Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht, daß diese Gebilde nur solange Einfluß besitzen, wie man in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber die letzteren überwunden, dann müssen die Schreckbilder schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der Katechet war derselben Meinung. Ich hatte ihm von meinen inneren Anfechtungen nichts erzählt, wie ich in rein persönlichen und familiären Dingen überhaupt nie einen Menschen zu meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte, aber doch andeutete. Er wurde aufmerksam. Einmal kam ich im Verlauf des Gespräches darauf, von meinen dunklen Gestalten und ihren quälenden Stimmen zu sprechen; aber ich tat so, als ob ich von einem Andern spräche, nicht von mir selbst. Da lächelte er. Er wußte gar wohl, wen ich meinte. Am nächsten Tage brachte er mir ein kleines Buch, dessen Titel lautete: “Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt.” Ich las es. Wie köstlich es war! Welche Aufklärung es gab! Nun wußte ich auf einmal, woran ich mit mir war! Nun mochten sie wiederkommen, diese Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu fürchten! Später, als er sich das Buch wieder holte, dankte ich ihm, der Freude entsprechend, die ich darüber empfand. Da fragte er mich:
“Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie erzählten?”
“Ja,” antwortete ich.
“Haben Sie alles verstanden?”
“Nein, noch nicht.”
“Dieses hier?”
Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: “Wer an diesen schweren Anfechtungen leidet, der hüte sich vor der Stelle, an der er geboren wurde. Er wohne niemals längere Zeit dort. Und vor allen Dingen, wenn er einmal heiratet, so hole er sich seine Frau ja nicht von diesem Orte!”
“Nein, das verstehe ich noch nicht,” gestand ich ein.
“Ich auch nicht,” gab er zu. “Aber denken Sie darüber nach!”
Dieses Nachdenken, welches er mir riet, führte mich zu keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein psychologische Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende Lehrerin, und diese Erfahrung mußte ich machen, ehe ich es begriff, leider, leider! — — —
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VI.
Bei der Kolportage.
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Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war ein stürmischer Frühlingstag, es regnete und schneite. Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei dieser Gelegenheit auch auf Münchmeyer zu sprechen und darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle.
“Das wird vergeblich sein,” sagte ich. “Dieser Mann will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt wahrscheinlich, daß ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man über mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken, der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber vernichten würde. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere Zwecke und Ziele!”
Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er nach dem nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes, neugebautes Haus und fragte mich:
“Kennst du das dort?”
“Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?”
“Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es heraus, wer es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus gekommen als du. Mutter wird es dir erzählen.”
“O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte sie, daß sie hierüber schweigen soll!”
Noch an demselben Abend erfuhr ich, daß der Ortswachtmeister in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in die Brust, daß man es wirklich keinem in dieser Weise behandelten Menschen übelnehmen kann, wenn er dadurch rückfällig wird. Er behauptete, zwei Jahre lang mein Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich täglich zu melden habe. Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der Tasche, um mir eine Vorlesung über meine Pflichten zu halten. Ich sagte kein Wort, sondern öffnete die Tür und gab ihm einen Wink, sich zu entfernen. Als er das nicht sofort tat, tat ich es. Ich ging zum Bürgermeister und machte kurzen Prozeß. Ich forderte einen Auslandspaß, und als mir die Auskunft wurde, daß dies nicht so ohne weiteres möglich sei, war ich schon am nächsten Tage ohne Paß unterwegs.
Im Zuge saß ich in einem sonst leeren Coupé. Es ging über die Grenze. Da begann es plötzlich in mir laut zu wüten und zu toben, zu schreien und zu brüllen wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte von Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen das kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber ließ es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren. Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach ganz von selber still werden.
Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der zweite Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um nach mir zu fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim. Ungefähr dreiviertel Jahre später erschien er wieder, und zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Dieses Mal fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine “Geographischen Predigten” zu schreiben und in Druck zu geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das war mir unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu tun haben wollte und weder ihn noch seine Lage kannte. Er erklärte sie mir. Er war ein klug berechnender, sehr beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so trefflicher Weise, daß ich beide nicht kurzer Hand abwies, sondern sie aussprechen ließ. Aber als sie das getan hatten, war ich — — — eingefangen, obgleich ich es nie für möglich gehalten hätte, daß ich jemals zu der “Kolportage” in irgend eine Geschäftsbeziehung treten könne.
Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er sprach von einem sogenannten “Schwarzen Buch” mit lauter Verbrechergeschichten, von einem sogenannten “Venustempel”, der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen Werken gleicher Art. Für heut aber handle es sich um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel “Der Beobachter an der Elbe” herausgebe. Gründer und Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter, tatkräftiger, aber in geschäftlicher Beziehung höchst gefährlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm überworfen, sei plötzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz ähnliches Blatt wie den “Beobachter an der Elbe” herausgeben, um ihn tot zu machen. “Wenn ich nicht sofort einen anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!” schloß Münchmeyer seinen Bericht.
“Aber wie kommen Sie da grad auf mich?” erkundigte ich mich. “Ich bin weder Redakteur noch in irgend einer Weise bewährt!”
“Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel von Ihnen gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, den ich brauche!”
“Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur Kolportage wird mich niemand bringen!”
“Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch Gutes mit ihr leisten. Was haben Sie denn vor?”
Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer; er begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten, die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom Niedrigen leben.
“Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!” rief er aus. “Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am besten und schnellsten bei mir!”
“Wieso?”
“Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!”
“Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr ,Beobachter an der Elbe’ nicht gefällt? Ich kenne ihn ja nicht.”
“So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein neues Blatt an seiner Stelle!”
“Was für eines?”
“Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke paßt!”
Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine Pläne ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht machte, auf seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine eigenen Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet die prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher Gehörige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde mir wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den [sic] Münchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend, aber es flossen mir ja außerdem derartige Honorare zu, daß ich ihn eigentlich gar nicht brauchte. Und ich war gar nicht gebunden. Er bot mir vierteljährige Kündigung an. Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es mir nicht gefiel.
“Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!” forderte er mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.
“Wann hätte ich anzutreten?” fragte ich.
“Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag darf uns nicht vorauskommen.”
“Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!”
“Ich weiß Alles. Das tut aber nichts.”
“Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!”
“Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut nichts. Grad weil dies so ist, sind Sie mir der Allerliebste! Schlagen Sie ein!”
Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab ich ihm den Handschlag; ich war — — — Redakteur.
Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst ein möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur Verfügung, und ich kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand den Verlag ganz ungemein häßlich. Das “Schwarze Buch” war geradezu empörend verbrecherisch. Der “Venustempel” zeigte sich als ein scheußliches, auf die niedrigste Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden Abbildungen. Beigegeben war eine Hausapotheke für Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die mir fast unglaublich erschienen. Diese schamlosen Hefte und Bilder lagen überall umher. Die Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier Töchter Münchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter, lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: “Was denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine Masse Geld!” Ich nahm mir vor, dies müsse entweder anders werden oder ich würde ohne Kündigung wieder fortgehen. Was den “Beobachter an der Elbe” betrifft, dessen Redaktion ich übernommen hatte, so sah ich gleich mit dem ersten Blick, daß er verschwinden müsse. Münchmeyer war so vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen das Blatt eingehen, und ich gründete drei andere an seiner Stelle, nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter, welche “Deutsches Familienblatt” und “Feierstunden” betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt für Berg-, Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die Ueberschrift “Schacht und Hütte” gab. Diese drei Blätter waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und Herzen zu bringen. In Beziehung auf “Schacht und Hütte” bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die großen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte. Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu Weihnachten ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg, mußte sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen.
In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß Münchmeyer von auswärtigen Behörden wegen der Verbreitung des “Venustempels” angezeigt wurde. Verfasser dieses Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, der nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht partizipieren ließ. Das Buch enthielt eine lüstern geschriebene Abteilung über “die Prostitution”, die zu Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte. Es wurde Münchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher, das weiß ich nicht, daß eine Haussuchung nach dem “Venustempel” stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhüten. Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir aber sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte ganze Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte jede verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der gefährdeten Bücher in die Privatwohnungen und verbarg sie sogar unter den Betten der Kinder. Das ging so schnell und gelang so gut, daß die Polizei, als sie sich einstellte, kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange hat man sich im Münchmeyerschen Hause des Schnippchens gerühmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener Behörde geschlagen worden sei. Ich erfuhr erst später, viel später hiervon und zog meine Konsequenzen. Meines Bleibens war hier nicht. Ich wollte aus dem Abgrund heraus, nicht aber wieder hinunter!
Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir, daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb, so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten Blätter mit der Ausführung meiner literarischen Pläne. Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser Beziehung mein Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften, nämlich auf die Indianer und auf die islamitischen Volker richten wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das “Deutsche Familienblatt” für die Indianer und die “Feierstunden” für den Orient. Im ersteren Blatte begann ich sofort mit “Winnetou”, nannte ihn aber einem anderen Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich war überzeugt, daß diese beiden Blätter eine Zukunft hätten, und ich bildete mir ein, für eine ganze Reihe von Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da gab es Raum und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen, die ich wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, weit ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine Anerkennung, eine Förderung bedeuten. Man machte mir nämlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag, die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten. Man lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Münchmeyers wohnen und bekam vom Vater der Frau Münchmeyer die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte grad das Gegenteil. Ich sagte “nein” und kündigte, denn nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, das Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das Vierteljahr vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei, schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und Münchmeyer, der Verleger des “Venustempels”, wegen dieses Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses Venustempels hineingeheiratet zu haben!
Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte einige Tage bei ihr und lernte da ein Mädchen kennen, welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte. Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, daß ich die sonderbare Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine häßliche Person schön und eine schöne häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie abstoßend wirken; ich kann nichts dafür. Und mit dem Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückwege kam ich über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die man bald als Barbier, bald als Feldscheer [sic], Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es war bekannt, daß er noch weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man für das schönste Mädchen der beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu, die war vom Dorfe, sie fragte, was das für eine Leiche sei.
“Pollmers Tochter,” antwortete eine der beiden ersten Frauen.
“Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die gestorben?”
“An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt Jedermann nur Unheil.”
“Was ist denn der Vater?”
“Der? Es hat ja keinen!”
“Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!”
Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind, der “Nickel”, der seine eigene Mutter getötet hatte und Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem nichts. Was weiß ein vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage, warum man sich vor einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß. Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegräbnis und an den unglückseligen “Nickel” dachte. Sobald ich später über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens, herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes noch etwas Fürchterliches an sich. Später begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen Manne, der ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen an der Hand führte. Das war der alte Pollmer mit seinem “Nickel”. Der Alte sah sehr ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar nichts an sich, was verriet, “daß seine Mutter an ihm gestorben war”. Dann habe ich es noch verschiedene Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang aufgeschossen, überaus schmal, ganz uninteressant, ein vollständig gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch nur unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer Freundinnen einige junge Mädchen vorgestellt, unter denen sich auch ein “Fräulein Pollmer” befand. Das war der “Nickel”; aber er sah ganz anders aus als früher. Er saß so still und bescheiden am Tisch, beschäftigte sich sehr eifrig mit einer Häkelei und sprach fast gar kein Wort. Das gefiel mir. Dieses Gesicht errötete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort über die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, gar nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das gefiel mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater, nämlich Pollmer, meine “Geographischen Predigten” gelesen hatte und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder Niederland, ob Wüste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer wohlhabenden oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer Webersohn und eigentlich viel weniger als das.
Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch erweckt, mich nach der Lektüre meiner “Predigten” nun auch persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus einem persönlichen in einen schriftlichen verwandelte. Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer hätte jemals gedacht, daß ich mit dem “Nickel”, der Einem “nur Unheil bringt”, in Korrespondenz treten würde!
Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten Eindruck. Sie sprach da von meinem “schönen, hochwichtigen Beruf”, von meinen “herrlichen Aufgaben”, von meinen “edlen Zielen und Idealen”. Sie zitierte Stellen aus meinen “Geographischen Predigten” und knüpfte Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es mir zuweilen so vor, als ob nur ein männlicher Verfasser, und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben könne, aber es war mir nicht möglich, sie eines solchen Betruges für fähig zu halten. Meine Schwester schrieb mir auch. Sie floß vom Lobe “Fräulein Pollmers” über und lud mich für die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu besuchen. Ich tat es. Ich vergaß, daß grad die Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und daß ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde, gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte, um das Seelenstudium des “Nickels”, der nun “mein Nickel” werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bühne zu sein pflegt. Nämlich als Pollmer erfuhr, daß ich wieder da sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum Mittagessen ein. Er war längst Witwer, und seine Familie bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wußte, daß er sich überall nur höchst lobend über mich aussprach, und daß meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten, mich für einen guten, vertrauenswürdigen Menschen zu halten. Aber ich wußte auch, daß er sein Enkelkind für das schönste und wertvollste Wesen der ganzen Umgegend hielt und daß er ganz märchenhafte Gedanken in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war der Ansicht, daß solche strahlende Beautés der größte Reichtum ihrer Familie seien und nur möglichst reich und vornehm verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte ich sehr wohl; und vielleicht war es die höchste Zeit, sie diesem Einflusse zu entziehen. Ich antwortete darum, als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen:
“Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter willen kommen darf.”
Er horchte überrascht auf.
“Um Emmas willen?” fragte er.
“Ja.”
“Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?”
“Allerdings.”
“Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist aber doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie dazu?”
“Sie ist einverstanden.”
Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot im Gesicht und rief aus:
“Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet! Die kann andere Männer kriegen. Die soll mir keinen Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von seiner Berühmtheit und nur vom Hunger lebt!”
“Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?” fragte ich. “Das würde ich gelten lassen!”
“Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das Zuchthaus gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz andere Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!”
Er rief das sehr laut aus.
“Oho!” antwortete ich.
“Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!”
Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck zu verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden. Es juckte mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: “Gut, so behalten Sie sie!” Aber dagegen bäumte sich das väterliche Erbteil in mir auf, der zähe, unbedachte Zorn, der niemals das Richtige tut. Ich brauste nun auch auf:
“Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!”
“Versuchen Sie das!”
“Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde es tun, wirklich tun!”
Da lachte er.
“Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte mir von jetzt an jeden Besuch!”
“Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt aber leben Sie wohl!”
“Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!”
Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte sie seiner Tochter. Die lauteten: “Entscheide zwischen mir und Deinem Großvater, Wählst Du ihn, so bleib; wählst Du mich, so komm sofort nach Dresden!” Dann reiste ich ab. Sie wählte mich; sie kam. Sie verließ den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie war. Das schmeichelte mir. Ich fühlte mich als Sieger. Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene, hochgebildete Töchter besaß. Durch den Umgang mit diesen Damen wurde es ihr möglich, sich Alles, was sie noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von da aus bekam sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft führen zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr anständige Honorare. Ich hatte mit meinen “Reiseerzählungen” begonnen, die sofort in Paris und Tours auch in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich herum; das imponierte sogar dem “alten Pollmer”. Er hörte von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf, nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber mitzubringen. Sie erfüllte ihm diesen Wunsch, und ich begleitete sie. Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach mir; ich aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse er persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!
Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung gesiegt, daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen bringen werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, daß diese Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen worden war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben. Ich hatte nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es war damals eine Zeit ganz eigenartiger innerer und äußerer Entwicklungen für mich. Ich schrieb und machte Reisen. Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr ich, kaum aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der “alte Pollmer” gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. Ich eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel gesagt. Er war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber weder sprechen noch sich bewegen. Sein Enkelkind saß in einer seitwärts liegenden Stube bei einer klingenden Beschäftigung. Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und es gefunden. Es war nicht viel; ich glaube kaum zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken hinüber. Er erkannte mich und wollte reden, brachte es aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde Arzt. Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, daß alle Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen. Ich versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich habe sogar noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt, in Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine Etage des oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich leben können, wenn uns ein solches Glück beschieden gewesen wäre.
Ich schrieb damals schon einige Jahre für Pustet in Regensburg, in dessen “Deutschem Hausschatz” meine “Reiseerzählungen” erschienen. Die Firma Pustet ist eine katholische und der “Deutsche Hausschatz” ein katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle Zugehörigkeit war mir höchst gleichgültig. Der Grund, warum ich dieser hochanständigen Firma treugeblieben bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher. Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei der zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur Vinzenz Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen Verlag senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel Geld! Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem ein solches Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden darauf ein. Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar, wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau übermorgen eingetroffen. Ich erinnere mich keines einzigen Males, daß es später gekommen wäre. Und niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und als Pustet es mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus eigenem, freiem Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf bezüglichen Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und ihrer Konfession zu fragen.
Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt waren und sicher an- und aufgenommen wurden. Das machte es mir möglich, meine auf die “Reiseerzählungen” bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es war mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit hinaus sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen dann später in Buchform herausgeben würde, war eine Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt feindselige Menschen, welche behaupten, daß ich mich nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag herangemacht habe. Das ist eine Unwahrheit, für deren Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte finde. Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan, dessen man mich da beschuldigt. Ich habe dem “Deutschen Hausschatz” und seinem Herausgeber Opfer gebracht, von deren Größe die Familie Pustet keine Ahnung hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem ich sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich schrieb. Es handelte sich um die bei Spemann in Stuttgart erscheinende Revue “Vom Fels zum Meere”, für welche ich mitgearbeitet habe. Der Brief lautet wie folgt:
“Sehr geehrter Herr!
Sie haben inzwischen schon wieder für andere Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich mit dem längst Versprochenen noch immer im Stiche ließen. Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenüber wahr zu machen. Ich will diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht geneigt wären, einmal einen recht packenden, fesselnden und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich würde I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend Mark pro “Fels”-Bogen zusichern können, wenn Sie etwas Derartiges schreiben würden.
In vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebenster
Josef Kürschner.
Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war gegen diese tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich scheue, seinen Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewiß wohl mehr als hinreichender Beweis, daß ich für den “Hausschatz” nicht geschrieben habe, um “mehr Geld zu machen, als ich von Andern bekam”. Auch meine andern Verleger zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß ich, um diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich habe, der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet zurück zu Münchmeyer zu wenden.
Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau auf einer Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte ihr Münchmeyer so lebhaft geschildert, daß sie sich ein ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie ihn noch nicht gesehen hatte. Sie wünschte aber sehr, ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt hatten, daß er ein hübscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter und für schöne Frauen begeistert sei. Er pflegte in dieser Jahreszeit um die Dämmerstunde in einer bestimmten Gartenrestauration zu verkehren. Als ich ihr das sagte, bat sie mich, sie hinzuführen. Ich tat es, obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich seiner Schwägerin vorgezogen hatte. Ich hatte mich nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast im ganzen Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig; das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar so zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den Kopf in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich froh und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er machte mir in seiner Kolportageweise die unmöglichsten Komplimente, eine so schöne Frau zu haben, und meiner Frau gratulierte er in denselben Ausdrücken zu dem Glück, einen so schnell berühmt gewordenen Mann zu besitzen. Er kannte meine Erfolge, übertrieb sie aber, um uns beiden zu schmeicheln. Er machte Eindruck auf meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er begann, zu schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden. Sie sei schön wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten, indem sie mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und nun erzählte er:
Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er keinen passenden Redakteur für die von mir gegründeten Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren. Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es wollte überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte auf Verlust, und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage Sein oder Nichtsein nicht länger von sich weisen konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darüber nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden könne, doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, daß er gerettet werde, nämlich durch mich, durch einen Roman von mir, durch meine schöne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles außerordentlich gut gestanden; aber daß ich seine Schwägerin nicht habe heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das wieder gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet, ihm jetzt unter die Arme zu greifen.
Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich gar wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten, für so selbstverständlich gehalten, daß überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß ich den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen, sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde auseinander gegangen waren. Es konnte also wohl einen geschäftlichen, nicht aber einen persönlichen Grund geben, seinen Wunsch zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In dem Umstand, daß Münchmeyer Kolportageverleger war, lag kein Zwang für mich, ihm nun auch meinerseits nichts Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu schreiben. Es konnte etwas Besseres sein, eine organische Folge von Reiseerzählungen, wie ich sie Pustet und anderen Verlegern lieferte. Tat ich das, so war damit zugleich auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das, was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso später für mich in Bänden erscheinen lassen, wie das für meine Hausschatzerzählungen bestimmt worden war.
Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. Ich erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht entschließen können, den gewünschten Roman zu schreiben, doch nur unter der Bedingung, daß er nach einer bestimmten Zeit mit sämtlichen Rechten wieder an mich zurückfalle. Es dürfe an meinem Manuskripte absolut kein Wort geändert werden; das wisse er ja von früher her. Münchmeyer erklärte, hierauf einzugehen, doch möge ich ihn mit dem Honorar nicht drücken. Er sei in Not und könne nicht viel zahlen. Später, wenn mein Roman gut einschlage, könne er das durch eine “feine Gratifikation” ausgleichen. Das klang ja gut. Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an welcher der Roman wieder an mich zurückzufallen habe, sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald sie erreicht worden sei, er aufzuhören und mir meine Rechte wiederzugeben habe. Er berechnete, daß er mit sechs- bis siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme; was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde, solle Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten gehen dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine “feine Gratifikation” zu zahlen, und der Roman falle mit allen Rechten an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem anderen Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache. Hierauf ging Münchmeyer sofort ein, ich aber gab meine Zusage noch nicht definitiv; ich erklärte, mir die Sache erst noch reiflich überlegen und meine Entscheidung dann morgen geben zu wollen.
Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, halb freiwillig und halb gezwungen. Meine Frau hatte nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Er bekam den Roman zu den erwünschten Bedingungen, nämlich nur bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er für die Nummer 35 Mark zu bezahlen und beim Schluß eine “feine Gratifikation”. Er gab den Handschlag. Unser Kontrakt war also kein schriftlicher, sondern ein mündlicher. Er sagte, wir seien beide ehrliche Männer und würden einander nie betrügen. Es klinge für ihn wie eine Beleidigung, von ihm eine Unterschrift zu verlangen. Ich ging aus zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich erstens durften nach damaligem sächsischem Gesetz bei Mangel eines Kontrakts überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden; Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich sein wollte, nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens konnte ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig aufgehoben.
Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst nach Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine Frau trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er hatte eine persönliche Vorliebe für den nichtssagenden Titel “Das Waldröschen”. Ich ging auch hierauf ein, hütete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen zu machen. Schon nach einigen Wochen kamen günstige Nachrichten. Der Roman “ging”. Dieses “ging” ist ein Fachausdruck, welcher einen nicht gewöhnlichen Erfolg bedeutet. Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare nach Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit war ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu vergleichen, aber das machte mir keine Sorge. Es war ja bestimmt worden, daß mir kein Wort geändert werden dürfe, und ich besaß damals die Vertrauensseligkeit, dies für genügend zu halten.
Der Erfolg des “Waldröschens” schien nicht nur ein guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er schrieb wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer Zeit für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben, sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken mit Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich keineswegs. Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit mehr und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, an der ich geboren worden war, seßhaft niedergelassen, sondern mir auch eine Frau von dort genommen. Ich war für einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen, einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter über trübe Gewässer hinüberlangt, als wenn er eine zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen kann noch schwimmen will. Darum war mir diese Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es entwickelte sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr zwischen ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast keine Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell vorwärts, und sein Erfolg wuchs derart, daß Münchmeyer mich bat, noch einen zweiten und womöglich noch einige weitere zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß meine Entscheidung über diesen seinen Wunsch eine für mich hochwichtige sei und daß sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher Qual werden könne. Ich betrachtete nur die angeblichen Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.
Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus meinen literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte diese Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. Er erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab. Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, das zu tun, was ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei Pustet, auf viele Jahrgänge auseinander zu dehnen, sondern ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das, was jetzt als Heftroman erschien, später in Buchform herauszugeben. Das bestrickte mich. Hierzu kam das beständige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwände, die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen wie das “Waldröschen”. Diese Arbeiten hatten mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir eine “feine Gratifikation” zu zahlen. Es gab nur eine einzige Aenderung, nämlich die, daß ich für diese Romane ein Honorar von fünfzig Mark pro Heft bezog, anstatt nur fünfunddreißig bei dem “Waldröschen”.
Infolge dieser Abmachungen begann für mich von jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschämung denken kann. Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter nichts. Es war ein fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich damals arbeitete. Ich brauchte nicht, wie andere Schriftsteller, mühsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu schreiben. Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das, welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so viel und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß ermöglichte es mir, zu vergessen, daß ich mich in meinem Lebensglück geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, innere Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede auszufüllen, zu rastlosem Fleiße und machte mich leider gleichgültig gegen die Notwendigkeit, geschäftlich vorsichtig zu sein. Es kam bei Münchmeyer so viel vor, was mich veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, daß mehr als genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integrität alles dessen, was ich für ihn schrieb, so sicher wie möglich zu stellen. Daß ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht verzeihen kann.
Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garçonlogis gemietet, um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns verbringen zu können. Er kam auch an Abenden der andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr oft auch andere Personen mit. Er wünschte zwar, daß ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stören lassen möge, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue Wohnung lag in einer der stillsten, abgelegensten Straßen, und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm und überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause. Grad das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte. Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen von Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen durch Wald und Heide zu begleiten. Diese Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe Lufteinatmung verordnet hatte. Ich mußte mich wohl oder übel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch meiner Frau war, deren Gründe ich leider nicht zu würdigen verstand. Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte. Ich mußte kündigen. Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung des amerikanischen Viertels, die über einer Kneipe lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da wurde sie krank. Der Arzt riet ihr sehr frühe Spaziergänge nach dem großen Garten, dem weltbekannten Dresdener Park. Solchen ärztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen. Es gab für mich keinen Grund, diese Spaziergänge zu verhindern, die morgens vier bis fünf Uhr begannen und ungefähr drei Stunden währten. Ich wußte nicht, daß Frau Münchmeyer auch nicht gesund war und daß auch sie von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, frühe Morgenspaziergänge nach dem Großen Garten zu machen. Erst nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was während dieser Spaziergänge geschehen war. Meine Frau war mir nicht nur seelisch, sondern auch geschäftlich verloren gegangen. Die beiden Damen saßen tagtäglich früh morgens in einer Konditorei des großen Gartens und trieben eine Hausfrauen- und Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich erst später verspürte. Ich machte Schluß und zog von Dresden fort, nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt seiner Vorortsperipherie.
Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane für Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn man später vor Gericht behauptet hat, daß ich für Münchmeyer nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich, mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat. Hiermit sei für heut mit meiner “Kolportagezeit” abgeschlossen. — — —
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VII.
Meine Werke.
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Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich diejenigen meiner Bücher, mit denen sich die Kritik beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Diejenigen, über welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen hat, können auch hier übergangen werden. Zu diesen gehören meine Humoresken, meine erzgebirgischen Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu sein. Ich könnte hierzu auch noch meine “Himmelsgedanken” rechnen, die man nicht erwähnen zu wollen scheint, seit es Herrn Herman [sic] Cardauns passierte, daß er sich mit ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb bekanntlich: “Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns ihn verbitten,” obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges lyrisches Gedicht befindet! Auch meine sogenannten “Union- oder Spemannbände” brauche ich hier nicht zu besprechen, weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die einzigen Sachen sind, die ich für die Jugend geschrieben habe. Es handelt sich also nur um die Fehsenfeldschen “Reiseerzählungen” und um die bei Münchmeyer erschienenen “Schundromane”, welch letztere im nächsten Kapitel behandelt werden.
Meine “Reiseerzählungen” haben, wie bereits erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prärie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der “Wüste”. In der Wüste, d. i. in dem Nichts, in der völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die Seele und den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das “Ich”, die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei, obgleich er schließlich zugeben muß, daß er noch niemals in einer der heiligen Städte des Islams war, wo man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man sieht, daß ich ein echt deutsches, also einheimisches, psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen zu können. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte, daß alle diese Reiseerzählungen als Gleichnisse, also bildlich resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein. Meine Bilder sind so klar, so durchsichtig, daß sich hinter ihnen gar nichts Mystisches zu verstecken vermag.
Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt und auch seinen Vater und Großvater noch als Hadschis hinten anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich für die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen hat. Dies geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch im gelehrten Leben alltäglich, aber man ist derart blind für diesen Fehler, daß ich eben arabische Personen und arabische Zustände herbeiziehen muß, um diese blinden Augen sehend zu machen. Ich schicke darum diesen Halef gleich in den ersten Kapiteln nach Mekka, wodurch seine Lüge zur Wahrheit wird, weil er nun wirklich Hadschi ist, und lasse ihn dann sofort seine “Seele” kennen lernen — — — Hannah [sic], sein Weib.
Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem ersten Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und wie man meine Bücher lesen muß, um ihren wirklichen Inhalt kennen zu lernen. Ein zweites Beispiel mag folgen: Kara Ben Nemsi befindet sich bei dem persischen Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll von dem Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der Ustad, der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum Schah, um ihn um Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat aber den Schah noch nicht erreicht, so kommen ihm schon die Heerscharen desselben entgegen, die ihm sagen, daß sie vom Schah gesandt worden seien, den Dschamikun Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des Ustad erhört, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah ist aber Gott, und so interpretiere ich durch diese Erzählung die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8: “Euer Vater weiß, was Ihr bedürfet, ehe Ihr ihn bittet!” Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl May, und die Dschamikun sind das Volk seiner Leser, welches von den Sillan vernichtet werden soll. Ich erzähle also rein deutsche Begebenheiten im persischen Gewande und mache sie dadurch für Freund und Feind verständlich. Ist das nicht Gleichnis? Nicht bildlich? Gewiß! Und ist es etwa mystisch? Nicht im Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so wenig mystisch, daß mir, offengestanden, ein Jeder, der das Erstere bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will. Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher Absicht an das Lesen meiner Bücher geht, wird ohne Weiteres finden, daß ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht. Und ist er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben ihm ganz sicher die zahlreichen Himmelsmärchen nicht verborgen, die in diesen Gleichnissen eingestreut liegen und den eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen zu bilden haben. Diese Märchen sind es auch, aus denen sich mein eigentliches Lebenswerk am Schlusse meiner letzten Tage zu entwickeln hat.
Ist doch gleich meine erste Gestalt, nämlich Hadschi Halef Omar, ein Märchen, nämlich das Märchen von der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals wiedergefunden werden kann, außer sie findet sich selbst. Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt worden ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich gewisse Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht werden, keineswegs verdiene. Würden diese Gegner es einmal wagen, so offen über sich selbst zu sprechen wie ich über mich, so würde das sogenannte Karl May-Problem schon längst in jenes Stadium getreten sein, in welches es zu treten hat, mag man wollen oder nicht. Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein Gleichnis. Es ist nichts Anderes, als jenes große, allgemeine Menschheitsproblem, an dessen Lösung schon ungezählte Millionen gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares zu erreichen. Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der traurigen Karikatur, als die ich in den Gehirnen und in den Schriften Derer lebe, die sich berufen wähnen, Probleme zu lösen, dies aber immer nur da tun, wo keine vorhanden sind.
Ich nenne ferner das Märchen von “Marah Durimeh”, der Menschheitsseele, von “Schakara”, der edlen, gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner jetzigen Frau gegeben habe. Das Märchen vom “erlösten Teufel”, vom “eingemauerten Herrgott”, vom “versteinerten Gebete”, von den “verkalkten Seelen”, von den “Rosensäulen des Beit-Ullah”, von dem “Sprung in die Vergangenheit”, von der “Dschemma der Lebendigen und Toten”, von der “Schlacht am Dschebel Allah”, vom “Mahalamasee”, vom “Berg der Königsgräber”, vom “Mir von Dschînnistan”, vom “Mir von Ardistan”, von der “Stadt der Verstorbenen”, vom “Dschebel Muchallis”, von der “Wasserscheide von El Hadd” und noch viele, viele andere. Wie man bei einem geistig und seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalte meine Bücher als “Jugendschriften” und mich als “Jugendschriftsteller” bezeichnen kann, würde unbegreiflich sein, wenn man nicht wüßte, daß Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder nicht begriffen oder überhaupt nicht gelesen haben. Selbst “Winnetou”, der so leicht zu lesen zu sein scheint, bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt, eines Nachdenkens und eines Verständnisses, welches doch gewiß keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen ist! Wenn man trotzdem noch ferner bei den Ausdrücken “Jugendschriften” und “Jugendschriftsteller” bleibt, so muß ich das als einen gewollten Unfug bezeichnen, zu dem sich kein anständiger, ernster Kritiker hergeben wird.
Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemäß zu, daß meine “Reiseerzählungen” nicht als Jugendschriften verfaßt worden sind, so ist der jetzt landläufig gewordenen Behauptung, daß sie schädlich sind, aller Boden entzogen. Es lese sie doch nur der, dem sie nicht schädlich sind; ich zwinge ja keinen Andern dazu! Weshalb und wozu die Vorwürfe alle, die man mir jetzt in hunderten von Zeitungen macht? Sieht man sich diese Vorwürfe aber genauer an, so verlieren sie allen Wert. Früher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist so Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder in das Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht nur Mode, sondern Mache! Selbst wenn meine Bücher jetzt von keinem Menschen mehr gelesen würden, könnte mich das doch nicht im Geringsten beunruhigen, denn ich weiß, daß man sehr bald hinter diese Mache kommen und sich demgemäß verhalten wird. Ja, hätte ich meinen Lesern bloß nur Unterhaltungsfutter geliefert, so hätte ich von der Bildfläche zu verschwinden, um nie wieder aufzutauchen, und würde ganz von selbst so verständig sein, mich darein zu ergeben. Aber _ich_habe_während_ _meines_”Lebens_und Strebens”_allzu_viele_und_ _allzu_große_Fehler_begangen,_als_daß_ich_so_ _mir_nichts,_dir_nichts_untergehen_und_für_immer_ _verschwinden_dürfte.__Ich_habe_gutzumachen!_ Was der Sterbliche sündigt, das hat er zu büßen und zu sühnen, und wohl ihm, wenn ihm die Güte des Himmels erlaubt, seine Schuld nicht mit über den Tod hinüberzunehmen, sondern sie schon hier zu bezahlen. Das will ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja, ich behaupte kühn: das habe ich schon getan! Dem irdischen Gesetze habe ich schon längst Alles gegeben, was es von mir zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr schuldig. Und was über diese von Menschen gestellten Paragraphen hinausgeht, das werde ich begleichen, indem ich das, was ich noch schreiben werde, dem großen Gläubiger widme, der ganz genau weiß, ob ich ihm mehr als jene Andern schuldig bin, die sich besser dünken als May.
Ich bin überzeugt, daß meine Sünden, so weit sie mir anzurechnen sind, nur auf persönlichem, nicht aber auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich mir keiner Missetaten bewußt. Was ich mit meinen “Reiseerzählungen” erreicht habe, wird erst nach meinem Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden, die aber selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen bekommt; veröffentlicht werden sie nicht. Man pries diese Werke und schwärmte für sie, bis es eines Tages einem gewissenlosen Menschen einfiel, öffentlich zu behaupten, daß ich außer ihnen auch noch andere, aber “abgrundtief” unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst wenn dies wahr gewesen wäre, hätte das die “Reiseerzählungen” weder innerlich noch äußerlich im Geringsten verändern können. Dennoch wurden sie von jenem Tage an zunächst mit Mißtrauen betrachtet, dann mehr und mehr verleumdet und endlich gar für direkt schädlich erklärt und aus den Bibliotheken gestoßen, in denen sie früher willkommen geheißen worden waren. Warum? Waren sie anders geworden? Nein! Hatten sich die bibliographischen Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze verändert? Nein! Waren die Bedürfnisse der Leser andere geworden? Auch nicht! Aber aus welchem Grunde denn sonst? Einfach einer Schund- und Kolportageklique wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie sich selbst auszudrücken pflegte, “kaput zu machen”. Aber ist es denn menschenmöglich, daß eine derartige Klique einen so großen, unbegreiflichen Einfluß auf Literatur und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe im nächsten Kapitel hiervon zu erzählen. Diese Rotte scheut sich nicht, ihre eigenen Sünden und literarischen Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu gebärden! Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen meiner Münchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang mit allen möglichen Schmähungen besudelt, dem Verlage aber noch nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten Vorwurf gemacht haben. Ich bezeichne das als eine Schande!
Man sagt, daß unsere Schundverleger jährlich fünfzig Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das ist fürchterlich, aber noch viel zu niedrig geschätzt. Ein einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist, kann dem Volke mehr als fünf und sechs Millionen kosten, und es gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma Münchmeyer achtundfünfzig — man lese und staune — achtundfünfzig solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist! Man rechne; man multipliziere! Welche Verluste! Welch eine ungeheure Summe von Gift und Unheil! Wie viel hunderte, ja tausende von Menschen arbeiten daran, dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und nun schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den Büchern nach, wen man für das Alles verantwortlich macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet, verspottet und verhöhnt! Karl May, Karl May, immer wieder Karl May und nur und nur Karl May! Wo sieht und liest man jemals einen andern Namen, als nur diesen einen? Was habe ich denn getan, daß man mich überhaupt zum Schunde zählt? Wo stecken die zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, welche jahraus, jahrein rastlos dafür sorgen, daß in Deutschland und Deutschösterreich der Schund kein Ende nimmt? Vor Gericht, in “wissenschaftlichen” Werken, bei Kommissionssitzungen, in öffentlichen Vorträgen, von Schriftstellern, Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, Künstlern, Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten, wo von “Jugendverderbnis” die Rede ist, da bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld, nur er! Er ist der Typus der Jugendvergifter! Er ist der Vater aller ruchlosen Kapitän Thürmers, Nick Carters und Buffalo Bills! Mein Gott, wissen diese Herren denn wirklich nicht, was sie tun? Wie sie sich versündigen? Wie man im Kreise derer, die es besser wissen, von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen Fall, wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist, daß Jemand durch eines meiner Bücher verdorben worden ist! Hunderte von Schundgeschichten der verderblichsten Art hat so ein Bube gelesen, dabei auch einen Band oder einige Bände von Karl May. Den kennt man, die Andern aber nicht; darum muß er es sein, dessen Namen man nennt und den man als Täter bezeichnet! Allwöchentlich werden mir von Zeitungsbureaus fünfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt, auf denen ich an Stelle der sämtlichen deutschen Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das ist unmenschlich! Ich werde mit Schande überhäuft und vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum nennt man ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie nicht fest? Es gibt hunderte von Verlegern und Literaten, die wegen Verbreitung von unzüchtigen Schriften bestraft worden sind. Und noch größer ist die Zahl derer, die in voller Absicht Jugendschund herausgeben, nur um Geld zu machen. Warum nennt man sie nicht? Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem man ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke duldet? Warum wirft man sich nicht auf sie, sondern nur auf mich, den Sündenbock für den ganzen literarischen Mob? Sehr einfach: Es ist Mache, nichts als Mache! Und es kann nichts Anderes als Mache sein, weil so viel, wie man auf mich wirft, kein Einzelner zu begehen vermag! Ich habe das im nächsten Kapitel des Näheren zu beleuchten.
Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt, sind bisher immer nur Behauptungen gewesen. Zu keiner von ihnen wurde ein wirklicher Beweis erbracht. Ich habe infolge dieser Anschuldigungen Ungezählte meiner Leser brieflich oder mündlich gefragt, ob es ihnen möglich ist, mir eine der Reiseerzählungen oder eine Stelle aus ihnen zu nennen, von der man behaupten darf, daß sie schädlich wirke. Es hat mir Niemand auch nur eine einzige derartige Zeile nennen können. Ist doch sogar meine unerbittlichste Gegnerin, die “Kölnische Volkszeitung”, gezwungen gewesen, mir das Attest auszustellen: “Alles für die Jugend Anstößige _ist_sorgfältig_ _vermieden,_ obgleich Mays Werke _nicht_etwa_bloß_für_ _diese_ bestimmt sind; _viele_tausend_Erwachsene_ haben aus diesen bunten Bildern schon Erholung und Belehrung im reichsten Maße geschöpft!” Schon aus diesem Atteste geht die jetzige “Mache” hervor, denn meine Bücher sind seit jener Zeit genau dieselben geblieben, und derselbe Herr, der dieses öffentliche Zeugnis aus stellte [sic], war der Erste, der dieser Mache erlag und hat sich seitdem nicht wieder aufrichten können.
Zur Zurückweisung der Vorwürfe, die man gegen mich erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veröffentlichung des nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion zu begehen, die mir der von mir hoch und aufrichtig verehrte Herr aber wohl verzeihen wird. Doktor Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli dieses Jahres aus Krieglach:
“Sehr geehrter Herr!
Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der Charlottenburger Gerichtsverhandlung, und sobald wieder das Gericht, und zwar zu Ihren Gunsten, entscheidet, werde ich mit größter Freude davon Notiz nehmen.
Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als solcher möchte ich mir auch erlauben, Ihnen meine Meinung zu sagen darauf hin, in welcher Weise Sie sich am besten rechtfertigen könnten.
Ich würde an Ihrer Statt in der Polemik alles ausschalten, was sich nicht sachlich auf die Anschuldigungen bezieht. Das, was Sie aus Ihrer Jugendzeit selbst eingestanden haben, ist damit wohl auch abgetan und würde Ihnen kaum ein rechtlich denkender Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das Gericht tut. Daß Sie Ihre Reiseschilderungen nicht persönlich erlebt haben, daß es nur Erzählungen in “Ichform” sind, kann Ihnen auch kein Literat verübeln. So bleibt nur übrig, endlich die sachlichen Beweise zu erbringen, daß die berührten obszönen Stellen nicht Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was die Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so müssen doch Sachverständige entscheiden können, inwiefern es Plagiate wären oder inwiefern bloß umgearbeitete Stoffe und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben mit den neuen Auflagen verglichen, müßte doch klar zu stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und der Stil der neu eingefügten Sätze sich organisch an Ihre Art und an das Buch anschließen oder nicht. Auf solche Wirklichkeiten, meine ich, sollten Sie nun Ihre ganze Abwehr konzentrieren und ununterbrochen drängen, daß die Dinge endlich vor Gericht zur Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer Freunde, die nur so im Allgemeinen herumreden über die Vorzüge Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, können für die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere Wirkung erzielen.
Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer gerichtlichen Genugtuung zu kommen. Gelingt das nicht, so ist absolutes Schweigen das Beste, und gelingt es, so muß doch auch die Presse Ihrer jetzigen Gegner die gerichtliche Ehrenrettung anerkennen und in das Volk tragen.
Krankheit hat diesen Brief verspätet. Verzeihen Sie diese Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen entspringt, und seien Sie gegrüßt
von Ihrem ergebenen
P e t e r R o s e g g e r.”
Krieglach, 2. 7. 1910.
Daß Peter Rosegger, der hochstehende, feinfühlende und human denkende geistige Aristokrat, das, was er über meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan betrachtet, versteht sich ganz von selbst. In derartigen Bodensätzen und Rückständen können nur niedrige Menschen waten. Hierdurch habe ja auch ich selbst schon längst meinen Strich gemacht und habe einen Jeden, der sich mit mir beschäftigt, nach dem Maße zu beurteilen, welches mir hier in Roseggers Brief gegeben wird. Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht verziehen; das ist im Himmel und auf Erden Recht.
Was die “Obszönitäten” und den Nachweis betrifft, daß sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen Gegenstand im nächsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier eine mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt. Nämlich nicht ich habe zu beweisen, daß diese unsittlichen Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir zu beweisen, daß ich ihr Verfasser bin. Das ist so selbstverständlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen Richter einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der spanischen Jungfrau zurückzuschleppen, in welcher der Ankläger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, daß er unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten Fällen unmöglich sein. Man hat mich aus prozessualen Gründen fälschlicher Weise beschuldigt, für Münchmeyer das “Buch der Liebe” geschrieben zu haben. Wie kann ich beweisen, daß dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, es wäre dem Münchmeyerschen Rechtsanwalt der wahnsinnige Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten, daß Peter Rosegger den berüchtigten “Venustempel” geschrieben habe. Würde Rosegger den Beweis antreten, daß dies eine Lüge sei? Oder würde er sagen, daß man die Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe? Ich bin überzeugt, das Letztere. Und so thue [sic] auch ich. Ich verlange die Vorlegung meiner Originalmanuskripte. Einen andern Beweis kann es nicht geben.
Was nun die von Peter Rosegger erwähnten Plagiate betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis: Der Benediktinermönch Pater Pöllmann hat eine Reihe von Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben und ihnen die Drohung vorangeschickt, daß er mir mit ihnen einen Strick drehen werde, um mich “aus dem Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen”. Er hat sich da des richtigen Bildes bedient, denn jede seiner Behauptungen, mit denen er mich hierauf überschüttete, war nichts weiter als ein Peitschenknall, spitz, scharf, hart, lieblos und tierquälerisch, darum die Leser empörend und ohne Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer Knall mit der Knabenpeitsche war es auch, als er mich des Plagiates bezichtigte und sich erfolglose Mühe gab, die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen. Er sprach da wie ein Unwissender und konnte darum auch weiter nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit erreichen. Die “Grazer Tagespost” schreibt hierüber:
“Pater Pöllmann, ein bekannter Herr, der sich unlängst in echt christlicher Demut selbst das schmückende Beiwort eines “anerkannten Kritikers” beilegte, hat die moralische Niederlage, die er in seiner Schimpfschlacht gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, sehr bald vergessen, denn er nahm kürzlich den Mund wieder voll usw. usw.”
Ich hatte nämlich in einigen meiner allerersten, ältesten Reiseerzählungen, bei deren Abfassung ich noch nicht die nötige Erfahrung besaß, die Ereignisse, die ich schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen lassen, den ich bekannten, Jedermann zugänglichen Werken entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht sehr häufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann niemals Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat, liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der Art verwendet, daß sie dann wesentliche Bestandteile des Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen Gedanken erscheinen. So Etwas habe ich aber nie getan und werde es auch nie tun. Geographische Werke können, besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind, ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des Abschreibens eine selbständige geistige Arbeit bleibt. In der Einleitung zum Voigtländerschen “Urheber- und Verlagsrecht” heißt es:
“Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus sich selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was Andere vor ihm oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben haben. Dann erst, im besten Falle, beginnt seine ureigene Schöpfung. Selbst die am meisten schöpferische Tätigkeit, die des Dichters, steht dann am höchsten, erreicht dann ihre größten Erfolge, wenn sie die Weihe der künstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich sein Volk denkt und fühlt. Und nicht einmal die Form ist ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird von der gebildeten Sprache geliefert, “die für dich dichtet und denkt”, und die Manchem, der sich Dichter zu sein dünkt, mehr als die Form, die ihm auch Gedanken oder deren Schein leiht. Kurz, der Schriftsteller und Künstler steht mit seinem Wissen und Können inmitten und auf der Kulturarbeit von Jahrtausenden. Goethe, auf einer einsamen Insel aufgewachsen, wäre nicht Goethe geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet, daß er die Kulturarbeit der Menschheit um einen Schritt hat weiter bringen können, weil er an das von den Vorfahren Geleistete anknüpfen durfte, dann ist es nicht mehr als billig, _daß_sein_Werk_zur_gegebenen_ _Zeit_wieder_Andern_zu_zwangslosem_Gebrauche_ _diene,_nicht_nur_der_Inhalt,_sondern_auch_die_ _Form.”_
So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm ist nicht zu widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal begangen habe, was er hier gestattet, bin also vollständig gerechtfertigt. Ein anderer schreibt: “Alles ist mehr oder weniger Plagiat an errungener Kultur-, Geistes- oder Phantasieproduktion. Der Intellektadel, die obern Träger der Bildung und Kultur schöpfen ja doch alle mehr oder minder aus _einem_ Reservoir, welches von den Leistungen Anderer, Früherer, Größerer gespeist worden ist.”
In Nr. 268 der “Feder”, der Halbmonatsschrift für Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: “Aus den Fingern kann sich der popularwissenschaftliche [sic] Schriftsteller nun einmal nichts saugen, und bis zu einem gewissen Grade muß deshalb auch Jeder ein Plagiator sein. Wenn das eigentliche Gedankengebäude neu ist, dann ist man wohl berechtigt, passende Zierformen von schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach Emmerson ist _der_größte_Genius_zugleich_auch_der_größte_ _Entlehner._ Es kommt da ganz auf das Wie an. _Man_ _darf_das_Gute_nehmen,_wo_man_es_findet,_ wenn man einen großen Zweck damit erreichen will; aber man darf es sich nicht merken lassen; man muß mit dem Entlehnten etwas wirklich Neues hervorbringen.”
Es ist bekannt, daß Maeterlinck in einem seiner Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben hat. Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn aus und ließ das Stück ruhig unter seinem Namen erscheinen. Ebenso bekannt ist, daß das populäre Lied aus dem Freischütz: “Wir winden dir den Jungfernkranz” nicht von Weber, sondern von einem fast ganz unbekannten Gothaer Musikdirektor ist. Weber hörte es und nahm es in seinen Freischütz auf, ohne sich etwas aus der Gefahr zu machen, als Plagiator und Dieb bezeichnet zu werden. Shakespeare war bekanntlich der größte literarische Entwender, den wir kennen. Wenn es nach Pater Pöllmannschen Grundsätzen ginge, würden sogar verschiedene Verfasser biblischer Bücher als literarische Diebe bezeichnet werden müssen. So könnte ich noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen weiterführen, will mich aber damit begnügen, nur noch unsern Allergrößten, den Altmeister Goethe und den erfolgreichsten Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas anzuführen. Dumas entlehnte außerordentlich viel. Er konnte ohne fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit über das Maß des literarisch Erlaubten hinaus. So ist es bekannt, daß er die Erzählung von Edgar Poe “Der Goldkäfer” zu den spannendsten Stellen in seinem “Grafen Monte Christo” ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft, so zitiere ich einen kurzen Artikel, der kürzlich unter der Ueberschrift “Goethe über das Plagiat” durch die Zeitungen ging:
“Für einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage sehr leicht. Es darf ein Autor bloß versäumen, absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der er diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben Freund hat Jedermann, der den glücklich entdeckten Plagiator an den vermeintlichen Pranger stellt. Richard von Kralik ist unlängst des Plagiates beschuldigt worden, weil er — ohne seine Schuld — mangelhaft zitiert worden ist. Solchen Plagiatschnüfflern möchten wir die Ansicht Goethes über das Plagiat in das Gedächtnis rufen. Der Gegenstand des Gespräches zwischen ihm und Eckermann am 18. Januar 1825 waren Lord Byrons angebliche Plagiate. Siehe “Eckermanns Gespräche mit Goethe”, 3. Auflage Band I S. 133. Da sagte Goethe: “Byron weiß sich auch gegen dergleichen, ihn selbst betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken sollen. _Was_da_ist,_das_ist_mein,_ hätte er sagen sollen. _Ob_ich_es_aus_dem_Leben_oder_aus_dem_ _Buche_genommen_habe,_das_ist_gleichviel;_es_ _kam_bloß_darauf_an,_daß_ich_es_richtig_gebrauchte!_ Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem “Egmont”, und er hatte ein Recht dazu, _und_weil_es_ _mit_Verstand_geschah,_so_ist_er_zu_loben._ So hat er auch den Charakter meiner “Mignon” in einem seiner Romane nachgebildet, ob aber mit ebenso viel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons “verwandelter Teufel” ist ein fortgesetzter Mephistopheles, und das ist recht. Hätte er aus origineller Grille ausweichen wollen, so hätte er es schlechter machen müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat daher auch die Exposition meines “Faust” mit der des “Hiob” einige Aehnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.”
Soweit diese kurze Auswahl von Gewährsnamen. Was haben unsere Berühmtesten getan, ohne daß man sie beschimpfte? Und was habe ich getan, daß man mich als den niedrigsten aller Betrüger und Diebe behandelt? Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner kleinen, asiatischen Erzählungen mit ganz nebensächlichen geographischen und ethnographischen Arabesken verziert, welche ich in Büchern fand, die längst der Allgemeinheit angehören. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes Recht. Was aber sagt Pater Pöllmann dazu? Er beschimpft mich öffentlich als einen _”Freibeuter_auf_ _schriftstellerischem_Gebiete,_für_ewige_Zeiten_das_ _Musterbeispiel_eines_literarischen_Diebes!_ Emerson, der Berühmtesten und Edelsten einer in Amerika, sagt: “Der größte Genius ist zugleich auch der größte Entlehner”. Und Goethe sagt: “Was da ist, das ist mein. Ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche nehme, das ist gleich!” Wie hätte da wohl das entsprechende Urteil Pater Pöllmanns über diese beiden Heroen zu lauten? Sie hätten für ihn “für ewige Zeiten die schlimmsten aller literarischen Bestien” zu sein, stinkend vor Raubgier und Verworfenheit! Eine Kritik, die so unwissend, so unerfahren, so selbstüberhebend und so wenig maßhaltend ist wie diese hier, die bildet eine Gefahr nicht nur für die Literatur, sondern für das ganze Volk.
Ich habe in diesen meinen “Reiseerzählungen” genau so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte, für die Menschenseele zu schreiben, für die Seele, nur für sie allein. Und nur sie allein, für die es geschrieben ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen und begreifen. Für seelenlose Leser rühre ich keine Feder. Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten für Musterleser schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals sein und niemals werden. Haben wir es erst so weit gebracht, daß wir nur noch Musterautoren, Musterleser und Musterbücher haben, dann ist das Ende da! Ich bin so kühn, zu behaupten, daß wir uns nicht die vorhandenen Musterbücher, sondern den vorhandenen Schund zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen wollen, was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben. Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen! Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele. Schreibt für die große Seele! Schreibt nicht für die kleinen Geisterlein, für die Ihr Eure Kraft verzettelt und verkrümelt, ohne daß sie es Euch danken. Denn gebt Ihr Euch noch so viel Mühe, ihren Beifall zu erringen, so behaupten sie doch, es besser zu können als Ihr, obgleich sie gar nichts können! Und schreibt nichts Kleines, wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure Augen empor zu den großen Zusammenhängen. Dort gibt es zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen wohnt das wahrhaft Große. Und wenn Ihr dabei auch Fehler macht, so viele Fehler und so große Fehler wie Karl May, das schadet nichts. Es ist besser, auf dem Wege zur Höhe zuweilen zu stolpern und diese Höhe aber doch zu erreichen, als auf dem Wege zur Tiefe nicht zu stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder gar erhobenen Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen Aequator immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst anzukommen, ohne über irgendeine Höhe gestiegen zu sein. Denn Berge müssen wir haben, Ideale, hochgelegene Haltepunkte und Ziele.
Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und laufe darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen; aber ich befürchte nicht, daß es so ist. Was ich will und was ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche es nicht zu wiederholen. Und ich habe schon so viele steile Höhen zu überwinden gehabt, daß ich mich unmöglich für einen jener armen Teufel halten kann, die immer auf ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt Leute, welche meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt Andere, welche sagen, ich habe keinen Stil; und es gibt Dritte, die behaupten, daß ich allerdings einen Stil habe, aber es sei ein außerordentlich schlechter. Die Wahrheit ist, daß ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre. Ich verändere nie, und ich feile nie. Mein Stil ist also meine Seele, und nicht mein “Stil”, sondern meine Seele soll zu den Lesern reden. Auch befleißige ich mich keiner sogenannten künstlerischen Form. Mein schriftstellerisches Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genäht und dann gar gebügelt. Es ist Naturtuch. Ich werfe es über und drapiere es nach Bedarf oder nach der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das, was ich schreibe, direkt, nicht aber durch hübsche Aeußerlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will nicht fesseln, nicht den Leser von außen festhalten, sondern ich will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in sein Herz, in sein Gemüt. Da bleibe ich, denn da kann und darf ich bleiben, weil ich weder störende Formen noch störendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie mich die Seele wünscht. Daß dies das Richtige ist, das haben mir jahrzehntelange, schöne Erfahrungen bestätigt. Diese aufrichtige Natürlichkeit muß, kann und darf ich mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur allein durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine Leser nicht andere oder gar höhere künstlerische Ansprüche stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen Arbeiten auch äußerlich eine ästhetisch höhere Form zu geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt skizziere ich noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie sind.
Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten abgerechnet, in meinen Werken keine einzige Gestalt, die ich künstlerisch durchgeführt und vollendet hatte, selbst Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht, über die ich doch am meisten geschrieben habe. Ich bin ja mit mir selbst noch nicht fertig, bin ein Werdender. Es ist in mir noch Alles in Vorwärtsbewegung, und alle meine inneren Gestalten, alle meine Sujets bewegen sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis ich es erreicht habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine Gedanken sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer Dichter und Künstler, vor allen Dingen keiner unserer großen Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er innerlich reif geworden ist, aber ich bin auch in dieser Beziehung als Outsider zu betrachten, werde von Vielen sogar als Outlaw oder Outcast bezeichnet und darf mir darum noch lange nicht erlauben, was Andere sich gestatten. Was bei Andern selbstverständlich ist, das ist bei mir entweder schlecht oder lächerlich, und was bei Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung gilt, das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein einziges Mal etwas künstlerisches schreiben wollen, mein “Babel und Bibel”. Was war die Folge? Es ist als “elendes Machwerk” bezeichnet und derart mit Spott und Hohn überschüttet worden, als ob es von einem Harlekin oder Affen verfaßt worden sei. Da weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewiß. Man kann wohl literarische Hanswürste beseitigen, nicht aber Geistesbewegungen unterdrücken, die unbesiegbar sind. Es fällt mir nicht ein, hier Anklagen aufzustellen, denen doch keine Folge gegeben würde. Unterlassen aber darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des hier berührten Punktes ein Beispiel anzuführen, ein einziges, welches so deutlich spricht, daß ich ohne Weiteres auf alle andern Belege verzichten kann. Nämlich ein Verein, dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und Verbreitung von Büchern besteht, hat bisher jährlich mehrere tausend Bände von mir vertrieben. Plötzlich stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen kursierende Auskunft: “Hierseits wird zwar von dem weitern Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand genommen, und werden die Bücher nicht mehr durch unsere Verzeichnisse angeboten, damit wollen wir aber nicht sagen, daß der Inhalt der Mayschen Reiseerzählungen zu verwerfen ist, und wir muten auch den Vorständen unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige ablehnende Stellungnahme gilt nicht den _Schriften,_ sondern der _Persönlichkeit_ des Verfassers. _Sie_können_also_ohne_ _Bedenken_die_Bände_weiter_ausleihen.”_ Das genügt gewiß! Meinen Büchern ist nichts anzuhaben; meine Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum? Infolge jener “Mache”, von der ich schon weiter oben sprach. Denn man glaube ja nicht, daß die “Karl May-Hetze”, oder, ein wenig anständiger ausgedrückt, das “Karl May-Problem” eine literarische Angelegenheit sei. Es handelt sich hier keineswegs um schriftstellerische oder gar um ethische Gründe, sondern, die Sache beim richtigen Namen genannt, um eine rein persönliche Abschlachtung aus moralisch ganz niedrigen, prozessualen Gründen. Was man da von sittlichen und journalistischen Notwendigkeiten sagt, ist nichts als Spiegelfechterei, um die Wahrheit zu verstecken. Wollte man hierüber einen Roman schreiben, so könnte dieser der sensationellste aller Kolportageromane werden, und die Hauptpersonen würden folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. Dr. Hermann Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. Pauline Münchmeyer in Dresden, der Franziskanermönch Dr. Expeditus Schmidt in München, der aus der christlichen Kirche ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf Lebius in Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar Pöllmann in Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse Münchmeyer, Dr. Gerlach in Niederlößnitz bei Dresden. Dieser Roman würde für die Beleuchtung der gegenwärtigen Gesetzgebung ein höchst wichtiger sein und auch über andere Verhältnisse, gesellschaftliche, geschäftliche, psychologische, überraschende Streiflichter werfen. Es würde da viel Schmutz, sehr viel Schmutz zu sehen sein, der nichts weniger als appetitlich ist, und so will ich, da ich ihn auch hier zu erwähnen und zu zeigen habe, mich bemühen, so schnell wie möglich über ihn hinwegzukommen.
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VIII.
Meine Prozesse.
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Jörgensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt in seiner Parabel “Der Schatten” zum Dichter: “Sie wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem weißen Papier umbilden, erschaffen, verändern. Sie wissen nicht, wie manches Menschenglück Sie töten, wie manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den Blumengläsern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie, _daß_wir_Andern_das_leben,_was_Ihr_Dichter_ _schreibt._ Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung. Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich, wenn Ihr es wollt. Die jungen Männer glauben je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung. Die jungen Mädchen sind züchtig oder leichtfertig, wie es die Weiber sind, die Ihr verherrlicht.”
Jörgensen hat hier vollständig Recht. Seine Ansicht ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit über die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat einen weit größern, entweder schaffenden oder zerstörenden, reinigenden oder beschmutzenden Einfluß, als die meisten Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere Psychologie behauptet, nämlich “Nicht Einzelwesen, Drama ist der Mensch”, so darf man die Tätigkeit des Schriftstellers unter Umständen sogar eine schöpferische, anstatt nur eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewußt bin, bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung bewußt, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald wir zur Feder greifen. So oft ich dieses Letztere tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender nur Gutes, niemals aber Böses zu schaffen. Man kann sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr, daß ich im Verlage von H. G. Münchmeyer “abgrundtief unsittliche” Bücher geschrieben haben solle. Der Ausdruck “abgrundtief unsittlich” ist von Cardauns, dessen Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den übertriebensten Verschärfungen zu ergehen. Bei ihm ist dann Alles nicht nur erwiesen, sondern “zur Evidenz erwiesen”, nicht ausgesonnen, sondern “raffiniert ausgesonnen”, nicht entstellt, sondern “bis zur Unkenntlichkeit entstellt”. Darum genügte bei diesen Münchmeyerschen Romanen, weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort “unsittlich” nicht, sondern es war ganz selbstverständlich, daß sie gleich “abgrundtief unsittlich” sein mußten.
Die erste Spur von diesen meinen “Unsittlichkeiten” tauchte drüben in den Vereinigten Staaten auf. Kommerzienrat Pustet, welcher da drüben Filialen besitzt, schrieb mir von diesem Gerücht und wünschte, daß ich mich darüber äußere. Das tat ich. Ich antwortete ihm, daß ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache untersuchen lassen werde, wenn es sein müsse sogar gerichtlich. Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen. Damit war für ihn die Sache abgemacht. Er war ein Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es niemals eingefallen wäre, durch Hintertüren zu verkehren. Wir hatten einander gern. Auf ihn fällt ganz gewiß auch nicht die geringste Spur von Schuld an der unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen Hetze gegen mich. Weil das Gerücht aus Amerika kam, hatte ich zunächst drüben zu recherchieren. Das erforderte lange Zeit, und es war mir unmöglich, etwas Bestimmtes zu erfahren. Ich wußte nur, daß sich das Gerücht auf meine Münchmeyerschen Romane bezog, doch fand ich Niemand, der imstande war, mir die Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit lag. Und auf ein bloßes, vages Gerücht hin alle fünf Romane, also ungefähr achthundert Druckbogen nach Dingen, die ich gar nicht kannte, mühsam durchzuforschen, dazu hatte ich keine überflüssige Zeit, und das war mir auch gar nicht zuzumuten. Wer den Mut besaß, mich anzuklagen, der mußte die unsittlichen Stellen genau kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf wartete ich. Es meldete sich aber Keiner, der es tat. Auch Pustet tat es nicht. Wahrscheinlich kannte er die angeblichen Unsittlichkeiten ebenso wenig als ich. Leider