—————————————————- ^10 “Freilich”, sagt Cicero (Tusc. 3, 19, 45) in Beziehung auf Ennius, “wird der herrliche Dichter von unseren Euphorionrezitierern verachtet.” “Ich bin gluecklich angelangt”, schreibt derselbe an Atticus (7, 2 z. A.), “da uns von Epirus herueber der guenstige Nordwind wehte. Diesen Spondaicus kannst du, wenn du Lust hast, einem von den Neumodischen als dein eigen verkaufen” (ita belle nobis flavit ab Epiro lenissumus Onchesmites. Hunc spodeiazonta si cui voles t/o/n neoter/o/n pro tuo vendito). —————————————————- Von den beiden ersten, deren Schriften untergegangen sind, koennen wir dies freilich nur mutmassen; ueber die Gedichte des Catullus steht auch uns noch ein Urteil zu. Auch er haengt in Stoff und Form ab von den Alexandrinern. Wir finden in seiner Sammlung Uebersetzungen von Stuecken des Kallimachos und nicht gerade von den recht guten, sondern von den recht schwierigen. Auch unter den Originalen begegnen gedrechselte Modepoesien, wie die ueberkuenstlichen Galliamben zum Lobe der Phrygischen Mutter; und selbst das sonst so schoene Gedicht von der Hochzeit der Thetis ist durch die echt alexandrinische Einschachtelung der Ariadneklage in das Hauptgedicht kuenstlerisch verdorben. Aber neben diesen Schulstuecken steht die melodische Klage der echten Elegie, steht das Festgedicht im vollen Schmuck individueller und fast dramatischer Durchfuehrung, steht vor allem die solideste Kleinmalerei gebildeter Geselligkeit, die anmutigen sehr ungenierten Maedchenabenteuer, davon das halbe Vergnuegen im Ausschwatzen und Poetisieren der Liebesgeheimnisse besteht, das liebe Leben der Jugend bei vollen Bechern und leeren Beuteln, die Reise- und die Dichterlust; die roemische und oefter noch die veronesische Stadtanekdote und der launige Scherz in dem vertrauten Zirkel der Freunde. Jedoch nicht bloss in die Saiten greift des Dichters Apoll, sondern er fuehrt auch den Bogen: der gefluegelte Pfeil des Spottes verschont weder den langweiligen Versemacher noch den sprachverderbenden Provinzialen, aber keinen trifft er oefter und schaerfer als die Gewaltigen, von denen der Freiheit des Volkes Gefahr droht. Die kurzzeiligen und kurzweiligen, oft von anmutigen Refrains belebten Masse sind von vollendeter Kunst und doch ohne die widerwaertige Glaette der Fabrik. Umeinander fuehren diese Gedichte in das Nil- und in das Potal; aber in dem letzteren ist der Dichter unvergleichlich besser zu Hause. Seine Dichtungen ruhen wohl auf der alexandrinischen Kunst, aber doch auch auf dem buergerlichen, ja dem landstaedtischen Selbstgefuehl, auf dem Gegensatz von Verona zu Rom, auf dem Gegensatz des schlichten Munizipalen gegen die hochgeborenen, ihren geringen Freunden gewoehnlich uebel mitspielenden Herren vom Senat, wie er in Catulls Heimat, dem bluehenden und verhaeltnismaessig frischen Cisalpinischen Gallien, lebendiger noch als irgendwo anders empfunden werden mochte. In die schoensten seiner Lieder spielen die suessen Bilder vom Gardasee hinein und schwerlich haette in dieser Zeit ein Hauptstaedter ein Gedicht zu schreiben vermocht wie das tief empfundene auf des Bruders Tod oder das brave, echt buergerliche Festlied zu der Hochzeit des Manlius und der Arunculeia. Catullus, obwohl abhaengig von den alexandrinischen Meistern und mitten in der Mode- und Cliquendichtung jener Zeit stehend, war doch nicht bloss ein guter Schueler unter vielen maessigen und schlechten, sondern seinen Meistern selbst um so viel ueberlegen, als der Buerger einer freien italischen Gemeinde mehr war als der kosmopolitische hellenische Literat. Eminente schoepferische Kraft und hohe poetische Intentionen darf man freilich bei ihm nicht suchen; er ist ein reichbegabter und anmutiger, aber kein grosser Poet, und seine Gedichte sind, wie er selbst sie nennt, nichts als “Scherze und Torheiten”. Aber wenn nicht bloss die Zeitgenossen von diesen fluechtigen Liedchen elektrisiert wurden, sondern auch die Kunstkritiker der augustischen Zeit ihn neben Lucretius als den bedeutendsten Dichter dieser Epoche bezeichnen, so hatten die Zeitgenossen wie die Spaeteren vollkommen recht. Die lateinische Nation hat keinen zweiten Dichter hervorgebracht, in dem der kuenstlerische Gehalt und die kuenstlerische Form in so gleichmaessiger Vollendung wiedererscheinen wie bei Catullus; und in diesem Sinne ist Catullus’ Gedichtsammlung allerdings das Vollkommenste, was die lateinische Poesie ueberhaupt aufzuweisen vermag. Es beginnt endlich in dieser Epoche die Dichtung in prosaischer Form. Das bisher unwandelbar festgehaltene Gesetz der echten, naiven wie bewussten, Kunst, dass der poetische Stoff und die metrische Fassung sich einander bedingen, weicht der Vermischung und Truebung aller Kunstgattungen und Kunstformen, welche zu den bezeichnendsten Zuegen dieser Zeit gehoert. Zwar von Romanen ist noch weiter nichts anzufuehren, als dass der beruehmteste Geschichtschreiber dieser Epoche, Sisenna, sich nicht fuer zu gut hielt, die viel gelesenen Milesischen Erzaehlungen des Aristeides, schluepfrige Modenovellen der plattesten Sorte, ins Lateinische zu uebersetzen. Eine originellere und erfreulichere Erscheinung auf diesem zweifelhaften poetisch-prosaischen Grenzgebiet sind die aesthetischen Schriften Varros, der nicht bloss der bedeutendste Vertreter der lateinischen philologisch-historischen Forschung, sondern auch in der schoenen Literatur einer der fruchtbarsten und interessantesten Schriftsteller ist. Einem in der sabinischen Landschaft heimischen, dem roemischen Senat seit zweihundert Jahren angehoerigen Plebejergeschlechte entsprossen, streng in altertuemlicher Zucht und Ehrbarkeit erzogen ^11 und bereits am Anfang dieser Epoche ein reifer Mann, gehoerte Marcus Terentius Varro von Reate (638-727 116-27) politisch, wie sich von selbst versteht, der Verfassungspartei an und beteiligte sich ehrlich und energisch an ihrem Tun und Leiden. Er tat dies teils literarisch, indem er zum Beispiel die erste Koalition, das “dreikoepfige Ungeheuer” in Flugschriften bekaempfte, teils im ernsteren Kriege, wo wir ihn im Heere des Pompeius als Kommandanten des Jenseitigen Spaniens fanden. Als die Sache der Republik verloren war, ward Varro von seinem Ueberwinder zum Bibliothekar der neu zu schaffenden Bibliothek in der Hauptstadt bestimmt. Die Wirren der folgenden Zeit rissen den alten Mann noch einmal in ihren Strudel hinein, und erst siebzehn Jahre nach Caesars Tode, im neunundachtzigsten seines wohlausgefuellten Lebens rief der Tod ihn ab. Die aesthetischen Schriften, die ihm einen Namen gemacht haben, waren kuerzere Aufsaetze, teils einfach prosaische ernsteren Inhalts, teils launige Schilderungen, deren prosaisches Grundwerk vielfach eingelegte Poesien durchwirken. Jenes sind die ‘Philosophisch-historischen Abhandlungen’ (logistorici), dies die Menippischen Satiren. Beide schliessen nicht an lateinische Vorbilder sich an, namentlich die Varronische Satura keineswegs an die Lucilische; wie denn ueberhaupt die roemische Satura nicht eigentlich eine feste Kunstgattung, sondern nur negativ das bezeichnet, dass “das mannigfaltige Gedicht” zu keiner der anerkannten Kunstgattungen gezaehlt sein will und darum denn auch die Saturapoesie bei jedem begabten Poeten wieder einen andern und eigenartigen Charakter annimmt. Es war vielmehr die voralexandrinische griechische Philosophie, in der Varro die Muster fuer seine strengeren wie fuer seine leichteren aesthetischen Arbeiten fand: fuer die ernsteren Abhandlungen in den Dialogen des Herakleides von Herakleia am Schwarzen Meer (+ um 450 300), fuer die Satiren in den Schriften des Menippos von Gadara in Syrien (blueht um 475 280). Die Wahl war bezeichnend. Herakleides, als Schriftsteller angeregt durch Platons philosophische Gespraeche, hatte ueber deren glaenzende Form den wissenschaftlichen Inhalt gaenzlich aus den Augen verloren und die poetisch- fabulistische Einkleidung zur Hauptsache gemacht; er war ein angenehmer und vielgelesener Autor, aber nichts weniger als ein Philosoph. Menippos war es ebensowenig, sondern der echteste literarische Vertreter derjenigen Philosophie, deren Weisheit darin besteht, die Philosophie zu leugnen und die Philosophen zu verhoehnen, der Hundeweisheit des Diogenes; ein lustiger Meister ernsthafter Weisheit, bewies er in Exempeln und Schnurren, dass ausser dem rechtschaffenen Leben alles auf Erden und im Himmel eitel sei, nichts aber eitler als der Hader der sogenannten Weisen. Dies waren die rechten Muster fuer Varro, einen Mann voll altroemischen Unwillens ueber die erbaermliche Zeit und voll altroemischer Laune, dabei durchaus nicht ohne plastisches Talent, aber fuer alles, was nicht wie Bild und Tatsache aussah, sondern wie Begriff oder gar wie System, vollstaendig vernagelt und vielleicht den unphilosophischsten unter den unphilosophischen Roemern ^12. Allein Varro war kein unfreier Schueler. Die Anregung und im allgemeinen die Form entlehnte er von Herakleides und Mennippos; aber er war eine zu individuelle und zu entschieden roemische Natur, um nicht seine Nachschoepfungen wesentlich selbstaendig und national zu halten. Fuer seine ernsten Abhandlungen, in denen ein moralischer Satz oder sonst ein Gegenstand von allgemeinem Interesse behandelt ward, verschmaehte er in der Fabulierung an die Milesischen Maerchen zu streifen, wie Herakleides es getan, und so gar kinderhafte Geschichten wie die vom Abaris und von dem nach siebentaegigem Tode wieder zum Leben erwachenden Maedchen dem Leser aufzutischen. Nur selten entnahm er die Einkleidung den edleren Mythen der Griechen, wie in dem Aufsatz ‘Orestes oder vom Wahnsinn’; regelmaessig gab ihm einen wuerdigeren Rahmen fuer seine Stoffe die Geschichte, namentlich die gleichzeitige vaterlaendische, wodurch diese Aufsaetze zugleich, wie sie auch heissen, ‘Lobschriften’ wurden auf geachtete Roemer, vor allem auf die Koryphaeen der Verfassungspartei. So war die Abhandlung ‘Vom Frieden’ zugleich eine Denkschrift auf Metellus Pius, den letzten in der glaenzenden Reihe der gluecklichen Feldherrn des Senats; die ‘Von der Goetterverehrung’ zugleich bestimmt, das Andenken an den hochgeachteten Optimaten und Pontifex Gaius Curio zu bewahren; der Aufsatz ‘Ueber das Schicksal’ knuepfte an Marius an, der ‘Ueber die Geschichtschreibung’ an den ersten Historiker dieser Epoche, Sisenna, der ‘Ueber die Anfaenge der roemischen Schaubuehne’ an den fuerstlichen Spielgeber Scaurus, der ‘Ueber die Zahlen’ an den feingebildeten roemischen Bankier Atticus. Die beiden philosophisch-historischen Aufsaetze ‘Laelius oder von der Freundschaft, ‘Cato oder vom Alter’, welche Cicero, wahrscheinlich nach dem Muster der Varronischen, schrieb, moegen von Varros halb lehrhafter, halb erzaehlender Behandlung dieser Stoffe ungefaehr eine Vorstellung geben. —————————————————— ^11 “Mir als Knaben”, sagt er irgendwo, “genuegte ein einziger Flausrock und ein einziges Unterkleid, Schuhe ohne Struempfe, ein Pferd ohne Sattel; ein warmes Bad hatte ich nicht taeglich, ein Flussbad selten.” Wegen seiner persoenlichen Tapferkeit erhielt er im Piratenkrieg, wo er eine Flottenabteilung fuehrte, den Schiffskranz.
^12 Etwas Kindischeres gibt es kaum als Varros Schema der saemtlichen Philosophien, das erstlich alle nicht die Beglueckung des Menschen als letztes Ziel aufstellenden Systeme kurzweg fuer nicht vorhanden erklaert und dann die Zahl der unter dieser Voraussetzung denkbaren Philosophien auf zweihundertachtundachtzig berechnet. Der tuechtige Mann war leider zu sehr Gelehrter um einzugestehen, dass er Philosoph weder sein koenne noch sein moege, und hat deshalb als solcher zeit seines Lebens zwischen Stoa, Pythagoreismus und Diogenismus einen nicht schoenen Eiertanz aufgefuehrt. —————————————————— Ebenso originell in Form und Inhalt ward von Varro die Menippische Satire behandelt; die dreiste Mischung von Prosa und Versen ist dem griechischen Original fremd und der ganze geistige Inhalt von roemischer Eigentuemlichkeit, man moechte sagen von sabinischem Erdgeschmack durchdrungen. Auch diese Satiren behandeln, wie die philosophisch-historischen Aufsaetze, irgendein moralisches oder sonst fuer das groessere Publikum geeignetes Thema, wie dies schon einzelne Titel zeigen: ‘Hercules’ Saeulen oder vom Ruhm’; ‘Der Topf findet den Deckel oder von den Pflichten des Ehemanns’; ‘Der Nachttopf hat sein Mass oder vom Zechen’; ‘Papperlapapp oder von der Lobrede’. Die plastische Einkleidung, die auch hier nicht fehlen durfte, ist natuerlich der vaterlaendischen Geschichte nur selten entlehnt, wie in der Satire ‘Serranus oder von den Wahlen’. Dagegen spielt die Diogenische Hundewelt wie billig eine grosse Rolle: es begegnen der Hund Gelehrter, der Hund Rhetor, der Ritter-Hund, der Wassertrinker-Hund, der Hundekatechismus und dergleichen mehr. Ferner wird die Mythologie zu komischen Zwecken in Kontribution gesetzt: wir finden einen ‘Befreiten Prometheus’, einen ‘Strohernen Aias’, einen ‘Herkules Sokratiker’, einen ‘Anderthalb Odysseus’, der nicht bloss zehn, sondern fuenfzehn Jahre in Irrfahrten sich umhergetrieben hat. Der dramatisch-novellistische Rahmen schimmert in einzelnen Stuecken, zum Beispiel im ‘Befreiten Prometheus’, in dem ‘Mann von sechzig Jahren’, im ‘Fruehauf’ noch aus den Truemmern hervor; es scheint, dass Varro die Fabel haeufig, vielleicht regelmaessig als eigenes Erlebnis erzaehlte, wie zum Beispiel im ‘Fruehauf’ die handelnden Personen zum Varro hingehen und ihm Vortrag halten, “da er als Buechermacher ihnen bekannt war”. Ueber den poetischen Wert dieser Einkleidung ist uns ein sicheres Urteil nicht mehr gestattet; einzeln begegnen noch in unseren Truemmern allerliebste Schilderungen voll Witz und Lebendigkeit – so eroeffnet im ‘Befreiten Prometheus’ der Heros nach Loesung seiner Fesseln eine Menschenfabrik, in welcher Goldschuh, der Reiche, sich ein Maedchen bestellt von Milch und feinstem Wachs, wie es die milesischen Bienen aus mannigfachen Blueten sammeln, ein Maedchen ohne Knochen und Sehnen, ohne Haut und Haar, rein und fein, schlank, glatt, zart, allerliebst. Der Lebensatem dieser Dichtung ist die Polemik – nicht so sehr die politische der Partei, wie Lucilius und Catullus sie uebten, sondern die allgemeine sittliche des strengen Alten gegen die zuegellose und verkehrte Jugend, des in seinen Klassikern lebenden Gelehrten gegen die lockere und schofle oder doch ihrer Tendenz nach verwerfliche moderne Poesie ^13, des guten Buergers von altem Schlag gegen das neue Rom, in dem der Markt, mit Varro zu reden, ein Schweinestall ist und Numa, wenn er auf seine Stadt den Blick wendet, keine Spur seiner weisen Satzungen mehr gewahrt. Varro tat in dem Verfassungskampf, was ihm Buergerpflicht schien; aber sein Herz war bei diesem Parteitreiben nicht – “warum”, klagt er einmal, “riefet ihr mich aus meinem reinen Leben in den Rathausschmutz?” Er gehoerte der guten alten Zeit an, wo die Rede nach Zwiebeln und Knoblauch duftete, aber das Herz gesund war. Nur eine einzelne Seite dieser altvaeterischen Opposition gegen den Geist der neuen Zeit ist die Polemik gegen die Erbfeinde des echten Roemertums, die griechischen Weltweisen; aber es lag sowohl im Wesen der Hundephilosophie als in Varros Naturell, dass die menippische Geissel ganz besonders den Philosophen um die Ohren schwirrte und sie denn auch in angemessene Angst versetzte – nicht ohne Herzklopfen uebersandten die philosophischen Skribenten der Zeit dem “scharfen Mann” ihre neu erschienenen Traktate. Das Philosophieren ist wahrlich keine Kunst. Mit dem zehnten Teil der Muehe, womit der Herr den Sklaven zum Kunstbaecker erzieht, bildet er selbst sich zum Philosophen; freilich, wenn dann der Baecker und der Philosoph beide unter den Hammer kommen, geht der Kuchenkuenstler hundertmal teurer weg als der Weltweise. Sonderbare Leute, diese Philosophen! Der eine befiehlt, die Leichen in Honig beizusetzen – ein Glueck, dass man ihm nicht den Willen tut, wo bliebe sonst der Honigwein? Der andere meint, dass die Menschen wie die Kresse aus der Erde gewachsen sind. Der dritte hat einen Weltbohrer erfunden, durch den die Erde einst untergehen wird. ——————————————————– ^13 “Willst du etwa”, schreibt er einmal, “die Redefiguren und Verse des Quintussklaven Clodius abgurgeln und ausrufen: O Geschick! o Schicksalsgeschick!” Anderswo: “Da der Quintussklave Clodius eine solche Anzahl von Komoedien ohne irgendeine Muse gemacht hat, sollte ich da nicht einmal ein einziges Buechlein mit Ennius zu reden ‘fabrizieren’ koennen?” Dieser sonst nicht bekannte Clodius muss wohl ein schlechter Nachahmer des Terenz gewesen sein, da zumal jene ihm spoettisch heimgegebenen Worte: “O Geschick! o Schicksalsgeschick!” in einem Terenzischen Lustspiel sich wiederfinden. Die folgende Selbstvorstellung eines Poeten in Varros ‘Esel beim Lautenspiel’: Schueler mich heisst man Pacuvs; er dann war des Ennius Schueler, Dieser der Musen; ich selbst nenne Pompilius mich koennte fueglich die Einleitung des Lucretius parodieren, dem Varro schon als abgesagter Feind des epikurischen Systems nicht geneigt gewesen sein kann und den er nie anfuehrt.
——————————————————– Gewiss, niemals hat ein Kranker etwas je getraeumt So toll, was nicht gelehrt schon haette ein Philosoph. Es ist spasshaft anzusehen, wie so ein Langbart- der etymologisierende Stoiker ist gemeint – ein jedes Wort bedaechtig auf der Goldwaage waegt; aber nichts geht doch ueber den echten Philosophenzank – ein stoischer Faustkampf uebertrifft weit jede Athletenbalgerei. In der Satire ‘Die Marcusstadt oder vom Regimente’, wo Marcus sich ein Wolkenkuckucksheim nach seinem Herzen schuf, erging es, ebenwie in dem attischen, dem Bauern gut, dem Philosophen aber uebel; der Schnell-durch-ein-Glied-Beweis (Celer-di?-enos-l/e/mmatos-logos), Antipatros, des Stoikers Sohn, schlaegt darin seinem Gegner, offenbar dem philosophischen Zweiglied (Dilemma), mit der Feldhacke den Schaedel ein. Mit dieser sittlich polemischen Tendenz und diesem Talent, einen kaustischen und pittoresken Ausdruck fuer sie zu finden, das, wie die dialogische Einkleidung der im achtzigsten Jahre geschriebenen Buecher vom Landbau beweist, bis in das hoechste Alter ihn nicht verliess, vereinigte sich auf das gluecklichste Varros unvergleichliche Kunde der nationalen Sitte und Sprache, die in den philologischen Schriften seines Greisenalters kollektaneenartig, hier aber in ihrer ganzen unmittelbaren Fuelle und Frische sich entfaltet. Varro war im besten und vollsten Sinne des Wortes ein Lokalgelehrter, der seine Nation in ihrer ehemaligen Eigentuemlichkeit und Abgeschlossenheit wie in ihrer modernen Verschliffenheit und Zerstreuung aus vieljaehriger eigener Anschauung kannte und seine unmittelbare Kenntnis der Landessitte und Landessprache durch die umfassendste Durchforschung der geschichtlichen und literarischen Archive ergaenzt und vertieft hatte. Was insofern an verstandesmaessiger Auffassung und Gelehrsamkeit in unserem Sinn ihm abging, das gewann die Anschauung und die in ihm lebendige Poesie. Er haschte weder nach antiquarischen Notizen noch nach seltenen veralteten oder poetischen Woertern ^14; aber er selbst war ein alter und altfraenkischer Mann und beinah ein Bauer, die Klassiker seiner Nation ihm liebe, langgewohnte Genossen; wie konnte es fehlen, dass von der Sitte der Vaeter, die er ueber alles liebte und vor allen kannte, gar vielerlei in seinen Schriften erzaehlt ward, und dass seine Rede ueberfloss von sprichwoertlichen griechischen und lateinischen Wendungen, von guten alten, in der sabinischen Umgangssprache bewahrten Woertern, von Ennianischen, Lucilischen, vor allem Plautinischen Reminiszenzen? Den Prosastil dieser aesthetischen Schriften aus Varros frueherer Zeit darf man sich nicht vorstellen nach dem seines im hohen Alter geschriebenen und wahrscheinlich im unfertigen Zustand veroeffentlichten sprachwissenschaftlichen Werkes, wo allerdings die Satzglieder am Faden der Relative aufgereiht werden wie die Drosseln an der Schnur; dass aber Varro grundsaetzlich die strenge Stilisierung und die attische Periodisierung verwarf, wurde frueher schon bemerkt, und seine aesthetischen Aufsaetze waren zwar ohne den gemeinen Schwulst und die falschen Flitter des Vulgarismus, aber in mehr lebendig gefuegten als wohl gegliederten Saetzen unklassisch und selbst schluderig geschrieben. Die eingelegten Poesien dagegen bewiesen nicht bloss, dass ihr Urheber die mannigfaltigsten Masse meisterlich wie nur einer der Modepoeten zu bilden verstand, sondern auch, dass er ein Recht hatte, denen sich zuzuzaehlen, welchen ein Gott es vergoennt hat, “die Sorgen aus dem Herzen zu bannen durch das Lied und die heilige Dichtkunst” ^15. Schule machte die Varronische Skizze so wenig wie das Lucretische Lehrgedicht; zu den allgemeineren Ursachen kam hier noch hinzu das durchaus individuelle Gepraege derselben, welches unzertrennlich war von dem hoeheren Alter, der Bauernhaftigkeit und selbst von der eigenartigen Gelehrsamkeit ihres Verfassers. Aber die Anmut und Laune vor allem der menippischen Satiren, welche an Zahl wie an Bedeutung Varros ernsteren Arbeiten weit ueberlegen gewesen zu sein scheinen, fesselte die Zeitgenossen sowohl wie diejenigen Spaeteren, die fuer Originalitaet und Volkstuemlichkeit Sinn hatten; und auch wir noch, denen es nicht mehr vergoennt ist, sie zu lesen, moegen aus den erhaltenen Bruchstuecken einigermassen es nachempfinden, dass der Schreiber “es verstand, zu lachen und mit Mass zu scherzen”. Und schon als der letzte Hauch des scheidenden guten Geistes der alten Buergerzeit, als der juengste gruene Spross, den die volkstuemliche lateinische Poesie getrieben hat, verdienten es Varros Satiren, dass der Dichter in seinem poetischen Testament diese seine menippischen Kinder jedem empfahl,
Dem da Romas liegt und Latiums Bluehen am Herzen, und sie behaupten denn auch einen ehrenvollen Platz in der Literatur wie in der Geschichte des italischen Volkes ^16. ———————————————- ^14 Er selbst sagt einmal treffend, dass er veraltete Woerter nicht besonders liebe, aber oefter brauche, poetische Woerter sehr liebe, aber nicht brauche.
^15 Die folgende Schilderung ist dem ‘Marcussklaven’ entnommen: Auf einmal, um die Zeit der Mitternacht etwa, Als uns mit Feuerflammen weit und breit gestickt Der luftige Raum den Himmelssternenreigen wies, Umschleierte des Himmels goldenes Gewoelb Mit kuehlem Regenflor der raschen Wolken Zug, Hinab das Wasser schuettend auf die Sterblichen, Und schossen, los sich reissend von dem eisigen Pol, Die Wind’, heran, des Grossen Baeren tolle Brut, Fortfuehrend mit sich Ziegel, Zweig’ und Wetterwust. Doch wir, gestuerzt, schiffbruechig, gleich der Stoerche Schwarm, Die an zweizackigen Blitzes Glut die Fluegel sich Versengt, wir fielen traurig jaeh zur Erd’ hinab. In der ‘Menschenstadt’ heisst es:
Nicht wird frei dir die Brust durch Gold und Fuelle der Schaetze; Nicht dem Sterblichen nimmt von der Seele der persische Goldberg Sorg’ und Furcht, und auch der Saal nicht Crassus des Reichen. Aber auch leichtere Weise gelang dem Dichter. In ‘Der Topf hat sein Mass’ stand folgender zierliche Lobspruch auf den Wein: Es bleibt der Wein fuer jedermann der beste Trank. Er ist das Mittel, das den Kranken macht gesund; Er ist der suesse Keimeplatz der Froehlichkeit, Er ist der Kitt, der Freundeskreis zusammenhaelt. Und in dem ‘Weltbohrer’ schliesst der heimkehrende Wandersmann also seinen Zuruf an die Schiffer:
Lasst schiessen die Zuegel dem leisesten Hauch, Bis dass uns des frischeren Windes Geleit Rueckfuehrt in die liebliche Heimat!
^16 Die Skizzen Varros haben eine so ungemeine historische und selbst poetische Bedeutsamkeit und sind doch infolge der truemmerhaften Gestalt, in der uns die Kunde davon zugekommen ist, so wenigen bekannt und so verdriesslich kennenzulernen, dass es wohl erlaubt sein wird, einige derselben hier mit der wenigen zur Lesbarkeit unumgaenglichen Restauration zu resuemieren. Die Satire ‘Fruehauf’ schildert die laendliche Haushaltung. “Fruehauf ruft mit der Sonne zum Aufstehen und fuehrt selbst die Leute auf den Arbeitsplatz. Die Jungen machen selbst sich ihr Bett, das die Arbeit ihnen weich macht, und stellen sich selber Wasserkrug und Lampe dazu. Der Trank ist der klare frische Quell, die Kost Brot und als Zubrot Zwiebeln. In Haus und Feld gedeiht alles. Das Haus ist kein Kunstbau; aber der Architekt koennte Symmetrie daran lernen. Fuer den Acker wird gesorgt, dass er nicht unordentlich und wuest in Unsauberkeit und Vernachlaessigung verkomme; dafuer wehrt die dankbare Ceres den Schaden von der Frucht, dass die Schober hochgeschichtet das Herz des Landmannes erfreuen. Hier gilt noch das Gastrecht; willkommen ist, wer nur Muttermilch gesogen hat. Brotkammer und Weinfass und der Wurstvorrat am Hausbalken, Schluessel und Schloss sind dem Wandersmann dienstwillig, und hoch tuermen vor ihm die Speisen sich auf; zufrieden sitzt der gesaettigte Gast, nicht vor- noch rueckwaerts schauend, nickend am Herde in der Kueche. Zum Lager wird der waermste doppelwollige Schafpelz fuer ihn ausgebreitet. Hier gehorcht man noch als guter Buerger dem gerechten Gesetz, das weder aus Missgunst Unschuldigen zu nahe tritt, noch aus Gunst Schuldigen verzeiht. Hier redet man nicht Boeses wider den Naechsten. Hier rekelt man nicht mit den Fuessen auf dem heiligen Herd, sondern ehrt die Goetter mit Andacht und mit Opfern, wirft dem Hausgeist sein Stueckchen Fleisch in das bestimmte Schuesselchen und geleitet, wenn der Hausherr stirbt, die Bahre mit demselben Gebet, mit welchem die des Vaters und des Grossvaters hinweggetragen wurde.”
In einer anderen Satire tritt ein “Lehrer der Alten auf, dessen die gesunkene Zeit dringender zu beduerfen scheint als des Jugendlehrers, und setzt auseinander, “wie einst alles in Rom keusch und fromm war und jetzt alles so ganz anders ist”. “Truegt mich mein Auge oder sehe ich Sklaven in Waffen gegen ihre Herren? – Einst ward, wer zur Aushebung sich nicht stellte, von Staats wegen als Sklave in die Fremde verkauft; jetzt heisst [der Aristokratie, 2, 225; 3, 358; 4, 103 u. 330] der Zensor, der Feigheit und alles hingehen laesst, ein grosser Buerger und erntet Lob, dass er nicht darauf aus ist, sich durch Kraenkung der Mitbuerger einen Namen zu machen. – Einst liess der roemische Bauer sich alle Woche einmal den Bart scheren; jetzt kann der Ackersklave es nicht fein genug haben. – Einst sah man auf den Guetern einen Kornspeicher, der zehn Ernten fasste, geraeumige Keller fuer die Weinfaesser und entsprechende Keltern; jetzt haelt der Herr sich Pfauenherden und laesst seine Tueren mit afrikanischem Zypressenholz einlegen. – Einst drehte die Hausfrau mit der Hand die Spindel und hielt dabei den Topf auf dem Herd im Auge, damit der Brei nicht verbrenne; jetzt” – heisst es in einer andern Satire -“bettelt die Tochter den Vater um ein Pfund Edelsteine, das Weib den Mann um einen Scheffel Perlen an. – Einst war der Mann in der Brautnacht stumm und bloede; jetzt gibt die Frau sich dem ersten besten Kutscher preis. – Einst war der Kindersegen der Stolz des Weibes, jetzt, wenn der Mann sich Kinder wuenscht, antwortet sie: Weisst du nicht, was Ennius sagt?:
Lieber will ich ja das Leben dreimal wagen in der Schlacht, Als ein einzig Mal gebaeren. –
Einst war die Frau vollkommen zufrieden, wenn der Mann ein- oder zweimal im Jahre sie in dem ungepolsterten Wagen ueber Land fuhr”; jetzt – konnte er hinzusetzen (vgl. Cic. Mil. 21, 55) – schmollt die Frau, wenn der Mann ohne sie auf sein Landgut geht, und folgt der reisenden Dame das elegante griechische Bedientengesindel und die Kapelle nach auf die Villa.” In einer Schrift der ernsteren Gattung ‘Catus oder die Kinderzucht’ belehrt Varro den Freund, der ihn deswegen um Rat gefragt, nicht bloss ueber die Gottheiten, denen nach altem Brauch fuer der Kinder Wohl zu opfern war, sondern, hinweisend auf die verstaendigere Kindererziehung der Perser und auf seine eigene streng verlebte Jugend, warnt er vor ueberfuettern und ueberschlafen, vor suessem Brot und feiner Kost – die jungen Hunde, meint der Alte, werden jetzt verstaendiger genaehrt als die Kinder -, ebenso vor dem Besiebnen und Besegnen, das in Krankheitsfaellen so oft die Stelle des aerztlichen Rates vertrat. Er raet, die Maedchen zum Sticken anzuhalten, damit sie spaeter die Stickereien und Webereien richtig zu beurteilen verstaenden, und sie nicht zu frueh das Kinderkleid ablegen zu lassen; er warnt davor, die Knaben in die Fechterspiele zu fuehren, in denen frueh das Herz verhaertet und die Grausamkeit gelernt wird. In dem ‘Mann von sechzig Jahren’ erscheint Varro als ein roemischer Epimenides, der, als zehnjaehriger Knabe eingeschlafen, nach einem halben Jahrhundert wiedererwacht. Er staunt darueber, statt seines glattgeschorenen Knabenkopfes ein altes Glatzhaupt wiederzufinden, mit haesslicher Schnauze und wuesten Borsten gleich dem Igel; mehr noch aber staunt er ueber das verwandelte Rom. Die lucrinischen Austern, sonst eine Hochzeitschuessel, sind jetzt ein Alltagsgericht; dafuer ruestet denn auch der bankrotte Schlemmer im stillen die Brandfackel. Wenn sonst der Vater dem Knaben vergab, so ist jetzt das Vergeben an den Knaben gekommen; das heisst, er vergibt dem Vater mit Gift. Der Wahlplatz ist zur Boerse geworden, der Kriminalprozess zur Goldgrube fuer die Geschworenen. Keinem Gesetze wird noch gehorcht, ausser dem einen, dass nichts fuer nichts gegeben wird. Alle Tugenden sind geschwunden; dafuer begruessen den Erwachten als neue Insassen die Gotteslaesterung, die Wortlosigkeit, die Geilheit. “O wehe dir, Marcus, ueber solchen Schlaf und solches Erwachen!” Die Skizze gleicht der catilinarischen Zeit, kurz nach welcher (um 697 57) sie der alte Mann geschrieben haben muss, und es lag eine Wahrheit in der bitteren Schlusswendung, wo der Marcus, gehoerig ausgescholten wegen seiner unzeitgemaessen Anklagen und antiquarischen Reminiszenzen, mit parodischer Anwendung einer uralten roemischen Sitte, als unnuetzer Greis auf die Bruecke geschleppt und in den Tiber gestuerzt wird. Es war allerdings fuer solche Maenner in Rom kein Platz mehr.
———————————————- Zu einer kritischen Geschichtschreibung in der Art, wie die Nationalgeschichte von den Attikern in ihrer klassischen Zeit, wie die Weltgeschichte von Polybios geschrieben ward, ist man in Rom eigentlich niemals gelangt. Selbst auf dem dafuer am meisten geeigneten Boden, in der Darstellung der gleichzeitigen und der juengst vergangenen Ereignisse, blieb es im ganzen bei mehr oder minder unzulaenglichen Versuchen; in der Epoche namentlich von Sulla bis auf Caesar wurden die nicht sehr bedeutenden Leistungen, welche die vorhergehende auf diesem Gebiet aufzuweisen hatte, die Arbeiten Antipaters und Asellios, kaum auch nur erreicht. Das einzige diesem Gebiete angehoerende namhafte Werk, das in der gegenwaertigen Epoche entstand, ist des Lucius Cornelius Sisenna (Praetor 676 78) Geschichte des Bundesgenossen- und Buergerkrieges. Von ihr bezeugen die, welche sie lasen, dass sie an Lebendigkeit und Lesbarkeit die alten trockenen Chroniken weit uebertraf, dafuer aber in einem durchaus unreinen und selbst in das Kindische verfallenden Stil geschrieben war; wie denn auch die wenigen uebrigen Bruchstuecke eine kleinliche Detailmalerei des Graesslichen ^17 und eine Menge neugebildeter oder der Umgangssprache entnommener Woerter aufzeigen. Wenn noch hinzugefuegt wird, dass das Muster des Verfassers und sozusagen der einzige ihm gelaeufige griechische Historiker Kleitarchos war, der Verfasser einer zwischen Geschichte und Fiktion schwankenden Biographie Alexanders des Grossen in der Art des Halbromans, der den Namen des Curtius traegt, so wird man nicht anstehen, in Sisennas vielgeruehmtem Geschichtswerk nicht ein Erzeugnis echter historischer Kritik und Kunst zu erkennen, sondern den ersten roemischen Versuch in der bei den Griechen so beliebten Zwittergattung von Geschichte und Roman, welche das tatsaechliche Grundwerk durch erfundene Ausfuehrung lebendig und interessant machen moechte und es dadurch schal und unwahr macht; und es wird nicht ferner Verwunderung erregen demselben Sisenna auch als Uebersetzer griechischer Moderomane zu begegnen.
———————————————- ^17 “Die Unschuldigen”, hiess es in einer Rede, “zitternd an allen Gliedern, schleppst du heraus und am hohen Uferrande des Flusses beim Morgengrauen (laessest du sie schlachten).” Solche ohne Muehe einer Taschenbuchsnovelle einzufuegende Phrasen begegnen mehrere. ———————————————- Dass es auf dem Gebiet der allgemeinen Stadt- und gar der Weltchronik noch weit erbaermlicher aussah, lag in der Natur der Sache. Die steigende Regsamkeit der antiquarischen Forschung liess erwarten, dass aus Urkunden und sonstigen zuverlaessigen Quellen die gangbare Erzaehlung rektifiziert werden wuerde; allein diese Hoffnung erfuellte sich nicht. Je mehr und je tiefer man forschte, desto deutlicher trat es hervor, was es hiess, eine kritische Geschichte Roms schreiben. Schon die Schwierigkeiten, die der Forschung und Darstellung sich entgegenstellten, waren unermesslich; aber die bedenklichsten Hindernisse waren nicht die literarischer Art. Die konventionelle Urgeschichte Roms, wie sie jetzt seit wenigstens zehn Menschenaltern erzaehlt und geglaubt ward, war mit dem buergerlichen Leben der Nation aufs innigste zusammengewachsen; und doch musste bei jeder eingehenden und ehrlichen Forschung nicht bloss einzelnes hie und da modifiziert, sondern das ganze Gebaeude so gut umgeworfen werden wie die fraenkische Urgeschichte vom Koenig Pharamund und die britische vom Koenig Arthur. Ein konservativ gesinnter Forscher, wie zum Beispiel Varro war, konnte an dieses Werk nicht Hand legen wollen; und haette ein verwegener Freigeist sich dazu gefunden, so wuerde gegen diesen schlimmsten aller Revolutionaere, der der Verfassungspartei sogar ihre Vergangenheit zu nehmen Anstalt machte, von allen guten Buergern das “Kreuzige” erschollen sein. So fuehrte die philologische und antiquarische Forschung von der Geschichtschreibung mehr ab als zu ihr hin. Varro und die Einsichtigeren ueberhaupt gaben die Chronik als solche offenbar verloren; hoechstens dass man, wie Titus Pomponius Atticus tat, die Beamten- und Geschlechtsverzeichnisse in tabellarischer Anspruchslosigkeit zusammenstellte – ein Werk uebrigens, durch das die synchronistische griechisch-roemische Jahrzaehlung in der Weise, wie sie den Spaeteren konventionell feststand, zum Abschluss gefuehrt worden ist. Die Stadtchronikenfabrik stellte aber darum ihre Taetigkeit natuerlich nicht ein, sondern fuhr fort zu der grossen, von der Langenweile fuer die Langeweile geschriebenen Bibliothek ihre Beitraege so gut in Prosa wie in Versen zu liefern, ohne dass die Buchmacher, zum Teil bereits Freigelassene, um die eigentliche Forschung irgend sich bekuemmert haetten. Was uns von diesen Schriften genannt wird – erhalten ist keine derselben -, scheint nicht bloss durchaus untergeordneter Art, sondern grossenteils sogar von unlauterer Faelschung durchdrungen gewesen zu sein. Zwar die Chronik des Quintus Claudius Quadrigarius (um 676? 78) war in einem altmodischen, aber guten Stil geschrieben und befliss in der Darstellung der Fabelzeit sich wenigstens einer loeblichen Kuerze. Aber wenn Gaius Licinius Macer (+ als gewesener Praetor 688 66), des Dichters Calvus Vater und ein eifriger Demokrat, mehr als irgendein anderer Chronist auf Urkundenforschung und Kritik Anspruch machte, so sind seine “leinenen Buecher” und anderes ihm Eigentuemliche im hoechsten Grade verdaechtig und wird wahrscheinlich eine sehr umfassende und zum Teil in die spaeteren Annalisten uebergegangene Interpolation der gesamten Chronik zu demokratisch- tendenzioesen Zwecken auf ihn zurueckgehen. Valerius Antias endlich uebertraf in der Weitlaeufigkeit wie in der kindischen Fabulierung alle seine Vorgaenger. Die Zahlenluege war hier systematisch bis auf die gleichzeitige Geschichte herab durchgefuehrt und die Urgeschichte Roms aus dem Platten abermals ins Platte gearbeitet; wie denn zum Beispiel die Erzaehlung, in welcher Art der weise Numa nach Anweisung der Nymphe Egeria die Goetter Faunus und Picus mit Weine fing, und die schoene, von selbigem Numa hierauf mit Gott Jupiter gepflogene Unterhaltung allen Verehrern der sogenannten Sagengeschichte Roms nicht dringend genug empfohlen werden koennen, um womoeglich auch sie, versteht sich ihrem Kerne nach, zu glauben. Es waere ein Wunder gewesen, wenn die griechischen Novellenschreiber dieser Zeit solche fuer sie wie gemachte Stoffe sich haetten entgehen lassen. In der Tat fehlte es auch nicht an griechischen Literaten, welche die roemische Geschichte zu Romanen verarbeiteten: eine solche Schrift waren zum Beispiel des schon unter den in Rom lebenden griechischen Literaten erwaehnten Polyhistors Alexandros fuenf Buecher ‘Ueber Rom’, ein widerwaertiges Gemisch abgestandener historischer Ueberlieferung und trivialer, vorwiegend erotischer Erfindung. Er vermutlich hat den Anfang dazu gemacht, das halbe Jahrtausend, welches mangelte, um Troias Untergang und Roms Entstehung in den durch die beiderseitigen Fabeln geforderten chronologischen Zusammenhang zu bringen, auszufuellen mit einer jener tatenlosen Koenigslisten, wie sie den aegyptischen und griechischen Chronisten leider gelaeufig waren; denn allem Anschein nach ist er es, der die Koenige Aventinus und Tiberinus und das albanische Silviergeschlecht in die Welt gesetzt hat, welche dann im einzelnen mit Namen, Regierungszeit und mehrerer Anschaulichkeit wegen auch einem Konterfei auszustatten die Folgezeit nicht versaeumte. So dringt von verschiedenen Seiten her der historische Roman der Griechen in die roemische Historiographie ein; und es ist mehr als wahrscheinlich, dass von dem, was man heute Tradition der roemischen Urzeit zu nennen gewohnt ist, nicht der kleinste Teil aus Quellen herruehrt von dem Schlage der ‘Amadis von Gallien’ und der Fouqueschen Ritterromane – eine erbauliche Betrachtung wenigstens fuer diejenigen, die Sinn haben fuer den Humor der Geschichte und die Komik der noch in gewissen Zirkeln des neunzehnten Jahrhunderts fuer Koenig Numa gehegten Pietaet zu wuerdigen verstehen. Neu ein in die roemische Literatur tritt in dieser Epoche neben der Landes- die Universal- oder, richtiger gesagt, die zusammengefasste roemisch-hellenische Geschichte. Cornelius Nepos aus Ticinum (ca. 650 – ca. 725 100-30) liefert zuerst eine allgemeine Chronik (herausgegeben vor 700 54) und eine nach gewissen Kategorien geordnete allgemeine Biographiensammlung politisch oder literarisch ausgezeichneter roemischer und griechischer oder doch in die roemische oder griechische Geschichte eingreifender Maenner. Diese Arbeiten schliessen an die Universalgeschichten sich an, wie sie die Griechen schon seit laengerer Zeit schrieben; und ebendiese griechischen Weltchroniken begannen jetzt auch, wie zum Beispiel die im Jahre 698 (56) abgeschlossene des Kastor, Schwiegersohns des galatischen Koenigs Deiotarus, die bisher von ihnen vernachlaessigte roemische Geschichte in ihren Kreis zu ziehen. Diese Arbeiten haben allerdings, ebenwie Polybios, versucht, an die Stelle der lokalen die Geschichte der Mittelmeerwelt zu setzen; aber was bei Polybios aus grossartig klarer Auffassung und tiefem geschichtlichen Sinn hervorging, ist in diesen Chroniken vielmehr das Produkt des praktischen Beduerfnisses fuer den Schul- und den Selbstunterricht. Der kuenstlerischen Geschichtschreibung koennen diese Weltchroniken, Lehrbuecher fuer den Schulunterricht oder Handbuecher zum Nachschlagen, und die ganze damit zusammenhaengende, auch in lateinischer Sprache spaeterhin sehr weitschichtig gewordene Literatur kaum zugezaehlt werden; und namentlich Nepos selbst war ein reiner, weder durch Geist noch auch nur durch Planmaessigkeit ausgezeichneter Kompilator.
Merkwuerdig und in hohem Grade charakteristisch ist die Historiographie dieser Zeit allerdings, aber freilich so unerfreulich wie die Zeit selbst. Das Ineinandergreifen der griechischen und der lateinischen Literatur tritt auf keinem Gebiet so deutlich hervor wie auf dem der Geschichte; hier setzen die beiderseitigen Literaturen in Stoff und Form am fruehesten sich ins gleiche und die einheitliche Auffassung der hellenisch-italischen Geschichte, mit der Polybios seiner Zeit vorangeeilt war, lernte jetzt bereits der griechische wie der roemische Knabe in der Schule. Allein wenn der Mittelmeerstaat einen Geschichtschreiber gefunden hatte, ehe er seiner selbst sich bewusst worden war, so stand jetzt, wo dies Bewusstsein sich eingestellt hatte, weder bei den Griechen noch bei den Roemern ein Mann auf, der ihm den rechten Ausdruck zu leihen vermochte. Eine roemische Geschichtschreibung, sagt Cicero, gibt es nicht; und soweit wir urteilen koennen, ist dies nicht mehr als die einfache Wahrheit. Die Forschung wendet von der Geschichtschreibung sich ab, die Geschichtschreibung von der Forschung; die historische Literatur schwankt zwischen dem Schulbuch und dem Roman. Alle reinen Kunstgattungen, Epos, Drama, Lyrik, Historie, sind nichtig in dieser nichtigen Welt; aber in keiner Gattung spiegelt doch der geistige Verfall der ciceronischen Zeit in so grauenvoller Klarheit sich wieder wie in ihrer Historiographie. Die kleine historische Literatur dieser Zeit weist dagegen unter vielen geringfuegigen und verschollenen Produktionen eine Schrift ersten Ranges auf: die Memoiren Caesars oder vielmehr der militaerische Rapport des demokratischen Generals an das Volk, von dem er seinen Auftrag erhalten hatte. Der vollendete und allein von dem Verfasser selbst veroeffentlichte Abschnitt, der die keltischen Feldzuege bis zum Jahre 702 (52) schildert, hat offenbar den Zweck, das formell verfassungswidrige Beginnen Caesars, ohne Auftrag der kompetenten Behoerde ein grosses Land zu erobern und zu diesem Ende sein Heer bestaendig zu vermehren, so gut wie moeglich vor dem Publikum zu rechtfertigen; es ward geschrieben und bekannt gemacht im Jahre 703 (51), als in Rom der Sturm gegen Caesar losbrach und er aufgefordert ward, sein Heer zu entlassen und sich zur Verantwortung zu stellen ^18. Der Verfasser dieser Rechtfertigungsschrift schreibt, wie er auch selber sagt, durchaus als Offizier und vermeidet es sorgfaeltig, die militaerische Berichterstattung auf die bedenklichen Gebiete der politischen Organisation und Administration zu erstrecken. Seine in der Form eines Militaerberichts entworfene Gelegenheits- und Parteischrift ist selber ein Stueck Geschichte wie die Bulletins Napoleons, aber ein Geschichtswerk im rechten Sinne des Wortes ist sie nicht und soll sie nicht sein; die Objektivitaet der Darstellung ist nicht die historische, sondern die des Beamten. Allein in dieser bescheidenen Gattung ist die Arbeit meisterlich und vollendet wie keine andere in der gesamten roemischen Literatur. Die Darstellung ist immer knapp und nie karg, immer schlicht und nie nachlaessig, immer von durchsichtiger Lebendigkeit und nie gespannt oder manieriert. Die Sprache ist vollkommen rein von Archaismen wie von Vulgarismen, der Typus der modernen Urbanitaet. Den Buechern vom Buergerkrieg meint man es anzufuehlen, dass der Verfasser den Krieg hatte vermeiden wollen und nicht vermeiden koennen, vielleicht auch, dass in Caesars Seele wie in jeder anderen die Zeit der Hoffnung eine reinere und frischere war als die der Erfuellung; aber ueber die Schrift vom Gallischen Krieg ist eine helle Heiterkeit, eine einfache Anmut ausgegossen, welche nicht minder einzig in der Literatur dastehen wie Caesar in der Geschichte.
———————————————— ^18 Dass die Schrift ueber den Gallischen Krieg auf einmal publiziert worden ist, hat man laengst vermutet; den bestimmten Beweis dafuer liefert die Erwaehnung der Gleichstellung der Boier und der Haeduer schon im ersten Buch (c. 28), waehrend doch die Boier noch im siebenten (c. 10) als zinspflichtige Untertanen der Haeduer vorkommen und offenbar erst wegen ihres Verhaltens und desjenigen der Haeduer in dem Kriege gegen Vercingetorix gleiches Recht mit ihren bisherigen Herren erhielten. Andererseits wird, wer die Geschichte der Zeit aufmerksam verfolgt, in der Aeusserung ueber die Milonische Krise (7, 6) den Beweis finden, dass die Schrift vor dem Ausbruch des Buergerkrieges publiziert ward; nicht weil Pompeius hier gelobt wird, sondern weil Caesar daselbst die Ausnahmegesetze vom Jahr 702 (52) billigt. Dies konnte und musste er tun, solange er ein friedliches Abkommen mit Pompeius herbeizufuehren suchte, nicht aber nach dem Bruch, wo er die aufgrund jener fuer ihn verletzenden Gesetze erfolgten Verurteilungen umstiess. Darum ist die Veroeffentlichung dieser Schrift mit vollem Recht in das Jahr 703 (51) gesetzt worden. Die Tendenz der Schrift erkennt man am deutlichsten in der bestaendigen, oft, am entschiedensten wohl bei der aquitanischen Expedition, nicht gluecklichen Motivierung jedes einzelnen Kriegsakts als einer nach Lage der Dinge unvermeidlichen Defensivmassregel. Dass die Gegner Caesars Angriffe auf die Kelten und Deutschen vor allem als unprovoziert tadelten, ist bekannt (Suet. Caes. 24).
———————————————— Verwandter Art sind die Briefwechsel von Staatsmaennern und Literaten dieser Zeit, die in der folgenden Epoche mit Sorgfalt gesammelt und veroeffentlicht wurden: so die Korrespondenz von Caesar selbst, von Cicero, Calvus und andern. Den eigentlich literarischen Leistungen koennen sie noch weniger beigezaehlt werden; aber fuer die geschichtliche wie fuer jede andere Forschung war diese Korrespondenzliteratur ein reiches Archiv und das treueste Spiegelbild einer Epoche, in der so viel wuerdiger Gehalt vergangener Zeiten und so viel Geist, Geschicklichkeit und Talent im kleinen Treiben sich verfluechtigte und verzettelte.
Eine Journalistik in dem heutigen Sinn hat bei den Roemern niemals sich gebildet; die literarische Polemik blieb angewiesen auf die Broschuerenliteratur und daneben allenfalls auf die zu jener Zeit allgemein verbreitete Sitte die fuer das Publikum bestimmten Notizen an oeffentlichen Orten mit dem Pinsel oder dem Griffel anzuschreiben. Dagegen wurden untergeordnete Individuen dazu verwandt, fuer die abwesenden Vornehmen die Tagesvorfaelle und Stadtneuigkeiten aufzuzeichnen; auch fuer die sofortige Veroeffentlichung eines Auszugs aus den Senatsverhandlungen traf Caesar schon in seinem ersten Konsulat geeignete Massregeln. Aus den Privatjournalen jener roemischen Penny-a-liners und diesen offiziellen laufenden Berichten entstand eine Art von hauptstaedtischem Intelligenzblatt (acta diurna), in dem das Resuemee der vor dem Volke und im Senat verhandelten Geschaefte, ferner Geburten, Todesfaelle und dergleichen mehr verzeichnet wurden. Dasselbe wurde eine nicht unwichtige geschichtliche Quelle, blieb aber ohne eigentliche politische wie ohne literarische Bedeutung. Zu der historischen Nebenliteratur gehoert von Rechts wegen auch die Redeschriftstellerei. Die Rede, aufgezeichnet oder nicht, ist ihrer Natur nach ephemer und gehoert der Literatur nicht an; indes kann sie, wie der Bericht und der Brief, und sie noch leichter als diese, durch die Praegnanz des Moments und die Macht des Geistes, denen sie entspringt, eintreten unter die bleibenden Schaetze der nationalen Literatur. So spielten denn auch in Rom die Aufzeichnungen der vor der Buergerschaft oder den Geschworenen gehaltenen Reden politischen Inhalts nicht bloss seit langem eine grosse Rolle in dem oeffentlichen Leben, sondern es wurden auch die Reden namentlich des Gaius Gracchus mit Recht gezaehlt zu den klassischen roemischen Schriften. In dieser Epoche aber tritt hier nach allen Seiten hin eine seltsame Verwandlung ein. Die politische Redeschriftstellerei ist im Sinken wie die Staatsrede selbst. Die politische Rede fand, in Rom wie ueberhaupt in den alten Politien, ihren Hoehepunkt in den Verhandlungen vor der Buergerschaft: hier fesselten den Redner nicht, wie im Senat, kollegialische Ruecksichten und laestige Formen, nicht, wie in den Gerichtsreden, die der Politik an sich fremden Interessen der Anklage und Verteidigung; hier allein schwoll ihm das Herz hoch vor der ganzen, an seinen Lippen hangenden grossen und maechtigen roemischen Volksgemeinde. Allein damit war es nun vorbei. Nicht als haette es an Rednern gemangelt oder an der Veroeffentlichung der vor der Buergerschaft gehaltenen Reden; vielmehr ward die politische Schriftstellerei jetzt erst recht weitlaeufig und es fing an, zu den stehenden Tafelbeschwerden zu gehoeren, dass der Wirt die Gaeste durch Vorlesung seiner neuesten Reden inkommodierte. Auch Publius Clodius liess seine Volksreden als Broschueren ausgehen, ebenwie Gaius Gracchus; aber es ist nicht dasselbe, wenn zwei Maenner dasselbe tun. Die bedeutenderen Fuehrer selbst der Opposition, vor allem Caesar selbst, sprachen zu der Buergerschaft nicht oft und veroeffentlichten nicht mehr die vor ihr gehaltenen Reden; ja sie suchten zum Teil fuer ihre politischen Flugschriften sich eine andere Form als die hergebrachte der Contionen, in welcher Hinsicht namentlich die Lob- und Tadelschriften auf Cato bemerkenswert sind. Es ist das wohl erklaerlich. Gaius Gracchus hatte zur Buergerschaft gesprochen; jetzt sprach man zu dem Poebel; und wie das Publikum, so die Rede. Kein Wunder, wenn der reputierliche politische Schriftsteller auch die Einkleidung vermied, als habe er seine Worte an die auf dem Markte der Hauptstadt versammelten Haufen gerichtet. Wenn also die Redeschriftstellerei in ihrer bisherigen literarischen und politischen Geltung in derselben Weise verfaellt, wie alle naturgemaess aus dem nationalen Leben entwickelten Zweige der Literatur, so beginnt zugleich eine seltsame nichtpolitische Plaedoyerliteratur. Bisher hatte man nichts davon gewusst, dass der Advokatenvortrag als solcher, ausser fuer die Richter und die Parteien, auch noch fuer Mit- und Nachwelt zur literarischen Erbauung bestimmt sei; kein Sachwalter hatte seine Plaedoyers aufgezeichnet und veroeffentlicht, wofern dieselben nicht etwa zugleich politische Reden waren und insofern sich dazu eigneten, als Parteischriften verbreitet zu werden, und auch dies war nicht gerade haeufig geschehen. Noch Quintus Hortensius (640-704 114-50), in den ersten Jahren dieser Periode der gefeiertste roemische Advokat, veroeffentlichte nur wenige und wie es scheint nur die ganz oder halb politischen Reden. Erst sein Nachfolger in dem Prinzipat der roemischen Sachwalter, Marcus Tullius Cicero (648-711 106-43), war von Haus aus ebensosehr Schriftsteller wie Gerichtsredner; er publizierte seine Plaedoyers regelmaessig und auch dann, wenn sie nicht oder nur entfernt mit der Politik zusammenhingen. Dies ist nicht Fortschritt, sondern Unnatur und Verfall. Auch in Athen ist das Auftreten der nichtpolitischen Advokatenreden unter den Gattungen der Literatur ein Zeichen der Krankheit; und zwiefach ist es dies in Rom, das diese Missbildung nicht wie Athen aus dem ueberspannten rhetorischen Treiben mit einer gewissen Notwendigkeit erzeugt, sondern willkuerlich und im Widerspruch mit den besseren Traditionen der Nation dem Ausland abgeborgt hat. Dennoch kam diese neue Gattung rasch in Aufnahme, teils weil sie mit der aelteren politischen Redeschriftstellerei vielfach sich beruehrte und zusammenfloss, teils weil das unpoetische, rechthaberische, rhetorisierende Naturell der Roemer fuer den neuen Samen einen guenstigen Boden darbot, wie ja denn noch heute die Advokatenrede und selbst eine Art von Prozessliteratur in Italien etwas bedeutet. Also erwarb die von der Politik emanzipierte Redeschriftstellerei das Buergerrecht in der roemischen Literatenwelt durch Cicero. Wir haben dieses vielseitigen Mannes schon mehrfach gedenken muessen. Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht, hat er nacheinander als Demokrat, als Aristokrat und als Werkzeug der Monarchen figuriert und ist nie mehr gewesen als ein kurzsichtiger Egoist. Wo er zu handeln schien, waren die Fragen, auf die es ankam, regelmaessig eben abgetan: so trat er im Prozess des Verres gegen die Senatsgerichte auf, als sie bereits beseitigt waren; so schwieg er bei der Verhandlung ueber das Gabinische und verfocht das Manilische Gesetz; so polterte er gegen Catilina, als dessen Abgang bereits feststand, und so weiter. Gegen Scheinangriffe war er gewaltig und Mauern von Pappe hat er viele mit Geprassel eingerannt; eine ernstliche Sache ist nie, weder im guten noch im boesen, durch ihn entschieden worden und vor allem die Hinrichtung der Catilinarier hat er weit mehr geschehen lassen als selber bewirkt. In literarischer Hinsicht ist es bereits hervorgehoben worden, dass er der Schoepfer der modernen lateinischen Prosa war; auf seiner Stilistik ruht seine Bedeutung, und allein als Stilist auch zeigt er ein sicheres Selbstgefuehl. Als Schriftsteller dagegen steht er vollkommen ebenso tief wie als Staatsmann. Er hat in den mannigfaltigsten Aufgaben sich versucht, in unendlichen Hexametern Marius’ Gross- und seine eigenen Kleintaten besungen, mit seinen Reden den Demosthenes, mit seinen philosophischen Gespraechen den Platon aus dem Felde geschlagen und nur die Zeit hat ihm gefehlt, um auch den Thukydides zu ueberwinden. Er war in der Tat so durchaus Pfuscher, dass es ziemlich einerlei war, welchen Acker er pfluegte. Eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes, an Worten, wie er selber sagt, ueberreich, an Gedanken ueber alle Begriffe arm, gab es kein Fach, worin er nicht mit Hilfe weniger Buecher rasch einen lesbaren Aufsatz uebersetzend oder kompilierend hergestellt haette. Am treuesten gibt seine Korrespondenz sein Bild wieder. Man pflegt sie interessant und geistreich zu nennen: sie ist es auch, solange sie das hauptstaedtische oder Villenleben der vornehmen Welt widerspiegelt; aber wo der Schreiber auf sich selbst angewiesen ist, wie im Exil, in Kilikien und nach der Pharsalischen Schlacht, ist sie matt und leer, wie nur je die Seele eines aus seinen Kreisen verschlagenen Feuilletonisten. Dass ein solcher Staatsmann und ein solcher Literat auch als Mensch nicht anders sein konnte als von schwach ueberfirnisster Oberflaechlichkeit und Herzlosigkeit, ist kaum noch noetig zu sagen. Sollen wir den Redner noch schildern? Der grosse Schriftsteller ist doch auch ein grosser Mensch; und vor allem dem grossen Redner stroemt die Ueberzeugung und die Leidenschaft klarer und brausender aus den Tiefen der Brust hervor als den duerftigen vielen, die nur zaehlen und nicht sind. Cicero hatte keine Ueberzeugung und keine Leidenschaft; er war nichts als Advokat und kein guter Advokat. Er verstand es, seine Sacherzaehlung anekdotenhaft pikant vorzutragen, wenn nicht das Gefuehl, doch die Sentimentalitaet seiner Zuhoerer zu erregen und durch Witze oder Witzeleien meist persoenlicher Art das trockene Geschaeft der Rechtspflege zu erheitern; seine besseren Reden, wenngleich auch sie die freie Anmut und den sicheren Treff der vorzueglichsten Kompositionen dieser Art, zum Beispiel der Memoiren von Beaumarchais, bei weitem nicht erreichen, sind doch eine leichte und angenehme Lektuere. Werden aber schon die eben bezeichneten Vorzuege dem ernsten Richter als Vorzuege sehr zweifelhaften Wertes erscheinen, so muss der absolute Mangel politischen Sinnes in den staatsrechtlichen, juristischer Deduktion in den Gerichtsreden, der pflichtvergessene, die Sache stets ueber dem Anwalt aus den Augen verlierende Egoismus, die graessliche Gedankenoede jeden Leser der Ciceronischen Reden von Herz und Verstand empoeren. Wenn hier etwas wunderbar ist, so sind es wahrlich nicht die Reden, sondern die Bewunderung, die dieselben fanden. Mit Cicero wird jeder Unbefangene bald im reinen sein; der Ciceronianismus ist ein Problem, das in der Tat nicht eigentlich aufgeloest, sondern nur aufgehoben werden kann in dem groesseren Geheimnis der Menschennatur: der Sprache und der Wirkung der Sprache auf das Gemuet. Indem die edle lateinische Sprache, eben bevor sie als Volksidiom unterging, von jenem gewandten Stilisten noch einmal gleichsam zusammengefasst und in seinen weitlaeufigen Schriften niedergelegt ward, ging auf das unwuerdige Gefaess etwas ueber von der Gewalt, die die Sprache ausuebt, und von der Pietaet, die sie erweckt. Man besass einen grossen lateinischen Prosaiker; denn Caesar war, wie Napoleon, nur beilaeufig Schriftsteller. War es zu verwundern, dass man in Ermangelung eines solchen wenigstens den Genius der Sprache ehrte in dem grossen Stilisten? und dass, wie Cicero selbst, so auch Ciceros Leser sich gewoehnten zu fragen, nicht was, sondern wie er geschrieben? Gewohnheit und Schulmeisterei vollendeten dann, was die Macht der Sprache begonnen hatte. Ciceros Zeitgenossen uebrigens waren begreiflicherweise in dieser seltsamen Abgoetterei weit weniger befangen als viele der Spaeteren. Die Ciceronische Manier beherrschte wohl ein Menschenalter hindurch die roemische Advokatenwelt, so gut wie die noch weit schlechtere des Hortensius es getan; allein die bedeutendsten Maenner, zum Beispiel Caesar, hielten doch stets derselben sich fern, und unter der juengeren Generation regte bei allen frischen und lebendigen Talenten sich die entschiedenste Opposition gegen jene zwitterhafte und schwaechliche Redekunst. Man vermisste in Ciceros Sprache Knappheit und Strenge, in den Spaessen das Leben, in der Anordnung Klarheit und Gliederung, vor allen Dingen aber in der ganzen Beredsamkeit das Feuer, das den Redner macht. Statt der rhodischen Eklektiker fing man an, auf die echten Attiker, namentlich auf Lysias und Demosthenes zurueckzugehen und suchte eine kraeftigere und maennlichere Beredsamkeit in Rom einzubuergern. Dieser Richtung gehoerten an der feierliche, aber steife Marcus Iunius Brutus (669-712 85-42), die beiden politischen Parteigaenger Marcus Caelius Rufus (672-706 82-48) und Gaius Scribonius Curio (+ 705 49), beide als Redner voll Geist und Leben, der auch als Dichter bekannte Calvus (672-706 82-48), die literarische Koryphaee dieses juengeren Rednerkreises, und der ernste und gewissenhafte Gaius Asinius Pollio (678-757 76-4 n. Chr.). Unleugbar war in dieser juengeren Redeliteratur mehr Geschmack und mehr Geist als in der Hortensischen und Ciceronischen zusammengenommen; indes vermoegen wir nicht zu ermessen, wie weit unter den Stuermen der Revolution, die diesen ganzen reichbegabten Kreis mit einziger Ausnahme des Pollio rasch wegrafften, die besseren Keime noch zur Entwicklung gelangten. Die Zeit war ihnen allzu kurz gemessen. Die neue Monarchie begann damit, der Redefreiheit den Krieg zu machen und unterdrueckte die politische Rede bald ganz. Seitdem ward wohl noch die untergeordnete Gattung des reinen Advokatenplaedoyers in der Literatur festgehalten; aber die hoehere Redekunst und Redeliteratur, die durchaus ruht auf dem politischen Treiben, ging mit diesem selbst notwendig und fuer immer zu Grabe. Endlich entwickelt sich in der aesthetischen Literatur dieser Zeit die kuenstlerische Behandlung fachwissenschaftlicher Stoffe in der Form des stilisierten Dialogs, wie sie bei den Griechen sehr verbreitet und vereinzelt auch bereits frueher bei den Roemern vorgekommen war. Namentlich Cicero versuchte sich vielfach in der Darstellung rhetorischer und philosophischer Stoffe in dieser Form und in der Verschmelzung des Lehrbuchs mit dem Lesebuche. Seine Hauptschriften sind die ‘Vom Redner’ (geschrieben 699 55), wozu die Geschichte der roemischen Beredsamkeit (der Dialog ‘Brutus’, geschrieben 708 46) und andere kleinere rhetorische Aufsaetze ergaenzend hinzutreten, und die Schrift ‘Vom Staat’ (geschrieben 700 54), womit die Schrift ‘Von den Gesetzen’ (geschrieben 702? 52) nach Platonischem Muster in Verbindung gesetzt ist. Es sind keine grosse Kunstwerke, aber unzweifelhaft diejenigen Arbeiten, in denen die Vorzuege des Verfassers am meisten und seine Maengel am wenigsten hervortreten. Die rhetorischen Schriften erreichen bei weitem nicht die lehrhafte Strenge und begriffliche Schaerfe der dem Herennius gewidmeten Rhetorik, aber enthalten dafuer einen Schatz von praktischer Sachwaltererfahrung und Sachwalteranekdoten aller Art in leichter und geschmackvoller Darstellung und loesen in der Tat das Problem einer amuesanten Lehrschrift. Die Schrift vom Staat fuehrt in einem wunderlichen, geschichtlich-philosophischen Zwittergebilde den Grundgedanken durch, dass die bestehende Verfassung Roms wesentlich die von den Philosophen gesuchte ideale Staatsordnung sei; eine freilich eben so unphilosophische wie unhistorische, uebrigens auch nicht einmal dem Verfasser eigentuemliche Idee, die aber begreiflicherweise populaer ward und blieb. Das wissenschaftliche Grundwerk dieser rhetorischen und politischen Schriften Ciceros gehoert natuerlich durchaus den Griechen und auch vieles einzelne, zum Beispiel der grosse Schlusseffekt in der Schrift vom Staate, der Traum des Scipio, ist geradezu ihnen abgeborgt; doch kommt denselben insofern eine relative Originalitaet zu, als die Bearbeitung durchaus roemische Lokalfarbe zeigt und das staatliche Selbstgefuehl, zu dem der Roemer den Griechen gegenueber allerdings berechtigt war, den Verfasser sogar mit einer gewissen Selbstaendigkeit seinen griechischen Lehrmeistern entgegentreten liess. Auch die Gespraechsform Ciceros ist zwar weder die echte Fragedialektik der besten griechischen Kunstdialoge noch der echte Konversationston Diderots oder Lessings; aber die grossen Gruppen der um Crassus und Antonius sich versammelnden Advokaten und der aelteren und juengeren Staatsmaenner des Scipionischen Zirkels geben doch einen lebendigen und bedeutenden Rahmen, passende Anknuepfungen fuer geschichtliche Beziehungen und Anekdoten und geschickte Ruhepunkte fuer die wissenschaftliche Eroerterung. Der Stil ist ebenso durchgearbeitet und gefeilt wie in den bestgeschriebenen Reden und insofern erfreulicher als diese, als der Verfasser hier nicht oft einen vergeblichen Anlauf zum Pathos nimmt. Wenn diese philosophisch gefaerbten rhetorischen und politischen Schriften Ciceros nicht ohne Verdienst sind, so fiel dagegen der Kompilator vollstaendig durch, als er in der unfreiwilligen Musse seiner letzten Lebensjahre (709, 710 45, 44) sich an die eigentliche Philosophie machte und mit ebenso grosser Verdriesslichkeit wie Eilfertigkeit in ein paar Monaten eine philosophische Bibliothek zusammenschrieb. Das Rezept war sehr einfach. In roher Nachahmung der populaeren aristotelischen Schriften, in welchen die dialogische Form hauptsaechlich zur Entwicklung und Kritisierung der verschiedenen aelteren Systeme benutzt war, naehte Cicero die das gleiche Problem behandelnden epikureischen, stoischen und synkretistischen Schriften, wie sie ihm in die Hand kamen oder gegeben wurden, zu einem sogenannten Dialog aneinander, ohne von sich mehr dazu zu tun als teils irgendeine, aus der reichen Sammlung von Vorreden fuer kuenftige Werke, die er liegen hatte, dem neuen Buche vorgeschobene Einleitung, teils eine gewisse Popularisierung, indem er roemische Beispiele und Beziehungen einflocht, auch wohl auf ungehoerige, aber dem Schreiber wie dem Leser gelaeufigere Gegenstaende, in der Ethik zum Beispiel auf den rednerischen Anstand, abschweifte, teils diejenige Verhunzung, ohne welche ein weder zum philosophischen Denken noch auch nur zum philosophischen Wissen gelangter, schnell und dreist arbeitender Literat dialektische Gedankenreihen nicht reproduziert. Auf diesem Wege konnten denn freilich sehr schnell eine Menge dicker Buecher entstehen – “es sind Abschriften”, schrieb der Verfasser selbst einem ueber seine Fruchtbarkeit verwunderten Freunde; “sie machen mir wenig Muehe, denn ich gebe nur die Worte dazu und die habe ich in Ueberfluss”. Dagegen war denn weiter nichts zu sagen; wer aber in solchen Schreibereien klassische Produktionen sucht, dem kann man nur raten sich in literarischen Dingen eines schoenen Stillschweigens zu befleissigen. Unter den Wissenschaften herrschte reges Leben nur in einer einzigen: es war dies die lateinische Philologie. Das von Stilo angelegte Gebaeude sprachlicher und sachlicher Forschung innerhalb des latinischen Volksbereichs wurde vor allem von seinem Schueler Varro in der grossartigsten Weise ausgebaut. Es erschienen umfassende Durcharbeitungen des gesamten Sprachschatzes, namentlich Figulus’ weitschichtige grammatische Kommentarien und Varros grosses Werk ‘Von der lateinischen Sprache’; grammatische und sprachgeschichtliche Monographien, wie Varros Schriften vom lateinischen Sprachgebrauch, ueber die Synonymen, ueber das Alter der Buchstaben, ueber die Entstehung der lateinischen Sprache; Scholien zu der aelteren Literatur, besonders zum Plautus; literargeschichtliche Arbeiten, Dichterbiographien, Untersuchungen ueber die aeltere Schaubuehne, ueber die szenische Teilung der Plautinischen Komoedien und ueber die Echtheit derselben. Die lateinische Realphilologie, welche die gesamte aeltere Geschichte und das aus der praktischen Jurisprudenz ausfallende Sakralrecht in ihren Kreis zog, wurde zusammengefasst in Varros fundamentalen und fuer alle Zeiten fundamental gebliebenen ‘Altertuemern der menschlichen und der goettlichen Dinge’ (bekanntgemacht zwischen 687 und 709 67 und 45). Die erste Haelfte ‘Von den menschlichen Dingen’ schilderte die Urzeit Roms, die Stadt- und Landeinteilung, die Wissenschaft von den Jahren, Monaten und Tagen, endlich die oeffentlichen Handlungen daheim und im Kriege; in der zweiten Haelfte ‘Von den goettlichen Dingen’ wurde die Staatstheologie, das Wesen und die Bedeutung der Sachverstaendigenkollegien, der heiligen Staetten, der religioesen Feste, der Opfer- und Weihgeschenke, endlich der Goetter selbst uebersichtlich entwickelt. Dazu kam ausser einer Anzahl von Monographien – zum Beispiel ueber die Herkunft des roemischen Volkes, ueber die aus Troia stammenden roemischen Geschlechter, ueber die Distrikte – als ein groesserer und selbstaendigerer Nachtrag die Schrift ‘Vom Leben des roemischen Volkes’; ein merkwuerdiger Versuch einer roemischen Sittengeschichte, die ein Bild des haeuslichen finanziellen und Kulturzustandes in der Koenigs-, der ersten republikanischen, der hannibalischen und der juengsten Zeit entwarf. Diese Arbeiten Varros ruhen auf einer so vielseitigen und in ihrer Art so grossartigen empirischen Kenntnis der roemischen Welt und ihres hellenischen Grenzgebiets, wie sie nie weder vor- noch nachher ein anderer Roemer besessen hat und zu der die lebendige Anschauung der Dinge und das Studium der Literatur gleichmaessig beigetragen haben; das Lob der Zeitgenossen war wohlverdient, dass Varro seine in ihrer eigenen Welt fremden Landsleute in der Heimat orientiert und die Roemer kennen gelehrt habe, wer und wo sie seien. Kritik aber und System wird man vergebens suchen. Die griechische Kunde scheint aus ziemlich trueben Quellen geflossen und es finden sich Spuren, dass auch in der roemischen der Schreiber von dem Einfluss des historischen Romans seiner Zeit nicht frei war. Der Stoff ist wohl in ein bequemes und symmetrisches Fachwerk eingereiht, aber methodisch weder gegliedert noch behandelt und bei allem Bestreben, Ueberlieferung und eigene Beobachtung harmonisch zu verarbeiten, sind doch Varros wissenschaftliche Arbeiten weder von einem gewissen Koehlerglauben gegenueber der Tradition noch von unpraktischer Scholastik freizusprechen ^19. Die Anlehnung an die griechische Philologie besteht mehr im Nachahmen der Maengel als der Vorzuege derselben, wie denn vor allem das Etymologisieren auf blossen Anklang hin sowohl bei Varro selbst wie bei den sonstigen Sprachgelehrten dieser Zeit sich in die reine Scharade und oft geradezu ins Alberne verlaeuft ^20. In ihrer empirischen Sicherheit und Fuelle wie auch in ihrer empirischen Unzulaenglichkeit und Unmethode erinnert die Varronische lebhaft an die englische Nationalphilologie und findet auch ebenwie diese ihren Mittelpunkt in dem Studium der aelteren Schaubuehne. Dass die monarchische Literatur im Gegensatz gegen diese sprachliche Empirie die Sprachregel entwickelte, ward bereits bemerkt. Es ist in hohem Grade bedeutsam, dass an der Spitze der modernen Grammatiker kein geringerer Mann steht als Caesar selbst, der in seiner Schrift ueber die Analogie (bekanntgemacht zwischen 696 und 704 68 und 50) es zuerst unternahm die freie Sprache unter die Gewalt des Gesetzes zu zwingen. ——————————————————– ^19 Ein merkwuerdiges Exempel ist in der Schrift von der Landwirtschaft die allgemeine Auseinandersetzung ueber das Vieh (2, 1), mit den neunmal neun Unterabteilungen der Viehzuchtlehre, mit der “unglaublichen” aber “wahren” Tatsache, dass die Stuten bei Olisipo (Lissabon) vom Winde befruchtet werden, ueberhaupt mit ihrem sonderbaren Gemenge philosophischer, historischer und landwirtschaftlicher Notizen.
^20 So leitet Varro facere her von facies, weil wer etwas macht, der Sache ein Ansehn gibt, volpes, den Fuchs, nach Stilo von volare pedibus als den Fliegefuss; Gaius Trebatius, ein philosophischer Jurist dieser Zeit, sacellum von sacra cella; Figulus frater von fere alter und so weiter. Dies Treiben, das nicht etwa vereinzelt, sondern als Hauptelement der philologischen Literatur dieser Zeit erscheint hat die groesste Aehnlichkeit mit der Weise, wie man bis vor kurzem Sprachvergleichung trieb, ehe die Einsicht in den Sprachenorganismus hier den Empirikern das Handwerk legte.
——————————————————– Neben dieser ungemeinen Regsamkeit auf dem Gebiet der Philologie faellt die geringe Taetigkeit in den uebrigen Wissenschaften auf. Was von Belang in der Philosophie erschien, wie Lucretius’ Darstellung des epikureischen Systems in dem poetischen Kinderkleide der vorsokratischen Philosophie und die besseren Schriften Ciceros, tat seine Wirkung und fand sein Publikum nicht durch, sondern trotz des philosophischen Inhalts einzig durch die aesthetische Form; die zahlreichen Uebersetzungen epikureischer Schriften und die pythagoreischen Arbeiten, wie Varros grosses Werk ueber die Elemente der Zahlen und das noch ausfuehrlichere des Figulus von den Goettern, hatten ohne Zweifel weder wissenschaftlichen noch formellen Wert.
Auch in den Fachwissenschaften ist es schwach bestellt. Varros dialogisch geschriebene Buecher vom Landbau sind freilich methodischer als die seiner Vorgaenger Cato und Saserna, auf die denn auch mancher tadelnde Seitenblick faellt, dafuer aber im ganzen mehr aus der Schreibstube hervorgegangen als, wie jene aelteren Werke, aus der lebendigen Erfahrung. Von desselben sowie des Servius Sulpicius Rufus (Konsul 703 51) juristischen Arbeiten ist kaum etwas weiter zu sagen, als dass sie zu dem dialektischen und philologischen Aufputz der roemischen Jurisprudenz beigetragen haben. Weiter aber ist hier nichts zu nennen als etwa noch des Gaius Matius drei Buecher ueber Kochen, Einsalzen und Einmachen, unseres Wissens das aelteste roemische Kochbuch und als das Werk eines vornehmen Mannes allerdings eine bemerkenswerte Erscheinung. Dass Mathematik und Physik durch die gesteigerten hellenistischen und utilitarischen Tendenzen der Monarchie gefoerdert wurden, zeigt sich wohl in der steigenden Bedeutung derselben im Jugendunterricht und in einzelnen praktischen Anwendungen, wohin, ausser der Reform des Kalenders, etwa noch gezaehlt werden koennen das Aufkommen der Wandkarten in dieser Zeit; die verbesserte Technik des Schiffsbaus und der musikalischen Instrumente; Anlagen und Bauten wie das von Varro angegebene Vogelhaus, die von Caesars Ingenieuren ausgefuehrte Pfahlbruecke ueber den Rhein, sogar zwei halbkreisfoermige, zum Zusammenschieben eingerichtete, zuerst gesondert als zwei Theater, dann zusammen als Amphitheater benutzte Brettergerueste. Auslaendische Naturmerkwuerdigkeiten bei den Volksfesten oeffentlich zur Schau zu stellen war nicht ungewoehnlich; und die Schilderungen merkwuerdiger Tiere, die Caesar in seine Feldzugsberichte eingelegt hat, beweisen, dass ein Aristoteles, wenn er aufgetreten waere, seinen Fuersten wiederum gefunden haben wuerde. Was aber von literarischen Leistungen auf diesem Gebiet erwaehnt wird, haengt wesentlich an den Neupythagoreismus sich an; so des Figulus Zusammenstellung griechischer und barbarischer, d. h. aegyptischer Himmelsbeobachtungen und desselben Schriften von den Tieren, den Winden, den Geschlechtsteilen. Nachdem ueberhaupt die griechische Naturforschung von dem Aristotelischen Streben, im einzelnen das Gesetz zu finden, mehr und mehr zu der empirischen und meistens unkritischen Beobachtung des Aeusserlichen und Auffallenden in der Natur abgeirrt war, konnte die Naturwissenschaft, indem sie als mystische Naturphilosophie auftrat, statt aufzuklaeren und anzuregen, nur noch mehr verdummen und laehmen; und solchem Treiben gegenueber liess man es besser noch bei der Plattheit bewenden, welche Cicero als sokratische Weisheit vortraegt, dass die Naturforschung entweder nach Dingen sucht, die niemand wissen koenne, oder nach solchen, die niemand zu wissen brauche. Werfen wir schliesslich noch einen Blick auf die Kunst, so zeigen auch hier sich dieselben unerfreulichen Erscheinungen, die das ganze geistige Leben dieser Periode erfuellen. Das Staatsbauwesen stockte in der Geldklemme der letzten Zeit der Republik so gut wie ganz. Von dem Bauluxus der Vornehmen Roms war bereits die Rede; die Architekten lernten infolgedessen den Marmor verschwenden – die farbigen Sorten wie der gelbe numidische (Giallo antico) und andere kamen in dieser Zeit in Aufnahme und auch die lunensischen (carrarischen) Marmorbrueche wurden jetzt zuerst benutzt – und fingen an, die Fussboeden der Zimmer mit Mosaik auszulegen, die Waende mit Marmorplatten zu taefeln oder auch den Stuck marmorartig zu bemalen – die ersten Anfaenge der spaeteren Zimmerwandmalerei. Die Kunst aber gewann nicht bei dieser verschwenderischen Pracht. In den bildenden Kuensten waren Kennerschaft und Sammelei in weiterem Zunehmen. Es war eine blosse Affektation catonischer Simplizitaet, wenn ein Advokat vor den Geschworenen von den Kunstwerken “eines gewissen Praxiteles” sprach; alles reiste und schaute und das Handwerk der Kunstciceronen oder, wie sie damals hiessen, der Exegeten, war keines von den schlechtesten. Auf alte Kunstwerke wurde foermlich Jagd gemacht – weniger freilich noch auf Statuen und Gemaelde, als nach der rohen Art roemischer Prachtwirtschaft auf kunstvolles Geraet und Zimmer- und Tafeldekoration aller Art. Schon zu jener Zeit wuehlte man die alten griechischen Graeber von Capua und Korinth um wegen der Erz- und Tongefaesse, die den Toten waren mit ins Grab gegeben worden. Fuer eine kleine Nippfigur von Bronze wurden 40000 (3000 Taler), fuer ein paar kostbare Teppiche 200000 Sesterzen (15000 Taler) bezahlt; eine gutgearbeitete kupferne Kochmaschine kam hoeher zu stehen als ein Landgut. Wie billig ward bei dieser barbarischen Kunstjagd der reiche Liebhaber von seinen Zutraegern haeufig geprellt: aber der oekonomische Ruin namentlich des an Kunstwerken ueberreichen Kleinasiens brachte auch manches wirklich alte und seltene Prachtstueck und Kunststueck auf den Markt und von Athen, Syrakus, Kyzikos, Pergamon, Chios, Samos und wie die alten Kunststaetten weiter hiessen, wanderte alles, was feil war und gar manches, was es nicht war, in die Palaeste und Villen der roemischen Grossen. Welche Kunstschaetze zum Beispiel das Haus des Lucullus barg, der freilich wohl nicht mit Unrecht beschuldigt wurde, sein artistisches Interesse auf Kosten seiner Feldherrnpflichten befriedigt zu haben, ward bereits erwaehnt. Die Kunstliebhaber draengten sich daselbst wie heutzutage in Villa Borghese und beklagten auch damals schon sich ueber die Verbannung der Kunstschaetze auf die Palaeste und Landhaeuser der vornehmen Herren, wo sie schwierig und nur nach besonders von dem Besitzer eingeholter Erlaubnis gesehen werden konnten. Die oeffentlichen Gebaeude dagegen fuellten sich keineswegs im Verhaeltnis mit beruehmten Werken griechischer Meister, und vielfach standen noch in den Tempeln der Hauptstadt nichts als die alten holzgeschnitzten Goetterbilder. Von Ausuebung der Kunst ist so gut wie gar nichts zu berichten; kaum wird aus dieser Zeit ein anderer roemischer Bildhauer oder Maler mit Namen genannt als ein gewisser Arellius, dessen Bilder reissend abgingen, nicht ihres kuenstlerischen Wertes wegen, sondern weil der arge Roue in den Bildern der Goettinnen getreue Konterfeie seiner jedesmaligen Maetressen lieferte. Die Bedeutung von Musik und Tanz stieg im oeffentlichen wie im haeuslichen Leben. Wie die Theatermusik und das Tanzstueck in der Buehnenentwicklung dieser Zeit zu selbstaendigerer Geltung gelangte, wurde bereits dargestellt; es kann noch hinzugefuegt werden, dass jetzt in Rom selbst auf der oeffentlichen Buehne schon sehr haeufig von griechischen Musikern, Taenzern und Deklamatoren Vorstellungen gegeben wurden, wie sie in Kleinasien und ueberhaupt in der ganzen hellenischen und hellenisierenden Welt ueblich waren ^21. Dazu kamen denn die Musikanten und Taenzerinnen, die bei Tafel und sonst auf Bestellung ihre Kuenste produzierten, und die in vornehmen Haeusern nicht mehr seltenen eigenen Kapellen von Saiten- und Blasinstrumenten und Saengern. Dass aber auch die vornehme Welt selbst fleissig spielte und sang, beweist schon die Aufnahme der Musik in den Kreis der allgemein anerkannten Unterrichtsgegenstaende; und was das Tanzen anlangt, so wurde, um von den Frauen zu schweigen, selbst Konsularen es vorgehalten, dass sie im kleinen Zirkel sich mit Tanzvorstellungen produzierten. ——————————————- ^21 Dergleichen “griechische Spiele” waren nicht bloss in den griechischen Staedten Italiens, namentlich in Neapel (Cic. Arch. 5, 10; Plut. Brut. 21), sondern jetzt schon auch in Rom sehr haeufig (Cic. ad. fam. 7, 1, 3; Att. 16, 5, 1; Suet. Caes. 39; Plut. Brut. 21). Wenn die bekannte Grabschrift der vierzehnjaehrigen Licinia Eucharis, die wahrscheinlich dem Ende dieser Epoche angehoert, dieses “wohlunterrichtete und in allen Kuensten von den Musen selbst unterwiesene Maedchen”, in den Privatvorstellungen der vornehmen Haeuser als Taenzerin glaenzen und oeffentlich zuerst auf der griechischen Schaubuehne auftreten laesst (modo nobilium ludos decoravi choro, Et Graeca in scaena prima populo apparui), so kann dies wohl nur heissen, dass sie das erste Maedchen war, das auf der oeffentlichen griechischen Schaubuehne in Rom erschien, wie denn ueberhaupt erst in dieser Epoche die Frauenzimmer in Rom anfingen, oeffentlich aufzutreten.
Diese “griechischen Spielen in Rom scheinen nicht eigentlich szenische gewesen zu sein, sondern vielmehr zu der Gattung der zusammengesetzten, zunaechst musikalisch-deklamatorischen Auffuehrungen gehoert zu haben, wie sie auch in Griechenland in spaeterer Zeit nicht selten vorkamen (F. G. Welcker, Die griechischen Tragoedien. Bonn 1839-41, S. 1277). Dahin fuehrt das Hervortreten des Floetenspiels bei Polybios (30, 13) des Tanzes in dem Berichte Suetons ueber die bei Caesars Spielen aufgefuehrten kleinasiatischen Waffentaenze und in der Grabschrift der Eucharis; auch die Beschreibung des Kitharoeden Her. Rhet. 4, 47, 60 (vgl. Vitr. 5, 7) wird solchen “griechischen Spielen” entnommen sein. Bezeichnend ist noch die Verbindung dieser Vorstellungen in Rom mit griechischen Athletenkaempfen (Polyb. a. a. O.; Liv. 39, 22). Dramatische Rezitationen waren von diesen Mischspielen keineswegs ausgeschlossen, wie denn unter den Spielern, die Lucius Anicius 587 (167) in Rom auftreten liess, ausdruecklich Tragoedien miterwaehnt werden; aber es wurden doch dabei nicht eigentlich Schauspiele aufgefuehrt, sondern vielmehr von einzelnen Kuenstlern entweder ganze Dramen oder wohl noch haeufiger Stuecke daraus deklamierend oder singend zur Floete vorgetragen. Das wird denn auch in Rom vorgekommen sein; aber allem Anschein nach war fuer das roemische Publikum die Hauptsache bei diesen griechischen Spielen Musik und Tanz, und die Texte moegen fuer sie wenig mehr bedeutet haben als heutzutage die der italienischen Oper fuer die Londoner und Pariser. Jene zusammengesetzten Spiele mit ihrem wuesten Potpourri eigneten sich auch weit besser fuer das roemische Publikum und namentlich fuer die Auffuehrungen in Privathaeusern als eigentlich szenische Auffuehrungen in griechischer Sprache; dass auch die letzteren in Rom vorgekommen sind, laesst sich nicht widerlegen, aber auch nicht beweisen.
——————————————- Indes gegen das Ende dieser Periode zeigen mit der beginnenden Monarchie sich auch in der Kunst die Anfaenge einer besseren Zeit. Welchen gewaltigen Aufschwung das hauptstaedtische Bauwesen durch Caesar nahm und das Reichsbauwesen nehmen sollte, ist frueher erzaehlt worden. Sogar im Stempelschnitt der Muenzen erscheint um das Jahr 700 (54) eine bemerkenswerte Aenderung: das bis dahin groesstenteils rohe und nachlaessige Gepraege wird seitdem feiner und sorgsamer behandelt.
Wir stehen am Ende der roemischen Republik. Wir sahen sie ein halbes Jahrtausend in Italien und in den Landschaften am Mittelmeer schalten; wir sahen sie nicht durch aeussere Gewalt, sondern durch inneren Verfall politisch und sittlich, religioes und literarisch zugrunde gehen und der neuen Monarchie Caesars Platz machen. Es war in der Welt, wie Caesar sie vorfand, viel edle Erbschaft vergangener Jahrhunderte und eine unendliche Fuelle von Pracht und Herrlichkeit, aber wenig Geist, noch weniger Geschmack und am wenigsten Freude im und am Leben. Wohl war es eine alte Welt; und auch Caesars genialer Patriotismus vermochte nicht, sie wieder jung zu machen. Die Morgenroete kehrt nicht wieder, bevor die Nacht voellig hereingebrochen ist. Aber doch kam mit ihm den vielgeplagten Voelkern am Mittelmeer nach schwuelem Mittag ein leidlicher Abend; und als sodann nach langer geschichtlicher Nacht der neue Voelkertag abermals anbrach und frische Nationen in freier Selbstbewegung nach neuen und hoeheren Zielen den Lauf begannen, da fanden sich manche darunter, in denen der von Caesar ausgestreute Same aufgegangen war und die ihm ihre nationale Individualitaet verdankten und verdanken.
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