe von Kastellen, die hoechstens einen halben Tagemarsch (15 Kilometer) voneinander entfernt sind. Wo die Verbindungslinien zwischen den Kastellen nicht durch den Main oder den Neckar, wie angegeben, gesperrt sind, ist eine kuenstliche Sperrung angebracht, anfangs vielleicht bloss durch Verhaue ^22, spaeterhin durch einen fortlaufenden Wall von maessiger Hoehe mit aussen vorgelegtem Graben und in kurzen Entfernungen auf der inneren Seite eingebauten Wachttuermen. ^23 Die Kastelle sind in den Wall nicht eingezogen, aber unmittelbar hinter ihm angelegt, nicht leicht ueber einen halben Kilometer von ihm entfernt. ——————————————- ^22 Wenn, wie dies wahrscheinlich ist, die Angabe, dass Hadrian die Reichsgrenzstrassen durch Verhaue gegen die Barbaren sperrte, mit und vielleicht zunaechst auf die obergermanische sich bezieht, so ist der Wall, dessen Reste vorhanden sind, sein Werk nicht; mag dieser Pallisaden getragen haben oder nicht, kein Bericht wuerde diese erwaehnen und den Wallbau uebergehen. Dass Hadrian die Grenzverteidigung im ganzen Reiche revidierte, sagt Dio 69, 9. Die Benennung des Pfahls oder Pfahlgrabens kann nicht roemisch sein; roemisch heissen die Pfaehle, welche, in den Lagerwall eingerammt, auf demselben eine Pallisadenkette bilden, nicht pali, sondern valli oder sudes, ebenso der Wall selbst nie anders als vallum. Wenn die, wie es scheint, auf der ganzen Linie bei den Germanen dafuer von jeher uebliche Bezeichnung wirklich von den Pallisaden entlehnt ist, so muss sie germanischen Ursprungs sein und kann nur aus der Zeit herstammen, wo dieser Wall ihnen in seiner Integritaet und seiner Bedeutung vor Augen stand. Ob die “Gegend” Palas, die Ammian (18, 2, 15) erwaehnt, damit zusammenhaengt, ist zweifelhaft. ^23 In einem solchen, kuerzlich zwischen den Kastellen von Schlossau und Hesselbach, 1700 Meter von dem ersteren, vier bis fuenf Kilometer von dem letzteren, aufgedeckten hat sich eine Weihinschrift (Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift, 1. Juli 1884) gefunden, welche die Truppe, die ihn erbaut hat, ein Detachement der 1. Kohorte der Sequaner und Rauriker unter Kommando eines Centurionen der 22. Legion, gesetzt hat als Danksagung ob burgum explic(itum). Diese Tuerme also waren burgi. ——————————————- Der raetische Grenzschutz ist eine blosse, durch Aufschuettung von Bruchsteinen bewirkte Sperrung; Graben und Wachttuerme fehlen und die hinter dem Limes ohne regelrechte Folge und in ungleichen Abstaenden (keines naeher als 4 bis 5 Kilometer) angelegten Kastelle stehen mit der Sperrlinie in keiner unmittelbaren Verbindung. Ueber die zeitliche Folge der Anlagen fehlen bestimmte Zeugnisse; erwiesen ist, dass die obergermanische Neckarlinie unter Pius ^24, die ihr vorgelegte von Miltenberg nach Lorch unter Marcus ^25 bestand. Gemeinschaftlich ist beiden sonst so verschiedenen Anlagen die Grenzsperrung; dass in dem einen Fall die Erdaufschuettung vorgezogen ist, durch welche der Graben sich meistens von selber ergab, in dem andern die Steinschichtung, beruht wahrscheinlich nur auf der Verschiedenartigkeit des Bodens und des Baumaterials. Gemeinschaftlich ist ihnen ferner, dass weder die eine noch die andere angelegt ist zur Gesamtverteidigung der Grenze. Nicht bloss ist das Hindernis, welches die Erd- oder Steinschuettung dem Angreifer entgegenstellt, an sich geringfuegig, sondern es begegnen auf der Linie ueberall ueberhoehende Stellungen, hinterliegende Suempfe, Verzicht auf den Ausblick in das Vorland und aehnliche deutliche Spuren davon, dass bei deren Trassierung an Kriegszwecke ueberhaupt nicht gedacht ist. Die Kastelle sind natuerlich jedes fuer sich zur Verteidigung eingerichtet, aber sie sind nicht durch chaussierte Querstrassen verbunden; also stuetzte die einzelne Besatzung sich nicht auf die der benachbarten Kastelle, sondern auf den Rueckhalt, zu welchem die Strasse fuehrte, welche eine jede besetzt hielt. Es waren ferner diese Besatzungen nicht eingefuegt in ein militaerisches System der Grenzverteidigung, mehr befestigte Stellungen fuer den Notfall als strategisch gewaehlte fuer die Okkupation des Gebiets, wie denn auch schon die Ausdehnung der Linie selbst, verglichen mit der disponiblen Truppenzahl, die Moeglichkeit einer Gesamtverteidigung ausschliesst. ^26 Also haben diese ausgedehnten militaerischen Anlagen nicht den Zweck gehabt, wie der Britannische Wall, dem Feinde den Einbruch zu wehren. Es sollten vielmehr, wie an den Flussgrenzen die Bruecken, so an den Landgrenzen die Strassen durch die Kastelle beherrscht werden, im uebrigen aber, wie an den Wassergrenzen der Fluss, so an den Landgrenzen der Wall die nicht kontrollierte Ueberschreitung der Grenzen hindern. Anderweitige Benutzung mochte sich damit verbinden; die oft hervortretende Bevorzugung der geradlinigen Richtung deutet auf Verwendung fuer Signale, und gelegentlich mag die Anlage auch geradezu fuer Kriegszwecke benutzt worden sein. Aber der eigentliche und naechste Zweck der Anlage war die Verhinderung der Grenzueberschreitung. Dass dabei nicht an der raetischen, wohl aber an der obergermanischen Grenze Wachtposten und Forts eingerichtet worden sind, erklaert sich aus dem verschiedenen Verhaeltnis zu den Nachbarn, dort den Hermunduren, hier den Chatten. Die Roemer standen in Obergermanien ihren Nachbarn nicht so gegenueber wie den britannischen Hochlaendern, gegen die die Provinz sich stets im Belagerungsstand befand; aber die Abwehr raeuberischer Einbrecher sowie die Erhebung der Grenzzoelle forderten doch bereite und nahe militaerische Hilfe. Man konnte die obergermanische Armee und dementsprechend die Besatzungen am Limes allmaehlich reduzieren, aber entbehrlich ward das roemische Pilum im Neckarlande nie. Wohl aber war es entbehrlich gegenueber den Hermunduren, welchen in traianischer Zeit allein von allen Germanen das ueberschreiten der Reichsgrenze ohne besondere Kontrolle und der freie Verkehr im roemischen Gebiet, namentlich in Augsburg, freistand, und mit denen, soviel wir wissen, niemals Grenzkollisionen stattgefunden haben. Es war also fuer diese Zeit zu einer aehnlichen Anlage an der raetischen Grenze keine Veranlassung; die Kastelle nordwaerts der Donau, welche erweislich bereits in traianischer Zeit bestandenem ^27, genuegten hier fuer den Schutz der Grenze und die Kontrolle des Grenzverkehrs. Dem kommt die Wahrnehmung entgegen, dass der raetische Limes, wie er uns vor Augen steht, allein mit der juengeren, vielleicht erst unter Marcus angelegten obergermanischen Sperrlinie korrespondiert. Damals fehlte dazu die Veranlassung nicht. Die Chattenkriege ergriffen, wie wir sehen werden, in dieser Zeit auch Raetien; auch die Verstaerkung der Besatzung der Provinz kann fueglich mit der Einrichtung dieses Limes in Verbindung stehen, welcher, wie wenig er fuer militaerische Zwecke eingerichtet ist, doch wohl ebenfalls einer wenn auch milderen Grenzsperre wegen angelegt wurde ^28.
——————————————————– ^24 Das aelteste datierte Zeugnis fuer diese sind zwei Inschriften der Besatzung von Boeckingen, gegenueber Heilbronn am linken Ufer des Neckar, vom Jahre 148 (Brambach CIRh, 1583, 1590).
^25 Das aelteste datierte Zeugnis fuer die Existenz dieser Linie ist die Inschrift von vicus Aurelii (Oehringen) vom Jahre 169 (Brambach CIRh, 1558), zwar nur privat, aber gewiss nicht gesetzt vor der Anlage dieses zu der Linie Miltenberg-Lorch gehoerenden Kastells; wenig juenger die von dem ebenfalls dazu gehoerigen Jagsthausen vom Jahre 179 (CIRh, 1618). Danach duerfte vicus Aurelii seinen Namen von Marcus fuehren, nicht von Caracalla, wenn auch von diesem bezeugt ist, dass er manche Kastelle in diesen Gegenden anlegte und nach sich benannte (Dio 77, 13).
^26 Ueber die Dislokation der obergermanischen Truppen fehlt es zwar an genuegender Kunde, doch nicht ganz an Anhaltspunkten. Von den beiden Hauptquartieren in Obergermanien ist das von Strassburg nach der Einrichtung der Neckarlinie erweislich nur schwach belegt und wahrscheinlich mehr administratives als militaerisches Zentrum gewesen (Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift, 3,1884, S. 132). Dagegen hat die Besatzung von Mainz immer einen betraechtlichen Teil der Gesamtstaerke in Anspruch genommen, um so mehr, als dieselbe wahrscheinlich der einzige groessere, geschlossene Truppenkoerper in ganz Obergermanien war. Die uebrigen Truppen verteilen sich teils auf den Limes, dessen Kastelle nach v. Cohausens (Der roemische Grenzwall, S. 335) Schaetzung durchschnittlich acht Kilometer voneinander entfernt, also insgesamt gegen 50 waren, teils auf die inneren Kastelle, insbesondere an der Odenwaldlinie von Gundelsheim bis Woerth; dass die letzteren wenigstens zum Teil auch nach Anlegung des aeusseren Limes besetzt blieben, ist mindestens wahrscheinlich. Bei der ungleichen Groesse der noch messbaren Kastelle ist es schwer zu sagen, welche Truppenzahl erforderlich war, um sie verteidigungsfaehig zu machen. Cohausen (S. 340) rechnet auf ein mittelgrosses Kastell einschliesslich der Reserve 720 Mann. Da die gewoehnliche Kohorte der Legion wie der Auxilien 500 Mann zaehlt und die Kastenbauten notwendig auf diese Zahl haben Ruecksicht nehmen muessen, wird die Besatzung des Kastells fuer den Fall der Belagerung durchschnittlich mindestens auf diese Zahl angesetzt werden muessen. Unmoeglich hat nach der Reduktion die obergermanische Armee die Kastelle auch nur des Limes gleichzeitig in dieser Staerke besetzen koennen. Noch weit weniger konnte sie, selbst vor der Reduktion, mit ihren 30000 Mann die zwischen den Kastellen befindlichen Linien auch nur besetzt halten; wenn aber dies nicht moeglich war, so hatte die gleichzeitige Besetzung auch der saemtlichen Kastelle in der Tat keinen Zweck. Allem Anschein nach ist wohl jedes Kastell in der Weise angelegt worden, dass es, gehoerig besetzt, gehalten werden konnte, aber der Regel nach – und an dieser Grenze war der Friedensstand Regel – war das einzelne Kastell nicht nach Kriegsfuss, sondern nur insoweit mit Truppen belegt, dass die Posten in den Wachttuermen ausgesetzt und die Strassen sowie die Schleichwege unter Aufsicht gehalten werden konnten. Die staendigen Besatzungen der Kastelle sind vermutlich sehr viel schwaecher gewesen, als gewoehnlich angenommen wird. Wir besitzen aus dem Altertum ein einziges Verzeichnis einer derartigen Besatzung; es ist vom Jahre 155 und betrifft das Kastell von Kutlowitza, noerdlich von Sofia (Eph. epigr. IV, p. 524), wofuer die Armee von Untermoesien, und zwar die 11. Legion, die Besatzung stellte. Diese Truppe zaehlte damals ausser dem kommandierenden Centurionen nur 76 Mann. Die raetische Armee war, wenigstens vor Marcus, noch viel weniger imstande, ausgedehnte Linien zu besetzen: sie zaehlte damals hoechstens 10000 Mann und hatte ausser dem raetischen Limes noch die Donaulinie von Regensburg bis Passau zu belegen.
^27 Dies beweist die bei Weissenburg gefundene Urkunde Traians vom Jahre 107.
^28 Die bisherigen Untersuchungen ueber den raetischen Limes haben die Bestimmung dieser Anlage noch wenig aufgeklaert; ausgemacht ist nur, dass sie weniger als die analoge obergermanische auf militaerische Besetzung eingerichtet war. Eine derartige schwaechere Grenzsperrung kann fueglich schon vor dem Markomannenkrieg den Hermunduren gegenueber beliebt worden sein; auch schliesst, was Tacitus ueber deren Verkehr in Augusta Vindelicum berichtet, die damalige Existenz eines raetischen Limes keineswegs aus. Nur muesste man dann erwarten, dass er nicht in Lorch endigte, sondern sich an die Neckarlinie anschloss; einigermassen tut er dies auch, insofern bei Lorch an die Stelle des Limes die Rems tritt, welche bei Cannstatt in den Neckar einmuendet. ——————————————————– Militaerisch wie politisch ist die verlegte Grenze oder vielmehr der verstaerkte Grenzschutz eingreifend und nuetzlich gewesen. Wenn frueher die roemische Postenkette in Obergermanien und Raetien wahrscheinlich rheinaufwaerts ueber Strassburg nach Basel und an Vindonissa vorbei an den Bodensee, dann von da zu der oberen Donau gegangen war, so wurden jetzt das obergermanische Hauptquartier in Mainz und das raetische in Regensburg und ueberhaupt die beiden Hauptarmeen des Reiches einander betraechtlich genaehert. Das Legionslager von Vindonissa (Windfisch bei Zuerich) wurde dadurch ueberfluessig. Das oberrheinische Heer konnte, wie das benachbarte, nach einiger Zeit auf die Haelfte seines frueheren Bestandes herabgesetzt werden. Die anfaengliche Zahl von vier Legionen, welche waehrend des batavischen Krieges nur zufaellig auf drei vermindert war, bestand allerdings wahrscheinlich noch unter Traian ^29; unter Marcus aber war die Provinz nur mit zwei Legionen besetzt, der achten und der zweiundzwanzigsten, von denen die erste in Strassburg stand, die zweite in dem Hauptquartier Mainz, waehrend die meisten Truppen, in kleinere Posten aufgeloest, an dem Grenzwall lagerten. Innerhalb der neuen Linie bluehte das staedtische Leben auf fast wie links vom Rheinland: Sumelocenna (Rottenburg am Neckar), Aquae (civitas Aurelia Aquensis, Baden), Lopodunum (Ladenburg) hatten, wenn man von Koeln und Trier absieht, in roemisch-staedtischer Entwicklung den Vergleich mit keiner Stadt der Belgica zu scheuen. Das Emporkommen dieser Ansiedlungen ist hauptsaechlich das Werk Traians, welcher sein Regiment mit dieser Friedenstat eroeffnete ^30; “den auf beiden Ufern roemischen Rhein” fleht ein roemischer Dichter an, den noch nicht gesehenen Herrscher ihnen bald zuzusenden. Die grosse und fruchtbare Landschaft, die auf diese Weise unter den Schutz der Legionen gestellt ward, war dieses Schutzes beduerftig, aber auch wert gewesen. Wohl bezeichnet die Varusschlacht die beginnende Ebbe der roemischen Macht, aber nur insofern, als das Vorschreiten damit ein Ende hat und die Roemer seitdem sich im allgemeinen begnuegten, das damals Festgehaltene staerker und dauernder zu schirmen.
————————————————- ^29 Von den sieben Legionen, die bei Neros Tode in den beiden Germanien standen, loeste Vespasian fuenf auf; es blieben die 21. und die 22., wozu dann die zur Niederwerfung des Aufstandes eingerueckten sieben oder acht Legionen, die 1. adiutrix, 2. adiutrix, 6. victrix, 8., 10. gemina, 11., 13. (?) und 14. hinzutraten. Von diesen ist nach Beendigung des Krieges die 1. adiutrix wahrscheinlich nach Spanien, die 2. adiutrix wahrscheinlich nach Britannien, die 13. gemina (wenn diese ueberhaupt nach Germanien kam) nach Pannonien gesandt worden; die anderen sieben blieben, und zwar in der unteren Provinz die 6., 10., 21. und 22., in der oberen die 8., 11, und 14. Zu den letzteren trat wahrscheinlich im Jahre 88 die aus Spanien abermals nach Obergermanien gesandte 1. adiutrix hinzu. Dass unter Traian die 1. adiutrix und die 11. in Obergermanien standen beweist die Inschrift von Baden-Baden, Brambach 1666. Die 8. und die 14. sind erwiesenermassen beide mit Cerialis nach Germanien gekommen und haben beide laengere Zeit daselbst garnisoniert. ^30 Traianus ward von Nerva im Jahre 96 oder 97 als Legat nach Germanien gesandt, wahrscheinlich dem oberen, da dem unteren damals Vestricius Spurinna vorgestanden zu haben scheint. Hier im Oktober des Jahres 97 zum Mitregenten ernannt, erhielt er die Nachricht von Nervas Tode und seiner Ernennung zum Augustus im Februar 98 in Koeln. Den Winter und den folgenden Sommer mag er dort geblieben sein; im Winter 98/99 war er an der Donau. Die Worte des Eutropius (8, 2): urbes trans Rhenum in Germania reparavit (woraus die oft gemissbrauchte Notiz bei Orosius, hist. 7, 12, 2, abgeschrieben ist), welche nur auf die obere Provinz bezogen werden koennen, aber natuerlich nicht dem Legaten, sondern dem Caesar oder dem Augustur gelten, erhalten eine Bestaetigung durch die civitas Ulpia s(altus?) N(icerini?) Lopodunum der Inschriften. Die “Wiederherstellung” duerfte im Gegensatz stehen nicht zu den Einrichtungen Domitians, sondern zu den ungeordneten Anfaengen staedtischer Anlagen im Decumatenland vor der Verlegung der Militaergrenze. Auf kriegerische Vorgaenge unter Traian fuehrt keine Spur; dass er ein castellum in Alamannorum solo, nach dem Zusammenhang am Main unweit Mainz, anlegte und nach seinem Namen nannte (Amm. 17, 1, 11), beweist dafuer ebenso wenig, wie dass ein spaeter Dichter (Sidon. carm. 7, 115), Altes und Neues vermengend, Agrippina unter ihm den Schrecken der Sugambrer, das heisst in seinem Sinn der Franken nennt.
————————————————- Bis in den Anfang des 3. Jahrhunderts zeigt die roemische Macht am Rhein keine Spuren des Schwankens. Waehrend des Markomannenkrieges unter Marcus blieb in der unteren Provinz alles ruhig. Wenn ein Legat der Belgica damals den Landsturm gegen die Chauker aufbieten musste, so ist dies vermutlich ein Piratenzug gewesen, wie sie die Nordkueste oftmals, in dieser Zeit ebenso wie frueher und spaeter, heimgesucht haben. An die Donauquellen und selbst bis in das Rheingebiet reichte der Wellenschlag der grossen Voelkerbewegung; aber die Fundamente erschuetterte er hier nicht. Die Chatten, das einzige bedeutende germanische Volk an der obergermanisch-raetischen Grenzwacht, brachen in beiden Richtungen vor und sind wahrscheinlich damals selbst unter den in Italien einfallenden Germanen gewesen, wie dies weiterhin bei der Darstellung dieses Krieges gezeigt werden soll. Auf jeden Fall kann die von Marcus damals verfuegte Verstaerkung der raetischen Armee und ihre Umwandlung in ein Kommando erster Klasse mit Legion und Legaten nur erfolgt sein, um den Angriffen der Chatten zu steuern, und beweist, dass man sie auch fuer die Zukunft nicht leicht nahm. Die schon erwaehnte Verstaerkung der Grenzverteidigung wird damit ebenfalls in Verbindung stehen. Fuer das naechste Menschenalter muessen diese Massregeln ausgereicht haben.
Unter Antoninus, dem Sohn des Severus, brach (213) abermals in Raetien ein neuer und schwererer Krieg aus. Auch dieser ist gegen die Chatten gefuehrt worden; aber neben ihnen wird ein zweites Volk genannt, das hier zum erstenmal begegnet, das der Alamannen. Woher sie kamen, wissen wir nicht. Einem wenig spaeter schreibenden Roemer zufolge war es zusammengelaufenes Mischvolk; auf einen Gemeindebund scheint auch die Benennung hinzuweisen sowie, dass spaeter noch die verschiedenen, unter diesem Namen zusammengefassten Staemme mehr als bei den sonstigen grossen germanischen Voelkern in ihrer Besonderheit hervortreten, und die Juthungen, die Lentienser und andere Alamannenvoelker nicht selten selbstaendig handeln. Aber dass es nicht die Germanen dieser Gegend sind, welche unter dem neuen Namen verbuendet und durch den Bund verstaerkt hier auftreten, zeigt sowohl die Nennung der Alamannen neben den Chatten wie die Meldung von der ungewohnten Geschicklichkeit der Alamannen im Reitergefecht. Vielmehr sind es der Hauptsache nach sicher aus dem Osten nachrueckende Scharen gewesen, die dem fast erloschenen Widerstand der Germanen am Rhein neue Kraft verliehen haben; es ist nicht unwahrscheinlich, dass die in frueherer Zeit an der mittleren Elbe hausenden maechtigen Semnonen, deren seit dem Ende des 2. Jahrhunderts nicht wieder gedacht wird, zu den Alamannen ein starkes Kontingent gestellt haben. Das stetig sich steigernde Missregiment im Roemischen Reich hat natuerlich auch, wenngleich nur in zweiter Reihe, zu der Machtverschiebung seinen Teil beigetragen. Der Kaiser zog persoenlich gegen die neuen Feinde ins Feld; im August des Jahres 213 ueberschritt er die roemische Grenze und ein Sieg ueber sie am Main wurde erfochten oder wenigstens gefeiert; es wurden noch Kastelle angelegt; die Voelkerschaften von der Elbe und der Nordsee beschickten den roemischen Herrscher und verwunderten sich, wenn er sie in ihrer eigenen Tracht empfing, in silberbeschlagener Jacke und Haar und Bart nach deutscher Art gefaerbt und geordnet. Aber von da an hoeren die Kriege am Rhein nicht auf, und die Angreifer sind die Germanen; die sonst so fuegsamen Nachbarn waren wie ausgetauscht. Zwanzig Jahre spaeter wurden an der Donau wie am Rhein die Einfaelle der Barbaren so stetig und so ernsthaft, dass Kaiser Alexander deswegen den weniger unmittelbar gefaehrlichen Persischen Krieg abbrechen und sich persoenlich in das Lager von Mainz begeben masste, nicht so sehr, um das Gebiet zu verteidigen, als um von den Deutschen den Frieden durch hohe Geldsummen zu erkaufen. Die Erbitterung der Soldaten darueber fuehrte zu seiner Ermordung (235) und damit zu dem Untergang der Severischen Dynastie, der letzten, die es bis auf die Regeneration des Staats ueberhaupt gegeben hat. Sein Nachfolger Maximinus, ein roher, aber tapferer, vom gemeinen Soldaten aufgedienter Thraker, machte das feige Verhalten seines Vorgaengers wieder gut durch einen nachdruecklichen Feldzug tief in Germanien hinein. Noch wagten die Barbaren nicht, einem starken und wohlgefuehrten Roemerheere die Spitze zu bieten; sie wichen in ihre Waelder und Suempfe, und auch dahin ihnen folgend, focht im Handgemenge der tapfere Kaiser allen voran. Von diesen Kaempfen, die ohne Zweifel von Mainz aus zunaechst gegen die Alamannen sich richteten, durfte er mit Recht sich Germanicus nennen; und auch fuer die Zukunft hat die Expedition vom Jahre 236, auf lange hinaus der letzte grosse Sieg, den die Roemer am Rhein gewannen, wohl einiges gefruchtet. Obwohl die stetigen und blutigen Thronwechsel und die schweren Katastrophen im Osten und an der Donau die Roemer nicht zu Atem kommen liessen, ist doch durch die naechsten zwanzig Jahre am Rhein wenn nicht eigentlich die Ruhe erhalten worden, doch eine groessere Katastrophe nicht eingetreten. Es scheint sogar damals eine der obergermanischen Legionen nach Afrika geschickt worden zu sein, ohne dass dafuer Ersatz kam, also Obergermanien als wohl gesichert gegolten zu haben. Aber als im Jahre 253 wieder einmal die verschiedenen Feldherren Roms um die Kaiserwuerde untereinander schlugen und die Rheinlegionen nach Italien marschierten, um ihren Kaiser Valerianus gegen den Aemilianus der Donauarmee durchzufechten, scheint dies das Signal gewesen zu sein ^31 fuer das Vorbrechen der Germanen namentlich auch gegen den Unterrhein ^32. Diese Germanen sind die hier zuerst auftretenden Franken, allerdings vielleicht nur dem Namen nach neue Gegner; denn obwohl die schon im spaeteren Altertum begegnende Identifikation derselben mit frueher am Unterrhein genannten Voelkerschaften, teils den neben den Bructerern sitzenden Chamavern, teils den frueher genannten, den Roemern untertaenigen Sugambrern, unsicher und mindestens unzulaenglich ist, so hat es hier groessere Wahrscheinlichkeit als bei den Alamannen, dass die bisher von Rom abhaengigen Germanen am rechten Rheinufer und die frueher vom Rhein abgedraengten germanischen Staemme damals unter dem Gesamtnamen der “Freien” gemeinschaftlich die Offensive gegen die Roemer ergriffen haben. Solange Gallienus selbst am Rhein blieb, hielt er, trotz der geringen, ihm zur Verfuegung stehenden Streitkraefte, die Gegner einigermassen im Zaum, verhinderte sie am Ueberschreiten des Flusses oder schlug die Eingedrungenen wieder hinaus, raeumte auch wohl einem der germanischen Fuehrer einen Teil des begehrten Ufergebietes ein unter der Bedingung, die roemische Herrschaft anzuerkennen und seinen Besitz gegen seine Landsleute zu verteidigen, was freilich schon fast auf eine Kapitulation hinauskam. Aber als der Kaiser, abgerufen durch die noch gefaehrlichere Lage der Dinge an der Donau, sich dorthin begab und in Gallien als Repraesentanten seinen noch im Knabenalter stehenden aelteren Sohn zurueckliess, liess einer der Offiziere, denen er die Verteidigung der Grenze und die Hut seines Sohnes anvertraut hatte, Marcus Cassianius Latinius Postumus ^33, sich von seinen Leuten zum Kaiser ausrufen und belagerte in Koeln den Hueter des Kaisersohnes Silvanus. Es gelang ihm, die Stadt einzunehmen und seinen frueheren Kollegen sowie den kaiserlichen Knaben in seine Gewalt zu bekommen, worauf er beide hinrichten liess. Aber waehrend dieser Wirren brachen die Franken ueber den Rhein und ueberschwemmten nicht bloss ganz Gallien, sondern drangen auch in Spanien ein, ja pluenderten selbst die afrikanische Kueste. Bald nachher, nachdem Valerians Gefangennahme durch die Perser das Mass des Unheils voll gemacht hatte, ging in der oberrheinischen Provinz alles roemische Land auf dem linken Rheinufer verloren, ohne Zweifel an die Alamannen, deren Einbruch in Italien in den letzten Jahren des Gallienus diesen Verlust notwendig voraussetzt. Dieser ist der letzte Kaiser, dessen Name auf rechtsrheinischen Denkmaelern gefunden wird. Seine Muenzen feiern ihn wegen fuenf grosser Siege ueber die Germanen, und nicht minder sind die seines Nachfolgers in der gallischen Herrschaft, des Postumus, voll des Preises der deutschen Siege des Retters von Gallien. Gallienus hatte in seinen frueheren Jahren nicht ohne Energie den Kampf am Rhein aufgenommen, und Postumus war sogar ein vorzueglicher Offizier und waere gern auch ein guter Regent gewesen. Aber bei der Meisterlosigkeit, welche damals in dem roemischen Staat oder vielmehr in der roemischen Armee waltete, nuetzte Talent und Tuechtigkeit des Einzelnen weder ihm noch dem Gemeinwesen. Eine Reihe bluehender roemischer Staedte wurde damals von den einfallenden Barbaren oedegelegt, und das rechte Rheinufer ging den Roemern auf immer verloren.
———————————————- ^31 Nicht bloss der ursaechliche Zusammenhang, sondern selbst die zeitliche Folge dieser wichtigen Vorgaenge liegen im unklaren. Der relativ beste Bericht bei Zosimus (hist. 1, 29) bezeichnet den germanischen Krieg als die Ursache, weshalb Valerianus gleich bei seiner Thronbesteigung 253 seinen Sohn zum Mitherrscher gleichen Rechts gemacht habe; und den Titel Germanicus maximus fuehrt Valerian schon im Jahre 256 (CIL VIII, 2380; ebenso 259 CIL XI, 826), vielleicht sogar, wenn der Muenze Cohen n. 54 zu trauen ist, den Titel Germanicus maximus ter.
^32 Dass die Germanen, gegen die Gallienus zu streiten hatte, wenigstens hauptsaechlich am Unterrhein zu suchen sind, zeigt die Residenz seines Sohnes in Agrippina, wo er doch nur als nomineller Repraesentant des Vaters zurueckgeblieben sein kann. Auch der Biograph (c. 8) nennt die Franken. ^33 Von dem Grade der Geschichtsfaelschung, welche in einem Teil der Kaiserbiographien herrscht, macht man sich schwer eine Vorstellung; es wird nicht unnuetz sein, hier an dem Bericht ueber Postumus dies beispielsweise zu zeigen. Er heisst hier (freilich in einer Einlage) Iulius Postumus (tyr. 6), auf den Muenzen und Inschriften al. Cassianius Latinius Postumus, im epitomierten Victor 32 Cassius Labienus Postemus.
Er regiert sieben Jahre (Gall. 4; tyr. 3 und 5); Muenzen nennen seine tr. p. X, und zehn Jahre gibt ihm Eutropius (9, 10). Sein Gegner heisst Lollianus, nach den Muenzen Ulpius Cornelias Laelianus, Laelianus bei Eutropius (9, 9; nach der einen Handschriftenklasse, waehrend die andere der Interpolation der Biographen folgt) und bei Victor (c. 33), Aelianus in der Victorianischen Epitome.
Postumus und Victorinus herrschen nach dem Biographen gemeinschaftlich; aber es gibt keine beiden gemeinschaftliche Muenzen, und somit bestaetigen diese den Bericht bei Victor und Eutropius, dass Victorinus der Nachfolger des Postumus gewesen ist.
Es ist eine Besonderheit dieser Kategorie von Faelschungen, dass sie in den eingelegten Urkunden gipfeln. Das Koelner Epitaphium der beiden Victorinus (tyr. 7): hic duo Victorini tyranni(!) siti sunt kritisiert sich selbst. Das angebliche Patent Valerians (tyr. 3), womit dieser den Galliern die Ernennung des Postumus mitteilt, ruehmt nicht bloss prophetisch des Postumus Herrschergaben, sondern nennt auch verschiedene unmoegliche Aemter: einen Transrhenani limitis dux et Galliae praeses hat es zu keiner Zeit gegeben und kann Postumus arch/e/n en Keltois strati/o/t/o/n empepisteymenos ;Zos. hist. 1, 38) nur praeses einer der beiden Germanien oder, wenn sein Kommando ein ausserordentliches war, dux per Germanias gewesen sein. Ebenso unmoeglich ist in derselben Quasi-Urkunde der tribunatus Vocontiorum des Sohnes, eine offenbare Nachbildung der Tribunate, wie sie in der Notitia dignitatum aus der Zeit des Honorius auftreten.
Gegen Postumus und Victorinus, unter denen die Gallier und die Franken fechten, zieht Gallienus mit Aureolus, spaeter seinem Gegner, und dem spaeteren Kaiser Claudius; er selbst wird durch einen Pfeilschuss verwundet, siegt aber, ohne dass durch den Sieg sich etwas aendert. Von diesem Kriege wissen die anderen Berichte nichts. Postumus faellt in dem von dem sogenannten Lollianus angezettelten Militaeraufstand, waehrend nach dem Bericht bei Victor und Eutropius Postumus dieser Mainzer Insurrektion Herr wird, aber dann die Soldaten ihn erschlagen, weil er ihnen Mainz nicht zur Pluenderung ueberliefern will. Ueber die Erhebung des Postumus steht neben der im wesentlichen mit der gewoehnlichen uebereinstimmenden Erzaehlung, dass Postumus den seiner Hut anvertrauten Sohn des Gallienus treulos beseitigt habe, eine andere, offenbar als Rettung erfundene, wonach das Volk in Gallien dies tat und dann dem Postumus die Krone antrug. Die enkomiastische Tendenz fuer den, der Gallien das Schicksal der Donaulaender und Asiens erspart und es vor den Germanen gerettet habe, tritt hier und ueberall (am offenbarsten tyr. 5) zutage; womit denn zusammenhaengt, dass dieser Bericht den Verlust des rechten Rheinufers und die Zuege der Franken nach Gallien, Spanien und Afrika nicht kennt. Bezeichnend ist noch, dass der angebliche Stammvater des konstantinischen Hauses auch hier mit einer ehrenvollen Nebenrolle bedacht wird. Diese nicht zerruettete, sondern durchgefaelschte Erzaehlung wird voellig beseitigt werden muessen; die Berichte einerseits bei Zosimus, andererseits der aus einer gemeinschaftlichen Quelle schoepfenden Lateiner Victor und Eutropius, kurz und zerruettet wie sie sind, koennen allein in Betracht kommen.
———————————————- Die Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung in Gallien hing zunaechst ab von dem Zusammenhalten des Reichs ueberhaupt; solange die italischen Kaiser ihre Truppen in der Narbonensis aufstellten, um den gallischen Rivalen zu beseitigen und dieser wieder Miene machte, die Alpen zu ueberschreiten, war eine wirksame Operation gegen die Germanen von selber ausgeschlossen. Erst nachdem um das Jahr 272 ^34 der damalige Herrscher Galliens, Tetricus, seiner undankbaren Rolle muede, selbst dazu getan hatte, dass seine Truppen sich dem vom roemischen Senat anerkannten Kaiser Aurelianus unterwarfen, konnte wieder daran gedacht werden, den Germanen zu wehren. Den Zuegen der Alamannen, die fast ein Jahrzehnt hindurch das obere Italien bis nach Ravenna hinab heimgesucht hatten, setzte derselbe tuechtige Herrscher, der Gallien wieder zum Reich gebracht hatte, fuer lange Zeit ein Ziel und schlug an der oberen Donau nachdruecklich einen ihrer Staemme, die Juthungen. Haette sein Regiment Dauer gehabt, so wuerde er wohl auch in Gallien den Grenzschutz erneuert haben; nach seinem baldigen und jaehen Ende (275) ueberschritten die Germanen abermals den Rhein und verheerten weit und breit das Land. Sein Nachfolger Probus (seit 276), auch ein tuechtiger Soldat, warf sie nicht bloss wieder hinaus – siebzig Staedte soll er ihnen abgenommen haben -, sondern ging auch wieder angreifend vor, ueberschritt den Rhein und trieb die Deutschen ueber den Neckar zurueck; aber die Linien der frueheren Zeit erneuerte er nicht ^35, sondern begnuegte sich, an den wichtigeren Rheinpositionen Brueckenkoepfe auf dem anderen Ufer einzurichten und zu besetzen – das heisst, er kam etwa auf die Einrichtungen zurueck, wie sie hier vor Vespasian bestanden hatten. Gleichzeitig wurden durch seine Feldherren in der noerdlichen Provinz die Franken niedergeschlagen. Grosse Massen der ueberwundenen Germanen wurden als gezwungene Ansiedler nach Gallien und vor allem nach Britannien gesandt. In dieser Weise wurde die Rheingrenze wieder gewonnen und auf das spaetere Kaiserreich uebertragen. Freilich war wie die Herrschaft am rechten Rheinufer so auch der Friede am linken unwiderbringlich dahin. Drohend standen die Alamannen gegenueber Basel und Strassburg, die Franken gegenueber Koeln. Daneben melden sich andere Staemme. Dass auch die Burgundionen, einst jenseits der Elbe sesshaft, westwaerts vorrueckend bis an den oberen Main, Gallien bedrohen, davon ist zuerst unter Kaiser Probus die Rede; wenige Jahre spaeter beginnen die Sachsen in Gemeinschaft mit den Franken ihre Angriffe zur See auf die gallische Nordkueste wie auf das roemische Britannien. Aber unter den groesstenteils tuechtigen und faehigen Kaisern des Diocletianisch-Konstantinischen Hauses und noch unter den naechsten Nachfolgern hielt der Roemer die drohende Voelkerflut in gemessenen Schranken. ————————————
^34 Postumus Herrschaft dauerte zehn Jahre. Dass im Jahre 259 der aeltere Sohn des Gallienus bereits tot war, lehrt die Inschrift von Modena CIL XI, 826; also faellt Postumus Abfall sicher in oder vor dieses Jahr. Da die Gefangennahme des Tetricus nicht wohl spaeter als 272, unmittelbar nach der zweiten Expedition gegen Zenobia, angesetzt werden kann und die drei gallischen Herrscher Postumus zehn, Victorinus zwei (Eutr. 9, 9), Tetricus zwei (Aur. Vict. Caes. 35) Jahre regiert haben, so bringt dies Postumus Abfall etwa auf 259; doch sind dergleichen Zahlen haeufig etwas verschoben. Wenn die Dauer der Germanenzuege in Spanien unter Gallienus auf zwoelf Jahre bestimmt wird (Oros. hist. 7, 41, 2), so scheint dies nach der Hieronymischen Chronik oberflaechlich berechnet zu sein. Die ueblichen genauen Zahlen sind unbeglaubigt und taeuschend. ^35 Nach dem Biographen (c. 14, 15) hat Probus die Germanen des rechten Rheinufers in Abhaengigkeit gebracht, so dass sie den Roemern tributpflichtig sind und die Grenze fuer sie verteidigen (omnes iam barbari vobis arant, vobis iam serviunt et contra interiores gentes militant); das Recht der Waffenfuehrung wird ihnen vorlaeufig gelassen, aber daran gedacht, bei weiteren Erfolgen die Grenze vorzuschieben und eine Provinz Germanien einzurichten. Auch als freie Phantasien eines Roemers des vierten Jahrhunderts – mehr ist es nicht – haben diese Aeusserungen ein gewisses Interesse. ————————————
Die Germanen in ihrer nationalen Entwicklung darzustellen, ist nicht die Aufgabe des Geschichtschreibers der Roemer; fuer ihn erscheinen sie nur hemmend oder auch zerstoerend. Eine Durchdringung der beiden Nationalitaeten und eine daraus hervorgehende Mischkultur, wie das romanisierte Keltenland, hat das roemische Germanien nicht aufzuweisen oder sie faellt fuer unsere Auffassung mit der roemisch-gallischen um so mehr zusammen, als die laengere Zeit in roemischem Besitz gebliebenen germanischen Gebiete auf dem linken Rheinufer durchaus mit keltischen Elementen durchsetzt waren und auch die auf dem rechten, ihrer urspruenglichen Bevoelkerung groesstenteils beraubt, die Mehrzahl der neuen Ansiedler aus Gallien erhielten. Dem germanischen Element fehlten die kommunalen Zentren, wie sie das Keltentum zahlreich besass. Teils deswegen, teils infolge aeusserer Umstaende konnte, wie schon hervorgehoben worden ist, in dem germanischen Osten das roemische Element sich eher und voller entwickeln als in den keltischen Gegenden. Von wesentlichstem Einfluss darauf sind die Heerlager der Rheinarmee geworden, die alle auf das roemische Germanien fallen. Die groesseren derselben erhielten teils durch die Handelsleute, die dem Heere sich anschlossen, teils und vor allem durch die Veteranen, die in ihren gewohnten Quartieren auch nach der Entlassung verblieben, einen staedtischen Anhang, eine von den eigentlichen Militaerquartieren gesonderte Budenstadt (canabae); ueberall und namentlich in Germanien sind aus diesen bei den Legionslagern und besonders den Hauptquartieren mit der Zeit eigentliche Staedte erwachsen. An der Spitze steht die roemische Ubierstadt, urspruenglich das zweitgroesste Lager der niederrheinischen Armee, dann seit dem Jahre 50 roemische Kolonie und von bedeutendster Wirksamkeit fuer die Hebung der roemischen Zivilisation im Rheinland. Hier wich die Lagerstadt der roemischen Pflanzstadt; spaeterhin erhielten, ohne Verlegung der Truppen, Stadtrecht die zu den beiden grossen unterrheinischen Lagern gehoerenden Ansiedlungen Ulpia Noviomagus im Bataverland und Ulpia Traiana bei Vetera durch Traianus, im dritten Jahrhundert die Militaerhauptstadt Obergermaniens Mogontiacum. Freilich haben diese Zivilstaedte neben den davon unabhaengigen militaerischen Verwaltungszentren immer eine untergeordnete Stellung behalten.
Blicken wir ueber die Grenze hinueber, wo diese Erzaehlung abschliesst, so begegnet uns allerdings anstatt der Romanisierung der Germanen gewissermassen eine Germanisierung der Romanen. Die letzte Phase des roemischen Staats ist bezeichnet durch dessen Barbarisierung und speziell dessen Germanisierung; und die Anfaenge reichen weiter zurueck. Sie beginnt mit der Bauernschaft in dem Kolonat, geht weiter zu der Truppe, wie Kaiser Severus sie gestaltete, erfasst dann die Offiziere und Beamte und endigt mit den roemisch-germanischen Mischstaaten der Westgoten in Spanien und Gallien, der Vandalen in Afrika, vor allem dem Italien Theoderichs. Fuer das Verstaendnis dieser letzten Phase bedarf es allerdings der Einsicht in die staatliche Entwicklung der einen wie der anderen Nation. Freilich steht in dieser Beziehung die germanische Forschung sehr im Nachteil. Die staatlichen Einrichtungen, in welche diese Germanen dienend oder mitherrschend eintraten, sind wohlbekannt, weit besser als die pragmatische Geschichte der gleichen Epoche; aber ueber den germanischen Anfaengen liegt ein Dunkel, mit dem verglichen die Anfaenge von Rom und von Hellas lichte Klarheit sind. Waehrend die nationale Gottesverehrung der antiken Welt relativ erkennbar ist, ist die Kunde des deutschen Heidentums, vom fernen Norden abgesehen, vor der historischen Zeit untergegangen. Die Anfaenge der staatlichen Entwicklung der Germanen schildert uns teils die schillernde und in der Gedankenschablone des sinkenden Altertums befangene, die eigentlich entscheidenden Momente nur zu oft auslassende Darstellung des Tacitus, teils muessen wir sie den auf ehemals roemischem Boden entstandenen, ueberall mit roemischen Elementen durchsetzten Zwitterstaaten entnehmen. Wie die germanischen Worte hier ueberall fehlen und wir fast ausschliesslich auf lateinische, notwendig inadaequate Bezeichnungen angewiesen sind, so versagen auch durchgaengig die scharfen Grundanschauungen, derer unsere Kunde des klassischen Altertums nicht entbehrt. Es gehoert zur Signatur unserer Nation, dass es ihr versagt geblieben ist, sich aus sich selbst zu entwickeln; und dazu gehoert es mit, dass deutsche Wissenschaft vielleicht weniger vergeblich bemueht gewesen ist, die Anfaenge und die Eigenart anderer Nationen zu erkennen als die der eigenen.
5. Kapitel
Britannien
Siebenundneunzig Jahre waren vergangen, seitdem roemische Truppen das grosse Inselland im nordwestlichen Ozean betreten und unterworfen und wiederum verlassen hatten, bevor die roemische Regierung sich entschloss, die Fahrt zu wiederholen und Britannien bleibend zu besetzen. Allerdings war Caesars britannische Expedition nicht bloss, wie seine Zuege gegen die Germanen, ein defensiver Vorstoss gewesen. So weit sein Arm reichte, hatte er die einzelnen Voelkerschaften reichsuntertaenig gemacht und ihre Jahresabgabe an das Reich hier wie in Gallien geordnet. Auch die fuehrende Voelkerschaft, welche durch ihre bevorzugte Stellung fest an Rom geknuepft und somit der Stuetzpunkt der roemischen Herrschaft werden sollte, war gefunden: die Trinovanten (Essex) sollten auf der keltischen Insel dieselbe, mehr vorteilhafte als ehrenvolle Rolle uebernehmen wie auf dem gallischen Kontinent die Haeduer und die Reiner. Die blutige Fehde zwischen dem Fuersten Cassivellaunus und dem Fuerstenhaus von Camalodunum (Colchester) hatte unmittelbar die roemische Invasion herbeigefuehrt; dieses wieder einzusetzen, war Caesar gelandet, und der Zweck ward fuer den Augenblick erreicht. Ohne Zweifel hat Caesar sich nie darueber getaeuscht, dass jene Tribute ebenso wie diese Schutzherrschaft zunaechst nur Worte waren; aber diese Worte waren ein Programm, das die bleibende Besetzung der Insel durch roemische Truppen herbeifuehren masste und herbeifuehren sollte. Caesar selbst kam nicht dazu, die Verhaeltnisse der unterworfenen Insel bleibend zu ordnen; und fuer seine Nachfolger war Britannien eine Verlegenheit. Die reichsuntertaenig gewordenen Briten entrichteten den schuldigen Tribut gewiss nicht lange, vielleicht ueberhaupt niemals; das Protektorat ueber die Dynastie von Camalodunum wird noch weniger respektiert worden sein und hatte lediglich zur Folge, dass Fuersten und Prinzen dieses Hauses wieder und wieder in Rom erschienen und die Intervention der roemischen Regierung gegen Nachbarn und Rivalen anriefen – so kam Koenig Dubnovellaunus, wahrscheinlich der Nachfolger des von Caesar bestaetigten Trinovantenfuersten, als Fluechtling nach Rom zu Kaiser Augustas, so spaeter einer der Prinzen desselben Hauses zu Kaiser Gaius ^1.
———————————————————- ^1 Allem Anschein nach sind die politischen Relationen zwischen Rom und Britannien in der Zeit vor der Eroberung wesentlich auf das von Caesar wiederhergestellte und garantierte (Gall. 5, 22) Fuerstentum der Trinovanten zu beziehen. Dass Koenig Dubnovellaunus, der nebst einem anderen ganz unbekannten Britannerfuersten bei Augustas Schutz suchte, hauptsaechlich in Essex herrschte, zeigen seine Muenzen (mein Monumentum Ancyranum. 2. Aufl. 1883, S. 138f.). Die britannischen Fuersten, die den Augustus beschickten und seine Oberherrschaft anerkannten (denn so scheint Strab. 4, 5, 3, p. 200 gefasst werden zu muessen; vgl. Tac. ann. 2, 24), haben wir auch zunaechst dort zu suchen. Cunobelinus, nach den Muenzen der Sohn des Koenigs Tasciovanus, von dem die Geschichte schweigt, gestorben, wie es scheint, bejahrt, zwischen 40 und 43, im Regiment also wahrscheinlich dem spaeteren des Augustus und denen des Tiberius und Gaius parallel gehend, residierte in Camalodunum (Dio 60, 21); um ihn und um seine Soehne dreht sich die Vorgeschichte der Invasion. Wohin Bericus, der zum Claudias kam (Dio 60, 19), gehoert, wissen wir nicht, und es moegen auch andere brittische Dynasten dem Beispiel derer von Colchester gefolgt sein; aber an der Spitze stehen diese.
———————————————————- In der Tat war die Expedition nach Britannien ein notwendiger Teil der Caesarischen Erbschaft; es hatte auch schon waehrend der Zweiherrschaft Caesar der Sohn zu einer solchen einen Anlauf genommen und nur davon abgesehen wegen der dringenderen Notwendigkeit, in Illyricum Ruhe zu schaffen, oder auch wegen des gespannten Verhaeltnisses zu Antonius, das zunaechst den Parthern sowohl wie den Britannern zustatten kam. Die hoefischen Poeten aus Augustus’ frueheren Jahren haben die britannische Eroberung vielfach antizipierend gefeiert; das Programm Caesars also nahm der Nachfolger an und auf. Als dann die Monarchie feststand, erwartete ganz Rom, dass der Beendigung des Buergerkrieges die britannische Expedition auf dem Fusse folgen werde; die Klagen der Poeten ueber den schrecklichen Hader, ohne welchen laengst die Britanner im Siegeszug zum Kapitol gefuehrt worden waeren, verwandelten sich in die stolze Hoffnung auf die neu zum Reich hinzutretende Provinz Britannien. Die Expedition wurde auch zu wiederholten Malen angekuendigt (727, 728 27, 26); dennoch stand Augustus, ohne das Unternehmen foermlich fallenzulassen, bald von der Durchfuehrung ab, und Tiberius hielt, seiner Maxime getreu, auch in dieser Frage an dem System des Vaters fest ^2. Die nichtigen Gedanken des letzten Julischen Kaisers schweiften wohl auch ueber den Ozean hinueber; aber ernste Dinge vermochte er nicht einmal zu planen. Erst die Regierung des Claudius nahm den Plan des Diktators wieder auf und fuehrte ihn durch.
————————————– ^2 Tac. Agr. 13: consilium id divus Augustas vocabat, Tiberius praeceptum. ————————————–
Welche Motive nach der einen wie nach der andern Seite hin bestimmend waren, laesst sich teilweise wenigstens erkennen. Augustus selbst hat geltend gemacht, dass die Besetzung der Insel militaerisch nicht noetig sei, da ihre Bewohner nicht imstande seien, die Roemer auf dem Kontinent zu belaestigen, und fuer die Finanzen nicht vorteilhaft; was aus Britannien zu ziehen sei, fliesse in Form des Einfuhr- und Ausfuhrzolles der gallischen Haefen in die Kasse des Reiches; als Besatzung werde wenigstens eine Legion und etwas Reiterei erforderlich sein und nach Abzug der Kosten derselben von den Tributen der Insel nicht viel uebrig bleiben ^3. Dies alles war unbestreitbar richtig, ja noch keineswegs genug; die Erfahrung erwies spaeter, dass eine Legion bei weitem nicht ausreichte, um die Insel zu halten. Hinzuzunehmen ist, was die Regierung zu sagen allerdings keine Veranlassung hatte, dass bei der Schwaeche des roemischen Heeres, wie sie durch die innere Politik Augusts einmal herbeigefuehrt war, es sehr bedenklich erscheinen musste, einen erheblichen Bruchteil desselben ein fuer allemal auf eine ferne Insel des Nordmeers zu bannen. Man hatte vermutlich nur die Wahl, von Britannien abzusehen oder deswegen das Heer zu vermehren; und bei Augustus hat die Ruecksicht auf die innere Politik stets die auf die aeussere ueberwogen. ————————————————- ^3 Die Auseinandersetzung bei Strabon (2, 5, 8, p. 115; 4, 5, 3, p. 200) gibt offenbar die gouvernementale Version. Dass nach Einziehung der Insel der freie Verkehr und damit der Ertrag der Zoelle sinken werde, muss wohl als Eingestaendnis des Satzes genommen werden, dass die roemische Herrschaft und die roemischen Tribute den Wohlstand der Untertanen herabdrueckten. ————————————————- Aber dennoch muss die Ueberzeugung von der Notwendigkeit der Unterwerfung Britanniens bei den roemischen Staatsmaennern vorgewogen haben. Caesars Verhalten wuerde unbegreiflich sein, wenn man sie nicht bei ihm voraussetzt. Augustus hat das von Caesar gesteckte Ziel trotz seiner Unbequemlichkeit zuerst foermlich anerkannt und niemals foermlich verleugnet. Gerade die weitsichtigsten und folgerichtigsten Regierungen, die des Claudius, des Nero, des Domitian, haben zu der Eroberung Britanniens den Grund gelegt oder sie erweitert; und sie ist, nachdem sie erfolgt war, nie betrachtet worden wie etwa die Traianische von Dakien und Mesopotamien. Wenn die sonst so gut wie unverbruechlich festgehaltene Regierungsmaxime, dass das Roemische Reich seine Grenzen nur zu erfuellen, nicht aber auszudehnen habe, allein in betreff Britanniens dauernd beiseite gesetzt worden ist, so liegt die Ursache darin, dass die Kelten so, wie Roms Interesse es erheischte, auf dem Kontinent allein nicht unterworfen werden konnten. Diese Nation war allem Anschein nach durch den schmalen Meeresarm, der England und Frankreich trennt, mehr verbunden als geschieden; dieselben Voelkernamen begegnen hueben und drueben; die Grenzen der einzelnen Staaten griffen oefter ueber den Kanal hinueber; der Hauptsitz des hier mehr wie irgendwo sonst das ganze Volkstum durchdringenden Priestertums waren von jeher die Inseln der Nordsee. Den roemischen Legionen das Festland Galliens zu entreissen, vermochten diese Insulaner freilich nicht; aber wenn der Eroberer Galliens selbst, und weiter die roemische Regierung in Gallien andere Zwecke verfolgte als in Syrien und Aegypten, wenn die Kelten der italischen Nation angegliedert werden sollten, so war diese Aufgabe wohl unausfuehrbar, solange das unterworfene und das freie Keltengebiet ueber das Meer hin sich beruehrten und der Roemerfeind wie der roemische Deserteur in Britannien eine Freistatt fand ^4. Zunaechst genuegte dafuer schon die Unterwerfung der Suedkueste, obwohl die Wirkung natuerlich sich steigerte, je weiter das freie Keltengebiet zurueckgeschoben ward. Claudius’ besondere Ruecksicht auf seine gallische Heimat und seine Kenntnis gallischer Verhaeltnisse mag auch hierbei mit im Spiel gewesen sein ^5. Den Anlass zum Kriege gab, dass eben dasjenige Fuerstentum, welches von Rom in einer gewissen Abhaengigkeit stand, unter der Fuehrung seines Koenigs Cunobelinus – es ist dies Shakespeares Cymbeline – seine Herrschaft weit ausbreitete ^6 und sich von der roemischen Schutzherrschaft emanzipierte. Einer der Soehne desselben, Adminius, der gegen den Vater sich aufgelehnt hatte, kam schutzbegehrend zum Kaiser Gaius, und darueber, dass dessen Nachfolger sich weigerte, dem britischen Herrscher diese seine Untertanen auszuliefern, entspann sich der Krieg zunaechst gegen den Vater und die Brueder dieses Adminius. Der eigentliche Grund desselben freilich war der unerlaessliche Abschluss der Unterwerfung einer bisher nur halb besiegten, eng zusammenhaltenden Nation. ————————————————- ^4 Als Ursache des Krieges gibt Sueton (Claud. 17) an: Britanniam tunc tumultuantem ob non redditos transfugas; was O. Hirschfeld mit Recht in Verbindung bringt mit Gai. 44: Adminio Cunobellini Britannorum regis filio, qui pulsus a patre cum exigua mani transfugerat, in deditionem recepto. Mit dem tumultuari werden wohl wenigstens beabsichtigte Pluenderfahrten nach der gallischen Kueste gemeint sein. Um den Bericus (Dio 60, 19) ist der Krieg gewiss nicht gefuehrt worden.
^5 Ebenso war Mona nachher receptaculum perfugarum (Tac. ann. 14, 29). ^6 Tac. ann. 12, 37: pluribus gentibus imperitantem. ————————————————- Dass die Besetzung Britanniens nicht erfolgen koenne ohne gleichzeitige Vermehrung des stehenden Heeres, war auch die Ansicht derjenigen Staatsmaenner, die sie veranlassten; es wurden drei der Rhein-, eine der Donaulegionen dazu bestimmt ^7, gleichzeitig aber zwei neu errichtete Legionen den germanischen Heeren zugeteilt. Zum Fuehrer dieser Expedition und zugleich zum ersten Statthalter der Provinz wurde ein tuechtiger Soldat, Aulus Plautius, ausersehen; sie ging im Jahre 43 nach der Insel ab. Die Soldaten zeigten sich schwierig, wohl mehr wegen der Verbannung auf die ferne Insel als aus Furcht vor dem Feinde. Einer der leitenden Maenner, vielleicht die Seele des Unternehmens, der kaiserliche Kabinettssekretaer Narcissus, wollte ihnen Mut einsprechen – sie liessen den Sklaven vor hoehnendem Zuruf nicht zu Worte kommen, aber taten, wie er wollte, und schifften sich ein.
————————————————- ^7 Die drei Legionen vom Rhein sind die 2. Augusta, die 14. und die 20.; aus Pannonien kam die 9. spanische. Dieselben vier Legionen standen dort noch zu Anfang der Regierung Vespasians; dieser rief die 14. ab zum Kriege gegen Civilis, und diese kam nicht zurueck, dafuer aber wahrscheinlich die 2. adiutrix. Diese ist vermutlich unter Domitian nach Pannonien verlegt, unter Hadrian die 9. aufgeloest und durch die 6. victrix ersetzt worden. Die beiden anderen Legionen, 2. Augusta und 20., haben vom Anfang bis zum Ende der Roemerherrschaft in England gestanden.
————————————————- Besondere Schwierigkeit hatte die Besetzung der Insel nicht. Die Eingeborenen standen politisch wie militaerisch auf derselben niedrigen Entwicklungsstufe, welche Caesar auf der Insel vorgefunden hatte. Koenige oder Koeniginnen regierten in den einzelnen Gauen, die kein aeusseres Band zusammenschloss und die in ewiger Fehde miteinander lagen. Die Mannschaften waren wohl von ausdauernder Koerperkraft und von todesverachtender Tapferkeit und namentlich tuechtige Reiter. Aber der homerische Streitwagen, der hier noch eine Wirklichkeit war und auf dem die Fuersten des Landes selber die Zuegel fuehrten, hielt den geschlossenen roemischen Reiterschwadronen ebensowenig stand, wie der Infanterist ohne Panzer und Helm, nur durch den kleinen Schild verteidigt, mit seinem kurzen Wurfspiess und seinem breiten Schwert im Nahkampf dem kurzen roemischen Messer gewachsen war oder gar dem schweren Pilum des Legionaers und dem Schleuderblei und dem Pfeil der leichten roemischen Truppen. Der Heermasse von etwa 40000 wohlgeschulten Soldaten hatten die Eingeborenen ueberall keine entsprechende Abwehr entgegenzustellen. Die Ausschiffung traf nicht einmal auf Widerstand; die Briten hatten Kunde von der schwierigen Stimmung der Truppen und die Landung nicht mehr erwartet. Koenig Cunobelinus war kurz vorher gestorben; die Gegenwehr fuehrten seine beiden Soehne, Caratacus und Togodumnus. Der Marsch des Invasionsheeres ward sofort auf Camalodunum gerichtet ^8 und in raschem Siegeslauf gelangte es bis an die Themse; hier wurde Halt gemacht, vielleicht hauptsaechlich, um dem Kaiser die Gelegenheit zu geben, den leichten Lorbeer persoenlich zu pfluecken. Sobald er eintraf, ward der Fluss ueberschritten, das britische Aufgebot geschlagen, wobei Togodumnus den Tod fand, Camalodunum selber genommen. Wohl setzte der Bruder Caratacus den Widerstand hartnaeckig fort und gewann sich, siegend oder geschlagen, einen stolzen Namen bei Freund und Feind; aber das Vorschreiten der Roemer war dennoch unaufhaltsam. Ein Fuerst nach dem andern ward geschlagen und abgesetzt – elf britische Koenige nennt der Ehrenbogen des Claudius als von ihm besiegt; und was den roemischen Waffen nicht erlag, das ergab sich den roemischen Spenden. Zahlreiche vornehme Maenner nahmen die Besitzungen an, die auf Kosten ihrer Landsleute der Kaiser ihnen verlieh; auch manche Koenige fuegten sich in die bescheidene Lehnsstellung, wie denn der der Regner (Chichester), Cogidumnus, und der der Icener (Norfolk), Prasutagus, eine Reihe von Jahren als Lehnsfuersten die Herrschaft gefuehrt haben. Aber in den meisten Distrikten der bis dahin durchgaengig monarchisch regierten Insel fuehrten die Eroberer ihre Gemeindeverfassung ein und gaben, was noch zu verwalten blieb, den oertlichen Vornehmen in die Hand; was denn freilich schlimme Parteiungen und innere Zerwuerfnisse im Gefolge hatte. Noch unter dem ersten Statthalter scheint das gesamte Flachland bis etwa zum Humber hinauf in roemische Gewalt gekommen zu sein; die Icener zum Beispiel haben bereits ihm sich ergeben. Aber nicht bloss mit dem Schwert bahnten die Roemer sich den Weg. Unmittelbar nach der Einnahme wurden nach Camalodunum Veteranen gefuehrt und die erste Stadt roemischer Ordnung und roemischen Buergerrechts, die “Claudische Siegeskolonie”, in Britannien gegruendet, bestimmt zur Landeshauptstadt. Unmittelbar nachher begann auch die Ausbeutung der britannischen Bergwerke, namentlich der ergiebigen Bleigruben; es gibt britannische Bleibarren aus dem sechsten Jahre nach der Invasion. Offenbar hat in gleicher Schleunigkeit der Strom roemischer Kaufleute und Industrieller sich ueber das neu geschlossene Gebiet ergossen; wenn Camalodunum roemische Kolonisten empfing, so bildeten anderswo im Sueden der Insel, namentlich an den warmen Quellen der Sulis (Bath), in Verulamium (St. Albans, nordwestlich von London) und vor allem in dem natuerlichen Emporium des Grossverkehrs, in Londinium an der Themsemuendung, bloss infolge des freien Verkehrs und der Einwanderung sich roemische Ortschaften, die bald auch formell staedtische Organisation erhielten. Die vordringende Fremdherrschaft machte nicht bloss in den neuen Abgaben und Aushebungen, sondern vielleicht mehr noch in Handel und Gewerbe ueberall sich geltend. Als Plautius nach vierjaehriger Verwaltung abberufen ward, zog er, der letzte Private, der zu solcher Ehre gelangt ist, triumphierend in Rom ein, und Ehren und Orden stroemten herab auf die Offiziere und Soldaten der siegreichen Legionen; dem Kaiser wurden in Rom und danach in anderen Staedten Triumphbogen errichtet wegen des “ohne irgendwelche Verluste” errungenen Sieges; der kurz vor der Invasion geborene Kronprinz erhielt anstatt des grossvaeterlichen den Namen Britannicus. Man wird hierin die unmilitaerische, der Siege mit Verlust entwoehnte Zeit und die der politischen Altersschwaeche angemessene Ueberschwenglichkeit erkennen duerfen; aber wenn die Invasion Britanniens vom militaerischen Standpunkt aus nicht viel bedeuten will, so muss doch den leitenden Maennern das Zeugnis gegeben werden, dass sie das Werk in energischer und folgerichtiger Weise angriffen und die peinliche und gefahrvolle Zeit des Uebergangs von der Unabhaengigkeit zur Fremdherrschaft in Britannien eine ungewoehnlich kurze war. ————————————————— ^8 Die nur auf bedenkliche Emendationen gestuetzte Identifikation der Boduner und Catuellaner bei Dio 60, 20 mit Voelkerschaften aehnlichen Namens bei Ptolemaeos kann nicht richtig sein; diese ersten Kaempfe muessen zwischen der Kueste und der Themse stattgefunden haben. ————————————————— Nach dem ersten raschen Erfolg freilich entwickelten auch hier sich die Schwierigkeiten und selbst die Gefahren, welche die Besetzung der Insel nicht bloss den Eroberten brachte, sondern auch den Eroberern. Des Flachlandes war man Herr, aber nicht der Berge noch des Meeres. Vor allem der Westen machte den Roemern zu schaffen. Zwar im aeussersten Suedwest, im heutigen Cornwall, hielt sich das alte Volkstum wohl mehr, weil die Eroberer sich um diese entlegene Ecke wenig kuemmerten, als weil es geradezu sich gegen sie auflehnte. Aber die Siluren im Sueden des heutigen Wales und ihre noerdlichen Nachbarn, die Ordoviker, trotzten beharrlich den roemischen Waffen; die den letzteren anliegende Insel Mona (Anglesey) war der rechte Herd der nationalen und religioesen Gegenwehr. Nicht die Bodenverhaeltnisse allein hemmten das Vordringen der Roemer; was Britannien fuer Gallien gewesen, das war jetzt fuer Britannien, und insbesondere fuer diese Westkueste, die grosse Insel Ivernia; die Freiheit drueben liess die Fremdherrschaft hueben nicht feste Wurzel fassen. Deutlich erkennt man an der Anlegung der Legionslager, dass die Invasion hier zum Stehen kam. Unter Plautius’ Nachfolger wurde das Lager fuer die vierzehnte Legion am Einfluss des Tern in den Severn bei Viroconium (Wroxeter, unweit Shrewsbury ^9) angelegt, vermutlich um dieselbe Zeit suedlich davon das von Isca (Caerleon = castra legionis) fuer die zweite, noerdlich das von Deva (Chester = castra) fuer die zwanzigste; diese drei Lager schlossen das walisische Gebiet ab gegen Sueden, Norden und Westen und schuetzten also das befriedete Land gegen das frei gebliebene Gebirge. Dorthin warf sich, nachdem seine Heimat roemisch geworden war, der letzte Fuerst von Camalodunum, Caratacus. Er wurde von dem Nachfolger des Plautius, Publius Ostorius Scapula, im Ordovikergebiet geschlagen und bald darauf von den geschreckten Briganten, zu denen er gefluechtet war, den Roemern ausgeliefert (51) und mit all den Seinen nach Italien gefuehrt. Verwundert fragte er, als er die stolze Stadt sah, wie es die Herren solcher Palaeste nach den armen Huetten seiner Heimat verlangen koenne. Aber damit war der Westen keineswegs bezwungen; die Siluren vor allem verharrten in hartnaeckiger Gegenwehr, und dass der roemische Feldherr ankuendigte, sie bis auf den letzten Mann ausrotten zu wollen, trug auch nicht dazu bei, sie fuegsamer zu machen. Der unternehmende Statthalter Gaius Suetonius Paullinus versuchte einige Jahre spaeter (61), den Hauptsitz des Widerstandes, die Insel Mona, in roemische Gewalt zu bringen, und trotz der wuetenden Gegenwehr, welche ihn hier empfing und in der die Priester und die Weiber vorangingen, fielen die heiligen Baeume, unter denen mancher roemische Gefangene geblutet hatte, unter den Aexten der Legionaere. Aber aus der Besetzung dieses letzten Asyls der keltischen Priesterschaft entwickelte sich eine gefaehrliche Krise in dem unterworfenen Gebiete selbst, und die Eroberung Monas zu vollenden, war dem Statthalter nicht beschieden.
—————————————————- ^9 Tac. ann. 12, 31: (P. Ostorius) cuncta castris ad . . . ntonam (ueberliefert ist castris antonam) et Sabrinam fluvios cohibere parat. So ist hier herzustellen, nur dass der sonst nicht ueberlieferte Name des Flusses Tern nicht ergaenzt werden kann. Die einzigen in England gefundenen Inschriften von Soldaten der 14. Legion, die unter Nero England verliess, sind in Wroxeter, dem sogenannten “englischen Pompeii” zum Vorschein gekommen. Da dort sich auch die Grabschrift eines Soldaten der 20. gefunden hat, war das von Tacitus bezeichnete Lager vielleicht anfaenglich beiden Legionen gemeinsam und ist die 20. erst spaeter nach Deva gekommen. Dass das Lager bei Isca gleich nach der Invasion angelegt ward, geht aus Tac. ann. 12, 32 u. 38 hervor. —————————————————- Auch in Britannien hatte die Fremdherrschaft die Probe der nationalen Insurrektion zu bestehen. Was Mithradates in Kleinasien, Vercingetorix bei den Kelten des Kontinents, Civilis bei den unterworfenen Germanen unternahmen, das versuchte bei den Inselkelten eine Frau, die Gattin eines jener von Rom bestaetigten Vasallenfuersten, die Koenigin der Icener, Boudicca. Ihr verstorbener Gatte hatte, um seiner Frau und seiner Toechter Zukunft zu sichern, seine Herrschaft dem Kaiser Nero vermacht, sein Vermoegen zwischen ihm und den Seinigen geteilt. Der Kaiser nahm die Erbschaft an, aber was ihm nicht zufallen sollte, dazu; die fuerstlichen Vettern wurden in Ketten gelegt, die Witwe geschlagen, die Toechter in schaendlicherer Weise misshandelt. Dazu kam andere Unbill des spaeteren Neronischen Regiments. Die in Camalodunum angesiedelten Veteranen jagten die frueheren Besitzer von Haus und Hof, wie es ihnen beliebte, ohne dass die Behoerden dagegen einschritten. Die vom Kaiser Claudius verliehenen Geschenke wurden als widerrufliche Gaben eingezogen. Roemische Minister, die zugleich Geldgeschaefte machten, trieben auf diesem Wege die britannischen Gemeinden eine nach der anderen zum Bankrott. Der Moment war guenstig. Der mehr tapfere als vorsichtige Statthalter Paullinus befand sich, wie gesagt wurde, mit dem Kern der roemischen Armee auf der entlegenen Insel Mona, und dieser Angriff auf den heiligsten Sitz der nationalen Religion erbitterte ebenso die Gemueter, wie er dem Aufstande den Weg ebnete. Der alte gewaltige Keltenglaube, der den Roemern so viel zu schaffen gemacht, loderte noch einmal, zum letzten Mal, in maechtiger Flamme empor. Die geschwaechten und weitgetrennten Legionslager im Westen und im Norden gewaehrten dem ganzen Suedosten der Insel mit seinen aufbluehenden roemischen Staedten keinen Schutz. Vor allem die Hauptstadt Camalodunum war voellig wehrlos, eine Besatzung nicht vorhanden, die Mauern nicht vollendet, wohl aber der Tempel ihres kaiserlichen Stifters, des neuen Gottes Claudius. Der Westen der Insel, wahrscheinlich niedergehalten durch die dort stehenden Legionen, scheint sich bei der Schilderhebung nicht beteiligt zu haben und ebensowenig der nicht botmaessige Norden; aber, wie das bei keltischen Aufstaenden oefter vorgekommen ist, es erhob sich im Jahre 61 auf die vereinbarte Losung das ganze uebrige unterworfene Gebiet auf einen Schlag gegen die Fremden, voran die aus ihrer Hauptstadt vertriebenen Trinovanten. Der zweite Befehlshaber, der zur Zeit den Statthalter vertrat, der Prokurator Decianus Catus, hatte im letzten Augenblick, was er von Soldaten hatte, dieser zum Schutz gesandt: es waren 200 Mann. Sie wehrten sich mit den Veteranen und den sonstigen waffenfaehigen Roemern zwei Tage im Tempel; dann wurden sie ueberwaeltigt und was in der Stadt roemisch war, umgebracht bis auf den letzten. Das gleiche Schicksal erfuhr das Hauptemporium des roemischen Handels, Londinium, und eine dritte aufbluehende roemische Stadt, Verulamium (St. Albans, nordwestlich von London), nicht minder die auf der Insel zerstreuten Auslaender – es war eine nationale Vesper, gleich jener Mithradatischen und die Zahl der Opfer – angeblich 70000 – nicht geringer. Der Prokurator gab die Sache Roms verloren und fluechtete nach dem Kontinent. Auch die roemische Armee ward in die Katastrophe verwickelt. Eine Anzahl zerstreuter Detachements und Besatzungen erlag den Angriffen der Insurgenten. Quintus Petillius Cerialis, der im Lager von Lindum den Befehl fuehrte, marschierte auf Camalodunum mit der neunten Legion; zur Rettung kam er zu spaet und verlor, von ungeheurer Uebermacht angegriffen, in der Feldschlacht sein gesamtes Fussvolk; das Lager erstuermten die Briganten. Es fehlte nicht viel, dass den obersten Feldherrn das gleiche Schicksal erreichte. Eilig zurueckkehrend von der Insel Mona, rief er die bei Isca stehende zweite Legion heran; aber sie gehorchte dem Befehle nicht und mit nur etwa 10000 Mann musste Paullinus den ungleichen Kampf gegen das zahllose und siegreiche Insurgentenheer aufnehmen. Wenn je der Soldat die Fehler der Fuehrung gutgemacht hat, so war es an dem Tage, wo dieser kleine Haufen, hauptsaechlich die seitdem gefeierte vierzehnte Legion, wohl zu seiner eigenen Ueberraschung den vollen Sieg erfocht und die roemische Herrschaft in Britannien abermals festigte; viel fehlte nicht, dass Paullinus Name neben dem des Varus genannt worden waere. Aber der Erfolg entscheidet, und hier blieb er den Roemern ^10. Der schuldige Kommandant der ausgebliebenen Legion kam dem Kriegsgericht zuvor und stuerzte sich in sein Schwert. Die Koenigin Boudicca trank den Giftbecher. Der uebrigens tapfere Feldherr wurde zwar nicht in Untersuchung gezogen, wie anfangs die Absicht der Regierung zu sein schien, aber bald unter einem schicklichen Vorwand abgerufen. —————————————————- ^10 Eine schlechtere Relation als die des Tacitus ueber diesen Krieg (14, 31-39) ist selbst bei diesem unmilitaerischsten aller Schriftsteller kaum aufzufinden. Wo die Truppen standen und wo die Schlachten geliefert wurden, hoeren wir nicht dafuer aber von Zeichen und Wundern genug und leere Worte nur zu viel. Die wichtigen Tatsachen, die im Leben des Agricola (31) erwaehnt werden, fehlen im Hauptbericht insonderheit die Erstuermung des Lagers. Dass Paullinus, von Mona kommend, nicht bedacht ist, die Roemer im Suedosten zu retten, sondern seine Truppen Zu vereinigen, begreift sich, aber nicht, warum er, wenn er Londinium aufopfern wollte, deswegen dahin marschiert. Ist er wirklich dorthin gekommen, so kann er nur mit einer persoenlichen Bedeckung, ohne das Korps, das er auf Mona bei sich gehabt, dort erschienen sein; was freilich auch keinen Sinn hat. Das Gros der roemischen Truppen, sowohl der von Mona zurueckgefuehrten wie der sonst noch vorhandenen, kann nach Rufreibung der 9. Legion nur auf der Linie Deva – Viroconium – Isca gestanden haben; Paullinus schlug die Schlacht mit den beiden in den beiden ersten dieser Lager stehenden Legionen der 14. und der (unvollstaendigen) 20. Dass Paullinus schlug, weil er schlagen masste, sagt Dio (62, 1-12), und wenngleich dessen Erzaehlung sonst auch nicht gebraucht werden kann, um die des Tacitus zu bessern, so scheint dies durch die Sachlage selbst gefordert.
—————————————————- Die Unterwerfung der westlichen Teile der Insel wurde von Paullinus Nachfolgern nicht sogleich fortgesetzt. Erst der tuechtige Feldherr Sextus Iulius Frontinus unter Vespasian zwang die Siluren zur Anerkennung der roemischen Herrschaft; sein Nachfolger Gnaeus Iulius Agricola fuehrte nach harten Kaempfen mit den Ordovikern das aus, was Paullinus nicht erreicht hatte, und besetzte im Jahre 78 die Insel Mona. Nachher ist von aktivem Widerstand in diesen Gegenden nicht die Rede; das Lager von Viroconium konnte, wahrscheinlich um diese Zeit, aufgehoben, die dadurch frei gewordene Legion im noerdlichen Britannien verwendet werden. Aber die anderen beiden Legionslager von Isca und von Deva sind noch bis in die diocletianische Zeit an Ort und Stelle geblieben und erst in dem spaeteren Besatzungsstand verschwunden. Wenn dabei auch politische Ruecksichten mitgewirkt haben moegen, so ist doch der Widerstand des Westens wahrscheinlich, vielleicht gestuetzt auf Verbindungen mit Ivernia, auch spaeter noch fortgefuehrt worden. Dafuer spricht ferner das voellige Fehlen roemischer Spuren in dem inneren Wales und das daselbst bis auf den heutigen Tag sich behauptende keltische Volkstum.
Im Norden bildete den Mittelpunkt der roemischen Stellung, oestlich von Viroconium das Lager der neunten spanischen Legion in Lindum (Lincoln). Zunaechst mit diesem beruehrte sich in Nordengland das maechtigste Fuerstentum der Insel, das der Briganten (Yorkshire); es hatte sich nicht eigentlich unterworfen, aber die Koenigin Cartimandus suchte doch mit den Eroberern Frieden zu halten und erwies sich ihnen gefuegig. Die Partei der Roemerfeinde hatte hier im Jahre 50 loszuschlagen versucht, aber der Versuch war rasch unterdrueckt worden. Caratacus, im Westen geschlagen, hatte gehofft, seinen Widerstand im Norden fortfuehren zu koennen, aber die Koenigin lieferte ihn, wie schon gesagt ward, den Roemern aus. Diese inneren Zwistigkeiten und haeuslichen Haendel muessen dann in dem Aufstand gegen Paullinus, bei dem wir die Briganten in einer fuehrenden Stellung fanden und der eben die Legion des Nordens mit seiner ganzen Schwere traf, mit im Spiel gewesen sein. Indes war die roemische Partei der Briganten einflussreich genug, um nach Niederwerfung des Aufstandes die Wiederherstellung des Regiments der Cartimandus zu erlangen. Aber einige Jahre nachher bewirkte die Patriotenpartei daselbst, getragen durch die Losung des Abfalles von Rom, welche waehrend des Buergerkrieges nach Neros Katastrophe den ganzen Westen erfuellte, eine neue Schilderhebung der Briganten gegen die Fremdherrschaft, an deren Spitze Cartimandus’ frueherer, von ihr beseitigter und beleidigter Gemahl, der kriegserfahrene Venutius stand; erst nach laengeren Kaempfen bezwang Petillius Cerialis das maechtige Volk, derselbe, der unter Paullinus nicht gluecklich gegen eben diese Briten gefochten hatte, jetzt einer der namhaftesten Feldherren Vespasians und der erste von ihm ernannte Statthalter der Insel. Der allmaehlich nachlassende Widerstand des Westens machte es moeglich, die eine der drei bisher dort stationierten Legionen mit der in Lindum stehenden zu vereinigen und das Lager selbst von Lindum nach dem Hauptort der Briganten, Eburacum (York), vorzuschieben. Indes so lange der Westen ernstliche Gegenwehr leistete, geschah im Norden nichts weiter fuer die Ausdehnung der roemischen Grenze; am Kaledonischen Walde, sagt ein Schriftsteller vespasianischer Zeit stocken seit dreissig Jahren die roemischen Waffen. Erst Agricola griff, nachdem er im Westen fertig war, die Unterwerfung auch des Nordens energisch an. Er schuf vor allem sich eine Flotte, ohne welche die Verpflegung der Truppen in diesen, wenige Hilfsmittel darbietenden Gebirgen unmoeglich gewesen sein wuerde. Gestuetzt auf diese gelangte er unter Titus (80) bis an die Tava-Bucht (Firth of Tay) in die Gegend von Perth und Dundee und wandte die drei folgenden Feldzuege daran, die weiten Landstriche zwischen dieser Bucht und der bisherigen roemischen Grenze an beiden Meeren genau zu erkunden, den oertlichen Widerstand ueberall zu brechen und an den geeigneten Stellen Verschanzungen anzulegen, wobei namentlich die natuerliche Verteidigungslinie, welche durch die beiden tief einschneidenden Buchten Clota (Firth of Clyde) bei Glasgow und Bodotria (Firth of Forth) bei Edinburgh gebildet wird, zum Rueckhalt ausersehen ward. Dieser Vorstoss rief das gesamte Hochland unter die Waffen; aber die gewaltige Schlacht, welche die vereinigten kaledonischen Staemme den Legionen zwischen den beiden Buchten Forth und Tay an den Graupischen Bergen lieferten, endigte mit dem Siege Agricolas. Nach seiner Ansicht musste die Unterwerfung der Insel, einmal begonnen, auch vollendet, ja auch auf Ivernia ausgedehnt werden; und es liess sich dafuer mit Ruecksicht auf das roemische Britannien geltend machen, was mit Ruecksicht auf Gallien die Besetzung der Insel herbeigefuehrt hatte; hinzu kam, dass bei energischer Durchfuehrung der Besetzung des gesamten Inselkomplexes der Aufwand an Menschen und Geld fuer die Zukunft wahrscheinlich sich verringert haben wuerde. Die roemische Regierung folgte diesen Ratschlaegen nicht. Wieweit bei der Rueckberufung des siegreichen Feldherrn im Jahre 85, der uebrigens laenger, als sonst der Fall zu sein pflegte, im Amte geblieben war, persoenliche und gehaessige Motive mitgewirkt haben, muss dahingestellt bleiben; das Zusammentreffen der letzten Siege des Generals in Schottland und der ersten Niederlagen des Kaisers im Donauland war allerdings in hohem Grade peinlich. Aber fuer das Einstellen der Operationen in Britannien ^11 und fuer die, wie es scheint, damals erfolgte Abberufung einer der vier Legionen, mit denen Agricola seine Feldzuege ausgefuehrt hatte, nach Pannonien, gibt die damalige militaerische Lage des Staats, die Ausdehnung der roemischen Herrschaft auf dem rechten Rheinufer in Obergermanien und der Ausbruch der gefaehrlichen Kriege in Pannonien, eine voellig hinreichende Erklaerung. Das freilich ist damit nicht erklaert, warum hiermit dem Vordringen gegen Norden ueberhaupt ein Ziel gesetzt und Nordschottland sowohl wie Irland sich selber ueberlassen wurden. Dass seitdem die Regierung, nicht wegen Zufaelligkeiten der augenblicklichen Lage, sondern ein fuer allemal von der Vorschiebung der Reichsgrenze absah und daran bei allem Wechsel der Persoenlichkeiten festhielt, lehrt die gesamte spaetere Geschichte der Insel und lehren insbesondere die gleich zu erwaehnenden muehsamen und kostspieligen Wallbauten. Ob sie im rechten Interesse des Staates auf die Vollendung der Eroberung verzichtet hat, ist eine andere Frage. Dass die Reichsfinanzen bei dieser Erweiterung der Grenzen nur einbuessen wuerden, wurde auch jetzt ebenso geltend gemacht ^12, wie frueher gegen die Besetzung der Insel selbst, konnte aber freilich nicht entscheiden. Militaerisch durchfuehrbar war die Besetzung so, wie Agricola sie gedacht hatte, ohne Zweifel ohne wesentliche Schwierigkeit. Aber ins Gewicht mochte die Erwaegung fallen, dass die Romanisierung der noch freien Gebiete grosse Schwierigkeit bereitet haben wuerde wegen der Stammesverschiedenheit. Die Kelten im eigentlichen England gehoerten durchaus zu denen des Festlands; Volksname, Glaube, Sprache waren beiden gemeinsam. Wenn die keltische Nationalitaet des Kontinents einen Rueckhalt an der Insel gefunden hatte, so griff umgekehrt die Romanisierung Galliens notwendig auch nach England hinueber, und diesem vornehmlich verdankte es Rom, dass in so ueberraschender Schnelligkeit Britannien sich gleichfalls romanisierte. Aber die Bewohner Irlands und Schottlands gehoerten einem anderen Stamme an und redeten eine andere Sprache; ihr Gadhelisch verstand der Brite wahrscheinlich so wenig wie der Germane die Sprache der Skandinaven. Als Barbaren wildester Art werden die Kaledonier – mit den Ivernern haben die Roemer sich kaum beruehrt – durchaus geschildert. Andererseits waltete der Eichenpriester (Derwydd, Druida) seines Amtes an der Rhone wie in Anglesey, aber nicht auf der Insel des Westens noch in den Bergen des Nordens. Wenn die Roemer den Krieg hauptsaechlich gefuehrt hatten, um das Druidengebiet ganz in ihre Gewalt zu bringen, so war dieses Ziel einigermassen erreicht. Ohne Frage haetten in anderer Zeit alle diese Erwaegungen die Roemer nicht vermocht, auf die so nahe gerueckte Seegrenze im Norden zu verzichten und wenigstens Kaledonien waere besetzt worden. Aber weitere Landschaften mit roemischem Wesen zu durchdringen, vermochte das damalige Rom nicht mehr; die zeugende Kraft und der vorschreitende Volksgeist waren aus ihm entwichen. Wenigstens diejenige Eroberung, die nicht durch Verordnungen und Maersche erzwungen werden kann, waere, wenn man sie versucht haette, schwerlich gelungen.
—————————————————————– ^11 Tac. hist. I, 2 fasst das Resultat zusammen in die Worte perdomita Britannia et statim missa.
^12 Der kaiserliche Finanzbeamte unter Pius, Appian (prooem. 5), bemerkt, dass die Roemer den besten Teil (to kratiston) der britischen Insel besetzt haetten oiden t/e/s all/e/s deomenoi. oy’ gar e?phoros aytois estin oyd’ /e/n echoysin. Das ist die Antwort der Gouvernementalen an Agricola und seine Meinungsgenossen.
—————————————————————– Es kam also darauf an, die Nordgrenze fuer die Verteidigung in geeigneter Weise einzurichten; und darum dreht sich fortan hier die militaerische Arbeit. Der militaerische Mittelpunkt blieb Eburacum. Das weite, von Agricola besetzte Gebiet wurde festgehalten und mit Kastellen belegt, die als vorgeschobene Posten fuer das zurueckliegende Hauptquartier dienten; wahrscheinlich ist der groesste Teil der nicht legionaeren Truppen zu diesem Zweck verwendet worden. Spaeter folgte die Anlage zusammenhaengender Befestigungslinien. Die erste der Art ruehrt von Hadrian her und ist auch insofern merkwuerdig, als sie in gewissem Sinn bis auf den heutigen Tag noch besteht und vollstaendiger bekannt ist als irgendeine andere der grossen militaerischen Bauten der Roemer. Es ist genau genommen eine von Meer zu Meer in der Laenge von etwa 16 deutschen Meilen westlich an den Solway Firth, oestlich an die Muendung der Tyne fuehrende, nach beiden Seiten hin festungsmaessig geschuetzte Heerstrasse. Die Verteidigung bildet noerdlich eine gewaltige urspruenglich mindestens 16 Fuss hohe und 8 Fuss dicke, an beiden Aussenseiten aus Quadersteinen erbaute, dazwischen mit Bruchsteinen und Moertel ausgefuellte Mauer, vor welcher ein nicht minder imponierender, 9 Fuss tiefer, oben bis 34 Fuss und mehr breiter Graben sich hinzieht. Gegen Sueden ist die Strasse geschuetzt durch zwei parallele, noch jetzt 6 bis 7 Fuss hohe Erddaemme, zwischen denen ein 7 Fuss tiefer Graben mit einem nach Sueden aufgehoehten Rande sich hinzieht, so dass die Anlage von Damm zu Damm eine Gesamtbreite von 24 Fuss hat. Zwischen der Steinmauer und den Erddaemmen, auf der Strasse selbst, liegen die Lagerplaetze und Wachthaeuser, naemlich in der Entfernung einer kleinen Meile voneinander die Kohortenlager, angelegt als selbstaendig wehrfaehige Kastelle mit Toroeffnungen nach allen vier Seiten; zwischen je zweien derselben eine kleinere Anlage aehnlicher Art mit Ausfallstoren nach Norden und Sueden; zwischen je zweien von diesen vier kleinere Wachthaeuser in Rufweite voneinander. Diese Anlage von grossartiger Soliditaet, welche als Besatzung 10000 bis 12000 Mann erfordert haben muss, bildete seitdem das Fundament der militaerischen Operationen im noerdlichen England. Eigentlicher Grenzwall war sie nicht; vielmehr haben nicht bloss die schon seit Agricolas Zeit weit darueber hinaus vorgeschobenen Posten daneben fortbestanden, sondern es ist spaeterhin, zuerst unter Pius, dann in umfassenderer Weise unter Severus gleichsam als Vorposten fuer den Hadrianswall ^13 die schon von Agricola mit einer Postenreihe besetzte, um die Haelfte kuerzere Linie vom Firth of Clyde zum Firth of Forth in aehnlicher, aber schwaecherer Weise befestigt worden. Der Anlage nach war diese Linie von der Hadrianischen nur insofern verschieden, als sie sich auf einen ansehnlichen Erdwall, mit Graben davor und Strasse dahinter, beschraenkte, nach Sueden also nicht zur Verteidigung eingerichtet war; im uebrigen schloss auch sie eine Anzahl kleinerer Lager in sich. An dieser Linie endigten die roemischen Reichsstrassen ^14, und obwohl auch jenseits dieser noch roemische Posten standen – der noerdlichste Punkt, auf dem der Grabstein eines roemischen Soldaten sich gefunden hat, ist Ardoch zwischen Stirling und Perth -, kann die Grenze der Zuege Agricolas, der Firth of Tay, auch spaeter noch als die Grenze des Roemischen Reiches angesehen werden. ———————————————— ^13 Die Meinung, dass der noerdliche Wall an die Stelle des suedlichen getreten sei, ist ebenso verbreitet wie unhaltbar; die Kohortenlager am Hadrianswall, wie sie uns die Inschriften des 2. Jahrhunderts zeigen, bestanden im wesentlichen unveraendert noch am Ende des 3. (denn dieser Epoche gehoert der betreffende Abschnitt der Notitia an). Beide Anlagen haben nebeneinander bestanden, seit die juengere hinzugetreten war; auch zeigt die Masse der Denkmaeler am Severuswall mit Evidenz, dass er bis zum Ende der roemischen Herrschaft in Britannien besetzt geblieben ist. Der Bau des Severus kann nur auf die noerdliche Anlage bezogen werden. Einmal war die Anlage des Hadrian von der Art, dass eine etwaige Wiederherstellung unmoeglich, wie dies von der Severischen gesagt wird, als Neubau aufgefasst werden konnte; aber die Anlage des Pius war ein blosser Erddamm (murus cespiticius, vita c. 5) und unterliegt hier die gleiche Annahme minderem Bedenken. Zweitens passt die Laenge des Severuswalles von 32 Milien (Aur. Vict. epit. 20; die unmoegliche Zahl 132 ist ein Schreibfehler unserer Handschriften des Eutropius 8, 19 – wo Paulus das Richtige bewahrt hat -, der dann von Hier. chron. a. Abr. 2221, Oros. hist. 7, 17, 7 und Cassiod. chron. zum Jahre 207 uebernommen worden ist) nicht auf den Hadrianswall von 80 Milien; aber die Anlage des Pius, die nach den inschriftlichen Erhebungen etwa 40 Milien lang war, kann wohl gemeint sein, da die Endpunkte der Severischen Anlage an den beiden Meeren recht wohl andere und naeher gelegene gewesen sein koennen. Wenn endlich nach Dio 76,12 von der Mauer, welche die Insel in zwei Teile teilt, noerdlich die Kaledonien suedlich die Maeaten wohnen, so sind zwar die Wohnsitze der letzteren sonst nicht bekannt (vgl. Dio 75, 5), koennen aber unmoeglich auch nach der Schilderung, die Dio von ihrer Gegend macht, suedlich vom Hadrianswall angesetzt und die der Kaledonier bis an diesen erstreckt werden. Also ist hier die Linie Glasgow-Edinburgh gemeint.
^14 A limite id est a vallo heisst es im Itinerarium, p. 464. ———————————————— Weniger als von diesen imponierenden Verteidigungsanlagen wissen wir von der Anwendung, die sie gefunden haben und ueberhaupt den spaeteren Ereignissen auf diesem fernen Kriegsschauplatz. Unter Hadrian ist eine schwere Katastrophe hier eingetreten, allem Anschein nach ein Ueberfall des Lagers von Eburacum und die Vernichtung der dort stehenden Legion ^15, derselben neunten, die im Boudiccakrieg so ungluecklich gefochten hatte. Wahrscheinlich ist diese nicht durch feindlichen Einfall herbeigefuehrt, sondern durch den Abfall der noerdlichen als reichsuntertaenig geltenden Voelkerschaften, insbesondere der Briganten. Damit wird in Verbindung zu bringen sein, dass der Hadrianswall ebenso gegen Sueden wie gegen Norden Front macht; offenbar war er auch dazu bestimmt, das nur oberflaechlich unterworfene Nordengland niederzuhalten. Auch unter Hadrians Nachfolger Pius haben hier Kaempfe stattgefunden, an denen die Briganten wieder beteiligt waren; doch laesst sich Genaueres nicht erkennen ^16. Der erste ernstliche Angriff auf diese Reichsgrenze und die erste nachweisliche Ueberschreitung der Mauer – ohne Zweifel derjenigen des Pius – erfolgte unter Marcus und weiter unter Commodus; wie denn auch Commodus der erste Kaiser ist, der den Siegesbeinamen des Britannikers angenommen hat, nachdem der tuechtige General Ulpius Marcellus die Barbaren zu Paaren getrieben hatte. Aber das Sinken der roemischen Macht tritt seitdem hier ebenso hervor wie an der Donau und am Euphrat. In den unruhigen Anfangsjahren des Severus hatten die Kaledonier ihre Zusage, sich nicht mit den roemischen Untertanen einzulassen, gebrochen, und, auf sie gestuetzt, ihre suedlichen Nachbarn, die Maeaten, den roemischen Statthalter Lupus genoetigt, gefangene Roemer mit grossen Summen zu loesen. Dafuer traf sie Severus’ schwerer Arm nicht lange vor seinem Tode; er drang in ihr eigenes Gebiet ein und zwang sie zur Abtretung betraechtlicher Strecken ^17, aus welchen freilich, nachdem der alte Kaiser im Jahre 211 im Lager von Eburacum gestorben war, seine Soehne die Besatzungen sofort freiwillig zurueckzogen, um der laestigen Verteidigung ueberhoben zu sein. ———————————————– ^15 Der Hauptbeweis dafuer liegt in dem unzweifelhaft bald nach dem Jahre 108 (CIL VII, 241) eintretenden Verschwinden dieser Legion und ihrer Ersetzung durch die 6. victrix. Die beiden Notizen, welche auf dies Ereignis hindeuten (Fronto p. 217 Naher: Hadriano imperium obtinente quantum militum a Britannis caesum? Vita 5: Britanni teneri sub Romana dicione non poterant) sowie die Anspielung bei Iuvenal (14, 196: castella Brigantum) fuehren auf einen Aufstand, nicht auf einen Einfall.
^16 Wenn Pius nach Pausanias (8, 43, 4) apetemeto t/o/n en Britannia Brigant/o/n t/e/n poll/e/n oti epesbainein kai o?toi s?n oplois /e/rxan eis t/e/n Genoynian moiran (unbekannt, vielleicht, wie O. Hirschfeld vorschlaegt, die Brigantenstadt Vinovia) ypkooys R/o/mai/o/n, so folgt daraus nicht, dass es auch Briganten in Kaledonien gab, sondern dass die Briganten in Nordengland damals das befriedete Brittenland heimsuchten und darum ein Teil ihres Gebiets konfisziert ward.
^17 Dass er die Absicht gehabt hat, den ganzen Norden in roemische Gewalt zu bringen (Dio 76, 13), vertraegt sich weder recht mit der Abtretung (a. a. O.) noch mit dem Mauerbau und ist wohl ebenso fabelhaft wie der roemische Verlust von 50000 Mann, ohne dass es auch nur zum Kampfe kam. ———————————————– Aus dem dritten Jahrhundert wird von den Schicksalen der Insel kaum etwas gemeldet. Da keiner der Kaiser, bis auf Diocletian und seine Kollegen, den Siegernamen von der Insel gefuehrt hat, moegen ernstere Kaempfe hier nicht stattgefunden haben, und wenn auch in dem Landstrich zwischen den Waellen des Pius und des Hadrianus das roemische Wesen wohl nie festen Fuss gefasst hat, scheint doch wenigstens der Hadrianswall was er sollte, auch damals geleistet und hinter ihm die fremdlaendische Zivilisation gesichert sich entwickelt zu haben. In der Zeit Diocletians finden wir den Bezirk zwischen beiden Waellen geraeumt, aber den Hadrianswall nach wie vor besetzt und das uebrige roemische Heer zwischen ihm und dem Hauptquartier Eburacum kantonierend zur Abwehr der seitdem oft erwaehnten Raubzuege der Kaledonier, oder wie sie jetzt gewoehnlich heissen, der Taetowierten (picti) und der von Ivernia her einstroemenden Skoten. Eine staendige Flotte haben die Roemer in Britannien gehabt; aber wie das Seewesen immer die schwache Seite der roemischen Wehrordnung geblieben ist, war auch die britische Flotte nur unter Agricola voruebergehend von Bedeutung. Wenn, wie dies wahrscheinlich ist, die Regierung darauf gerechnet hatte, nach erfolgter Besetzung der Insel den groessten Teil der dorthin gesandten Truppen zuruecknehmen zu koennen, so erfuellte diese Hoffnung sich nicht: nur eine der entsendeten vier Legionen ist, wie wir sahen, unter Domitian abberufen worden; die drei anderen muessen unentbehrlich gewesen sein, denn es ist nie der Versuch gemacht worden, sie zu verlegen. Dazu kamen die Auxilien, die zu dem wenig einladenden Dienst auf der abgelegenen Nordseeinsel dem Anschein nach im Verhaeltnis staerker als die Buergertruppen herangezogen wurden. In der Schlacht am Graupischen Berge im Jahre 84 fochten ausser den vier Legionen 8000 zu Fuss und 3000 zu Pferde von den Hilfssoldaten. Fuer die Zeit von Traian und Hadrian, wo von diesen in Britannien sechs Alen und 21 Kohorten, zusammen etwa 15000 Mann standen, wird man das gesamte britannische Heer auf etwa 30000 Mann anzuschlagen haben. Britannien war von Haus aus ein Kommandobezirk ersten Ranges, den beiden rheinischen und dem syrischen vielleicht im Rang, aber nicht an Bedeutung nachstehend, gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts wahrscheinlich die angesehenste aller Statthalterschaften. Es lag nur an der weiten Entfernung, dass die britannischen Legionen in der Korpsparteiung der frueheren Kaiserzeit in zweiter Reihe erscheinen; bei dem Korpskrieg nach dem Erloeschen des Antoninischen Hauses fochten sie in der ersten. Darum aber war es auch eine der Konsequenzen des Sieges des Severus, dass die Statthalterschaft geteilt ward. Seitdem standen die beiden Legionen von Isca und Deva unter dem Legaten der oberen, die eine von Eburacum und die Truppen an den Waellen, also die Hauptmasse der Auxilien, unter dem der unteren Provinz ^18. Wahrscheinlich ist die Verlegung der ganzen Besatzung nach dem Norden, die, wie oben bemerkt ward, nach bloss militaerischen Ruecksichten wohl zweckmaessig gewesen sein wuerde, mit deswegen unterblieben, weil sie einem Statthalter drei Legionen in die Hand
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