This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.
Wilhelm Meisters Lehrjahre–Buch 2
Johann Wolfgang von Goethe
Zweites Buch
Erstes Kapitel
Jeder, der mit lebhaften Krâ°ften vor unsern Augen eine Absicht zu erreichen strebt, kann, wir mËgen seinen Zweck loben oder tadeln, sich unsre Teilnahme versprechen; sobald aber die Sache entschieden ist, wenden wir unser Auge sogleich von ihm weg; alles, was geendigt, was abgetan daliegt, kann unsre Aufmerksamkeit keineswegs fesseln, besonders wenn wir schon fr¸he der Unternehmung einen ¸beln Ausgang prophezeit haben.
Deswegen sollen unsre Leser nicht umstâ°ndlich mit dem Jammer und der Not unsers verungl¸ckten Freundes, in die er geriet, als er seine Hoffnungen und W¸nsche auf eine so unerwartete Weise zerstËrt sah, unterhalten werden. Wir ¸berspringen vielmehr einige Jahre und suchen ihn erst da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von Tâ°tigkeit und Genuï¬ zu finden hoffen, wenn wir vorher nur k¸rzlich so viel, als zum Zusammenhang der Geschichte nËtig ist, vorgetragen haben.
Die Pest oder ein bËses Fieber rasen in einem gesunden, vollsaftigen KËrper, den sie anfallen, schneller und heftiger, und so ward der arme Wilhelm unvermutet von einem ungl¸cklichen Schicksale ¸berwâ°ltigt, daï¬ in einem Augenblicke sein ganzes Wesen zerr¸ttet war. Wie wenn von ungefâ°hr unter der Zur¸stung ein Feuerwerk in Brand gerâ°t und die k¸nstlich gebohrten und gef¸llten H¸lsen, die, nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt, prâ°chtig abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten, nunmehr unordentlich und gefâ°hrlich durcheinander zischen und sausen: so gingen auch jetzt in seinem Busen Gl¸ck und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Getrâ°umtes auf einmal scheiternd durcheinander. In solchen w¸sten Augenblicken erstarrt der Freund, der zur Rettung hinzueilt, und dem, den es trifft, ist es eine Wohltat, daï¬ ihn die Sinne verlassen.
Tage des lauten, ewig wiederkehrenden und mit Vorsatz erneuerten Schmerzens folgten darauf; doch sind auch diese f¸r eine Gnade der Natur zu achten. In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch nicht ganz verloren; seine Schmerzen waren unerm¸det erneuerte Versuche, das Gl¸ck, das ihm aus der Seele entfloh, noch festzuhalten, die MËglichkeit desselben in der Vorstellung wieder zu erhaschen, seinen auf immer abgeschiedenen Freuden ein kurzes Nachleben zu verschaffen. Wie man einen KËrper, solange die Verwesung dauert, nicht ganz tot nennen kann, solange die Krâ°fte, die vergebens nach ihren alten Bestimmungen zu wirken suchen, an der ZerstËrung der Teile, die sie sonst belebten, sich abarbeiten; nur dann, wenn sich alles aneinander aufgerieben hat, wenn wir das Ganze in gleichg¸ltigen Staub zerlegt sehen, dann entsteht das erbâ°rmliche, leere Gef¸hl des Todes in uns, nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken.
In einem so neuen, ganzen, lieblichen Gem¸te war viel zu zerreiï¬en, zu zerstËren, zu ertËten, und die schnellheilende Kraft der Jugend gab selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit. Der Streich hatte sein ganzes Dasein an der Wurzel getroffen. Werner, aus Not sein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um einer verhaï¬ten Leidenschaft, dem Ungeheuer, ins innerste Leben zu dringen. Die Gelegenheit war so gl¸cklich, das Zeugnis so bei der Hand, und wieviel Geschichten und Erzâ°hlungen wuï¬t er nicht zu nutzen. Er trieb’s mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt, lieï¬ dem Freunde nicht das Labsal des mindesten augenblicklichen Betruges, vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, in welchen er sich vor der Verzweiflung hâ°tte retten kËnnen, daï¬ die Natur, die ihren Liebling nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm von der andern Seite Luft zu machen.
Ein lebhaftes Fieber mit seinem Gefolge, den Arzeneien, der ¸berspannung und der Mattigkeit; dabei die Bem¸hungen der Familie, die Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Bed¸rfnisse sich erst recht f¸hlbar macht, waren so viele Zerstreuungen eines verâ°nderten Zustandes und eine k¸mmerliche Unterhaltung. Erst als er wieder besser wurde, das heiï¬t, als seine Krâ°fte erschËpft waren, sah Wilhelm mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines d¸rren Elendes hinab, wie man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Vulkans hinunterblickt.
Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorw¸rfe, daï¬ er nach so groï¬em Verlust noch einen schmerzenlosen, ruhigen, gleichg¸ltigen Augenblick haben kËnne. Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal des Jammers und der Trâ°nen.
Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle Szenen des vergangenen Gl¸cks. Mit der grËï¬ten Lebhaftigkeit malte er sie sich aus, strebte wieder in sie hinein, und wenn er sich zur mËglichsten HËhe hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien, sah er r¸ckwâ°rts auf den schrecklichen Abgrund, labte sein Auge an der zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen. Mit so wiederholter Grausamkeit zerriï¬ er sich selbst; denn die Jugend, die so reich an eingeh¸llten Krâ°ften ist, weiï¬ nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden zugesellt, als wollte sie dem Verlornen dadurch noch erst einen rechten Wert geben. Auch war er so ¸berzeugt, daï¬ dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben empfinden kËnne, daï¬ er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorzustellen unternahm.
II. Buch, 2. Kapitel
Zweites Kapitel
GewËhnt, auf diese Weise sich selbst zu quâ°len, griff er nun auch das ¸brige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die grËï¬ten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent als Dichter und Schauspieler, mit hâ°mischer Kritik von allen Seiten an. Er sah in seinen Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen, ohne innern Wert; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen, denen es an jedem Funken von Naturell, Wahrheit und Begeisterung fehle. In seinen Gedichten fand er nur ein monotones Silbenmaï¬, in welchem, durch einen armseligen Reim zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten; und so benahm er sich auch jede Aussicht, jede Lust, die ihn von dieser Seite noch allenfalls hâ°tte wieder aufrichten kËnnen.
Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser. Er schalt sich, daï¬ er nicht fr¸her die Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anmaï¬ung zum Grunde gelegen. Seine Figur, sein Gang, seine Bewegung und Deklamation muï¬ten herhalten; er sprach sich jede Art von Vorzug, jedes Verdienst, das ihn ¸ber das Gemeine emporgehoben hâ°tte, entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf den hËchsten Grad. Denn wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem Umgange der Musen sich loszureiï¬en, sich ihrer Gemeinschaft auf immer unw¸rdig zu erklâ°ren und auf den schËnsten und nâ°chsten Beifall, der unsrer Person, unserm Betragen, unsrer Stimme Ëffentlich gegeben wird, Verzicht zu tun.
So hatte sich denn unser Freund vËllig resigniert und sich zugleich mit groï¬em Eifer den Handelsgeschâ°ften gewidmet. Zum Erstaunen seines Freundes und zur grËï¬ten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der BËrse, im Laden und GewËlbe tâ°tiger als er; Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wurde, besorgte und verrichtete er mit grËï¬tem Fleiï¬ und Eifer. Freilich nicht mit dem heitern Fleiï¬e, der zugleich dem Geschâ°ftigen Belohnung ist, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung und Folge verrichten, sondern mit dem stillen Fleiï¬e der Pflicht, der den besten Vorsatz zum Grunde hat, der durch ¸berzeugung genâ°hrt und durch ein innres Selbstgef¸hl belohnt wird; der aber doch oft, selbst dann, wenn ihm das schËnste Bewuï¬tsein die Krone reicht, einen vordringenden Seufzer kaum zu ersticken vermag.
Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und sich ¸berzeugt, daï¬ jene harte Pr¸fung vom Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden. Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich beizeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt daï¬ andere spâ°ter und schwerer die Miï¬griffe b¸ï¬en, wozu sie ein jugendlicher D¸nkel verleitet hat. Denn gewËhnlich wehrt sich der Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.
So entschlossen er war, seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen, so war doch einige Zeit nËtig, um ihn von seinem Ungl¸cke vËllig zu ¸berzeugen. Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe, des poetischen Hervorbringens und der persËnlichen Darstellung mit triftigen Gr¸nden so ganz in sich vernichtet, daï¬ er Mut faï¬te, alle Spuren seiner Torheit, alles, was ihn irgend noch daran erinnern kËnnte, vËllig auszulËschen. Er hatte daher an einem k¸hlen Abende ein Kaminfeuer angez¸ndet und holte ein Reliquienkâ°stchen hervor, in welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden, die er in bedeutenden Augenblicken von Marianen erhalten oder derselben geraubt hatte. Jede vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit, da sie noch frisch in ihren Haaren bl¸hte; jedes Zettelchen an die gl¸ckliche Stunde, wozu sie ihn dadurch einlud; jede Schleife an den lieblichen Ruheplatz seines Hauptes, ihren schËnen Busen. Muï¬te nicht auf diese Weise jede Empfindung, die er schon lange getËtet glaubte, sich wieder zu bewegen anfangen? Muï¬te nicht die Leidenschaft, ¸ber die er, abgeschieden von seiner Geliebten, Herr geworden war, in der Gegenwart dieser Kleinigkeiten wieder mâ°chtig werden? Denn wir merken erst, wie traurig und unangenehm ein tr¸ber Tag ist, wenn ein einziger durchdringender Sonnenblick uns den aufmunternden Glanz einer heitern Stunde darstellt.
Nicht ohne Bewegung sah er daher diese so lange bewahrten Heiligt¸mer nacheinander in Rauch und Flamme vor sich aufgehen. Einigemal hielt er zaudernd inne und hatte noch eine Perlenschnur und ein flornes Halstuch ¸brig, als er sich entschloï¬, mit den dichterischen Versuchen seiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufrischen.
Bis jetzt hatte er alles sorgfâ°ltig aufgehoben, was ihm, von der fr¸hsten Entwicklung seines Geistes an, aus der Feder geflossen war. Noch lagen seine Schriften in B¸ndel gebunden auf dem Boden des Koffers, wohin er sie gepackt hatte, als er sie auf seiner Flucht mitzunehmen hoffte. Wie ganz anders erËffnete er sie jetzt, als er sie damals zusammenband!
Wenn wir einen Brief, den wir unter gewissen Umstâ°nden geschrieben und gesiegelt haben, der aber den Freund, an den er gerichtet war, nicht antrifft, sondern wieder zu uns zur¸ckgebracht wird, nach einiger Zeit erËffnen, ¸berfâ°llt uns eine sonderbare Empfindung, indem wir unser eignes Siegel erbrechen und uns mit unserm verâ°nderten Selbst wie mit einer dritten Person unterhalten. Ein â°hnliches Gef¸hl ergriff mit Heftigkeit unsern Freund, als er das erste Paket erËffnete und die zerteilten Hefte ins Feuer warf, die eben gewaltsam aufloderten, als Werner hereintrat, sich ¸ber die lebhafte Flamme verwunderte und fragte, was hier vorgehe.
“Ich gebe einen Beweis”, sagte Wilhelm, “daï¬ es mir Ernst sei, ein Handwerk aufzugeben, wozu ich nicht geboren ward”; und mit diesen Worten warf er das zweite Paket in das Feuer. Werner wollte ihn abhalten, allein es war geschehen.
“Ich sehe nicht ein, wie du zu diesem Extrem kommst”, sagte dieser. “Warum sollen denn nun diese Arbeiten, wenn sie nicht vortrefflich sind, gar vernichtet werden?”
“Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren soll; weil jeder, der keine Anlage hat, das Beste zu leisten, sich der Kunst enthalten und sich vor jeder Verf¸hrung dazu ernstlich in acht nehmen sollte. Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses unbestimmtes Verlangen, dasjenige, was er sieht, nachzuahmen; aber dieses Verlangen beweist gar nicht, daï¬ auch die Kraft in uns wohne, mit dem, was wir unternehmen, zustande zu kommen. Sieh nur die Knaben an, wie sie jedesmal, sooft Seiltâ°nzer in der Stadt gewesen, auf allen Planken und Balken hin und wider gehen und balancieren, bis ein anderer Reiz sie wieder zu einem â°hnlichen Spiele hinzieht. Hast du es nicht in dem Zirkel unsrer Freunde bemerkt? Sooft sich ein Virtuose hËren lâ°ï¬t, finden sich immer einige, die sogleich dasselbe Instrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf diesem Wege herum! Gl¸cklich, wer den Fehlschluï¬ von seinen W¸nschen auf seine Krâ°fte bald gewahr wird!”
Werner widersprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen er sich selbst so oft gequâ°lt hatte, gegen seinen Freund wiederholen. Werner behauptete, es sei nicht vern¸nftig, ein Talent, zu dem man nur einigermaï¬en Neigung und Geschick habe, deswegen, weil man es niemals in der grËï¬ten Vollkommenheit aus¸ben werde, ganz aufzugeben. Es finde sich ja so manche leere Zeit, die man dadurch ausf¸llen und nach und nach etwas hervorbringen kËnne, wodurch wir uns und andern ein Vergn¸gen bereiten.
Unser Freund, der hierin ganz anderer Meinung war, fiel ihm sogleich ein und sagte mit groï¬er Lebhaftigkeit:
“Wie sehr irrst du, lieber Freund, wenn du glaubst, daï¬ ein Werk, dessen erste Vorstellung die ganze Seele f¸llen muï¬, in unterbrochenen, zusammengegeizten Stunden kËnne hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muï¬ ganz sich, ganz in seinen geliebten Gegenstâ°nden leben. Er, der vom Himmel innerlich auf das kËstlichste begabt ist, der einen sich immer selbst vermehrenden Schatz im Busen bewahrt, er muï¬ auch von auï¬en ungestËrt mit seinen Schâ°tzen in der stillen Gl¸ckseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehâ°uften G¸tern um sich hervorzubringen sucht. Sieh die Menschen an, wie sie nach Gl¸ck und Vergn¸gen rennen! Ihre W¸nsche, ihre M¸he, ihr Geld jagen rastlos, und wonach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuï¬ der Welt, nach dem Mitgef¸hl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen.
Was beunruhiget die Menschen, als daï¬ sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden kËnnen, daï¬ der Genuï¬ sich ihnen unter den Hâ°nden wegstiehlt, daï¬ das Gew¸nschte zu spâ°t kommt und daï¬ alles Erreichte und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnen lâ°ï¬t. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter ¸ber dieses alles hin¸bergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unauflËslichen Râ°tsel der Miï¬verstâ°ndnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsâ°glich verderbliche Verwirrungen verursachen. Er f¸hlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit. Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie ¸ber groï¬en Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengeht, so schreitet die empfâ°ngliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag fort, und mit leisen ¸bergâ°ngen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wâ°chst die schËne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend trâ°umen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geâ°ngstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer Wahrsager, Freund der GËtter und der Menschen. Wie! willst du, daï¬ er zu einem k¸mmerlichen Gewerbe heruntersteige? Er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu ¸berschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Fr¸chten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fâ°hrte gewËhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?”
Werner hatte, wie man sich denken kann, mit Verwunderung zugehËrt. “Wenn nur auch die Menschen”, fiel er ihm ein, “wie die VËgel gemacht wâ°ren und, ohne daï¬ sie spinnen und weben, holdselige Tage in bestâ°ndigem Genuï¬ zubringen kËnnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begâ°ben, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!”
“So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrw¸rdige mehr erkannt ward”, rief Wilhelm aus, “und so sollten sie immer leben. Genugsam in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig von auï¬en; die Gabe, schËne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in s¸ï¬en, sich an jeden Gegenstand anschmiegenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war f¸r den Begabten ein reichliches Erbteil. An der KËnige HËfen, an den Tischen der Reichen, vor den T¸ren der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele f¸r alles andere verschloï¬, wie man sich seligpreist und entz¸ckt stillesteht, wenn aus den Geb¸schen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig r¸hrend hervordringt! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhËhte sie nur desto mehr. Der Held lauschte ihren Gesâ°ngen, und der ¸berwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er f¸hlte, daï¬ ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vor¸berfahren w¸rde; der Liebende w¸nschte sein Verlangen und seinen Genuï¬ so tausendfach und so harmonisch zu f¸hlen, als ihn die beseelte Lippe zu schildern verstand; und selbst der Reiche konnte seine Besitzt¸mer, seine AbgËtter, nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanz des allen Wert f¸hlenden und erhËhenden Geistes beleuchtet erschienen. Ja, wer hat, wenn du willst, GËtter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?”
“Mein Freund”, versetzte Werner nach einigem Nachdenken, “ich habe schon oft bedauert, daï¬ du das, was du so lebhaft f¸hlst, mit Gewalt aus deiner Seele zu verbannen strebst. Ich m¸ï¬te mich sehr irren, wenn du nicht besser tâ°test, dir selbst einigermaï¬en nachzugeben, als dich durch die Widerspr¸che eines so harten Entsagens aufzureiben und dir mit der einen unschuldigen Freude den Genuï¬ aller ¸brigen zu entziehen.”
“Darf ich dir’s gestehen, mein Freund”,versetzte der andre, “und wirst du mich nicht lâ°cherlich finden, wenn ich dir bekenne, daï¬ jene Bilder mich noch immer verfolgen, sosehr ich sie fliehe, und daï¬, wenn ich mein Herz untersuche, alle fr¸hen W¸nsche fest, ja noch fester als sonst darin haften? Doch was bleibt mir Ungl¸cklichem gegenwâ°rtig ¸brig? Ach, wer mir vorausgesagt hâ°tte, daï¬ die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewiï¬ ein Groï¬es zu umfassen hoffte, wer mir das vorausgesagt hâ°tte, w¸rde mich zur Verzweiflung gebracht haben. Und noch jetzt, da das Gericht ¸ber mich ergangen ist, jetzt, da ich die verloren habe, die anstatt einer Gottheit mich zu meinen W¸nschen hin¸berf¸hren sollte, was bleibt mir ¸brig, als mich den bittersten Schmerzen zu ¸berlassen? O mein Bruder”, fuhr er fort, “ich leugne nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlâ°gen der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist; gefâ°hrlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Fuï¬e seiner W¸nsche. Es ist auch nun f¸r mich kein Trost, keine Hoffnung mehr! Ich werde”, rief er aus, indem er aufsprang, “von diesen ungl¸ckseligen Papieren keines ¸briglassen.” Er faï¬te abermals ein paar Hefte an, riï¬ sie auf und warf sie ins Feuer. Werner wollte ihn abhalten, aber vergebens. “Laï¬ mich!” rief Wilhelm, “was sollen diese elenden Blâ°tter? F¸r mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr. Sollen sie ¸brigbleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum GespËtte dienen, anstatt Mitleiden und Schauer zu erregen? Weh ¸ber mich und ¸ber mein Schicksal! Nun verstehe ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not weise gewordnen Traurigen. Wie lange hielt ich mich f¸r unzerstËrbar, f¸r unverwundlich, und ach! nun seh ich, daï¬ ein tiefer fr¸her Schade nicht wieder auswachsen, sich nicht wieder herstellen kann; ich f¸hle, daï¬ ich ihn mit ins Grab nehmen muï¬. Nein! keinen Tag des Lebens soll der Schmerz von mir weichen, der mich noch zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir leben und sterben, das Andenken der Unw¸rdigen–ach, mein Freund! wenn ich von Herzen reden soll–der gewiï¬ nicht ganz Unw¸rdigen! Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. Ich bin zu grausam gewesen, du hast mich in deine Kâ°lte, in deine Hâ°rte unbarmherzig eingeweiht, meine zerr¸tteten Sinne gefangengehalten und mich verhindert, das f¸r sie und f¸r mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. Wer weiï¬, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach fâ°llt mir’s aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher H¸lflosigkeit ich sie verlieï¬! War’s nicht mËglich, daï¬ sie sich entschuldigen konnte? War’s nicht mËglich? Wieviel Miï¬verstâ°ndnisse kËnnen die Welt verwirren, wieviel Umstâ°nde kËnnen dem grËï¬ten Fehler Vergebung erflehen!–Wie oft denke ich mir sie, in der Stille f¸r sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gest¸tzt.–“Das ist”, sagt sie, “die Treue, die Liebe, die er mir zuschwur! Mit diesem unsanften Schlag das schËne Leben zu endigen, das uns verband!””–Er brach in einen Strom von Trâ°nen aus, indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die ¸bergebliebenen Papiere benetzte.
Werner stand in der grËï¬ten Verlegenheit dabei. Er hatte sich dieses rasche Auflodern der Leidenschaft nicht vermutet. Etlichemal wollte er seinem Freunde in die Rede fallen, etlichemal das Gesprâ°ch woandershin lenken, vergebens! er widerstand dem Strome nicht. Auch hier ¸bernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt. Er lieï¬ den heftigsten Anfall des Schmerzens vor¸ber, indem er durch seine stille Gegenwart eine aufrichtige, reine Teilnehmung am besten sehen lieï¬, und so blieben sie diesen Abend; Wilhelm ins stille Nachgef¸hl des Schmerzens versenkt und der andere erschreckt durch den neuen Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch guten Rat und eifriges Zureden ¸berwâ°ltigt zu haben glaubte.
II. Buch, 3. Kapitel
Drittes Kapitel
Nach solchen R¸ckfâ°llen pflegte Wilhelm meist nur desto eifriger sich den Geschâ°ften und der Tâ°tigkeit zu widmen, und es war der beste Weg, dem Labyrinthe, das ihn wieder anzulocken suchte, zu entfliehen. Seine gute Art, sich gegen Fremde zu betragen, seine Leichtigkeit, fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz zu f¸hren, gaben seinem Vater und dessen Handelsfreunde immer mehr Hoffnung und trËsteten sie ¸ber die Krankheit, deren Ursache ihnen nicht bekannt geworden war, und ¸ber die Pause, die ihren Plan unterbrochen hatte. Man beschloï¬ Wilhelms Abreise zum zweitenmal, und wir finden ihn auf seinem Pferde, den Mantelsack hinter sich, erheitert durch freie Luft und Bewegung, dem Gebirge sich nâ°hern, wo er einige Auftrâ°ge ausrichten sollte.
Er durchstrich langsam Tâ°ler und Berge mit der Empfindung des grËï¬ten Vergn¸gens. ¸berhangende Felsen, rauschende Wasserbâ°che, bewachsene Wâ°nde, tiefe Gr¸nde sah er hier zum erstenmal, und doch hatten seine fr¸hsten Jugendtrâ°ume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er f¸hlte sich bei diesem Anblicke wieder verj¸ngt; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit vËlliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem “Pastor fido” vor, die an diesen einsamen Plâ°tzen scharenweis seinem Gedâ°chtnisse zuflossen. Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus seinen eigenen Liedern, die er mit einer besondern Zufriedenheit rezitierte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkw¸rdiger Begebenheiten.
Mehrere Menschen, die aufeinanderfolgend hinter ihm herkamen, an ihm mit einem Gruï¬e vorbeigingen und den Weg ins Gebirge, durch steile Fuï¬pfade, eilig fortsetzten, unterbrachen einigemal seine stille Unterhaltung, ohne daï¬ er jedoch aufmerksam auf sie geworden wâ°re. Endlich gesellte sich ein gesprâ°chiger Gefâ°hrte zu ihm und erzâ°hlte die Ursache der starken Pilgerschaft.
“Zu Hochdorf”, sagte er, “wird heute abend eine KomËdie gegeben, wozu sich die ganze Nachbarschaft versammelt.”
“Wie!” rief Wilhelm, “in diesen einsamen Gebirgen, zwischen diesen undurchdringlichen Wâ°ldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden und sich einen Tempel aufgebaut? und ich muï¬ zu ihrem Feste wallfahrten?”
“Sie werden sich noch mehr wundern”, sagte der andere, “wenn Sie hËren, durch wen das St¸ck aufgef¸hrt wird. Es ist eine groï¬e Fabrik in dem Orte, die viel Leute ernâ°hrt. Der Unternehmer, der sozusagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiï¬ seine Arbeiter im Winter nicht besser zu beschâ°ftigen, als daï¬ er sie veranlaï¬t hat, KomËdie zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen und w¸nscht sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten. So bringen sie die langen Abende zu, und heute, da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu Ehren eine besondere Festlichkeit.”
Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er ¸bernachten sollte, und stieg bei der Fabrik ab, deren Unternehmer auch als Schuldner auf seiner Liste stand.
Als er seinen Namen nannte, rief der Alte verwundert aus: “Ei, mein Herr, sind Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich so viel Dank und bis jetzt noch Geld schuldig bin? Ihr Herr Vater hat so viel Geduld mit mir gehabt, daï¬ ich ein BËsewicht sein m¸ï¬te, wenn ich nicht eilig und frËhlich bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit, um zu sehen, daï¬ es mir Ernst ist.”
Er rief seine Frau herbei, welche ebenso erfreut war, den jungen Mann zu sehen; sie versicherte, daï¬ er seinem Vater gleiche, und bedauerte, daï¬ sie ihn wegen der vielen Fremden die Nacht nicht beherbergen kËnne.
Das Geschâ°ft war klar und bald berichtigt; Wilhelm steckte ein RËllchen Gold in die Tasche und w¸nschte, daï¬ seine ¸brigen Geschâ°fte auch so leicht gehen mËchten.
Die Stunde des Schauspiels kam heran, man erwartete nur noch den Oberforstmeister, der endlich auch anlangte, mit einigen Jâ°gern eintrat und mit der grËï¬ten Verehrung empfangen wurde.
Die Gesellschaft wurde nunmehr ins Schauspielhaus gef¸hrt, wozu man eine Scheune eingerichtet hatte, die gleich am Garten lag. Haus und Theater waren, ohne sonderlichen Geschmack, munter und artig genug angelegt. Einer von den Malern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte bei dem Theater in der Residenz gehandlangt und hatte nun Wald, Straï¬e und Zimmer, freilich etwas roh, hingestellt. Das St¸ck hatten sie von einer herumziehenden Truppe geborgt und nach ihrer eigenen Weise zurechtgeschnitten. So wie es war, unterhielt es. Die Intrige, daï¬ zwei Liebhaber ein Mâ°dchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich selbst entreiï¬en wollen, brachte allerlei interessante Situationen hervor. Es war das erste St¸ck, das unser Freund nach einer so langen Zeit wieder sah; er machte mancherlei Betrachtungen. Es war voller Handlung, aber ohne Schilderung wahrer Charaktere. Es gefiel und ergËtzte. So sind die Anfâ°nge aller Schauspielkunst. Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht; der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.
Den Schauspielern hâ°tte er hie und da gerne nachgeholfen; denn es fehlte nur wenig, so hâ°tten sie um vieles besser sein kËnnen.
In seinen stillen Betrachtungen stËrte ihn der Tabaksdampf, der immer stâ°rker und stâ°rker wurde. Der Oberforstmeister hatte bald nach Anfang des St¸cks seine Pfeife angez¸ndet, und nach und nach nahmen sich mehrere diese Freiheit heraus. Auch machten die groï¬en Hunde dieses Herrn schlimme Auftritte. Man hatte sie zwar ausgesperrt; allein sie fanden bald den Weg zur Hintert¸re herein, liefen auf das Theater, rannten wider die Akteurs und gesellten sich endlich durch einen Sprung ¸ber das Orchester zu ihrem Herrn, der den ersten Platz im Parterre eingenommen hatte.
Zum Nachspiel ward ein Opfer dargebracht. Ein Portrâ°t, das den Alten in seinem Brâ°utigamskleide vorstellte, stand auf einem Altar, mit Krâ°nzen behangen. Alle Schauspieler huldigten ihm in demutvollen Stellungen. Das j¸ngste Kind trat, weiï¬ gekleidet, hervor und hielt eine Rede in Versen, wodurch die ganze Familie und sogar der Oberforstmeister, der sich dabei an seine Kinder erinnerte, zu Trâ°nen bewegt wurde. So endigte sich das St¸ck, und Wilhelm konnte nicht umhin, das Theater zu besteigen, die Aktricen in der Nâ°he zu besehen, sie wegen ihres Spiels zu loben und ihnen auf die Zukunft einigen Rat zu geben.
Die ¸brigen Geschâ°fte unsers Freundes, die er nach und nach in grËï¬ern und kleinern Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht alle so gl¸cklich noch so vergn¸gt ab. Manche Schuldner baten um Aufschub, manche waren unhËflich, manche leugneten. Nach seinem Auftrage sollte er einige verklagen; er muï¬te einen Advokaten aufsuchen, diesen instruieren, sich vor Gericht stellen und was dergleichen verdrieï¬liche Geschâ°fte noch mehr waren.
Ebensoschlimm erging es ihm, wenn man ihm eine Ehre erzeigen wollte. Nur wenig Leute fand er, die ihn einigermaï¬en unterrichten konnten; wenige, mit denen er in ein n¸tzliches Handelsverhâ°ltnis zu kommen hoffte. Da nun auch ungl¸cklicherweise Regentage einfielen und eine Reise zu Pferd in diesen Gegenden mit unertrâ°glichen Beschwerden verkn¸pft war, so dankte er dem Himmel, als er sich dem flachen Lande wieder nâ°herte und am Fuï¬e des Gebirges in einer schËnen und fruchtbaren Ebene, an einem sanften Flusse, im Sonnenscheine ein heiteres Landstâ°dtchen liegen sah, in welchem er zwar keine Geschâ°fte hatte, aber eben deswegen sich entschloï¬, ein paar Tage daselbst zu verweilen, um sich und seinem Pferde, das von dem schlimmen Wege sehr gelitten hatte, einige Erholung zu verschaffen.
II. Buch, 4. Kapitel–1
Viertes Kapitel
Als er in einem Wirtshause auf dem Markte abtrat, ging es darin sehr lustig, wenigstens sehr lebhaft zu. Eine groï¬e Gesellschaft Seiltâ°nzer, Springer und Gaukler, die einen starken Mann bei sich hatten, waren mit Weib und Kindern eingezogen und machten, indem sie sich auf eine Ëffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug ¸ber den andern. Bald stritten sie mit dem Wirte, bald unter sich selbst; und wenn ihr Zank unleidlich war, so waren die â°uï¬erungen ihres Vergn¸gens ganz und gar unertrâ°glich. Unschl¸ssig, ob er gehen oder bleiben sollte, stand er unter dem Tore und sah den Arbeitern zu, die auf dem Platze ein Ger¸st aufzuschlagen anfingen.
Ein Mâ°dchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar, und er kaufte sich einen schËnen Strauï¬, den er mit Liebhaberei anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich auftat und ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der Entfernung bemerken, daï¬ eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Ihre blonden Haare fielen nachlâ°ssig aufgelËst um ihren Nacken; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisiersch¸rze umgeg¸rtet und ein weiï¬es Jâ°ckchen anhatte, aus der T¸re jenes Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begr¸ï¬te ihn und sagte: “Das Frauenzimmer am Fenster lâ°ï¬t Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schËnen Blumen abtreten wollen?”–“Sie stehn ihr alle zu Diensten”, versetzte Wilhelm, indem er dem leichten Boten das Bouquet ¸berreichte und zugleich der SchËnen ein Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruï¬ erwiderte und sich vom Fenster zur¸ckzog.
Nachdenkend ¸ber dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges GeschËpf ihm entgegensprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen â°rmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und ZËpfen um den Kopf gekrâ°uselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie f¸r einen Knaben oder f¸r ein Mâ°dchen erklâ°ren sollte. Doch entschied er sich bald f¸r das letzte und hielt sie auf, da sie bei ihm vorbeikam, bot ihr einen guten Tag und fragte sie, wem sie angehËre, ob er schon leicht sehen konnte, daï¬ sie ein Glied der springenden und tanzenden Gesellschaft sein m¸sse. Mit einem scharfen schwarzen Seitenblick sah sie ihn an, indem sie sich von ihm losmachte und in die K¸che lief, ohne zu antworten.
Als er die Treppe hinaufkam, fand er auf dem weiten Vorsaale zwei Mannspersonen, die sich im Fechten ¸bten oder vielmehr ihre Geschicklichkeit aneinander zu versuchen schienen. Der eine war offenbar von der Gesellschaft, die sich im Hause befand, der andere hatte ein weniger wildes Ansehn. Wilhelm sah ihnen zu und hatte Ursache, sie beide zu bewundern, und als nicht lange darauf der schwarzbâ°rtige, nervige Streiter den Kampfplatz verlieï¬, bot der andere mit vieler Artigkeit Wilhelmen das Rapier an.
“Wenn Sie einen Sch¸ler”, versetzte dieser, “in die Lehre nehmen wollen, so bin ich wohl zufrieden, mit Ihnen einige Gâ°nge zu wagen.” Sie fochten zusammen, und obgleich der Fremde dem AnkËmmling weit ¸berlegen war, so war er doch hËflich genug zu versichern, daï¬ alles nur auf ¸bung ankomme; und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt, daï¬ er fr¸her von einem guten und gr¸ndlichen deutschen Fechtmeister unterrichtet worden war.
Ihre Unterhaltung ward durch das GetËse unterbrochen, mit welchem die bunte Gesellschaft aus dem Wirtshause auszog, um die Stadt von ihrem Schauspiel zu benachrichtigen und auf ihre K¸nste begierig zu machen. Einem Tambour folgte der Entrepreneur zu Pferde, hinter ihm eine Tâ°nzerin auf einem â°hnlichen Gerippe, die ein Kind vor sich hielt, das mit Bâ°ndern und Flintern wohl herausgeputzt war. Darauf kam die ¸brige Truppe zu Fuï¬, wovon einige auf ihren Schultern Kinder, in abenteuerlichen Stellungen, leicht und bequem dahertrugen, unter denen die junge, schwarzkËpfige, d¸stere Gestalt Wilhelms Aufmerksamkeit aufs neue erregte.
Pagliasso lief unter der andringenden Menge drollig hin und her und teilte mit sehr begreiflichen Spâ°ï¬en, indem er bald ein Mâ°dchen k¸ï¬te, bald einen Knaben pritschte, seine Zettel aus und erweckte unter dem Volke eine un¸berwindliche Begierde, ihn nâ°her kennenzulernen.
In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen K¸nste der Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narziï¬ und der Demoiselle Landrinette herausgestrichen, welche beide als Hauptpersonen die Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch ein vornehmeres Ansehn zu geben und grËï¬ere Neugier zu erwecken.
Wâ°hrend des Zuges hatte sich auch die schËne Nachbarin wieder am Fenster sehen lassen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, sich bei seinem Gesellschafter nach ihr zu erkundigen. Dieser, den wir einstweilen Laertes nennen wollen, erbot sich, Wilhelmen zu ihr hin¸ber zu begleiten. “Ich und das Frauenzimmer”, sagte er lâ°chelnd, “sind ein paar Tr¸mmer einer Schauspielergesellschaft, die vor kurzem hier scheiterte. Die Anmut des Orts hat uns bewogen, einige Zeit hier zu bleiben und unsre wenige gesammelte Barschaft in Ruhe zu verzehren, indes ein Freund ausgezogen ist, ein Unterkommen f¸r sich und uns zu suchen.”
Laertes begleitete sogleich seinen neuen Bekannten zu Philinens T¸re, wo er ihn einen Augenblick stehenlieï¬, um in einem benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen. “Sie werden mir es gewiï¬ danken”, sagte er, indem er zur¸ckkam, “daï¬ ich Ihnen diese artige Bekanntschaft verschaffe.”
Das Frauenzimmer kam ihnen auf ein Paar leichten PantËffelchen mit hohen Absâ°tzen aus der Stube entgegengetreten. Sie hatte eine schwarze Mantille ¸ber ein weiï¬es Neglige geworfen, das, eben weil es nicht ganz reinlich war, ihr ein hâ°usliches und bequemes Ansehn gab; ihr kurzes RËckchen lieï¬ die niedlichsten F¸ï¬e von der Welt sehen.
“Sein Sie mir willkommen!” rief sie Wilhelmen zu, “und nehmen Sie meinen Dank f¸r die schËnen Blumen.” Sie f¸hrte ihn mit der einen Hand ins Zimmer, indem sie mit der andern den Strauï¬ an die Brust dr¸ckte. Als sie sich niedergesetzt hatten und in gleichg¸ltigen Gesprâ°chen begriffen waren, denen sie eine reizende Wendung zu geben wuï¬te, sch¸ttete ihr Laertes gebrannte Mandeln in den Schoï¬, von denen sie sogleich zu naschen anfing. “Sehn Sie, welch ein Kind dieser junge Mensch ist!” rief sie aus, “er wird Sie ¸berreden wollen, daï¬ ich eine groï¬e Freundin von solchen Nâ°schereien sei, und er ist’s, der nicht leben kann, ohne irgend etwas Leckeres zu genieï¬en.”
“Lassen Sie uns nur gestehn”, versetzte Laertes, “daï¬ wir hierin, wie in mehrerem, einander gern Gesellschaft leisten. Zum Beispiel”, sagte er, “es ist heute ein sehr schËner Tag; ich dâ°chte, wir f¸hren spazieren und nâ°hmen unser Mittagsmahl auf der M¸hle.”–“Recht gern”, sagte Philine, “wir m¸ssen unserm neuen Bekannten eine kleine Verâ°nderung machen.” Laertes sprang fort, denn er ging niemals, und Wilhelm wollte einen Augenblick nach Hause, um seine Haare, die von der Reise noch verworren aussahen, in Ordnung bringen zu lassen. “Das kËnnen Sie hier!” sagte sie, rief ihren kleinen Diener, nËtigte Wilhelmen auf die artigste Weise, seinen Rock auszuziehen, ihren Pudermantel anzulegen und sich in ihrer Gegenwart frisieren zu lassen. “Man muï¬ ja keine Zeit versâ°umen”, sagte sie; “man weiï¬ nicht, wie lange man beisammen bleibt.”
Der Knabe, mehr trotzig und unwillig als ungeschickt, benahm sich nicht zum besten, raufte Wilhelmen und schien so bald nicht fertig werden zu wollen. Philine verwies ihm einigemal seine Unart, stieï¬ ihn endlich ungeduldig hinweg und jagte ihn zur T¸re hinaus. Nun ¸bernahm sie selbst die Bem¸hung und krâ°uselte die Haare unsers Freundes mit groï¬er Leichtigkeit und Zierlichkeit, ob sie gleich auch nicht zu eilen schien und bald dieses, bald jenes an ihrer Arbeit auszusetzen hatte, indem sie nicht vermeiden konnte, mit ihren Knien die seinigen zu ber¸hren und Strauï¬ und Busen so nahe an seine Lippen zu bringen, daï¬ er mehr als einmal in Versuchung gesetzt ward, einen Kuï¬ darauf zu dr¸cken.
Als Wilhelm mit einem kleinen Pudermesser seine Stirne gereinigt hatte, sagte sie zu ihm: “Stecken Sie es ein, und gedenken Sie meiner dabei.” Es war ein artiges Messer; der Griff von eingelegtem Stahl zeigte die freundlichen Worte: “Gedenkt mein”. Wilhelm steckte es zu sich, dankte ihr und bat um die Erlaubnis, ihr ein kleines Gegengeschenk machen zu d¸rfen.
Nun war man fertig geworden. Laertes hatte die Kutsche gebracht, und nun begann eine sehr lustige Fahrt. Philine warf jedem Armen, der sie anbettelte, etwas zum Schlage hinaus, indem sie ihm zugleich ein munteres und freundliches Wort zurief.
Sie waren kaum auf der M¸hle angekommen und hatten ein Essen bestellt, als eine Musik vor dem Hause sich hËren lieï¬. Es waren Bergleute, die zu Zither und Triangel mit lebhaften und grellen Stimmen verschiedene artige Lieder vortrugen. Es dauerte nicht lange, so hatte eine herbeistrËmende Menge einen Kreis um sie geschlossen, und die Gesellschaft nickte ihnen ihren Beifall aus den Fenstern zu. Als sie diese Aufmerksamkeit gesehen, erweiterten sie ihren Kreis und schienen sich zu ihrem wichtigsten St¸ckchen vorzubereiten. Nach einer Pause trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor und stellte, indes die andern eine ernsthafte Melodie spielten, die Handlung des Sch¸rfens vor.
Es wâ°hrte nicht lange, so trat ein Bauer aus der Menge und gab jenem pantomimisch drohend zu verstehen, daï¬ er sich von hier hinwegbegeben solle. Die Gesellschaft war dar¸ber verwundert und erkannte erst den in einen Bauer verkleideten Bergmann, als er den Mund auftat und in einer Art von Rezitativ den andern schalt, daï¬ er wage, auf seinem Acker zu hantieren. Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an, den Landmann zu belehren, daï¬ er recht habe, hier einzuschlagen, und gab ihm dabei die ersten Begriffe vom Bergbau. Der Bauer, der die fremde Terminologie nicht verstand, tat allerlei alberne Fragen, wor¸ber die Zuschauer, die sich kl¸ger f¸hlten, ein herzliches Gelâ°chter aufschlugen. Der Bergmann suchte ihn zu berichten und bewies ihm den Vorteil, der zuletzt auch auf ihn flieï¬e, wenn die unterirdischen Schâ°tze des Landes herausgew¸hlt w¸rden. Der Bauer, der jenem zuerst mit Schlâ°gen gedroht hatte, lieï¬ sich nach und nach besâ°nftigen, und sie schieden als gute Freunde voneinander; besonders aber zog sich der Bergmann auf die honorabelste Art aus diesem Streite.
“Wir haben”, sagte Wilhelm bei Tische, “an diesem kleinen Dialog das lebhafteste Beispiel, wie n¸tzlich allen Stâ°nden das Theater sein kËnnte, wie vielen Vorteil der Staat selbst daraus ziehen m¸ï¬te, wenn man die Handlungen, Gewerbe und Unternehmungen der Menschen von ihrer guten, lobensw¸rdigen Seite und in dem Gesichtspunkte auf das Theater brâ°chte, aus welchem sie der Staat selbst ehren und sch¸tzen muï¬. Jetzt stellen wir nur die lâ°cherliche Seite der Menschen dar; der Lustspieldichter ist gleichsam nur ein hâ°mischer Kontrolleur, der auf die Fehler seiner Mitb¸rger ¸berall ein wachsames Auge hat und froh zu sein scheint, wenn er ihnen eins anhâ°ngen kann. Sollte es nicht eine angenehme und w¸rdige Arbeit f¸r einen Staatsmann sein, den nat¸rlichen, wechselseitigen Einfluï¬ aller Stâ°nde zu ¸berschauen und einen Dichter, der Humor genug hâ°tte, bei seinen Arbeiten zu leiten? Ich bin ¸berzeugt, es kËnnten auf diesem Wege manche sehr unterhaltende, zugleich n¸tzliche und lustige St¸cke ersonnen werden.”
“Soviel ich”, sagte Laertes, “¸berall, wo ich herumgeschwâ°rmt bin, habe bemerken kËnnen, weiï¬ man nur zu verbieten, zu hindern und abzulehnen; selten aber zu gebieten, zu befËrdern und zu belohnen. Man lâ°ï¬t alles in der Welt gehn, bis es schâ°dlich wird; dann z¸rnt man und schlâ°gt drein.”
“Laï¬t mit den Staat und die Staatsleute weg”, sagte Philine, “ich kann mir sie nicht anders als in Per¸cken vorstellen, und eine Per¸cke, es mag sie aufhaben, wer da will, erregt in meinen Fingern eine krampfhafte Bewegung; ich mËchte sie gleich dem ehrw¸rdigen Herrn herunternehmen, in der Stube herumspringen und den Kahlkopf auslachen.”
Mit einigen lebhaften Gesâ°ngen, welche sie sehr schËn vortrug, schnitt Philine das Gesprâ°ch ab und trieb zu einer schnellen R¸ckfahrt, damit man die K¸nste der Seiltâ°nzer am Abende zu sehen nicht versâ°umen mËchte. Drollig bis zur Ausgelassenheit, setzte sie ihre Freigebigkeit gegen die Armen auf dem Heimwege fort, indem sie zuletzt, da ihr und ihren Reisegefâ°hrten das Geld ausging, einem Mâ°dchen ihren Strohhut und einem alten Weibe ihr Halstuch zum Schlage hinauswarf.
Philine lud beide Begleiter zu sich in ihre Wohnung, weil man, wie sie sagte, aus ihren Fenstern das Ëffentliche Schauspiel besser als im andern Wirtshause sehen kËnne.
Als sie ankamen, fanden sie das Ger¸st aufgeschlagen und den Hintergrund mit aufgehâ°ngten Teppichen geziert. Die Schwungbretter waren schon gelegt, das Schlappseil an die Pfosten befestigt und das straffe Seil ¸ber die BËcke gezogen. Der Platz war ziemlich mit Volk gef¸llt und die Fenster mit Zuschauern einiger Art besetzt.
Pagliaï¬ bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten, wor¸ber die Zuschauer immer zu lachen pflegen, zur Aufmerksamkeit und guten Laune vor. Einige Kinder, deren KËrper die seltsamsten Verrenkungen darstellten, erregten bald Verwunderung, bald Grausen, und Wilhelm konnte sich des tiefen Mitleidens nicht enthalten, als er das Kind, an dem er beim ersten Anblicke teilgenommen, mit einiger M¸he die sonderbaren Stellungen hervorbringen sah. Doch bald erregten die lustigen Springer ein lebhaftes Vergn¸gen, wenn sie erst einzeln, dann hintereinander und zuletzt alle zusammen sich vorwâ°rts und r¸ckwâ°rts in der Luft ¸berschlugen. Ein lautes Hâ°ndeklatschen und Jauchzen erscholl aus der ganzen Versammlung.
Nun aber ward die Aufmerksamkeit auf einen ganz andern Gegenstand gewendet. Die Kinder, eins nach dem andern, muï¬ten das Seil betreten, und zwar die Lehrlinge zuerst, damit sie durch ihre ¸bungen das Schauspiel verlâ°ngerten und die Schwierigkeit der Kunst ins Licht setzten. Es zeigten sich auch einige Mâ°nner und erwachsene Frauenspersonen mit ziemlicher Geschicklichkeit; allein es war noch nicht Monsieur Narziï¬, noch nicht Demoiselle Landrinette.
Endlich traten auch diese aus einer Art von Zelt hinter aufgespannten roten Vorhâ°ngen hervor und erf¸llten durch ihre angenehme Gestalt und zierlichen Putz die bisher gl¸cklich genâ°hrte Hoffnung der Zuschauer. Er ein munteres B¸rschchen von mittlerer GrËï¬e, schwarzen Augen und einem starken Haarzopf; sie nicht minder wohl und krâ°ftig gebildet; beide zeigten sich nacheinander auf dem Seile mit leichten Bewegungen, Spr¸ngen und seltsamen Posituren. Ihre Leichtigkeit, seine Verwegenheit, die Genauigkeit, womit beide ihre Kunstst¸cke ausf¸hrten, erhËhten mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergn¸gen. Der Anstand, womit sie sich betrugen, die anscheinenden Bem¸hungen der andern um sie gaben ihnen das Ansehn, als wenn sie Herr und Meister der ganzen Truppe wâ°ren, und jedermann hielt sie des Ranges wert.
Die Begeisterung des Volks teilte sich den Zuschauern an den Fenstern mit, die Damen sahen unverwandt nach Narzissen, die Herren nach Landrinetten. Das Volk jauchzte, und das feinere Publikum enthielt sich nicht des Klatschens; kaum daï¬ man noch ¸ber Pagliassen lachte. Wenige nur schlichen sich weg, als einige von der Truppe, um Geld zu sammeln, sich mit zinnernen Tellern durch die Menge drâ°ngten.
“Sie haben ihre Sache, d¸nkt mich, gut gemacht”, sagte Wilhelm zu Philinen, die bei ihm am Fenster lag, “ich bewundere ihren Verstand, womit sie auch geringe Kunstst¸ckchen, nach und nach und zur rechten Zeit angebracht, gelten zu machen wuï¬ten, und wie sie aus der Ungeschicklichkeit ihrer Kinder und aus der Virtuositâ°t ihrer Besten ein Ganzes zusammenarbeiteten, das erst unsre Aufmerksamkeit erregte und dann uns auf das angenehmste unterhielt.”
Das Volk hatte sich nach und nach verlaufen, und der Platz war leer geworden, indes Philine und Laertes ¸ber die Gestalt und die Geschicklichkeit Narzissens und Landrinettens in Streit gerieten und sich wechselsweise neckten. Wilhelm sah das wunderbare Kind auf der Straï¬e bei andern spielenden Kindern stehen, machte Philinen darauf aufmerksam, die sogleich nach ihrer lebhaften Art dem Kinde rief und winkte und, da es nicht kommen wollte, singend die Treppe hinunterklapperte und es herauff¸hrte.
II. Buch, 4. Kapitel–2
“Hier ist das Râ°tsel”, rief sie, als sie das Kind zur T¸re hereinzog. Es blieb am Eingange stehen, eben als wenn es gleich wieder hinausschl¸pfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust, die linke vor die Stirn und b¸ckte sich tief. “F¸rchte dich nicht, liebe Kleine”, sagte Wilhelm, indem er auf sie losging. Sie sah ihn mit unsicheren Blick an und trat einige Schritte nâ°her.
“Wie nennest du dich?” fragte er. “Sie heiï¬en mich Mignon.”–“Wieviel Jahre hast du?”–“Es hat sie niemand gezâ°hlt.”–“Wer war dein Vater?”–“Der groï¬e Teufel ist tot.”
“Nun, das ist wunderlich genug!” rief Philine aus. Man fragte sie noch einiges; sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer sonderbar feierlichen Art vor; dabei legte sie jedesmal die Hâ°nde an Brust und Haupt und neigte sich tief.
Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. Er schâ°tzte sie zwËlf bis dreizehn Jahre; ihr KËrper war gut gebaut, nur daï¬ ihre Glieder einen stâ°rkern Wuchs versprachen oder einen zur¸ckgehaltenen ank¸ndigten. Ihre Bildung war nicht regelmâ°ï¬ig, aber auffallend; ihre Stirne geheimnisvoll, ihre Nase auï¬erordentlich schËn, und der Mund, ob er schon f¸r ihr Alter zu sehr geschlossen schien und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug. Ihre brâ°unliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen. Diese Gestalt prâ°gte sich Wilhelmen sehr tief ein; er sah sie noch immer an, schwieg und vergaï¬ der Gegenwâ°rtigen ¸ber seinen Betrachtungen. Philine weckte ihn aus seinem Halbtraume, indem sie dem Kinde etwas ¸briggebliebenes Zuckerwerk reichte und ihm ein Zeichen gab, sich zu entfernen. Es machte seinen B¸ckling wie oben und fuhr blitzschnell zur T¸re hinaus.
Als die Zeit nunmehr herbeikam, daï¬ unsre neuen Bekannten sich f¸r diesen Abend trennen sollten, redeten sie vorher noch eine Spazierfahrt auf den morgenden Tag ab. Sie wollten abermals an einem andern Orte, auf einem benachbarten Jâ°gerhause, ihr Mittagsmahl einnehmen. Wilhelm sprach diesen Abend noch manches zu Philinens Lobe, worauf Laertes nur kurz und leichtsinnig antwortete.
Den andern Morgen, als sie sich abermals eine Stunde im Fechten ge¸bt hatten, gingen sie nach Philinens Gasthofe, vor welchem sie die bestellte Kutsche schon hatten anfahren sehen. Aber wie verwundert war Wilhelm, als die Kutsche verschwunden, und wie noch mehr, als Philine nicht zu Hause anzutreffen war. Sie hatte sich, so erzâ°hlte man, mit ein paar Fremden, die diesen Morgen angekommen waren, in den Wagen gesetzt und war mit ihnen davongefahren. Unser Freund, der sich in ihrer Gesellschaft eine angenehme Unterhaltung versprochen hatte, konnte seinen Verdruï¬ nicht verbergen. Dagegen lachte Laertes und rief: “So gefâ°llt sie mir! Das sieht ihr ganz â°hnlich! Lassen Sie uns nur gerade nach dem Jagdhause gehen; sie mag sein, wo sie will, wir wollen ihretwegen unsere Promenade nicht versâ°umen.”
Als Wilhelm unterwegs diese Inkonsequenz des Betragens zu tadeln fortfuhr, sagte Laertes: “Ich kann nicht inkonsequent finden, wenn jemand seinem Charakter treu bleibt. Wenn sie sich etwas vornimmt oder jemanden etwas verspricht, so geschieht es nur unter der stillschweigenden Bedingung, daï¬ es ihr auch bequem sein werde, den Vorsatz auszuf¸hren oder ihr Versprechen zu halten. Sie verschenkt gern, aber man muï¬ immer bereit sein, ihr das Geschenkte wiederzugeben.”
“Dies ist ein seltsamer Charakter”, versetzte Wilhelm.
“Nichts weniger als seltsam, nur daï¬ sie keine Heuchlerin ist. Ich liebe sie deswegen, ja ich bin ihr Freund, weil sie mir das Geschlecht so rein darstellt, das ich zu hassen so viel Ursache habe. Sie ist mir die wahre Eva, die Stammutter des weiblichen Geschlechts; so sind alle, nur wollen sie es nicht Wort haben.”
Unter mancherlei Gesprâ°chen, in welchen Laertes seinen Haï¬ gegen das weibliche Geschlecht sehr lebhaft ausdr¸ckte, ohne jedoch die Ursache davon anzugeben, waren sie in den Wald gekommen, in welchen Wilhelm sehr verstimmt eintrat, weil die â°uï¬erungen des Laertes ihm die Erinnerung an sein Verhâ°ltnis zu Marianen wieder lebendig gemacht hatten. Sie fanden nicht weit von einer beschatteten Quelle unter herrlichen alten Bâ°umen Philinen allein an einem steinernen Tische sitzen. Sie sang ihnen ein lustiges Liedchen entgegen, und als Laertes nach ihrer Gesellschaft fragte, rief sie aus: “Ich habe sie schËn angef¸hrt; ich habe sie zum besten gehabt, wie sie es verdienten. Schon unterwegs setzte ich ihre Freigebigkeit auf die Probe, und da ich bemerkte, daï¬ sie von den kargen Nâ°schern waren, nahm ich mir gleich vor, sie zu bestrafen. Nach unsrer Ankunft fragten sie den Kellner, was zu haben sei, der mit der gewËhnlichen Gelâ°ufigkeit seiner Zunge alles, was da war, und mehr als da war, hererzâ°hlte. Ich sah ihre Verlegenheit, sie blickten einander an, stotterten und fragten nach dem Preise; “Was bedenken Sie sich lange”, rief ich aus, “die Tafel ist das Geschâ°ft eines Frauenzimmers, lassen Sie mich daf¸r sorgen.” Ich fing darauf an, ein unsinniges Mittagmahl zu bestellen, wozu noch manches durch Boten aus der Nachbarschaft geholt werden sollte. Der Kellner, den ich durch ein paar schiefe Mâ°uler zum Vertrauten gemacht hatte, half mir endlich, und so haben wir sie durch die Vorstellung eines herrlichen Gastmahls dergestalt geâ°ngstigt, daï¬ sie sich kurz und gut zu einem Spaziergange in den Wald entschlossen, von dem sie wohl schwerlich zur¸ckkommen werden. Ich habe eine Viertelstunde auf meine eigene Hand gelacht und werde lachen, sooft ich an die Gesichter denke.” Bei Tische erinnerte sich Laertes an â°hnliche Fâ°lle; sie kamen in den Gang, lustige Geschichten, Miï¬verstâ°ndnisse und Prellereien zu erzâ°hlen.
Ein junger Mann von ihrer Bekanntschaft aus der Stadt kam mit einem Buche durch den Wald geschlichen, setzte sich zu ihnen und r¸hmte den schËnen Platz. Er machte sie auf das Rieseln der Quelle, auf die Bewegung der Zweige, auf die einfallenden Lichter und auf den Gesang der VËgel aufmerksam. Philine sang ein Liedchen vom Kuckuck, welches dem AnkËmmling nicht zu behagen schien; er empfahl sich bald.
“Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturszenen hËren sollte”, rief Philine aus, als er weg war; “es ist nichts unertrâ°glicher, als sich das Vergn¸gen vorrechnen zu lassen, das man genieï¬t. Wenn schËn Wetter ist, geht man spazieren, wie man tanzt wenn aufgespielt wird. Wer mag aber nur einen Augenblick an die Musik, wer ans schËne Wetter denken? Der Tâ°nzer interessiert uns, nicht die Violine, und in ein Paar schËne schwarze Augen zu sehen, tut einem Paar blauen Augen gar zu wohl. Was sollen dagegen Quellen und Brunnen und alte, morsche Linden!” Sie sah, indem sie so sprach, Wilhelmen, der ihr gegen¸ber saï¬, mit einem Blick in die Augen, dem er nicht wehren konnte, wenigstens bis an die T¸re seines Herzens vorzudringen.
“Sie haben recht”, versetzte er mit einiger Verlegenheit, “der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren. Alles andere, was uns umgibt, ist entweder nur Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, dessen wir uns bedienen. Je mehr wir uns dabei aufhalten, je mehr wir darauf merken und teil daran nehmen, desto schwâ°cher wird das Gef¸hl unsers eignen Wertes und das Gef¸hl der Gesellschaft. Die Menschen, die einen groï¬en Wert auf Gâ°rten, Gebâ°ude, Kleider, Schmuck oder irgend ein Besitztum legen, sind weniger gesellig und gefâ°llig; sie verlieren die Menschen aus den Augen, welche zu erfreuen und zu versammeln nur sehr wenigen gl¸ckt. Sehn wir es nicht auch auf dem Theater? Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende, unschickliche Dekoration vergessen, dahingegen das schËnste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht f¸hlbar macht.”
Nach Tische setzte Philine sich in das beschattete hohe Gras. Ihre beiden Freunde muï¬ten ihr Blumen in Menge herbeischaffen. Sie wand sich einen vollen Kranz und setzte ihn auf; sie sah unglaublich reizend aus. Die Blumen reichten noch zu einem andern hin; auch den flocht sie, indem sich beide Mâ°nner neben sie setzten. Als er unter allerlei Scherz und Anspielungen fertig geworden war, dr¸ckte sie ihn Wilhelmen mit der grËï¬ten Anmut aufs Haupt und r¸ckte ihn mehr als einmal anders, bis er recht zu sitzen schien. “Und ich werde, wie es scheint, leer ausgehen”, sagte Laertes.
“Mitnichten”, versetzte Philine. “Ihr sollt Euch keinesweges beklagen.” Sie nahm ihren Kranz vom Haupte und setzte ihn Laertes auf.
“Wâ°ren wir Nebenbuhler”, sagte dieser, “so w¸rden wir sehr heftig streiten kËnnen, welchen von beiden du am meisten beg¸nstigst.”
“Da wâ°rt ihr rechte Toren”, versetzte sie, indem sie sich zu ihm hin¸berbog und ihm den Mund zum Kuï¬ reichte, sich aber sogleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen schlang und einen lebhaften Kuï¬ auf seine Lippen dr¸ckte. “Welcher schmeckt am besten?” fragte sie neckisch.
“Wunderlich!” rief Laertes. “Es scheint, als wenn so etwas niemals nach Wermut schmecken kËnne.”
“Sowenig”, sagte Philine, “als irgend eine Gabe, die jemand ohne Neid und Eigensinn genieï¬t. Nun hâ°tte ich”, rief sie aus, “noch Lust, eine Stunde zu tanzen, und dann m¸ssen wir wohl wieder nach unsern Springern sehen.”
Man ging nach dem Hause und fand Musik daselbst. Philine, die eine gute Tâ°nzerin war, belebte ihre beiden Gesellschafter. Wilhelm war nicht ungeschickt, allein es fehlte ihm an einer k¸nstlichen ¸bung. Seine beiden Freunde nahmen sich vor, ihn zu unterrichten.
Man verspâ°tete sich. Die Seiltâ°nzer hatten ihre K¸nste schon zu produzieren angefangen. Auf dem Platze hatten sich viele Zuschauer eingefunden, doch war unsern Freunden, als sie ausstiegen, ein Get¸mmel merkw¸rdig, das eine groï¬e Anzahl Menschen nach dem Tore des Gasthofes, in welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezogen hatte. Wilhelm sprang hin¸ber, um zu sehen, was es sei, und mit Entsetzen erblickte er, als er sich durchs Volk drâ°ngte, den Herrn der Seiltâ°nzergesellschaft, der das interessante Kind bei den Haaren aus dem Hause zu schleppen bem¸ht war und mit einem Peitschenstiel unbarmherzig auf den kleinen KËrper losschlug.
Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu und faï¬te ihn bei der Brust. “Laï¬ das Kind los!” schrie er wie ein Rasender, “Oder einer von uns bleibt hier auf der Stelle.” Er faï¬te zugleich den Kerl mit einer Gewalt, die nur der Zorn geben kann, bei der Kehle, daï¬ dieser zu ersticken glaubte, das Kind loslieï¬ und sich gegen den Angreifenden zu verteidigen suchte. Einige Leute, die mit dem Kinde Mitleiden f¸hlten, aber Streit anzufangen nicht gewagt hatten, fielen dem Seiltâ°nzer sogleich in die Arme, entwaffneten ihn und drohten ihm mit vielen Schimpfreden. Dieser, der sich jetzt nur auf die Waffen seines Mundes reduziert sah, fing grâ°ï¬lich zu drohen und zu fluchen an: die faule, unn¸tze Kreatur wolle ihre Schuldigkeit nicht tun; sie verweigere, den Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko versprochen habe; er wolle sie totschlagen, und es solle ihn niemand daran hindern. Er suchte sich loszumachen, um das Kind, das sich unter der Menge verkrochen hatte, aufzusuchen. Wilhelm hielt ihn zur¸ck und rief: “Du sollst nicht eher dieses GeschËpf weder sehen noch ber¸hren, bis du vor Gericht Rechenschaft gibst, wo du es gestohlen hast; ich werde dich aufs â°uï¬erste treiben; du sollst mir nicht entgehen.” Diese Rede, welche Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen Gef¸hl oder, wenn man will, aus Inspiration ausgesprochen hatte, brachte den w¸tenden Menschen auf einmal zur Ruhe. Er rief: “Was hab ich mit der unn¸tzen Kreatur zu schaffen! Zahlen Sie mir, was mich ihre Kleider kosten, und Sie mËgen sie behalten; wir wollen diesen Abend noch einig werden.” Er eilte darauf, die unterbrochene Vorstellung fortzusetzen und die Unruhe des Publikums durch einige bedeutende Kunstst¸cke zu befriedigen.
Wilhelm suchte nunmehr, da es stille geworden war, nach dem Kinde, das sich aber nirgends fand. Einige wollten es auf dem Boden, andere auf den Dâ°chern der benachbarten Hâ°user gesehen haben. Nachdem man es allerorten gesucht hatte, muï¬te man sich beruhigen und abwarten, ob es nicht von selbst wieder herbeikommen wolle.
Indes war Narziï¬ nach Hause gekommen, welchen Wilhelm ¸ber die Schicksale und die Herkunft des Kindes befragte. Dieser wuï¬te nichts davon, denn er war nicht lange bei der Gesellschaft, erzâ°hlte dagegen mit groï¬er Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine eigenen Schicksale. Als ihm Wilhelm zu dem groï¬en Beifall Gl¸ck w¸nschte, dessen er sich zu erfreuen hatte, â°uï¬erte er sich sehr gleichg¸ltig dar¸ber. “Wir sind gewohnt” sagte er, “daï¬ man ¸ber uns lacht und unsre K¸nste bewundert; aber wir werden durch den auï¬erordentlichen Beifall um nichts gebessert. Der Entrepreneur zahlt uns und mag sehen, wie er zurechtekËmmt.” Er beurlaubte sich darauf und wollte sich eilig entfernen.
Auf die Frage, wo er so schnell hinwolle, lâ°chelte der junge Mensch und gestand, daï¬ seine Figur und Talente ihm einen solidern Beifall zugezogen, als der des groï¬en Publikums sei. Er habe von einigen Frauenzimmern Botschaft erhalten, die sehr eifrig verlangten, ihn nâ°her kennenzulernen, und er f¸rchte, mit den Besuchen, die er abzulegen habe, vor Mitternacht kaum fertig zu werden. Er fuhr fort, mit der grËï¬ten Aufrichtigkeit seine Abenteuer zu erzâ°hlen, und hâ°tte die Namen, Straï¬en und Hâ°user angezeigt, wenn nicht Wilhelm eine solche Indiskretion abgelehnt und ihn hËflich entlassen hâ°tte.
Laertes hatte indessen Landrinetten unterhalten und versicherte, sie sei vollkommen w¸rdig, ein Weib zu sein und zu bleiben.
Nun ging die Unterhandlung mit dem Entrepreneur wegen des Kindes an, das unserm Freunde f¸r dreiï¬ig Taler ¸berlassen wurde, gegen welche der schwarzbâ°rtige, heftige Italiener seine Anspr¸che vËllig abtrat, von der Herkunft des Kindes aber weiter nichts bekennen wollte, als daï¬ er solches nach dem Tode seines Bruders, den man wegen seiner auï¬erordentlichen Geschicklichkeit den groï¬en Teufel genannt, zu sich genommen habe.
Der andere Morgen ging meist mit Aufsuchen des Kindes hin. Vergebens durchkroch man alle Winkel des Hauses und der Nachbarschaft; es war verschwunden, und man f¸rchtete, es mËchte in ein Wasser gesprungen sein oder sich sonst ein Leids angetan haben.
Philinens Reize konnten die Unruhe unsers Freundes nicht ableiten. Er brachte einen traurigen, nachdenklichen Tag zu. Auch des Abends, da Springer und Tâ°nzer alle ihre Krâ°fte aufboten, um sich dem Publiko aufs beste zu empfehlen, konnte sein Gem¸t nicht erheitert und zerstreut werden.
Durch den Zulauf aus benachbarten Ortschaften hatte die Anzahl der Menschen auï¬erordentlich zugenommen, und so wâ°lzte sich auch der Schneeball des Beifalls zu einer ungeheuren GrËï¬e. Der Sprung ¸ber die Degen und durch das Faï¬ mit papiernen BËden machte eine groï¬e Sensation. Der starke Mann lieï¬ zum allgemeinen Grausen, Entsetzen und Erstaunen, indem er sich mit dem Kopf und den F¸ï¬en auf ein Paar auseinandergeschobene St¸hle legte, auf seinen hohlschwebenden Leib einen Amboï¬ heben und auf demselben von einigen wackern Schmiedegesellen ein Hufeisen fertig schmieden.
Auch war die sogenannte Herkulesstâ°rke, da eine Reihe Mâ°nner, auf den Schultern einer ersten Reihe stehend, abermals Frauen und J¸nglinge trâ°gt, so daï¬ zuletzt eine lebendige Pyramide entsteht, deren Spitze ein Kind, auf den Kopf gestellt, als Knopf und Wetterfahne ziert, in diesen Gegenden noch nie gesehen worden und endigte w¸rdig das ganze Schauspiel. Narziï¬ und Landrinette lieï¬en sich in Tragsesseln auf den Schultern der ¸brigen durch die vornehmsten Straï¬en der Stadt unter lautem Freudengeschrei des Volks tragen. Man warf ihnen Bâ°nder, Blumenstrâ°uï¬e und seidene T¸cher zu und drâ°ngte sich, sie ins Gesicht zu fassen. Jedermann schien gl¸cklich zu sein, sie anzusehn und von ihnen eines Blicks gew¸rdigt zu werden.
“Welcher Schauspieler, welcher Schriftsteller, ja welcher Mensch ¸berhaupt w¸rde sich nicht auf dem Gipfel seiner W¸nsche sehen, wenn er durch irgendein edles Wort oder eine gute Tat einen so allgemeinen Eindruck hervorbrâ°chte? Welche kËstliche Empfindung m¸ï¬te es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit w¸rdige Gef¸hle ebenso schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entz¸cken unter dem Volke erregen kËnnte, als diese Leute durch ihre kËrperliche Geschicklichkeit getan haben; wenn man der Menge das Mitgef¸hl alles Menschlichen geben, wenn man sie mit der Vorstellung des Gl¸cks und Ungl¸cks, der Weisheit und Torheit, ja des Unsinns und der Albernheit entz¸nden, ersch¸ttern und ihr stockendes Innere in freie, lebhafte und reine Bewegung setzen kËnntet” So sprach unser Freund, und da weder Philine noch Laertes gestimmt schienen, einen solchen Diskurs fortzusetzen, unterhielt er sich allein mit diesen Lieblingsbetrachtungen, als er bis spâ°t in die Nacht um die Stadt spazierte und seinen alten Wunsch, das Gute, Edle, Groï¬e durch das Schauspiel zu versinnlichen, wieder einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller Freiheit einer losgebundenen Einbildungskraft verfolgte.
II. Buch, 5. Kapitel
F¸nftes Kapitel
Des andern Tages, als die Seiltâ°nzer mit groï¬em Gerâ°usch abgezogen waren, fand sich Mignon sogleich wieder ein und trat hinzu, als Wilhelm und Laertes ihre Fecht¸bungen auf dem Saale fortsetzten. “Wo hast du gesteckt?” fragte Wilhelm freundlich, “du hast uns viel Sorge gemacht.” Das Kind antwortete nichts und sah ihn an. “Du bist nun unser”, rief Laertes, “wir haben dich gekauft”–“Was hast du bezahlt?” fragte das Kind ganz trocken. “Hundert Dukaten”, versetzte Laertes; “wenn du sie wiedergibst, kannst du frei sein.”–“Das ist wohl viel?” fragte das Kind. “O ja, du magst dich nur gut auff¸hren.”–“Ich will dienen”, versetzte sie.
Von dem Augenblicke an merkte sie genau, was der Kellner den beiden Freunden f¸r Dienste zu leisten hatte, und litt schon des andern Tages nicht mehr, daï¬ er ins Zimmer kam. Sie wollte alles selbst tun und machte auch ihre Geschâ°fte, zwar langsam und mitunter unbeh¸lflich, doch genau und mit groï¬er Sorgfalt.
Sie stellte sich oft an ein Gefâ°ï¬ mit Wasser und wusch ihr Gesicht mit so groï¬er Emsigkeit und Heftigkeit, daï¬ sie sich fast die Backen aufrieb, bis Laertes durch Fragen und Necken erfuhr, daï¬ sie die Schminke von ihren Wangen auf alle Weise loszuwerden suche und ¸ber dem Eifer, womit sie es tat, die RËte, die sie durchs Reiben hervorgebracht hatte, f¸r die hartnâ°ckigste Schminke halte. Man bedeutete sie, und sie lieï¬ ab, und nachdem sie wieder zur Ruhe gekommen war, zeigte sich eine schËne braune, obgleich nur von wenigem Rot erhËhte Gesichtsfarbe.
Durch die frevelhaften Reize Philinens, durch die geheimnisvolle Gegenwart des Kindes mehr, als er sich selbst gestehen durfte, unterhalten, brachte Wilhelm verschiedene Tage in dieser sonderbaren Gesellschaft zu und rechtfertigte sich bei sich selbst durch eine fleiï¬ige ¸bung in der Fecht- und Tanzkunst, wozu er so leicht nicht wieder Gelegenheit zu finden glaubte.
Nicht wenig verwundert und gewissermaï¬en erfreut war er, als er eines Tages Herrn und Frau Melina ankommen sah, welche gleich nach dem ersten frohen Gruï¬e sich nach der Direktrice und den ¸brigen Schauspielern erkundigten und mit groï¬em Schrecken vernahmen, daï¬ jene sich schon lange entfernt habe und diese bis auf wenige zerstreut seien.
Das junge Paar hatte sich nach ihrer Verbindung, zu der, wie wir wissen, Wilhelm behilflich gewesen, an einigen Orten nach Engagement umgesehen, keines gefunden und war endlich in dieses Stâ°dtchen gewiesen worden, wo einige Personen, die ihnen unterwegs begegneten, ein gutes Theater gesehen haben wollten.
Philinen wollte Madame Melina, und Herr Melina dem lebhaften Laertes, als sie Bekanntschaft machten, keinesweges gefallen. Sie w¸nschten die neuen AnkËmmlinge gleich wieder los zu sein, und Wilhelm konnte ihnen keine g¸nstigen Gesinnungen beibringen, ob er ihnen gleich wiederholt versicherte, daï¬ es recht gute Leute seien.
Eigentlich war auch das bisherige lustige Leben unsrer drei Abenteurer durch die Erweiterung der Gesellschaft auf mehr als eine Weise gestËrt; denn Melina fing im Wirtshause (er hatte in ebendemselben, in welchem Philine wohnte, Platz gefunden) gleich zu markten und zu quengeln an. Er wollte f¸r weniges Geld besseres Quartier, reichlichere Mahlzeit und promptere Bedienung haben. In kurzer Zeit machten Wirt und Kellner verdrieï¬liche Gesichter, und wenn die andern, um froh zu leben, sich alles gefallen lieï¬en und nur geschwind bezahlten, um nicht lâ°nger an das zu denken, was schon verzehrt war, so muï¬te die Mahlzeit, die Melina regelmâ°ï¬ig sogleich berichtigte, jederzeit von vorn wieder durchgenommen werden, so daï¬ Philine ihn ohne Umstâ°nde ein wiederkâ°uendes Tier nannte.
Noch verhaï¬ter war Madame Melina dem lustigen Mâ°dchen. Diese junge Frau war nicht ohne Bildung, doch fehlte es ihr gâ°nzlich an Geist und Seele. Sie deklamierte nicht ¸bel und wollte immer deklamieren; allein man merkte bald, daï¬ es nur eine Wortdeklamation war, die auf einzelnen Stellen lastete und die Empfindung des Ganzen nicht ausdr¸ckte. Bei diesem allen war sie nicht leicht jemanden, besonders Mâ°nnern, unangenehm. Vielmehr schrieben ihr diejenigen, die mit ihr umgingen, gewËhnlich einen schËnen Verstand zu: denn sie war, was ich mit einem Worte eine Anempfinderin nennen mËchte; sie wuï¬te einem Freunde, um dessen Achtung ihr zu tun war, mit einer besondern Aufmerksamkeit zu schmeicheln, in seine Ideen so lange als mËglich einzugehen, sobald sie aber ganz ¸ber ihren Horizont waren, mit Ekstase eine solche neue Erscheinung aufzunehmen. Sie verstand zu sprechen und zu schweigen und, ob sie gleich kein t¸ckisches Gem¸t hatte, mit groï¬er Vorsicht aufzupassen, wo des andern schwache Seite sein mËchte.
II. Buch, 6. Kapitel
Sechstes Kapitel
Melina hatte sich indessen nach den Tr¸mmern der vorigen Direktion genau erkundigt. Sowohl Dekorationen als Garderobe waren an einige Handelsleute versetzt, und ein Notarius hatte den Auftrag von der Direktrice erhalten, unter gewissen Bedingungen, wenn sich Liebhaber fâ°nden, in den Verkauf aus freier Hand zu willigen. Melina wollte die Sachen besehen und zog Wilhelmen mit sich. Dieser empfand, als man ihnen die Zimmer erËffnete, eine gewisse Neigung dazu, die er sich jedoch selbst nicht gestand. In so einem schlechten Zustande auch die geklecksten Dekorationen waren, so wenig scheinbar auch t¸rkische und heidnische Kleider, alte KarikaturrËcke f¸r Mâ°nner und Frauen, Kutten f¸r Zauberer, Juden und Pfaffen sein mochten, so konnt er sich doch der Empfindung nicht erwehren, daï¬ er die gl¸cklichsten Augenblicke seines Lebens in der Nâ°he eines â°hnlichen TrËdelkrams gefunden hatte. Hâ°tte Melina in sein Herz sehen kËnnen, so w¸rde er ihm eifriger zugesetzt haben, eine Summe Geldes auf die Befreiung, Aufstellung und neue Belebung dieser zerstreuten Glieder zu einem schËnen Ganzen herzugeben. “Welch ein gl¸cklicher Mensch”, rief Melina aus, “kËnnte ich sein, wenn ich nur zweihundert Taler besâ°ï¬e, um zum Anfange den Besitz dieser ersten theatralischen Bed¸rfnisse zu erlangen. Wie bald wollt ich ein kleines Schauspiel beisammen haben, das uns in dieser Stadt, in dieser Gegend gewiï¬ sogleich ernâ°hren sollte.” Wilhelm schwieg, und beide verlieï¬en nachdenklich die wieder eingesperrten Schâ°tze.
Melina hatte von dieser Zeit an keinen andern Diskurs als Projekte und Vorschlâ°ge, wie man ein Theater einrichten und dabei seinen Vorteil finden kËnnte. Er suchte Philinen und Laertes zu interessieren, und man tat Wilhelmen Vorschlâ°ge, Geld herzuschieï¬en und Sicherheit dagegen anzunehmen. Diesem fiel aber erst bei dieser Gelegenheit recht auf, daï¬ er hier so lange nicht hâ°tte verweilen sollen; er entschuldigte sich und wollte Anstalten machen, seine Reise fortzusetzen.
Indessen war ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender geworden. In alle seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern sprang; es stieg auf den Gelâ°ndern der Gâ°nge weg, und eh man sich’s versah, saï¬ es oben auf dem Schranke und blieb eine Weile ruhig. Auch hatte Wilhelm bemerkt, daï¬ es f¸r jeden eine besondere Art von Gruï¬ hatte. Ihn gr¸ï¬te sie seit einiger Zeit mit ¸ber die Brust geschlagenen Armen. Manche Tage war sie ganz stumm, zuzeiten antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen, immer sonderbar, doch so, daï¬ man nicht unterscheiden konnte, ob es Witz oder Unkenntnis der Sprache war, indem sie ein gebrochnes, mit FranzËsisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach. In seinem Dienste war das Kind unerm¸det und fr¸h mit der Sonne auf; es verlor sich dagegen abends zeitig, schlief in einer Kammer auf der nackten Erde und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohsack anzunehmen. Er fand sie oft, daï¬ sie sich wusch. Auch ihre Kleider waren reinlich, obgleich alles fast doppelt und dreifach an ihr geflickt war. Man sagte Wilhelmen auch, daï¬ sie alle Morgen ganz fr¸h in die Messe gehe, wohin er ihr einmal folgte und sie in der Ecke der Kirche mit dem Rosenkranze knien und andâ°chtig beten sah. Sie bemerkte ihn nicht, er ging nach Hause, machte sich vielerlei Gedanken ¸ber diese Gestalt und konnte sich bei ihr nichts Bestimmtes denken.
Neues Andringen Melinas um eine Summe Geldes zur AuslËsung der mehr erwâ°hnten Theatergerâ°tschaften bestimmte Wilhelmen noch mehr, an seine Abreise zu denken. Er wollte den Seinigen, die lange nichts von ihm gehËrt hatten, noch mit dem heutigen Posttage schreiben; er fing auch wirklich einen Brief an Wernern an und war mit Erzâ°hlung seiner Abenteuer, wobei er, ohne es selbst zu bemerken, sich mehrmal von der Wahrheit entfernt hatte, schon ziemlich weit gekommen, als er zu seinem Verdruï¬ auf der hintern Seite des Briefblatts schon einige Verse geschrieben fand, die er f¸r Madame Melina aus seiner Schreibtafel zu kopieren angefangen hatte. Unwillig zerriï¬ er das Blatt und verschob die Wiederholung seines Bekenntnisses auf den nâ°chsten Posttag.
II. Buch, 7. Kapitel
Siebentes Kapitel
Unsre Gesellschaft befand sich abermals beisammen, und Philine, die auf jedes Pferd, das vorbeikam, auf jeden Wagen, der anfuhr, â°uï¬erst aufmerksam war, rief mit groï¬er Lebhaftigkeit: “Unser Pedant! Da kommt unser allerliebster Pedant! Wen mag er bei sich haben?” Sie rief und winkte zum Fenster hinaus, und der Wagen hielt stille.
Ein k¸mmerlich armer Teufel, den man an seinem verschabten, graulich-braunen Rocke und an seinen ¸belkonditionierten Unterkleidern f¸r einen Magister, wie sie auf Akademien zu vermodern pflegen, hâ°tte halten sollen, stieg aus dem Wagen und entblËï¬te, indem er, Philinen zu gr¸ï¬en, den Hut abtat, eine ¸belgepuderte, aber ¸brigens sehr steife Per¸cke, und Philine warf ihm hundert Kuï¬hâ°nde zu.
So wie sie ihre Gl¸ckseligkeit fand, einen Teil der Mâ°nner zu lieben und ihre Liebe zu genieï¬en, so war das Vergn¸gen nicht viel geringer, das sie sich sooft als mËglich gab, die ¸brigen, die sie eben in diesem Augenblicke nicht liebte, auf eine sehr leichtfertige Weise zum besten zu haben.
¸ber den Lâ°rm, womit sie diesen alten Freund empfing, vergaï¬ man, auf die ¸brigen zu achten, die ihm nachfolgten. Doch glaubte Wilhelm die zwei Frauenzimmer und einen â°ltlichen Mann, der mit ihnen hereintrat, zu kennen. Auch entdeckte sich’s bald, daï¬ er sie alle drei vor einigen Jahren bei der Gesellschaft, die in seiner Vaterstadt spielte, mehrmals gesehen hatte. Die TËchter waren seit der Zeit herangewachsen; der Alte aber hatte sich wenig verâ°ndert. Dieser spielte gewËhnlich die gutm¸tigen, polternden Alten, wovon das deutsche Theater nicht leer wird und die man auch im gemeinen Leben nicht selten antrifft. Denn da es der Charakter unsrer Landsleute ist, das Gute ohne viel Prunk zu tun und zu leisten, so denken sie selten daran, daï¬ es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zierlichkeit und Anmut zu tun, und verfallen vielmehr, von einem Geiste des Widerspruchs getrieben, leicht in den Fehler, durch ein m¸rrisches Wesen ihre liebste Tugend im Kontraste darzustellen.
Solche Rollen spielte unser Schauspieler sehr gut, und er spielte sie so oft und ausschlieï¬lich, daï¬ er dar¸ber eine â°hnliche Art sich zu betragen im gemeinen Leben angenommen hatte.
Wilhelm geriet in groï¬e Bewegung, sobald er ihn erkannte; denn er erinnerte sich, wie oft er diesen Mann neben seiner geliebten Mariane auf dem Theater gesehen hatte; er hËrte ihn noch schelten, er hËrte ihre schmeichelnde Stimme, mit der sie seinem rauhen Wesen in manchen Rollen zu begegnen hatte.
Die erste lebhafte Frage an die neuen AnkËmmlinge, ob ein Unterkommen auswâ°rts zu finden und zu hoffen sei, ward leider mit Nein beantwortet, und man muï¬te vernehmen, daï¬ die Gesellschaften, bei denen man sich erkundigt, besetzt und einige davon sogar in Sorgen seien, wegen des bevorstehenden Krieges auseinandergehen zu m¸ssen. Der polternde Alte hatte mit seinen TËchtern aus Verdruï¬ und Liebe zur Abwechselung ein vorteilhaftes Engagement aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er unterwegs antraf, einen Wagen gemietet, um hieherzukommen, wo denn auch, wie sie fanden, guter Rat teuer war.
Die Zeit, in welcher sich die ¸brigen ¸ber ihre Angelegenheiten sehr lebhaft unterhielten, brachte Wilhelm nachdenklich zu. Er w¸nschte den Alten allein zu sprechen, w¸nschte und f¸rchtete, von Marianen zu hËren, und befand sich in der grËï¬ten Unruhe.
Die Artigkeiten der neuangekommenen Frauenzimmer konnten ihn nicht aus seinem Traume reiï¬en; aber ein Wortwechsel, der sich erhub, machte ihn aufmerksam. Es war Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen aufzuwerten pflegte, sich aber diesmal lebhaft widersetzte, als er den Tisch decken und Essen herbeischaffen sollte. “Ich habe mich verpflichtet”, rief er aus, “Ihnen zu dienen, aber nicht, allen Menschen aufzuwarten.” Sie gerieten dar¸ber in einen heftigen Streit. Philine bestand darauf, er habe seine Schuldigkeit zu tun, und als er sich hartnâ°ckig widersetzte, sagte sie ihm ohne Umstâ°nde, er kËnnte gehn, wohin er wolle.
“Glauben Sie etwa, daï¬ ich mich nicht von Ihnen entfernen kËnne?” rief er aus, ging trotzig weg, machte seinen B¸ndel zusammen und eilte sogleich zum Hause hinaus. “Geh, Mignon”, sagte Philine, “und schaff uns, was wir brauchen; sag es dem Kellner, und hilf aufwarten!”
Mignon trat vor Wilhelm hin und fragte in ihrer lakonischen Art: “Soll ich? darf ich?” Und Wilhelm versetzte: “Tu, mein Kind, was Mademoiselle dir sagt.”
Das Kind besorgte alles und wartete den ganzen Abend mit groï¬er Sorgfalt den Gâ°sten auf. Nach Tische suchte Wilhelm mit dem Alten einen Spaziergang allein zu machen: es gelang ihm, und nach mancherlei Fragen, wie es ihm bisher gegangen, wendete sich das Gesprâ°ch auf die ehemalige Gesellschaft, und Wilhelm wagte zuletzt, nach Marianen zu fragen.
“Sagen Sie mir nichts von dem abscheulichen GeschËpf!” rief der Alte, “ich habe verschworen, nicht mehr an sie zu denken.” Wilhelm erschrak ¸ber diese â°uï¬erung, war aber noch in grËï¬erer Verlegenheit, als der Alte fortfuhr, auf ihre Leichtfertigkeit und Liederlichkeit zu schmâ°len. Wie gern hâ°tte unser Freund das Gesprâ°ch abgebrochen; allein er muï¬te nun einmal die polternden Ergieï¬ungen des wunderlichen Mannes aushalten.
“Ich schâ°me mich”, fuhr dieser fort, “daï¬ ich ihr so geneigt war. Doch hâ°tten Sie das Mâ°dchen nâ°her gekannt, Sie w¸rden mich gewiï¬ entschuldigen. Sie war so artig, nat¸rlich und gut, so gefâ°llig und in jedem Sinne leidlich. Nie hâ°tt ich mir vorgestellt, daï¬ Frechheit und Undank die Hauptz¸ge ihres Charakters sein sollten.”
Schon hatte sich Wilhelm gefaï¬t gemacht, das Schlimmste von ihr zu hËren, als er auf einmal mit Verwunderung bemerkte, daï¬ der Ton des Alten milder wurde, seine Rede endlich stockte und er ein Schnupftuch aus der Tasche nahm, um die Trâ°nen zu trocknen, die zuletzt seine Rede unterbrachen.
“Was ist Ihnen?” rief Wilhelm aus. “Was gibt Ihren Empfindungen auf einmal eine so entgegengesetzte Richtung? Verbergen Sie mir es nicht; ich nehme an dem Schicksale dieses Mâ°dchens mehr Anteil, als Sie glauben; nur lassen Sie mich alles wissen.”
“Ich habe wenig zu sagen”, versetzte der Alte, indem er wieder in seinen ernstlichen, verdrieï¬lichen Ton ¸berging, “ich werde es ihr nie vergeben, was ich um sie geduldet habe. Sie hatte”, fuhr er fort, “immer ein gewisses Zutrauen zu mir; ich liebte sie wie meine Tochter und hatte, da meine Frau noch lebte, den Entschluï¬ gefaï¬t, sie zu mir zu nehmen und sie aus den Hâ°nden der Alten zu retten, von deren Anleitung ich mir nicht viel Gutes versprach. Meine Frau starb, das Projekt zerschlug sich.
Gegen das Ende des Aufenthalts in Ihrer Vaterstadt, es sind nicht gar drei Jahre, merkte ich ihr eine sichtbare Traurigkeit an; ich fragte sie, aber sie wich aus. Endlich machten wir uns auf die Reise. Sie fuhr mit mir in einem Wagen, und ich bemerkte, was sie mir auch bald gestand, daï¬ sie guter Hoffnung sei und in der grËï¬ten Furcht schwebe, von unserm Direktor verstoï¬en zu werden. Auch dauerte es nur kurze Zeit, so machte er die Entdeckung, k¸ndigte ihr den Kontrakt, der ohnedies nur auf sechs Wochen stand, sogleich auf, zahlte, was sie zu fordern hatte, und lieï¬ sie, aller Vorstellungen ungeachtet, in einem kleinen Stâ°dtchen, in einem schlechten Wirtshause zur¸ck.
Der Henker hole alle liederlichen Dirnen!” rief der Alte mit Verdruï¬, “und besonders diese, die mir so manche Stunde meines Lebens verdorben hat. Was soll ich lange erzâ°hlen, wie ich mich ihrer angenommen, was ich f¸r sie getan, was ich an sie gehâ°ngt, wie ich auch in der Abwesenheit f¸r sie gesorgt habe. Ich wollte lieber mein Geld in den Teich werfen und meine Zeit hinbringen, râ°udige Hunde zu erziehen, als nur jemals wieder auf so ein GeschËpf die mindeste Aufmerksamkeit wenden. Was war’s? Im Anfang erhielt ich Danksagungsbriefe, Nachricht von einigen Orten ihres Aufenthalts, und zuletzt kein Wort mehr, nicht einmal Dank f¸r das Geld, das ich ihr zu ihren Wochen geschickt hatte. O die Verstellung und der Leichtsinn der Weiber ist so recht zusammengepaart, um ihnen ein bequemes Leben und einem ehrlichen Kerl manche verdrieï¬liche Stunde zu schaffen!”
II. Buch, 8. Kapitel
Achtes Kapitel
Man denke sich Wilhelms Zustand, als er von dieser Unterredung nach Hause kam. Alle seine alten Wunden waren wieder aufgerissen und das Gef¸hl, daï¬ sie seiner Liebe nicht ganz unw¸rdig gewesen, wieder lebhaft geworden; denn in dem Interesse des Alten, in dem Lobe, das er ihr wider Willen geben muï¬te, war unserm Freunde ihre ganze Liebensw¸rdigkeit wieder erschienen; ja selbst die heftige Anklage des leidenschaftlichen Mannes enthielt nichts, was sie vor Wilhelms Augen hâ°tte herabsetzen kËnnen. Denn dieser bekannte sich selbst als Mitschuldigen ihrer Vergehungen, und ihr Schweigen zuletzt schien ihm nicht tadelhaft; er machte sich vielmehr nur traurige Gedanken dar¸ber, sah sie als WËchnerin, als Mutter in der Welt ohne H¸lfe herumirren, wahrscheinlich mit seinem eigenen Kinde herumirren; Vorstellungen, welche das schmerzlichste Gef¸hl in ihm erregten.
Mignon hatte auf ihn gewartet und leuchtete ihm die Treppe hinauf. Als sie das Licht niedergesetzt hatte, bat sie ihn zu erlauben, daï¬ sie ihm heute abend mit einem Kunstst¸cke aufwarten d¸rfe. Er hâ°tte es lieber verbeten, besonders da er nicht wuï¬te, was es werden sollte. Allein er konnte diesem guten GeschËpfe nichts abschlagen. Nach einer kurzen Zeit trat sie wieder herein. Sie trug einen Teppich unter dem Arme, den sie auf der Erde ausbreitete. Wilhelm lieï¬ sie gewâ°hren. Sie brachte darauf vier Lichter, stellte eins auf jeden Zipfel des Teppichs. Ein KËrbchen mit Eiern, das sie darauf holte, machte die Absicht deutlicher. K¸nstlich abgemessen schritt sie nunmehr auf dem Teppich hin und her und legte in gewissen Maï¬en die Eier auseinander, dann rief sie einen Menschen herein, der im Hause aufwartete und die Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke; sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik, wie ein aufgezogenes Râ°derwerk, ihre Bewegungen an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der Kastagnetten begleitete.
Behende, leicht, rasch, genau f¸hrte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daï¬ man jeden Augenblick dachte, sie m¸sse eins zertreten oder bei schnellen Wendungen das andre fortschleudern. Mitnichten! Sie ber¸hrte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Spr¸ngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand.
Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg, und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoï¬. Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen; er vergaï¬ seiner Sorgen, folgte jeder Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorz¸glich entwickelte.
Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm zeigte sie sich. Er empfand, was er schon f¸r Mignon gef¸hlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindes Statt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.
Der Tanz ging zu Ende; sie rollte die Eier mit den F¸ï¬en sachte zusammen auf ein Hâ°ufchen, lieï¬ keines zur¸ck, beschâ°digte keines und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunstst¸ck mit einem B¸cklinge endigte.
Wilhelm dankte ihr, daï¬ sie ihm den Tanz, den er zu sehen gew¸nscht, so artig und unvermutet vorgetragen habe. Er streichelte sie und bedauerte, daï¬ sie sich’s habe so sauer werden lassen. Er versprach ihr ein neues Kleid, worauf sie heftig antwortete: “Deine Farbe!” Auch das versprach er ihr, ob er gleich nicht deutlich wuï¬te, was sie darunter meine. Sie nahm die Eier zusammen, den Teppich unter den Arm, fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe, und schwang sich zur T¸re hinaus.
Von dem Musikus erfuhr er, daï¬ sie sich seit einiger Zeit viele M¸he gegeben, ihm den Tanz, welches der bekannte Fandango war, so lange vorzusingen, bis er ihn habe spielen kËnnen. Auch habe sie ihm f¸r seine Bem¸hungen etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen wollen.
II. Buch, 9. Kapitel
Neuntes Kapitel
Nach einer unruhigen Nacht, die unser Freund teils wachend, teils von schweren Trâ°umen geâ°ngstigt zubrachte, in denen er Marianen bald in aller SchËnheit, bald in k¸mmerlicher Gestalt, jetzt mit einem Kinde auf dem Arm, bald desselben beraubt sah, war der Morgen kaum angebrochen, als Mignon schon mit einem Schneider hereintrat. Sie brachte graues Tuch und blauen Taffet und erklâ°rte nach ihrer Art, daï¬ sie ein neues Westchen und Schifferhosen, wie sie solche an den Knaben in der Stadt gesehen, mit blauen Aufschlâ°gen und Bâ°ndern haben wolle.
Wilhelm hatte seit dem Verlust Marianens alle muntern Farben abgelegt. Er hatte sich an das Grau, an die Kleidung der Schatten, gewËhnt, und nur etwa ein himmelblaues Futter oder ein kleiner Kragen von dieser Farbe belebte einigermaï¬en jene stille Kleidung. Mignon, begierig, seine Farbe zu tragen, trieb den Schneider, der in kurzem die Arbeit zu liefern versprach.
Die Tanz- und Fechtstunden, die unser Freund heute mit Laertes nahm, wollten nicht zum besten gl¸cken. Auch wurden sie bald durch Melinas Ankunft unterbrochen, der umstâ°ndlich zeigte, wie jetzt eine kleine Gesellschaft beisammen sei, mit welcher man schon St¸cke genug auff¸hren kËnne. Er erneuerte seinen Antrag, daï¬ Wilhelm einiges Geld zum Etablissement vorstrecken solle, wobei dieser abermals seine Unentschlossenheit zeigte.
Philine und die Mâ°dchen kamen bald hierauf mit Lachen und Lâ°rmen herein. Sie hatten sich abermals eine Spazierfahrt ausgedacht: denn Verâ°nderung des Orts und der Gegenstâ°nde war eine Lust, nach der sie sich immer sehnten. Tâ°glich an einem andern Orte zu essen war ihr hËchster Wunsch. Diesmal sollte es eine Wasserfahrt werden.
Das Schiff, womit sie die Kr¸mmungen des angenehmen Flusses hinunterfahren wollten, war schon durch den Pedanten bestellt. Philine trieb, die Gesellschaft zauderte nicht und war bald eingeschifft.
“Was fangen wir nun an?” sagte Philine, indem sich alle auf die Bâ°nke niedergelassen hatten.
“Das k¸rzeste wâ°re”, versetzte Laertes, “wir extemporierten ein St¸ck. Nehme jeder eine Rolle, die seinem Charakter am angemessensten ist, und wir wollen sehen, wie es uns gelingt.”
“F¸rtrefflich!” sagte Wilhelm, “denn in einer Gesellschaft, in der man sich nicht verstellt, in welcher jedes nur seinem Sinne folgt, kann Anmut und Zufriedenheit nicht lange wohnen, und wo man sich immer verstellt, dahin kommen sie gar nicht. Es ist also nicht ¸bel getan, wir geben uns die Verstellung gleich von Anfang zu und sind nachher unter der Maske so aufrichtig, als wir wollen.”
“Ja”, sagte Laertes, “deswegen geht sich’s so angenehm mit Weibern um, die sich niemals in ihrer nat¸rlichen Gestalt sehen lassen.”
“Das macht”, versetzte Madame Melina, “daï¬ sie nicht so eitel sind wie die Mâ°nner, welche sich einbilden, sie seien schon immer liebensw¸rdig genug, wie sie die Natur hervorgebracht hat.”
Indessen war man zwischen angenehmen B¸schen und H¸geln, zwischen Gâ°rten und Weinbergen hingefahren, und die jungen Frauenzimmer, besonders aber Madame Melina, dr¸ckten ihr Entz¸cken ¸ber die Gegend aus. Letztre fing sogar an, ein artiges Gedicht von der beschreibenden Gattung ¸ber eine â°hnliche Naturszene feierlich herzusagen; allein Philine unterbrach sie und schlug ein Gesetz vor, daï¬ sich niemand unterfangen solle, von einem unbelebten Gegenstande zu sprechen; sie setzte vielmehr den Vorschlag zur extemporierten KomËdie mit Eifer durch. Der polternde Alte sollte einen pensionierten Offizier, Laertes einen vazierenden Fechtmeister, der Pedant einen Juden vorstellen, sie selbst wolle eine Tirolerin machen und ¸berlieï¬ den ¸brigen, sich ihre Rollen zu wâ°hlen. Man sollte fingieren, als ob sie eine Gesellschaft weltfremder Menschen seien, die soeben auf einem Marktschiffe zusammenkomme.
Sie fing sogleich mit dem Juden ihre Rolle zu spielen an, und eine allgemeine Heiterkeit verbreitete sich.
Man war nicht lange gefahren, als der Schiffer stillehielt, um mit Erlaubnis der Gesellschaft noch jemand einzunehmen, der am Ufer stand und gewinkt hatte.
“Das ist eben noch, was wir brauchten”, rief Philine, “ein blinder Passagier fehlte noch der Reisegesellschaft.”
Ein wohlgebildeter Mann stieg in das Schiff, den man an seiner Kleidung und seiner ehrw¸rdigen Miene wohl f¸r einen Geistlichen hâ°tte nehmen kËnnen. Er begr¸ï¬te die Gesellschaft, die ihm nach ihrer Weise dankte und ihn bald mit ihrem Scherz bekannt machte. Er nahm darauf die Rolle eines Landgeistlichen an, die er zur Verwunderung aller auf das artigste durchsetzte, indem er bald ermahnte, bald HistËrchen erzâ°hlte, einige schwache Seiten blicken lieï¬ und sich doch im Respekt zu erhalten wuï¬te.
Indessen hatte jeder, der nur ein einziges Mal aus seinem Charakter herausgegangen war, ein Pfand geben m¸ssen. Philine hatte sie mit groï¬er Sorgfalt gesammelt und besonders den geistlichen Herrn mit vielen K¸ssen bei der k¸nftigen EinlËsung bedroht, ob er gleich selbst nie in Strafe genommen ward. Melina dagegen war vËllig ausgepl¸ndert, HemdenknËpfe und Schnallen und alles, was Bewegliches an seinem Leibe war, hatte Philine zu sich genommen; denn er wollte einen reisenden Englâ°nder vorstellen und konnte auf keine Weise in seine Rolle hineinkommen.
Die Zeit war indes auf das angenehmste vergangen, jedes hatte seine Einbildungskraft und seinen Witz aufs mËglichste angestrengt und jedes seine Rolle mit angenehmen und unterhaltenden Scherzen ausstaffiert. So kam man an dem Ort an, wo man sich den Tag ¸ber aufhalten wollte, und Wilhelm geriet mit dem Geistlichen, wie wir ihn seinem Aussehn und seiner Rolle nach nennen wollen, auf dem Spaziergange bald in ein interessantes Gesprâ°ch.
“Ich finde diese ¸bung”, sagte der Unbekannte, “unter Schauspielern, ja in Gesellschaft von Freunden und Bekannten sehr n¸tzlich. Es ist die beste Art, die Menschen aus sich heraus- und durch einen Umweg wieder in sich hineinzuf¸hren. Es sollte bei jeder Truppe eingef¸hrt sein, daï¬ sie sich manchmal auf diese Weise ¸ben m¸ï¬te, und das Publikum w¸rde gewiï¬ dabei gewinnen, wenn alle Monate ein nicht geschriebenes St¸ck aufgef¸hrt w¸rde, worauf sich freilich die Schauspieler in mehrern Proben m¸ï¬ten vorbereitet haben.”
“Man d¸rfte sich”, versetzte Wilhelm, “ein extemporiertes St¸ck nicht als ein solches denken, das aus dem Stegreife sogleich komponiert w¸rde, sondern als ein solches, wovon zwar Plan, Handlung und Szeneneinteilung gegeben wâ°ren, dessen Ausf¸hrung aber dem Schauspieler ¸berlassen bliebe.”
“Ganz richtig”, sagte der Unbekannte, “und eben was diese Ausf¸hrung betrifft, w¸rde ein solches St¸ck, sobald die Schauspieler nur einmal im Gang wâ°ren, auï¬erordentlich gewinnen. Nicht die Ausf¸hrung durch Worte, denn durch diese muï¬ freilich der ¸berlegende Schriftsteller seine Arbeit zieren, sondern die Ausf¸hrung durch Gebâ°rden und Mienen, Ausrufungen und was dazu gehËrt, kurz, das stumme, halblaute Spiel, welches nach und nach bei uns ganz verlorenzugehen scheint. Es sind wohl Schauspieler in Deutschland, deren KËrper das zeigt, was sie denken und f¸hlen, die durch Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch zarte, anmutige Bewegungen des KËrpers eine Rede vorzubereiten und die Pausen des Gesprâ°chs durch eine gefâ°llige Pantomime mit dem Ganzen zu verbinden wissen; aber eine ¸bung, die einem gl¸cklichen Naturell zu H¸lfe kâ°me und es lehrte, mit dem Schriftsteller zu wetteifern, ist nicht so im Gange, als es zum Troste derer, die das Theater besuchen, wohl zu w¸nschen wâ°re.”
“Sollte aber nicht”, versetzte Wilhelm, “ein gl¸ckliches Naturell, als das Erste und Letzte, einen Schauspieler wie jeden andern K¸nstler, ja vielleicht wie jeden Menschen, allein zu einem so hochaufgesteckten Ziele bringen?”
“Das Erste und Letzte, Anfang und Ende mËchte es wohl sein und bleiben; aber in der Mitte d¸rfte dem K¸nstler manches fehlen, wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll, und zwar fr¸he Bildung; denn vielleicht ist derjenige, dem man Genie zuschreibt, ¸bler daran als der, der nur gewËhnliche Fâ°higkeiten besitzt; denn jener kann leichter verbildet und viel heftiger auf falsche Wege gestoï¬en werden als dieser.”
“Aber”, versetzte Wilhelm, “wird das Genie sich nicht selbst retten, die Wunden, die es sich geschlagen, selbst heilen?”
“Mitnichten”, versetzte der andere, “Oder wenigstens nur notd¸rftig; denn niemand glaube die ersten Eindr¸cke der Jugend ¸berwinden zu kËnnen. Ist er in einer lËblichen Freiheit, umgeben von schËnen und edlen Gegenstâ°nden, in dem Umgange mit guten Menschen aufgewachsen, haben ihn seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen muï¬te, um das ¸brige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden seine ersten Handlungen so geleitet, daï¬ er das Gute k¸nftig leichter und bequemer vollbringen kann, ohne sich irgend etwas abgewËhnen zu m¸ssen, so wird dieser Mensch ein reineres, vollkommneres und gl¸cklicheres Leben f¸hren als ein anderer, der seine ersten Jugendkrâ°fte im Widerstand und im Irrtum zugesetzt hat. Es wird so viel von Erziehung gesprochen und geschrieben, und ich sehe nur wenig Menschen, die den einfachen, aber groï¬en Begriff, der alles andere in sich schlieï¬t, fassen und in die Ausf¸hrung ¸bertragen kËnnen.”
“Das mag wohl wahr sein”, sagte Wilhelm, “denn jeder Mensch ist beschrâ°nkt genug, den andern zu seinem Ebenbild erziehen zu wollen. Gl¸cklich sind diejenigen daher, deren sich das Schicksal annimmt, das jeden nach seiner Weise erzieht!”
“Das Schicksal”, versetzte lâ°chelnd der andere, “ist ein vornehmer, aber teurer Hofmeister. Ich w¸rde mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten. Das Schicksal, f¸r dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben. Denn selten scheint dieser genau und rein auszuf¸hren, was jenes beschlossen hatte.”
“Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen”, versetzte Wilhelm.
“Mitnichten! Das meiste, was in der Welt begegnet, rechtfertigt meine Meinung. Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht einen groï¬en Sinn, und gehen die meisten nicht auf etwas Albernes hinaus?”
“Sie wollen scherzen.”
“Und ist es nicht”, fuhr der andere fort, “mit dem, was einzelnen Menschen begegnet, ebenso? Gesetzt, das Schicksal hâ°tte einen zu einem guten Schauspieler bestimmt (und warum sollt es uns nicht auch mit guten Schauspielern versorgen?), ungl¸cklicherweise f¸hrte der Zufall aber den jungen Mann in ein Puppenspiel, wo er sich fr¸h nicht enthalten kËnnte, an etwas Abgeschmacktem teilzunehmen, etwas Albernes leidlich, wohl gar interessant zu finden und so die jugendlichen Eindr¸cke, welche nie verlËschen, denen wir eine gewisse Anhâ°nglichkeit nie entziehen kËnnen, von einer falschen Seite zu empfangen.”
“Wie kommen Sie aufs Puppenspiel?” fiel ihm Wilhelm mit einiger Best¸rzung ein.
“Es war nur ein willk¸rliches Beispiel; wenn es Ihnen nicht gefâ°llt, so nehmen wir ein andres. Gesetzt, das Schicksal hâ°tte einen zu einem groï¬en Maler bestimmt, und dem Zufall beliebte es, seine Jugend in schmutzige H¸tten, Stâ°lle und Scheunen zu verstoï¬en, glauben Sie, daï¬ ein solcher Mann sich jemals zur Reinlichkeit, zum Adel, zur Freiheit der Seele erheben werde? Mit je lebhafterm Sinn er das Unreine in seiner Jugend angefaï¬t und nach seiner Art veredelt hat, desto gewaltsamer wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm râ°chen, indem es sich, inzwischen daï¬ er es zu ¸berwinden suchte, mit ihm aufs innigste verbunden hat. Wer fr¸h in schlechter, unbedeutender Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er auch spâ°ter eine bessere haben kann, immer nach jener zur¸cksehnen, deren Eindruck ihm zugleich mit der Erinnerung jugendlicher, nur selten zu wiederholender Freuden geblieben ist.”
Man kann denken, daï¬ unter diesem Gesprâ°ch sich nach und nach die ¸brige Gesellschaft entfernt hatte. Besonders war Philine gleich vom Anfang auf die Seite getreten. Man kam durch einen Seitenweg zu ihnen zur¸ck. Philine brachte die Pfâ°nder hervor, welche auf allerlei Weise gelËst werden muï¬ten, wobei der Fremde sich durch die artigsten Erfindungen und durch eine ungezwungene Teilnahme der ganzen Gesellschaft und besonders den Frauenzimmern sehr empfahl, und so flossen die Stunden des Tages unter Scherzen, Singen, K¸ssen und allerlei Neckereien auf das angenehmste vorbei.
II. Buch, 10. Kapitel
Zehntes Kapitel
Als sie sich wieder nach Hause begeben wollten, sahen sie sich nach ihrem Geistlichen um; allein er war verschwunden und an keinem Orte zu finden.
“Es ist nicht artig von dem Manne, der sonst viel Lebensart zu haben scheint”, sagte Madame Melina, “eine Gesellschaft, die ihn so freundlich aufgenommen, ohne Abschied zu verlassen.”
“Ich habe mich die ganze Zeit her schon besonnen”, sagte Laertes, “wo ich diesen sonderbaren Mann schon ehemals mËchte gesehen haben. Ich war eben im Begriff, ihn beim Abschiede dar¸ber zu befragen.”
“Mir ging es ebenso”, versetzte Wilhelm, “und ich hâ°tte ihn gewiï¬ nicht entlassen, bis er uns etwas Nâ°heres von seinen Umstâ°nden entdeckt hâ°tte. Ich m¸ï¬te mich sehr irren, wenn ich ihn nicht schon irgendwo gesprochen hâ°tte.”
“Und doch kËnntet ihr euch”, sagte Philine, “darin wirklich irren. Dieser Mann hat eigentlich nur das falsche Ansehen eines Bekannten, weil er aussieht wie ein Mensch und nicht wie Hans oder Kunz.”
“Was soll das heiï¬en”, sagte Laertes, “sehen wir nicht auch aus wie Menschen?”
“Ich weiï¬, was ich sage”, versetzte Philine, “und wenn ihr mich nicht begreift, so laï¬t’s gut sein. Ich werde nicht am Ende noch gar meine Worte auslegen sollen.”
Zwei Kutschen fuhren vor. Man lobte die Sorgfalt des Laertes, der sie bestellt hatte. Philine nahm neben Madame Melina, Wilhelmen gegen¸ber, Platz, und die ¸brigen richteten sich ein, so gut sie konnten. Laertes selbst ritt auf Wilhelms Pferde, das auch mit herausgekommen war, nach der Stadt zur¸ck.
Philine saï¬ kaum in dem Wagen, als sie artige Lieder zu singen und das Gesprâ°ch auf Geschichten zu lenken wuï¬te, von denen sie behauptete, daï¬ sie mit Gl¸ck dramatisch behandelt werden kËnnten. Durch diese kluge Wendung hatte sie gar bald ihren jungen Freund in seine beste Laune gesetzt, und er komponierte aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrats sogleich ein ganzes Schauspiel mit allen seinen Akten, Szenen, Charakteren und Verwicklungen. Man fand f¸r gut, einige Arien und Gesâ°nge einzuflechten; man dichtete sie, und Philine, die in alles einging, paï¬te ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem Stegreife.
Sie hatte eben heute ihren schËnen, sehr schËnen Tag; sie wuï¬te mit allerlei Neckereien unsern Freund zu beleben; es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht gewesen war.
Seitdem ihn jene grausame Entdeckung von der Seite Marianens gerissen hatte, war er dem Gel¸bde treu geblieben, sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu h¸ten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine s¸ï¬en W¸nsche in seinem Busen zu verschlieï¬en. Die Gewissenhaftigkeit, womit er dies Gel¸bde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine geheime Nahrung, und da sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung nun zum Bed¸rfnisse. Er ging wieder wie von dem ersten Jugendnebel begleitet umher, seine Augen faï¬ten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil ¸ber eine liebensw¸rdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefâ°hrlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mâ°dchen werden muï¬te, lâ°ï¬t sich leider nur zu gut einsehen.
Zu Hause fanden sie auf Wilhelms Zimmer schon alles zum Empfange bereit, die St¸hle zu einer Vorlesung zurechtegestellt und den Tisch in die Mitte gesetzt, auf welchem der Punschnapf seinen Platz nehmen sollte.
Die deutschen Ritterst¸cke waren damals eben neu und hatten die Aufmerksamkeit und Neigung des Publikums an sich gezogen. Der alte Polterer hatte eines dieser Art mitgebracht, und die Vorlesung war beschlossen worden. Man setzte sich nieder. Wilhelm bemâ°chtigte sich des Exemplars und fing zu lesen an.
Die geharnischten Ritter, die alten Burgen, die Treuherzigkeit, Rechtlichkeit und Redlichkeit, besonders aber die Unabhâ°ngigkeit der handelnden Personen wurden mit groï¬em Beifall aufgenommen. Der Vorleser tat sein mËglichstes, und die Gesellschaft kam auï¬er sich. Zwischen dem zweiten und dritten Akt kam der Punsch in einem groï¬en Napfe, und da in dem St¸cke selbst sehr viel getrunken und angestoï¬en wurde, so war nichts nat¸rlicher, als daï¬ die Gesellschaft bei jedem solchen Falle sich lebhaft an den Platz der Helden versetzte, gleichfalls anklingte und die G¸nstlinge unter den handelnden Personen hochleben lieï¬.
Jedermann war von dem Feuer des edelsten Nationalgeistes entz¸ndet. Wie sehr gefiel es dieser deutschen Gesellschaft, sich ihrem Charakter gemâ°ï¬ auf eignem Grund und Boden poetisch zu ergËtzen! Besonders taten die GewËlbe und Keller, die verfallenen SchlËsser, das Moos und die hohlen Bâ°ume, ¸ber alles aber die nâ°chtlichen Zigeunerszenen und das heimliche Gericht eine ganz unglaubliche Wirkung. Jeder Schauspieler sah nun, wie er bald in Helm und Harnisch, jede Schauspielerin, wie sie mit einem groï¬en stehenden Kragen ihre Deutschheit vor dem Publiko produzieren werde. Jeder wollte sich sogleich einen Namen aus dem St¸cke oder aus der deutschen Geschichte zueignen, und Madame Melina beteuerte, Sohn oder Tochter, wozu sie Hoffnung hatte, nicht anders als Adelbert oder Mechtilde taufen zu lassen.
Gegen den f¸nften Akt ward der Beifall lâ°rmender und lauter, ja zuletzt, als der Held wirklich seinem Unterdr¸cker entging und der Tyrann gestraft wurde, war das Entz¸cken so groï¬, daï¬ man schwur, man habe nie so gl¸ckliche Stunden gehabt. Melina, den der Trank begeistert hatte, war der lauteste, und da der zweite Punschnapf geleert war und Mitternacht herannahte, schwur Laertes hoch und teuer, es sei kein Mensch w¸rdig, an diese Glâ°ser jemals wieder eine Lippe zu setzen, und warf mit dieser Beteurung sein Glas hinter sich und durch die Scheiben auf die Gasse hinaus. Die ¸brigen folgten seinem Beispiele, und ungeachtet der Protestationen des herbeieilenden Wirtes wurde der Punschnapf selbst, der nach einem solchen Feste durch unheiliges Getrâ°nk nicht wieder entweiht werden sollte, in tausend St¸cke geschlagen. Philine, der man ihren Rausch am wenigsten ansah, indes die beiden Mâ°dchen nicht in den anstâ°ndigsten Stellungen auf dem Kanapee lagen, reizte die andern mit Schadenfreude zum Lâ°rm. Madame Melina rezitierte einige erhabene Gedichte, und ihr Mann, der im Rausche nicht sehr liebensw¸rdig war, fing an, auf die schlechte Bereitung des Punsches zu schelten, versicherte, daï¬ er ein Fest ganz anders einzurichten verstehe, und ward zuletzt, als Laertes Stillschweigen gebot, immer grËber und lauter, so daï¬ dieser, ohne sich lange zu bedenken, ihm die Scherben des Napfs an den Kopf warf und dadurch den Lâ°rm nicht wenig vermehrte.
Indessen war die Scharwache herbeigekommen und verlangte, ins Haus eingelassen zu werden. Wilhelm, vom Lesen sehr erhitzt, ob er gleich nur wenig getrunken, hatte genug zu tun, um mit Beih¸lfe des Wirts die Leute durch Geld und gute Worte zu befriedigen und die Glieder der Gesellschaft in ihren miï¬lichen Umstâ°nden nach Hause zu schaffen. Er warf sich, als er zur¸ckkam, vom Schlafe ¸berwâ°ltigt, voller Unmut unausgekleidet aufs Bette, und nichts glich der unangenehmen Empfindung, als er des andern Morgens die Augen aufschlug und mit d¸sterm Blick auf die Verw¸stungen des vergangenen Tages, den Unrat und die bËsen Wirkungen hinsah, die ein geistreiches, lebhaftes und wohlgemeintes Dichterwerk hervorgebracht hatte.
II. Buch, 11. Kapitel
Eilftes Kapitel
Nach einem kurzen Bedenken rief er sogleich den Wirt herbei und lieï¬ sowohl den Schaden als die Zeche auf seine Rechnung schreiben. Zugleich vernahm er nicht ohne Verdruï¬, daï¬ sein Pferd von Laertes gestern bei dem Hereinreiten dergestalt angegriffen worden, daï¬ es wahrscheinlich, wie man zu sagen pflegt, verschlagen habe und daï¬ der Schmied wenig Hoffnung zu seinem Aufkommen gebe.
Ein Gruï¬ von Philinen, den sie ihm aus ihrem Fenster zuwinkte, versetzte ihn dagegen wieder in einen heitern Zustand, und er ging sogleich in den nâ°chsten Laden, um ihr ein kleines Geschenk, das er ihr gegen das Pudermesser noch schuldig war, zu kaufen, und wir m¸ssen bekennen, er hielt sich nicht in den Grenzen eines proportionierten Gegengeschenks. Er kaufte ihr nicht allein ein Paar sehr niedliche Ohrringe, sondern nahm dazu noch einen Hut und Halstuch und einige andere Kleinigkeiten, die er sie den ersten Tag hatte verschwenderisch wegwerfen sehen.
Madame Melina, die ihn eben, als er seine Gaben ¸berreichte, zu beobachten kam, suchte noch vor Tische eine Gelegenheit, ihn sehr ernstlich ¸ber die Empfindung f¸r dieses Mâ°dchen zur Rede zu setzen, und er war um so erstaunter, als er nichts weniger denn diese Vorw¸rfe zu verdienen glaubte. Er schwur hoch und teuer, daï¬ es ihm keineswegs eingefallen sei, sich an diese Person, deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu wenden; er entschuldigte sich, so gut er konnte, ¸ber sein freundliches und artiges Betragen gegen sie, befriedigte aber Madame Melina auf keine Weise, vielmehr ward diese immer verdrieï¬licher, da sie bemerken muï¬te, daï¬ die Schmeichelei, wodurch sie sich eine Art von Neigung unsers Freundes erworben hatte, nicht hinreiche, diesen Besitz gegen die Angriffe einer lebhaften, j¸ngern und von der Natur gl¸cklicher begabten Person zu verteidigen.
Ihren Mann fanden sie gleichfalls, da sie zu Tische kamen, bei sehr ¸blem Humor, und er fing schon an, ihn ¸ber Kleinigkeiten auszulassen, als der Wirt hereintrat und einen Harfenspieler anmeldete. “Sie werden”, sagte er, “gewiï¬ Vergn¸gen an der Musik und an den Gesâ°ngen dieses Mannes finden; es kann sich niemand, der ihn hËrt, enthalten, ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen.”
“Lassen Sie ihn weg”, versetzte Melina, “ich bin nichts weniger als gestimmt, einen Leiermann zu hËren, und wir haben allenfalls Sâ°nger unter uns, die gern etwas verdienten.” Er begleitete diese Worte mit einem t¸ckischen Seitenblicke, den er auf Philinen warf. Sie verstand ihn und war gleich bereit, zu seinem Verdruï¬ den angemeldeten Sâ°nger zu besch¸tzen. Sie wendete sich zu Wilhelmen und sagte: “Sollen wir den Mann nicht hËren, sollen wir nichts tun, um uns aus der erbâ°rmlichen Langenweile zu retten?”
Melina wollte ihr antworten, und der Streit wâ°re lebhafter geworden, wenn nicht Wilhelm den im Augenblick hereintretenden Mann begr¸ï¬t und ihn herbeigewinkt hâ°tte.
Die Gestalt dieses seltsamen Gastes setzte die ganze Gesellschaft in Erstaunen, und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte. Sein kahler Scheitel war von wenig grauen Haaren umkrâ°nzt, groï¬e blaue Augen blickten sanft unter langen weiï¬en Augenbrauen hervor. An eine wohlgebildete Nase schloï¬ sich ein langer weiï¬er Bart an, ohne die gefâ°llige Lippe zu bedecken, und ein langes dunkelbraunes Gewand umh¸llte den schlanken KËrper vom Halse bis zu den F¸ï¬en; und so fing er auf der Harfe, die er vor sich genommen hatte, zu prâ°ludieren an.
Die angenehmen TËne, die er aus dem Instrumente hervorlockte, erheiterten gar bald die Gesellschaft.
“Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter”, sagte Philine.
“Gebt uns etwas, das Herz und Geist zugleich mit den Sinnen ergËtze”, sagte Wilhelm. “Das Instrument sollte nur die Stimme begleiten; denn Melodien, Gâ°nge und Lâ°ufe ohne Worte und Sinn scheinen mir Schmetterlingen oder schËnen bunten VËgeln â°hnlich zu sein, die in der Luft vor unsern Augen herumschweben, die wir allenfalls haschen und uns zueignen mËchten; da sich der Gesang dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt.”
Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann in die HËhe, tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Gesang, pries das Gl¸ck der Sâ°nger und ermahnte die Menschen, sie zu ehren. Er trug das Lied mit so viel Leben und Wahrheit vor, daï¬ es schien, als hâ°tte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet. Wilhelm enthielt sich kaum, ihm um den Hals zu fallen; nur die Furcht, ein lautes Gelâ°chter zu erregen, zog ihn auf seinen Stuhl zur¸ck; denn die ¸brigen machten schon halblaut einige alberne Anmerkungen und stritten, ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei.
Als man nach dem Verfasser des Liedes fragte, gab er keine bestimmte Antwort; nur versicherte er, daï¬ er reich an Gesâ°ngen sei und w¸nsche nur, daï¬ sie gefallen mËchten. Der grËï¬te Teil der Gesellschaft war frËhlich und freudig, ja selbst Melina nach seiner Art offen geworden, und indem man untereinander schwatzte und scherzte, fing der Alte das Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen an. Er pries Einigkeit und Gefâ°lligkeit mit einschmeichelnden TËnen. Auf einmal ward sein Gesang trocken, rauh und verworren, als er gehâ°ssige Verschlossenheit, kurzsinnige Feindschaft und gefâ°hrlichen Zwiespalt bedauerte, und gern warf jede Seele diese unbequemen Fesseln ab, als er, auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen, die Friedensstifter pries und das Gl¸ck der Seelen, die sich wiederfinden, sang.
Kaum hatte er geendigt, als ihm Wilhelm zurief: “Wer du auch seist, der du als ein h¸lfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank! f¸hle, daï¬ wir alle dich bewundern, und vertrau uns, wenn du etwas bedarfst!”
Der Alte schwieg, lieï¬ erst seine Finger ¸ber die Saiten schleichen, dann griff er sie stâ°rker an und sang:
“Was hËr ich drauï¬en vor dem Tor,
Was auf der Br¸cke schallen?
Laï¬t den Gesang zu unserm Ohr
Im Saale widerhallen!”
Der KËnig sprach’s, der Page lief, Der Knabe kam, der KËnig rief:
“Bring ihn herein, den Alten!”
“Gegr¸ï¬et seid, ihr hohen Herrn,
Gegr¸ï¬t ihr, schËne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei Stern! Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit Schlieï¬t, Augen, euch, hier ist nicht Zeit, Sich staunend zu ergËtzend
Der Sâ°nger dr¸ckt’ die Augen ein
Und schlug die vollen TËne;
Der Ritter schaute mutig drein,
Und in den Schoï¬ die SchËne.
Der KËnig, dem das Lied gefiel,
Lieï¬ ihm, zum Lohne f¸r sein Spiel, Eine goldne Kette holen.
“Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren k¸hnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern.
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laï¬ ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.
Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet.
Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt ich eins: Laï¬ einen Trunk des besten Weins
In reinem Glase bringen.”
Er setzt’ es an, er trank es aus:
“O Trank der s¸ï¬en Labe!
Oh! dreimal hochbegl¸cktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich, Und danket Gott so warm, als ich
F¸r diesen Trunk euch danke.”
Da der Sâ°nger nach geendigtem Liede ein Glas Wein, das f¸r ihn eingeschenkt dastand, ergriff und es mit freundlicher Miene, sich gegen seine Wohltâ°ter wendend, austrank, entstand eine allgemeine Freude in der Versammlung. Man klatschte und rief ihm zu, es mËge dieses Glas zu seiner Gesundheit, zur Stâ°rkung seiner alten Glieder gereichen. Er sang noch einige Romanzen und erregte immer mehr Munterkeit in der Gesellschaft.
“Kannst du die Melodie, Alter”, rief Philine, “”Der Schâ°fer putzte sich zum Tanz”?”
“O ja”, versetzte er; “wenn Sie das Lied singen und auff¸hren wollen, an mir soll es nicht fehlen.”
Philine stand auf und hielt sich fertig. Der Alte begann die Melodie, und sie sang ein Lied, das wir unsern Lesern nicht mitteilen kËnnen, weil sie es vielleicht abgeschmackt oder wohl gar unanstâ°ndig finden kËnnten.
Inzwischen hatte die Gesellschaft, die immer heiterer geworden war, noch manche Flasche Wein ausgetrunken und fing an, sehr laut zu werden. Da aber unserm Freunde die bËsen Folgen ihrer Lust noch in frischem Andenken schwebten, suchte er abzubrechen, steckte dem Alten f¸r seine Bem¸hung eine reichliche Belohnung in die Hand, die andern taten auch etwas, man lieï¬ ihn abtreten und ruhen und versprach sich auf den Abend eine wiederholte Freude von seiner Geschicklichkeit.
Als er hinweg war, sagte Wilhelm zu Philinen: “Ich kann zwar in Ihrem Leibgesange weder ein dichterisches oder sittliches Verdienst finden; doch wenn Sie mit ebender Naivetâ°t, Eigenheit und Zierlichkeit etwas Schickliches auf dem Theater jemals ausf¸hren, so wird Ihnen allgemeiner, lebhafter Beifall gewiï¬ zuteil werden.”
“Ja”, sagte Philine, “es m¸ï¬te eine recht angenehme Empfindung sein, sich am Eise zu wâ°rmen.”
“¸berhaupt”, sagte Wilhelm, “wie sehr beschâ°mt dieser Mann manchen Schauspieler. Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramatische Ausdruck seiner Romanzen war? Gewiï¬, es lebte mehr Darstellung in seinem Gesang als in unsern steifen Personen auf der B¸hne; man sollte die Auff¸hrung mancher St¸cke eher f¸r eine Erzâ°hlung halten und diesen musikalischen Erzâ°hlungen eine sinnliche Gegenwart zuschreiben.”
“Sie sind ungerecht!” versetzte Laertes, “ich gebe mich weder f¸r einen groï¬en Schauspieler noch Sâ°nger; aber das weiï¬ ich, daï¬, wenn die Musik die Bewegungen des KËrpers leitet, ihnen Leben gibt und ihnen zugleich das Maï¬ vorschreibt; wenn Deklamation und Ausdruck schon von dem Kompositeur auf mich ¸bertragen werden: so bin ich ein ganz andrer Mensch, als wenn ich im prosaischen Drama das alles erst erschaffen und Takt und Deklamation mir erst erfinden soll, worin mich noch dazu jeder Mitspielende stËren kann.”
“Soviel weiï¬ ich”, sagte Melina, “daï¬ uns dieser Mann in einem Punkte gewiï¬ beschâ°mt, und zwar in einem Hauptpunkte. Die Stâ°rke seiner Talente zeigt sich in dem Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir vielleicht bald in Verlegenheit sein werden, wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er, unsre Mahlzeit mit ihm zu teilen. Er weiï¬ uns das Geld, das wir anwenden kËnnten, um uns in einige Verfassung zu setzen, durch ein Liedchen aus der Tasche zu locken. Es scheint so angenehm zu sein, das Geld zu verschleudern, womit man sich und andern eine Existenz verschaffen kËnnte.”
Das Gesprâ°ch bekam durch diese Bemerkung nicht die angenehmste Wendung. Wilhelm, auf den der Vorwurf eigentlich gerichtet war, antwortete mit einiger Leidenschaft, und Melina, der sich eben nicht der grËï¬ten Feinheit befliï¬, brachte zuletzt seine Beschwerden mit ziemlich trockenen Worten vor. “Es sind nun schon vierzehn Tage”, sagte er, “daï¬ wir das hier verpfâ°ndete Theater und die Garderobe besehen haben, und beides konnten wir f¸r eine sehr leidliche Summe haben. Sie machten mir damals Hoffnung, daï¬ Sie mir soviel kreditieren w¸rden, und bis jetzt habe ich noch nicht gesehen, daï¬ Sie die Sache weiter bedacht oder sich einem Entschluï¬ genâ°hert hâ°tten. Griffen Sie damals zu, so wâ°ren wir jetzt im Gange. Ihre Absicht zu verreisen haben Sie auch noch nicht ausgef¸hrt, und Geld scheinen Sie mir diese Zeit ¸ber auch nicht gespart zu haben; wenigstens gibt es Personen, die immer Gelegenheit zu verschaffen wissen, daï¬ es geschwinder weggehe.”
Dieser nicht ganz ungerechte Vorwurf traf unsern Freund. Er versetzte einiges darauf mit Lebhaftigkeit, ja mit Heftigkeit und ergriff, da die Gesellschaft aufstund und sich zerstreute, die T¸re, indem er nicht undeutlich zu erkennen gab, daï¬ er sich nicht lange mehr bei so unfreundlichen und undankbaren Menschen aufhalten wolle. Er eilte verdrieï¬lich hinunter, sich auf eine steinerne Bank zu setzen, die vor dem Tore seines Gasthofs stand, und bemerkte nicht, daï¬ er halb aus Lust, halb aus Verdruï¬ mehr als gewËhnlich getrunken hatte.
II. Buch, 12. Kapitel
ZwËlftes Kapitel
Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt von mancherlei Gedanken, sitzend und vor sich hin sehend zugebracht hatte, schlenderte Philine singend zur Haust¸re heraus, setzte sich zu ihm, ja man d¸rfte beinahe sagen auf ihn, so nahe r¸ckte sie an ihn heran, lehnte sich auf seine Schultern, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt. Sie bat ihn, er mËchte ja bleiben und sie nicht in der Gesellschaft allein lassen, in der sie vor Langerweile sterben m¸ï¬te; sie kËnne nicht mehr mit Melina unter einem Dache ausdauern und habe sich deswegen her¸berquartiert.
Vergebens suchte er sie abzuweisen, ihr begreiflich zu machen, daï¬ er lâ°nger weder bleiben kËnne noch d¸rfe. Sie lieï¬ mit Bitten nicht ab, ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und k¸ï¬te ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens.
“Sind Sie toll, Philine?” rief Wilhelm aus, indem er sich loszumachen suchte, “die Ëffentliche Straï¬e zum Zeugen solcher Liebkosungen zu machen, die ich auf keine Weise verdiene! Lassen Sie mich los, ich kann nicht und ich werde nicht bleiben.”
“Und ich werde dich festhalten”, sagte sie, “und ich werde dich hier auf Ëffentlicher Gasse so lange k¸ssen, bis du mir versprichst, was ich w¸nsche. Ich lache mich zu Tode”, fuhr sie fort; “nach dieser Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiï¬ f¸r deine Frau von vier Wochen, und die Ehemâ°nner, die eine so anmutige Szene sehen, werden mich ihren Weibern als ein Muster einer kindlich unbefangenen Zâ°rtlichkeit anpreisen.”
Eben gingen einige Leute vorbei, und sie liebkoste ihn auf das anmutigste, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle des geduldigen Ehemannes zu spielen. Dann schnitt sie den Leuten Gesichter im R¸cken und trieb voll ¸bermut allerhand Ungezogenheiten, bis er zuletzt versprechen muï¬te, noch heute und morgen und ¸bermorgen zu bleiben.
“Sie sind ein rechter Stock!” sagte sie darauf, indem sie von ihm ablieï¬, “und ich eine TËrin, daï¬ ich so viel Freundlichkeit an Sie verschwende.” Sie stand verdrieï¬lich auf und ging einige Schritte; dann kehrte sie lachend zur¸ck und rief: “Ich glaube eben, daï¬ ich darum in dich vernarrt bin, ich will nur gehen und meinen Strickstrumpf holen, daï¬ ich etwas zu tun habe. Bleibe ja, damit ich den steinernen Mann auf der steinernen Bank wiederfinde.”
Diesmal tat sie ihm unrecht: denn sosehr er sich von ihr zu enthalten strebte, so w¸rde er doch in diesem Augenblicke, hâ°tte er sich mit ihr in einer einsamen Laube befunden, ihre Liebkosungen wahrscheinlich nicht unerwidert gelassen haben.
Sie ging, nachdem sie ihm einen leichtfertigen Blick zugeworfen, in das Haus. Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen in ihm erregt; doch hob er sich, ohne selbst recht zu wissen warum, von der Bank, um ihr nachzugehen.
Er war eben im Begriff, in die T¸re zu treten, als Melina herbeikam, ihn bescheiden anredete und ihn wegen einiger im Wortwechsel zu hart ausgesprochenen Ausdr¸cke um Verzeihung bat. “Sie nehmen mir nicht ¸bel”, fuhr er fort, “wenn ich in dem Zustande, in dem ich mich befinde, mich vielleicht zu â°ngstlich bezeige; aber die Sorge f¸r eine Frau, vielleicht bald f¸r ein Kind, verhindert mich von einem Tag zum andern, ruhig zu leben und meine Zeit mit dem Genuï¬ angenehmer Empfindungen hinzubringen, wie Ihnen noch erlaubt ist. ¸berdenken Sie, und wenn es Ihnen mËglich ist, so setzen Sie mich in den Besitz der theatralischen Gerâ°tschaften, die sich hier vorfinden. Ich werde nicht lange Ihr Schuldner und Ihnen daf¸r ewig dankbar bleiben.”
Wilhelm, der sich ungern auf der Schwelle aufgehalten sah, ¸ber die ihn eine unwiderstehliche Neigung in diesem Augenblicke zu Philinen hin¸berzog, sagte mit einer ¸berraschten Zerstreuung und eilfertigen Gutm¸tigkeit: “Wenn ich Sie dadurch gl¸cklich und zufrieden machen kann, so will ich mich nicht lâ°nger bedenken. Gehn Sie hin, machen Sie alles richtig. Ich bin bereit, noch diesen Abend oder morgen fr¸h das Geld zu zahlen.” Er gab hierauf Melinan die Hand zur Bestâ°tigung seines Versprechens und war sehr zufrieden, als er ihn eilig ¸ber die Straï¬e weggehen sah; leider aber wurde er von seinem Eindringen ins Haus zum zweitenmal und auf eine unangenehmere Weise zur¸ckgehalten.
Ein junger Mensch mit einem B¸ndel auf dem R¸cken kam eilig die Straï¬e her und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich f¸r Friedrichen erkannte.
“Da bin ich wieder!” rief er aus, indem er seine groï¬en blauen Augen freudig umher und hinauf an alle Fenster gehen lieï¬; “wo ist Mamsell? Der Henker mag es lâ°nger in der Welt aushalten, ohne sie zu sehen!”
Der Wirt, der eben dazugetreten war, versetzte: “Sie ist oben”, und mit wenigen Spr¸ngen war er die Treppe hinauf, und Wilhelm blieb auf der Schwelle wie eingewurzelt stehen. Er hâ°tte in den ersten Augenblicken den Jungen bei den Haaren r¸ckwâ°rts die Treppe herunterreiï¬en mËgen; dann hemmte der heftige Krampf einer gewaltsamen Eifersucht auf einmal den Lauf seiner Lebensgeister und seiner Ideen, und da er sich nach und nach von seiner Erstarrung erholte, ¸berfiel ihn eine Unruhe, ein Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben noch nicht empfunden hatte.
Er ging auf seine Stube und fand Mignon mit Schreiben beschâ°ftigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit groï¬em Fleiï¬e bem¸ht, alles, was es auswendig wuï¬te, zu schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund das Geschriebene zu korrigieren gegeben. Sie war unerm¸det und faï¬te gut; aber die Buchstaben blieben ungleich und die Linien krumm. Auch hier schien ihr KËrper dem Geiste zu widersprechen. Wilhelm, dem die Aufmerksamkeit des Kindes, wenn er ruhigen Sinnes war, groï¬e Freude machte, achtete diesmal wenig auf das, was sie ihm zeigte; sie f¸hlte es und betr¸bte sich dar¸ber nur desto mehr, als sie glaubte, diesmal ihre Sache recht gut gemacht zu haben.
Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gâ°ngen des Hauses auf und ab und bald wieder an die Haust¸re. Ein Reiter sprengte vor, der ein gutes Ansehn hatte und der bei gesetzten Jahren noch viel Munterkeit verriet. Der Wirt eilte ihm entgegen, reichte ihm als einem bekannten Freunde die Hand und rief: “Ei, Herr Stallmeister, sieht man Sie auch einmal wieder!”
“Ich will nur hier f¸ttern”, versetzte der Fremde, “ich muï¬ gleich hin¸ber auf das Gut, um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu lassen. Der Graf kËmmt morgen mit seiner Gemahlin, sie werden sich eine Zeitlang dr¸ben aufhalten, um den Prinzen von *** auf das beste zu bewirten, der in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier aufschlâ°gt.”
“Es ist schade, daï¬ Sie nicht bei uns bleiben kËnnen”, versetzte der Wirt, “wir haben gute Gesellschaft.” Der Reitknecht, der nachsprengte, nahm dem Stallmeister das Pferd ab, der sich unter der T¸re mit dem Wirt unterhielt und Wilhelmen von der Seite ansah.
Dieser, da er merkte, daï¬ von ihm die Rede sei, begab sich weg und ging einige Straï¬en auf und ab.
II. Buch, 13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel
In der verdrieï¬lichen Unruhe, in der er sich befand, fiel ihm ein, den Alten aufzusuchen, durch dessen Harfe er die bËsen Geister zu verscheuchen hoffte. Man wies ihn, als er nach dem Manne fragte, an ein schlechtes Wirtshaus in einem entfernten Winkel des Stâ°dtchens und in demselben die Treppe hinauf bis auf den Boden, wo ihm der s¸ï¬e Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte. Es waren herzr¸hrende, klagende TËne, von einem traurigen, â°ngstlichen Gesange begleitet. Wilhelm schlich an die T¸re, und da der gute Alte eine Art von Phantasie vortrug und wenige Strophen teils singend, teils rezitierend immer wiederholte, konnte der Horcher nach einer kurzen Aufmerksamkeit ungefâ°hr folgendes verstehen:
Wer nie sein Brot mit Trâ°nen aï¬, Wer nie die kummervollen Nâ°chte Auf seinem Bette weinend saï¬, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mâ°chte.
Ihr f¸hrt ins Leben uns hinein, Ihr laï¬t den Armen schuldig werden, Dann ¸berlaï¬t ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld râ°cht sich auf Erden.
Die wehm¸tige, herzliche Klage drang tief in die Seele des HËrers. Es schien ihm, als ob der Alte manchmal von Trâ°nen gehindert w¸rde fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis sich wieder die Stimme leise in gebrochenen Lauten dareinmischte. Wilhelm stand an dem Pfosten, seine Seele war tief ger¸hrt, die Trauer des Unbekannten schloï¬ sein beklommenes Herz auf; er widerstand nicht dem Mitgef¸hl und konnte und wollte die Trâ°nen nicht zur¸ckhalten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele dr¸ckten, lËsten sich zu gleicher Zeit auf, er ¸berlieï¬ sich ihnen ganz, stieï¬ die Kammert¸re auf und stand vor dem Alten, der ein schlechtes Bette, den einzigen Hausrat dieser armseligen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen genËtigt gewesen.
“Was hast du mir f¸r Empfindungen rege gemacht, guter Alter!” rief er aus, “alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgelËst; laï¬ dich nicht stËren, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst, einen Freund gl¸cklich zu machen.” Der Alte wollte aufstehen und etwas reden, Wilhelm verhinderte ihn daran; denn er hatte zu Mittage bemerkt, daï¬ der Mann ungern sprach; er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Strohsack nieder.
Der Alte trocknete seine Trâ°nen und fragte mit einem freundlichen Lâ°cheln: “Wie kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen diesen Abend wieder aufwarten.”
“Wir sind hier ruhiger”, versetzte Wilhelm, “singe mir, was du willst, was zu deiner Lage paï¬t, und tue nur, als ob ich gar nicht hier wâ°re. Es scheint mir, als ob du heute nicht irren kËnntest. Ich finde dich sehr gl¸cklich, daï¬ du dich in der Einsamkeit so angenehm beschâ°ftigen und unterhalten kannst und, da du ¸berall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest.”
Der Alte blickte auf seine Saiten, und nachdem er sanft prâ°ludiert hatte, stimmte er an und sang:
Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach! der ist bald allein;
Ein jeder lebt, ein jeder liebt
Und lâ°ï¬t ihn seiner Pein.
Ja! laï¬t mich meiner Qual!
Und kann ich nur einmal
Recht einsam sein,
Dann bin ich nicht allein.
Es schleicht ein Liebender lauschend sacht, Ob seine Freundin allein?
So ¸berschleicht bei Tag und Nacht Mich Einsamen die Pein,
Mich Einsamen die Qual.
Ach werd ich erst einmal
Einsam im Grabe sein,
Da lâ°ï¬t sie mich allein!
Wir w¸rden zu weitlâ°ufig werden und doch die Anmut der seltsamen Unterredung nicht ausdr¸cken kËnnen, die unser Freund mit dem abenteuerlichen Fremden hielt. Auf alles, was der J¸ngling zu ihm sagte, antwortete der Alte mit der reinsten ¸bereinstimmung durch Anklâ°nge, die alle verwandten Empfindungen rege machten und der Einbildungskraft ein weites Feld erËffneten.
Wer einer Versammlung frommer Menschen, die sich, abgesondert von der Kirche, reiner, herzlicher und geistreicher zu erbauen glauben, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von der gegenwâ°rtigen Szene machen kËnnen; er wird sich erinnern, wie der Liturg seinen Worten den Vers eines Gesanges anzupassen weiï¬, der die Seele dahin erhebt, wohin der Redner w¸nscht, daï¬ sie ihren Flug nehmen mËge, wie bald darauf ein anderer aus der Gemeinde in einer andern Melodie den Vers eines andern Liedes hinzuf¸gt und an diesen wieder ein dritter einen dritten ankn¸pft, wodurch die verwandten Ideen der Lieder, aus denen sie entlehnt sind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn sie in dem Augenblicke erfunden worden wâ°re; wodurch denn aus einem bekannten Kreise von Ideen, aus bekannten Liedern und Spr¸chen f¸r diese besondere Gesellschaft, f¸r diesen Augenblick ein eigenes Ganzes entsteht, durch dessen Genuï¬ sie belebt, gestâ°rkt und erquickt wird. So erbaute der Alte seinen Gast, indem er durch bekannte und unbekannte Lieder und Stellen nahe und ferne Gef¸hle, wachende und schlummernde, angenehme und schmerzliche Empfindungen in eine Zirkulation brachte, von der in dem gegenwâ°rtigen Zustande unsers Freundes das Beste zu hoffen war.
II. Buch, 14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Denn wirklich fing er auf dem R¸ckwege ¸ber seine Lage lebhafter, als bisher geschehen, zu denken an und war mit dem Vorsatze, sich aus derselben herauszureiï¬en, nach Hause gelangt, als ihm der Wirt sogleich im Vertrauen erËffnete, daï¬ Mademoiselle Philine an dem Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe, der, nachdem er seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet, in hËchster Eile zur¸ckgekommen sei und ein gutes Abendessen oben auf ihrem Zimmer mit ihr verzehre.
In eben diesem Augenblicke trat Melina mit dem Notarius herein; sie gingen zusammen auf Wilhelms Zimmer, wo dieser, wiewohl mit einigem Zaudern, seinem Versprechen Gen¸ge leistete, dreihundert Taler auf Wechsel an Melina auszahlte, welche dieser sogleich dem Notarius ¸bergab und dagegen das Dokument ¸ber den geschlossenen Kauf der ganzen theatralischen Gerâ°tschaft erhielt, welche ihm morgen fr¸h ¸bergeben werden sollte.
Kaum waren sie auseinandergegangen, als Wilhelm ein entsetzliches Geschrei in dem Hause vernahm. Er hËrte eine jugendliche Stimme, die zornig und drohend durch ein unmâ°ï¬iges Weinen und Heulen durchbrach. Er hËrte diese Wehklage von oben herunter an seiner Stube vorbei nach dem Hausplatze eilen.
Als die Neugierde unsern Freund herunterlockte, fand er Friedrichen in einer Art von Raserei. Der Knabe weinte, knirschte, stampfte, drohte mit geballten Fâ°usten und stellte sich ganz ungebâ°rdig vor Zorn und Verdruï¬, Mignon stand gegen¸ber und sah mit Verwunderung zu, und der Wirt erklâ°rte einigermaï¬en diese Erscheinung.
Der Knabe sei nach seiner R¸ckkunft, da ihn Philine gut aufgenommen, zufrieden, lustig und munter gewesen, habe gesungen und gesprungen bis zur Zeit, da der Stallmeister mit Philinen Bekanntschaft gemacht. Nun habe das Mittelding zwischen Kind und J¸ngling angefangen, seinen Verdruï¬ zu zeigen, die T¸ren zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen. Philine habe ihm befohlen, heute abend bei Tische aufzuwarten, wor¸ber er nur noch m¸rrischer und trotziger geworden; endlich habe er eine Sch¸ssel mit Ragout, anstatt sie auf den Tisch zu setzen, zwischen Mademoiselle und den Gast, die ziemlich nahe zusammen gesessen, hineingeworfen, worauf ihm der Stallmeister ein paar t¸chtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur T¸re hinausgeschmissen. Er, der Wirt, habe darauf die beiden Personen sâ°ubern helfen, deren Kleider sehr ¸bel zugerichtet gewesen.
Als der Knabe die gute Wirkung seiner Rache vernahm, fing er laut zu lachen an, indem ihm noch immer die Trâ°nen an den Backen herunterliefen. Er freute sich einige Zeit herzlich, bis ihm der Schimpf, den ihm der Stâ°rkere angetan, wieder einfiel, da er denn von neuem zu heulen und zu drohen anfing.
Wilhelm stand nachdenklich und beschâ°mt vor dieser Szene. Er sah sein eignes Innerstes mit starken und ¸bertriebenen Z¸gen dargestellt; auch er war von einer un¸berwindlichen Eifersucht entz¸ndet; auch er, wenn ihn der Wohlstand nicht zur¸ckgehalten hâ°tte, w¸rde gern seine wilde Laune befriedigt, gern mit t¸ckischer Schadenfreude den geliebten Gegenstand verletzt und seinen Nebenbuhler ausgefordert haben; er hâ°tte die Menschen, die nur zu seinem Verdrusse dazusein schienen, vertilgen mËgen.
Laertes, der auch herbeigekommen war und die Geschichte vernommen hatte, bestâ°rkte schelmisch den aufgebrachten Knaben, als dieser beteuerte und schwur: der Stallmeister m¸sse ihm Satisfaktion geben, er habe noch keine Beleidigung auf sich sitzen lassen; weigere sich der Stallmeister, so werde er sich zu râ°chen wissen.
Laertes war hier grade in seinem Fache. Er ging ernsthaft hinauf, den Stallmeister im Namen des Knaben herauszufordern.
“Das ist lustig”, sagte dieser; “einen solchen Spaï¬ hâ°tte ich mir heut abend kaum vorgestellt.” Sie gingen hinunter, und Philine folgte ihnen. “Mein Sohn”, sagte der Stallmeister zu Friedrichen, “du bist ein braver Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir zu fechten; nur da die Ungleichheit unsrer Jahre und Krâ°fte die Sache ohnehin etwas abenteuerlich macht, so schlage ich statt anderer Waffen ein Paar Rapiere vor; wir wollen die KnËpfe mit Kreide bestreichen, und wer dem andern den ersten oder die meisten StËï¬e auf den Rock zeichnet, soll f¸r den ¸berwinder gehalten und von dem andern mit dem besten Weine, der in der Stadt zu haben ist, traktiert werden.”
Laertes entschied, daï¬ dieser Vorschlag angenommen werden kËnnte; Friedrich gehorchte ihm als seinem Lehrmeister. Die Rapiere kamen herbei, Philine setzte sich hin, strickte und sah beiden Kâ°mpfern mit groï¬er Gem¸tsruhe zu.
Der Stallmeister, der seht gut focht, war gefâ°llig genug, seinen Gegner zu schonen und sich einige Kreidenflecke auf den Rock bringen zu lassen, worauf sie sich umarmten und Wein herbeigeschafft wurde. Der Stallmeister wollte Friedrichs Herkunft und seine Geschichte wissen, der denn ein Mâ°rchen erzâ°hlte, das er schon oft wiederholt hatte und mit dem wir ein andermal unsre Leser bekannt zu machen gedenken.
In Wilhelms Seele vollendete indessen dieser Zweikampf die Darstellung seiner eigenen Gef¸hle: denn er konnte sich nicht leugnen, daï¬ er das Rapier, ja lieber noch einen Degen selbst gegen den Stallmeister zu f¸hren w¸nschte, wenn er schon einsah, daï¬ ihm dieser in der Fechtkunst weit ¸berlegen sei. Doch w¸rdigte er Philinen nicht eines Blicks, h¸tete sich vor jeder â°uï¬erung, die seine Empfindung hâ°tte verraten kËnnen, und eilte, nachdem er einigemal auf die Gesundheit der Kâ°mpfer Bescheid getan, auf sein Zimmer, wo sich tausend unangenehme Gedanken auf ihn zudrâ°ngten.
Er erinnerte sich der Zeit, in der sein Geist durch ein unbedingtes, hoffnungsreiches Streben emporgehoben wurde, wo er in dem lebhaftesten Genusse aller Art wie in einem Elemente schwamm. Es ward ihm deutlich, wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war, in welchem er nur noch schl¸rfend kostete, was er sonst mit vollen Z¸gen eingesogen hatte; aber deutlich konnte er nicht sehen, welches un¸berwindliche Bed¸rfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte und wie sehr dieses Bed¸rfnis durch Umstâ°nde nur gereizt, halb befriedigt und irregef¸hrt worden war.
Es darf also niemand wundern, wenn er bei Betrachtung seines Zustandes, und indem er sich aus demselben herauszudenken arbeitete, in die grËï¬te Verwirrung geriet. Es war nicht genug, daï¬ er durch seine Freundschaft zu Laertes, durch seine Neigung zu Philinen, durch seinen Anteil an Mignon lâ°nger als billig an einem Orte und in einer Gesellschaft festgehalten wurde, in welcher er seine Lieblingsneigung hegen, gleichsam verstohlen seine W¸nsche befriedigen und, ohne sich einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Trâ°umen nachschleichen konnte. Aus diesen Verhâ°ltnissen sich loszureiï¬en und gleich zu scheiden, glaubte er Kraft genug zu besitzen. Nun hatte er aber vor wenigen Augenblicken sich mit Melina in ein Geldgeschâ°ft eingelassen, er hatte den râ°tselhaften Alten kennenlernen, welchen zu entziffern er eine unbeschreibliche Begierde f¸hlte. Allein auch dadurch sich nicht zur¸ckhalten zu lassen, war er nach lang hin und her geworfenen Gedanken entschlossen oder glaubte wenigstens entschlossen zu sein. “Ich muï¬ fort”, rief er aus, “ich will fort!” Er warf sich in einen Sessel und war sehr bewegt. Mignon trat herein und fragte, ob sie ihn aufwickeln d¸rfe. Sie kam still; es schmerzte sie tief, daï¬ er sie heute so kurz abgefertigt hatte.
Nichts ist r¸hrender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genâ°hrt, eine Treue, die sich im verborgenen befestigt hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahe kommt und ihm offenbar wird. Die lange und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfâ°nglicher sein.
Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe. “Herr!” rief sie aus, “wenn du ungl¸cklich bist, was soll aus Mignon werden?”–“Liebes GeschËpf”, sagte er, indem er ihre Hâ°nde nahm, “du bist auch mit unter meinen Schmerzen.–Ich muï¬ fort.” Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Trâ°nen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder. Er behielt ihre Hâ°nde, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich f¸hlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz sachte anfing und sich durch alle Glieder wachsend verbreitete. “Was ist dir, Mignon?” rief er aus, “was ist dir?” Sie richtete ihr KËpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebâ°rde, welche Schmerzen verbeiï¬t. Er hob sie auf, und sie fiel auf seinen Schoï¬; er dr¸ckte sie an sich und k¸ï¬te sie. Sie antwortete durch keinen Hâ°ndedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des KËrpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein grâ°ï¬licher Anblick! “Mein Kind!” rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, “mein Kind, was ist dir?” Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte; sie hing nur in seinen Armen. Er schloï¬ sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Trâ°nen. Auf einmal schien sie wieder angespannt, wie eins, das den hËchsten kËrperlichen Schmerz ertrâ°gt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlâ°gt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riï¬ geschah, und in dem Augenblicke floï¬ ein Strom von Trâ°nen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Trâ°nen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Trâ°nen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinde, es ergoï¬ sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes f¸rchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr ¸brigbehalten. Er hielt sie nur fester und fester. “Mein Kind!” rief er aus, “mein Kind! Du bist ja mein! Wenn dich das Wort trËsten kann. Du bist mein! Ich werde dich behalten, dich nicht verlassen!” Ihre Trâ°nen flossen noch immer. Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glâ°nzte von ihrem Gesichte. “Mein Vater!” rief sie, “du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein!–Ich bin dein Kind!”
Sanft fing vor der T¸re die Harfe an zu klingen; der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten Gl¸ckes genoï¬.