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  • 1910
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Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder. Das zieht Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das “Haus” voll, so gibt der Herr Direktor dir fünf Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts. Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe.”

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke Knöpfe! Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne herum! Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel sehr pünktlich zur Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich gefiel sämtlichen Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein schnelles Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr leicht. Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen. Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig herunter, denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt und ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die fünfzig Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen Zigeunerumzug voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten Schloßvogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand emporhob, so war dies das Zeichen für mich, meinen Marsch sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden. Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren. Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe mit. Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über dreißig Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste. Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum Fenster hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum war schon jetzt derart gefüllt, daß schnell ganz vorn noch einige “Logen” eingerichtet wurden mit dem Preise von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch verkauft. Vater, Mutter und Großmutter hatten Freiplätze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein höchst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte sich so allgemein verbreitet, daß die Frau Direktorin sich bewogen fühlte, mir meine fünf Neugroschen schon ehe der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit und meine künstlerische Begeisterung bedeutend.

Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der Bühne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara und noch irgend wer standen auf der Bühne. In der gegenüberliegenden Kulisse lehnte der Schloßvogt Pedro, der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit einem so energischen Schritte kommen, daß er glaubte, ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium. Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. Ich aber nahm das ganz selbstverständlich für das verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und marschierte hinaus, rund um die Bühne herum. Don Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz starr. “Lausbub!” schrie mir der Schloßvogt zu, als ich an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse heraus, um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nämlich dreimal rund um die Bühne herum. “Lausbub!” brüllte der Schloßvogt, als ich zum zweiten Mal an ihm vorüberkam, und zwar tat er das so laut, daß es trotz des Trommelwirbels auch hinaus- und über den ganzen Zuschauerraum schallte. Lautes Gelächter antwortete von dorther; ich aber begann meine dritte Runde. “Bravo, bravo!” erklangen die Beifallsrufe des Publikums. Da kam endlich Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, faßte meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und die Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich an:

“Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte doch auf!

“Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!” rief man im Zuschauerraum lachend.

“Ja, weiter, immer weiter!” antwortete auch ich, indem ich mich von ihm losriß. “Die Zigeuner haben zu kommen! Raus mit der Bande, raus mit der Bande!”

“Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!” schrie, brüllte und johlte das Publikum.

Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel von neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter, und dann die Andern alle hinterdrein. Nun begann erst der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das Publikum nicht zufrieden. Es rief: “Heraus mit der Bande, heraus!” und wir mußten den Umzug von neuem beginnen und immer wieder von neuem. Und am Schluß des Aktes mußte ich noch zweimal heraus. War das ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor ließ mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf, die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine Sache gut machen würde, versprach er mir noch weitere fünfzig Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf mein Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der Beifall zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe die “hohen Herrschaften” zu bitten, sich noch nicht gleich zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, übermorgen und auch fernerhin unmöglich abgegeben werden könnten. Als Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache folgende Fassung gegeben: “Also rrrrein mit der Hand in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!”

Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der hohen Direktion als auch diejenigen aller übrigen Künstlerinnen und Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen, denn ich bekam nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen, sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches für den ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt. Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar für Stücke, in welche Vater mich gehen lassen konnte. Uebrigens gab es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche Gefahr für die Zuhörerschaft, denn als der Herr Direktor sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zärtlichen Liebesszenen so ängstlich aus seinen Stücken streiche, antwortete er: “Teils aus moralischem Pflichtgefühl und teils aus kluger Erwägung. Unsere erste und einzige Liebhaberin ist zu alt und auch zu häßlich für solche Rollen.”

In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen hangen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb einer späteren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heut sehr häufig, obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten, sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand ich nichts davon und ließ mir von der leeren, hohlen Oberflächlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere größere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche Stücke schrieben, die auf die Bühne gegeben wurden, kamen mir wie Götter vor. Wäre ich ein so bevorzugter Mensch, so würde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen erzählen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Märchen, von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede von Kulub, von der Erlösung aus der Erdenqual und allen anderen, ähnlichen Dingen! Man sieht, ich befand mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch Anderes kam hinzu.

Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, genoß evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer Stellungnahme gegen Andersgläubige führte das keineswegs. Wir hielten uns weder für besser noch für berufener als sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche seines Kirchenamtes religiösen Haß zu säen. Unsere Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, nämlich Vater, Mutter und Großmutter, die waren alle drei ursprünglich tief religiös aber von jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosität, die sich in keinen Streit einläßt und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ erweisen. Ich hörte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor über religiöse Differenzen sprechen. Da sagte der erstere: “Ein Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.” Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits gesagt, daß ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe täglich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut. Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut noch unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.

Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige religiöse Gebräuche, an denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebräuche war folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren, beteiligten sich am darauf folgenden grünen Donnerstag zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung, sonst während des ganzen Jahres nicht,
standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock, Bäffchen [sic] und weißes Halstuch. Sie standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten und hielten schwarze, goldgeränderte Schutztücher empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen, gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.

Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehörte Mut dazu, und es kam nicht selten vor, daß der Organist dem kleinen Sänger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen den Zeilen meiner Bücher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden und mit fröhlich erhobener Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat, daß ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn alle andern Sterne verlöschen.

Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf einen der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester Halt nach dem andern unter den Füßen hinweggenommen wurde, so daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu, dafür aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich öffnen sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten würden, von allem Anfang verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen, durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen Qual geworden ist.

Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim richtigen Namen nenne — — Lektüre. Ich bin ihn nicht etwa hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet, sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie ich, wohin dieser Weg uns führte. Meine erste Lektüre bildeten die Märchen, das Kräuterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen Schulbücher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im Städtchen gab. Dann alle möglichen anderen Bücher, die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt das für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich, wenn auch nur scheinbar, müßig stand. Und er war gegen alle Beteiligung an den “Unarten” anderer Knaben. Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich mußte stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu “lernen”! Von dem Handschuhnähen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine Erlösung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, war dies höchst gefährlich. Saß ich dann betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buche, so kam es vor, daß Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und erbarmend sagte: “So geh schnell ein bißchen hinaus; aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!” O, diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der schlage in meinen “Himmelsgedanken” das Gedicht auf Seite 105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen Königstochter, die für mich und meine Leser als “Menschheitsseele” gilt.

Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal von Büchern jeden Genres in Privathänden befand, zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab deren drei, nämlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier als der Vernünftigste von allen. Er sagte, Bücher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bücher zum Lernen, und für diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr nützlich, den lateinischen Text unserer Kirchengesänge in die deutsche Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte, doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:

“Ein buer [sic] lernen muß,
Wenn er will werden dominus,
Lernt er aber mit Verdruß,
So wird er ein asinus!”

Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein asinus, sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleißig lateinisch lernen!

Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist so viel wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich ganz von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein Buch in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin gedruckt und “Seiner Königlichen Hoheit, Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen” gewidmet. Darum mußte es gut und von sehr hohem Werte sein! Der Titel lautete: “Chansons maçonniques”, und zu der Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag:

“Nons vénérous de l’Arabie
La sage et noble antiquité,
Et la célèbre Confrairie [sic] Transmise à la postérité”.

Das Wort “Freimaurerlieder” reizte ganz besonders. Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei eindringen zu können! Glücklicherweise erteilte der Herr Rektor für Privatschüler auch französischen Unterricht. Er gestattete mir, in diesem “Zirkle” einzutreten, und so kam es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen und Französischen zugleich zu befassen hatte.

Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen weniger zurückhaltend als der Herr Kantor. Sein Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte von geographischen und ethnographischen Werken, die er meinem Vater alle für mich zur Verfügung stellte. Ich fiel über diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und der gute Herr freute sich darüber, ohne irgendein doch so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten, als vielmehr in den Büchern aus, die er besaß. Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek. Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und andern guten Menschen fügte. So kam es, daß ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung der islamitischen Wohltätigkeit vor mir liegen hatte und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht, in welchem über das offensichtliche Nachlassen der christlichen Barmherzigkeit bittere Klage geführt wurde. In der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland und alle jene “Großen” kennen, welche der Wissenschaft mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek des zweiten alle jene andern “Großen”, denen die religiöse Offenbarung himmelhoch über jedem wissenschaftlichen Ergebnisse steht. Und dabei war ich nicht etwa ein Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge; aber noch viel törichter als ich waren die, welche mich in diese Konflikte fallen und sinken ließen, ohne zu wissen, was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen Büchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein; mir aber mußte es zum Gifte werden.

Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt werden, und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine Uebung besaß, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche Qualen! Und was habe ich noch außerdem dafür geopfert! Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und heizbarer, so daß er zur Sommer- und zur Winterszeit und bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde täglich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag. Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war der Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes, an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkäufe zu machen und — last not least — eine Partie Kegel zu schieben. Aus dieser einen aber wurden fünf, wurden zehn, wurden zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, daß ich mich von Mittags zwölf Uhr an bis nach Mitternacht zu schinden hatte, ohne auch nur fünf Minuten ausruhen zu können. Zur Stärkung bekam ich des Nachmittags und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes, zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte, mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der Betrag, den ich da wöchentlich zusammenbrachte, war gar nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum und außerdem für jedes Honneur, welches geschoben wurde, einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz eine doppelte oder dreifache Höhe. Es hat Montage gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach Hause brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu unserer Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.

Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen, daß es sich hier nicht um Leute handelte, welche das kannten, was man unter Rücksicht oder gar Zartgefühl versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was ich da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich heraus zu mir. Alles, was Großmutter und Mutter in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr Rektor auch, das empörte sich gegen das, was ich hier zu hören bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift dabei. Es gab da nicht jene kräftige, kerngesunde Fröhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben, sondern es handelte sich um Leute, welche aus der brusttötenden Atmosphäre ihres Webstuhles direkt in die Schnapswirtschaft kamen, um sich für einige Stunden ein Vergnügen vorzutäuschen, welches aber nichts weniger als ein Vergnügen war, für mich jedenfalls eine Qual, körperlich sowohl als auch seelisch.

Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche Büchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in den beiden Städtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts. Die einzige Veränderung, die sie erlitt, war die, daß die Einbände immer schmutziger und die Blätter immer schmieriger und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen, und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte, gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, mögen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, der wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle auf dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige [sic] Bandit. Die schöne Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der Gesetze. Bruno von Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans von Hunsrück oder der Raubritter als Beschützer der Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am Hochgericht. Der König als Mörder. Die Sünden des Erzbischofs u. s. w. u. s. w.

Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne sie alle lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! Ich nahm sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte lang, glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wußten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir zusammenbrach. Daß die wenigen Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.

Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede nachzuweisen. Man behauptet, daß der Mensch nicht Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem anschließen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln. Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon gehabt, aber was für eine Wirkung! Es war zu einem kleinen, monströs dicken, wasserköpfigen Ungeheuer aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja vielleicht außergewöhnlich veranlagte Knabe hatte sich zu einer unartikulierten geistigen Mißgestalt verwandelt, die nichts Wirkliches besaß als nur ihre Hilflosigkeit. Und seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach oben nur an dem erwähnten starken, unzerreißbaren Tau und wurde nach unten nur dadurch an der Erde festgehalten, daß ich für König und Vaterland, Gesetz und Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet hatten, den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und seine Regierung von dem Untergange zu erretten. Nun aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar durch die Lektüre dieser schändlichen Leihbibliothek. Alle die Räuberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren, das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden. Sie besaßen wahre Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe, eine grenzenlose Wohltätigkeit und warfen sich zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrückten und Bedrängten auf. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Männer aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor allen Dingen die Fülle des Lebens, der Tätigkeit, der Bewegung, die in diesen Büchern herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend eine große, schwere, kühne Tat, die man zu bewundern hatte. Was dagegen war in all den Büchern geschehen, die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Traktätchen des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden Jugendschriften? Und was geschah in den sonst ganz guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors? Da waren große, weite und ferne Länder beschrieben, aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde Menschen und Völker geschildert; aber sie bewegten sich nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geographie, nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte. Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden in die Hand zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt verlangt, nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles an, weil er allein es ist, für den die Bücher geschrieben werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet für sie den Tod. Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch in die Hände nimmt! Kaum fühlt er während des Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erfüllt. Und welche bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Räuberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder böse Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft. Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit und Unumstößlichkeit der göttlichen und der menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den Rinaldo Rinaldini geschrieben!

Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je länger, desto mehr; sie wurde aber von uns andern überstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, von “edlen” Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer verschenkten. Daß sie diese Reichtümer vorher andern abgestohlen und abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige Menschen durch so einen Räuberhauptmann unterstützt und gerettet worden seien, so freuten wir uns darüber und bildeten uns ein, wie schön es wäre, wenn so ein Himlo Himlini plötzlich hier bei uns zur Tür hereinträte, zehntausend blanke Taler auf den Tisch zählte und dabei sagte; “Das ist für euren Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterstücke schreibt!” Das letztere war mir nämlich, seit ich den “Faust” gesehen hatte, zum Ideal geworden.

Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen Bücher nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich zunächst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige Negation zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat, die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.

Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich mußte mit meinen Wünschen weit herunter und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen können, aber er versäumte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanität und Nächstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur eines Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände und ließ sich ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns fünf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmeprüfung bestanden haben würde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: “Meine liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und muß für sie sorgen. Ich kann Ihnen also die fünf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost nach Hause, und beten Sie recht fleißig, so wird sich ganz gewiß zur rechten Zeit jemand finden, der sie übrig hat und sie Ihnen gibt!”

Das war abends. Ich saß da und las in einem Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was Herr Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus Empörung über solche Art der Frömmigkeit, als über die Abweisung selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand er auf und ging. Unter der Tür aber sagte er: “Einen solchen Versuch machen wir nicht mehr! Karl geht auf das Seminar, und wenn ich mir die Hände blutig arbeiten soll!” Als er fort war, saßen wir andern noch lange Zeit traurig beisammen. Dann gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch, in dem ich gelesen hatte, führte den Titel “Die Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller Bedrängten.” Als Vater nach Hause gekommen und dann eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: “Ihr sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!” Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, nach Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus der Not. — — —

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IV.
Seminar- und Lehrerzeit.

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Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und in ihren Früchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist, und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die Behauptung, daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphäre eines “Gewordenen” genau kennt und richtig zu beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen, welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen Verhältnissen und welche Teile aus dem rein persönlichen Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen Teufel, den die Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze führten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, die, wenn es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden müßten. Und gewöhnlich sind es nicht etwa die Fernstehenden, sondern grad die lieben “Nächsten”, welche Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld, die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.

Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus denen ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen, so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau zu untersuchen.

Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe bei einander liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände zwischen einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden, dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und Publizist Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken pflegt, “das erste Licht der Welt erblickte”. Die ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit sind diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur in materieller, sondern auch in anderer Beziehung. Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung bildete die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt werden mußten, damit, wenn die Haussuchung kam, nichts gefunden werden könne. Es galt für die armen Weber, fleißig zu sein, um den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein “Stück zu Markte”. Für jeden Fehler, der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann wurde ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der Heiterkeit und — — — dem Schnaps gewidmet. Man fand sich beim Nachbar ein. Da ging die Bulle rundum. Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen Familien sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern regierte die Karte. Da wurde “gelumpt”, “geschafkopft” oder gar “getippt”. Das letztere ist ein verbotenes Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte. Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während der Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen. Da saß man im Grünen und trank. Schnaps war überall dabei; man mochte ihn nicht entbehren. Man betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz von selbst verstände.

Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in ganz geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, die man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht. Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt, dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen, sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war die ganze Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, die man jetzt kaum mehr für möglich hält. Im persönlichen Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als die wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, welches ich da anführe, diene der Name Wolf. Es gab einen Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf, einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter Wölfe. Die Häuser waren klein, die Gassen eng. Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen und alles beobachten, was geschah. So wurde es fast zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu haben. Und da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg. Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ man ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam dadurch zur immerwährenden, aber stillen Hechelei [sic], zur niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmütigen Sarkasmus, welcher aber nichts Reelles an sich hatte. Das war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne daß man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie Gift. So hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte, verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen Karten zu üben. Sie etablierten sich in einer vor der Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer aus, um Opfer einzufangen. Da saß man nächtelang und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da mit vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben war im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von jedem neuen Coup, der gemacht worden war. Man sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich darüber, anstatt daß man diese Betrügereien verwarf. Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja, man achtete, man rühmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das geringste von allem, was man von ihnen wußte. Daß hierdurch eigentlich das ganze Städtchen an dem Betruge gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und daß jedermann, der von diesen Gaunereien wußte, sich, streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals gesagt hätte, daß dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen Tiefstand bedeute, der wäre wohl ausgelacht worden, oder gar noch Schlimmeres. Das allgemeine Rechtsgefühl war irregeführt. Man bewunderte die Falschspieler, wie man die Rinaldo Rinaldini’s und die Himlo Himlini’s der alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände man verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete es. Man ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend aber, die das alles mit ansah und mit anhörte, mußte den Eindruck gewinnen, daß diese Betrügereien bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat oder nicht?

Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren die beiden Namen “Batzendorf” und die “Lügenschmiede”. Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche und schweizer Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux, aber ein Jux, der häufig zum Ausarten kam. Batzendorf hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das allerkleinste Häuschen Ernsttals, das der alten Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde zum Batzendorfer Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf, den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin zum Meisterhaus war Dorfnachtwächter. Sie mußte die Stunden ansagen und tuten. Jede Behörde und jede Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel- und zum Schotenwächter, auch das alles in das Komische gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, Verheiratung zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor war noch älter und glaubte von allem das Beste. Er sagte immer: “Nur nicht übertreiben, nur nicht übertreiben!” Damit glaubte er, seiner Pflicht genügt zu haben. Der Herr Kantor schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, öffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu warnen: “Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie und auch nicht gut für den Karl. Was man da treibt, ist alles weiter nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu sehen noch zu hören bekommen!”

Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses “Batzendorf”, in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille, heimliche, doch um so bösere Wirkung gehabt. Da lockerten sich “die Bande frommer Scheu”. Da gab es wöchentlich etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten der Erwachsenen mit riesigem Interesse und höhnten und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewußt zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein geführt und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin stecken lassen müssen. Dem Unbegabten schadet das weniger; in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage treten, nicht mehr einzudämmen sind.

Die “Lügenschmiede” war etwas neueren Datums. Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in Ernsttal einige jüngere Leute, welche außerordentlich satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswürdige Menschen, hätten sie in andern, größeren Verhältnissen durch diese Begabung ihr Glück machen können, so aber blieben sie unten in den kleinen Verhältnissen hangen und konnten also auch nur Kleinliches und Gewöhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war wirklich schade um sie!

Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die Kühnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und Mittel für Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft zu errichten, aber natürlich mit Restauration, denn ohne diese wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese Restauration hatte zunächst keinen besonderen Namen; aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lügenschmiede und ihren Besitzer, den Wirt, den Lügenschmied. Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgästen saß allen der Schalk im Nacken. Ein Anderer konnte öfters dort verkehren, ohne daß er etwas davon bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn los, plötzlich, ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu widerstehen war. Er wurde “gemacht”, wie man es nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er sich, mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und mochte er zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. Diese Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder, dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgästen anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog beschämt von dannen.

Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn Jeder wußte, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere Gäste hatten keine so gewöhnlichen Witze zu befürchten. Die ließ man warten. “Der muß erst noch reif werden,” pflegte der Lügenschmied zu sagen. Und Jeder wurde reif, Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig. Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast, der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und rasierte ihn, ohne daß einer der Anwesenden eine Miene dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann vergnügt von dannen, vollständig blau im Gesicht. Er konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe dafür, daß er in der Lügenschmiede behauptet hatte, er sei gescheiter als alle, ihn könne niemand foppen. Einem andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut’ Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglückt. Er sei einem Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten Bein in das Räderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen das Bein unterhalb des Knies abnehmen müssen. Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig gesunden Bruder zurück. Auch die Herren von der Behörde verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, und oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse zu verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach und nach aus. Die Witze wurden gewöhnlicher; sie verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein Jeder, der die Lügenschmiede betrat, glaubte, Lügen machen und Unwahrheiten präsentieren zu dürfen. Der Geist ging aus. Was früher wirklicher Humor, wirkliche Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit, zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur unvorsichtigen Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede ist jetzt verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht. Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und zwar ein unter hellem Grün und winkenden Blumen verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten Umkreise rund über das Land gegangen, und leider, leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages leiden müssen. Daß meine Gegner es wagen konnten, den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln und mich sogar als Marktweiberbandit und Räuberhauptmann durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum größten Teil durch die Lügenschmiede ermöglicht, deren Stammgäste gar nicht bedachten, was sie an mir begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten traktierten. Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich über jene Falschspielergesellschaft, über “Batzendorf” und über die “Lügenschmiede” zu berichten hatte, sind nur einige kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, will dies aber gern und mit Vergnügen unterlassen, weil ich kürzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel sich dort verändert hat. Ich hatte meine Vaterstadt schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde, sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm enttäuscht. Das meine ich nicht äußerlich, sondern innerlich. Ich habe der Städte und Orte genug gesehen; da kann mich nichts überraschen und auch nichts enttäuschen. Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden Menschen zunächst und vor allen Dingen seine Seele kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden Ortes, den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals war zwar noch die alte; das sah ich sofort; aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie hatte ein anderes, besseres und würdigeres Aussehen bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang beobachten zu können, und darf wohl sagen, daß mir diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich begegnete einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, mehr Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in das Ideale. Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich gehoben und zeigte die Fähigkeit, sich auch fernerhin und zusehends zu veredeln. Ich begegnete alten Bekannten, aus denen in Wirklichkeit “Etwas geworden” war. Das war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte. Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, von gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her? Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet werden kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend, stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere und von Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder sein möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit dem Erfolg kommt auch der Segen.

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun zu mir selbst zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln spanischen Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube ja nicht, daß dies eine “verrückte” Idee gewesen sei. Ich war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch kindlich, aber doch schon wohlgeübt. Der Fehler lag daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.

Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den Tisch, und ich erzählte in aller Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum. Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute. Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie waren über mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei einem Räuberhauptmann suchen! Sie wußten sich zunächst keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten, und da war es wie eine Erlösung für sie, als sie meinen Vater hereintreten sahen. Er, der jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte: “Mach so Etwas niemals wieder, niemals!” Dann ging er nach kurzem Ausruhen mit mir fort — — wieder heim.

Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Zeit still nebeneinander hergegangen; er führte mich an der Hand. Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und das Lesen jener verderblichen Romane hörte auf. Als dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden zu müssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu Waldenburg und wurde dort interniert.

Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch! Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, und ich dachte, fühlte und lebte mich derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, daß mir Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde, hoch über sie hinausragend, hob sich das über alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: Stücke für das Theater schreiben! Ueber das Thema Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz gewiß, vorausgesetzt freilich, daß die Gabe dazu nicht fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die grüne Mütze trug! Wie stolz auch meine Eltern und Geschwister! Großmutter drückte mich an sich und bat:

“Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen. Kehre dich niemals an die, welche dich zurückhalten wollen!”

“Und die Geisterschmiede?” fragte ich. “Muß ich da hinein?”

“Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,” antwortete sie. “Bist du es aber nicht wert, so wird dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen.”

“Ich will aber hinein; ich will!” rief ich mutig aus.

Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und sagte lächelnd:

“Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß ihn nie in deinem Leben!”

Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, falls ich ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, daß ich diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen; das tötete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner Mitschüler fürchtete.

Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war. Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst.

Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei. Die andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam. Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen fügte man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen, deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. Bei mir aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, aber keinen einzigen tragenden, stützenden Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen vermochte. Und das Schlimmste hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fühlte mich umso unglücklicher dabei, als ich mit keinem Menschen davon sprechen konnte, ohne mich dadurch bloßzustellen. Grad die Trockenheit und, ich muß wohl sagen, die Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit wir sie beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. Alles, was ich zusammenfügte und was ich mir innerlich aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach stehen lassen.

Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang nach geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und hatte demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich erübrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was ich schrieb, das sollte keine Schülerarbeit werden, sondern etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was schrieb ich da? Ganz selbstverständlich eine Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverständlich, um gedruckt zu werden! Von wem? Ganz selbstverständlich von der “Gartenlaube”, die vor einigen Jahren gegründet worden war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein. Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete, bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein Manuskript zurück, um es an eine andere Redaktion zu senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst geschrieben, vier große Quartseiten lang. Ich war fern davon, dies so zu schätzen, wie es zu schätzen war. Er kanzelte mich zunächst ganz tüchtig herunter, so daß ich mich wirklich aufrichtig schämte, denn er zählte mir höchst gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne es zu ahnen, in der Erzählung begangen hatte. Gegen den Schluß hin milderten sich die Vorwürfe, und am Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergnügt die Hand und sagte mir, daß er nicht übermäßig entsetzt sein werde, wenn sich nach vier oder fünf Jahren wieder eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte. Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die Schuld, sondern die Verhältnisse gestatteten es nicht. Das war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen habe. Damals freilich hielt ich es für einen absoluten Mißerfolg und fühlte mich sehr unglücklich darüber. Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal überfiel, aus welchem meine Gegner so überklingendes Kapital geschlagen haben.

Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als “Wochner” bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen “Ordnungswochner” und in der zweiten einen “Lichtwochner”, welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten, wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren allgemein als wertlos anzusehen.

Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert [sic] werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichter für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte. “Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte machen?” fragte sie. “Ganz leicht,” antwortete ich. “Man braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen.” “Wenn auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?” “Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder nicht, ist seine Sache.” “Also wäre es wohl nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause nähmen?” “Gestohlen. Lächerlich! Fällt keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei kleine Weihnachtslichte.”

Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging fort und — — — zeigte mich an. Der Herr Direktor kam in eigener Person, den “Diebstahl” zu untersuchen. Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den “Raub”, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen “infernalischen Charakter” und rief die Lehrerkonferenz zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester — — — in die heiligen Christferien — — — ohne Talg für die Weihnachtsengel — — — es waren das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken und Heiden verfahren würden.

Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete, verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine Fabrikschule, deren Schüler ausschließlich aus ziemlich erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, sondern mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.

Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich als Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen konnte, eine wenn auch noch so bescheidene Ausstattung an Wäsche und andern notwendigen Dingen. Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mußte es auf mein Konto nehmen; das heißt, ich borgte es mir, um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen. Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen, ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf das Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, die doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu richten hat, fast unentbehrlich ist.

Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien. Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm möglichst gefällig und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung nicht behage.

Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte; daß sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale, die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:

“Sie sind arretiert! Wissen Sie das?”

“Nein,” antwortete ich, tödlich erschrocken. “Warum?”

“Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer abgesetzt!”

Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!

“Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!” stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.

“Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell, schnell!”

Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war ein — — — Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, daß ich ganz anders aussehe als früher, so außerordentlich leidend. Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf der Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen Vorwurf zu machen.

Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser Darstellung gesagt, daß die Abgründe hinter mir lagen, vor mir aber keine, und daß ich die Absicht hegte, Großes zu leisten, vorher aber Großes zu lernen. Das Erstere war falsch. Die Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht hinter mir, sondern vor mir. Und das Große, was ich zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgründe zu stürzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurückzufallen. Dies ist die schwerste Aufgabe, die es für einen Sterblichen gibt, und ich glaube, ich habe sie gelöst. — — —

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V.
Im Abgrunde.

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Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist. Es liegt mir in der schreibenden Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung zu geben, welche am besten geeignet wäre, das, was damals in mir vorgegangen ist, für den Fachmann begreiflich zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine Bücher gelesen werden, und habe mich also aller Versuche, Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde infolge dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen bildlichen Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der nicht allgemein verständlich ist.

Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete, ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein Rechtsmittel ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß nur noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte, zwei andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene. Man schien mich also für ungefährlich zu halten, sonst hätte man mich nicht mit Personen zusammengesperrt, die noch nicht abgeurteilt waren. Der Eine war ein Bankbeamter, der Andere ein Hotelier. Weshalb sie in Untersuchung saßen, das kümmerte mich nicht. Sie zeigten sich lieb zu mir und gaben sich Mühe, mich aus dem Zustande innerlicher Versteinerung, in dem ich mich befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich verließ die Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging heim, zu den Eltern.

Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter noch den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe zu machen. Und das war geradezu entsetzlich! Als ich damals in meinem kindlichen Unverstand nach Spanien wollte und Vater mich heimholte, hatte ich mir vorgenommen, ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu betrüben, und es war so ganz anders und so viel schlimmer gekommen! Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht erst seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten Herzen trug. Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am Großen, Schönen, Edlen mich emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen lernen, und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! Und am Schlusse dieses schweren, arbeitsreichen Lebens für die andere Bühne schreiben, für das Theater, um dort die Rätsel zu lösen, die mich schon seit frühester Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar fühlte, aber noch lange, lange, lange nicht begriff!

Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe. Ich hatte den schärfsten Einblick in alles, was außer mir lag; aber sobald es sich mir näherte, um zu mir in Beziehung zu treten, hörte diese Einsicht auf. Ich war nicht imstande, mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen kam ein Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu wissen, was ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem Buche gelesen hatte. Und ich war mir dieses seelischen Zustandes geistig sehr wohl bewußt, besaß aber nicht die Macht, ihn zu ändern oder gar zu überwinden. Es bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit, ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der Mensch. In diesem Drama gab es verschiedene, handelnde Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander unterschieden.

Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es besaß große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte alle seine Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets nur in der Ferne. Es glich einer Fee, einem Engel, einer jener reinen, beglückenden Gestalten aus Großmutters Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte, wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam war. Die dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört. Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hörte sie auch; sie sprach. Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nächte lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war. Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal gesehen hätte. Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte auch ihr Gesicht. Bald stammte sie aus Batzendorf, aus dem Kegelschub oder aus der Lügenschmiede. Heut sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, morgen wie der Raubritter Kuno von der Eulenburg und übermorgen wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem Talgpapiere stand.

Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit einem Male, sondern nach und nach. Es vergingen viele, viele Monate, bis sie sich in mir so weit entwickelt hatten, daß ich sie mit dem geistigen Auge fassen und durch das Gedächtnis festhalten konnte. Und da begann ich zu begreifen, um was es sich eigentlich handelte. Was sich in jedem Menschen vollzieht, ohne daß er es bemerkt oder auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade? Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig, sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese Beobachtungen mit einer Objektivität und Kaltblütigkeit, als ob es sich nicht um mich selbst, sondern um einen ganz anderen, mir vollständig fremden Menschen handle. Und ich lebte das gewöhnliche, alltägliche Leben ganz so, wie jede gesunde Person es lebt, die von derartigen psychologischen Vorgängen nicht angefochten wird. Es kehrte mir die Kraft und der Wille zum Leben zurück. Ich arbeitete. Ich gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte, einzuüben und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder dieser Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins, mit dem ich öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend. Und ich begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann “Erzgebirgische Dorfgeschichten”. Ich hatte nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere. Es war eine Freude, zu sehen, wie sich das so vortrefflich entwickelte. Aber diese Freude wurde in der grausamsten Weise durch eine andere Entwicklung vergällt, die sich zu gleicher Zeit und dem konform in meinem Innern vollzog. Die Spaltung dort griff weiter um sich. Jede Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen zu wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen, mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie hören. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher außer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die helle und die dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen. Und je länger es dauerte, daß sie sich von einander unterschieden, um so deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften da zwei einander feindliche Heerlager gegen einander: Großmutters helle, lichte Bibel- und Märchengestalten gegen die schmutzigen Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die übererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren wurde, gegen die beglückenden Ideen des Hochlandes, nach dem ich strebte. Die Miasmen einer vergifteten Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das Laster gegen die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, um zum Edelmenschen zu werden.

Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch, der vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten. Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich zu sichtbaren und hörbaren Gestalten verdichtet. Ich sah sie bei geschlossenen Augen, und ich hörte sie, bei Tag und bei Nacht; sie störten mich aus der Arbeit; sie weckten mich aus dem Schlafe. Die dunklen waren mächtiger als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte Ruhe in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede wollte die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte. Gegen eine lustige Humoreske hatte niemand etwas. Die konnte ich ohne Streit und Störung vollenden. Bei einer ernsten Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen für und gegen mich. In diesen Dorfgeschichten wies ich regelmäßig nach, daß Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genauso straft, wie man sündigt. Hiergegen empörten sich gewisse Gestalten in mir. Den größten Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten oder meiner Lektüre noch höhere Linien bestieg. Wenn ich mir ein religiös oder ethisch oder ästhetisch hohes Thema stellte, empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz unaussprechlich sind. Um zu zeigen, in welcher Weise das vor sich ging und was für Qualen das waren, will ich ein erläuterndes Beispiel bringen: Ich hatte den Auftrag erhalten, eine Parodie von “des Sängers Fluch” von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die Parodie bekam den Titel “des Schneiders Fluch”. Ein Schneider verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen und winziges Gärtchen, in dem nur zwei Stachelbeerbüsche standen. Bei der Verfluchung des Häuschens kam es zu folgenden Zeilen:

“Die Hypotheken lauern
Schon heut auf euern Sturz. Ihr hörts, verruchte Mauern,
Ich mach’ es mit euch kurz!”

Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich dabei gestört zu sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht die geringste Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt verschwand; sie trauerte, denn mein Können reichte zu Besserem und Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein Lehrgedicht zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende Strophen gegenwärtig sind:

“Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden, Das euer Heiland euch gelehrt
Und es in euren eig’nen Landen Befolgt und mit Gehorsam ehrt,
Dann einet sich zu einem Strome Die Menschheit all von nah und fern Und kniet anbetend in dem Dome
Der Schöpfung vor dem einen Herrn. Dann wird der Glaube triumphieren, Der einen Gott und Vater kennt;
Die Namen sinken, und es führen Die Wege all zum Firmament.”

Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat eine seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln der lichten Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden. Ich griff zur Feder. Da aber war es plötzlich, als ob ein schwarzer Vorhang in mir niederfalle. Die Klarheit war vorüber; die lichte Gestalt verschwand; die dunkle tauchte auf, höhnisch lachend, und überall, durch mein ganzes inneres Wesen, erscholl es wie mit hundert Stimmen “des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch u. s. w.!” So klang es stunden- und stundenlang in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die geringste Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern wirklich, wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir, sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch war das, solange ich die Feder in der Hand hielt und zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich aufstand, klangen sie fort, und nur als mir der Gedanke kam, auf das Lehrgedicht zu verzichten, trat augenblicklich Schweigen ein. Da ich aber mein Versprechen, es anzufertigen, halten mußte, so griff ich bald wieder zur Feder. Sofort erklang der Stimmenchor von neuem “des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!” und als ich trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte, kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu “Die Hypotheken lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte Mauern, ihr hörts, verruchte Mauern!” Das ging den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann noch immer weiter. Kein anderer Mensch sah und hörte es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt. Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber nicht. Ich blieb kaltblütig und beobachtete mich. Ich setzte es trotz aller Gegenwehr durch, daß mein Gedicht zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber derartige Siege hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach dann innerlich zusammen.

Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch auf meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun. Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte, die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich sah sie nicht; ich sah nur die finstere, höhnische Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen sträubte, so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und so zu ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand verlor. Die