Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 1 by Johann Wolfgang von Goethe

Association / Carnegie-Mellon University”. *END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END* This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com. Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 1 oder die Entsagenden Erstes Buch Erstes Kapitel Die Flucht nach ƒgypten Im Schatten eines m‰chtigen Felsen safl Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum schnell
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Association / Carnegie-Mellon University”.

*END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END*

This etext was prepared by Michael Pullen, globaltraveler5565@yahoo.com.

Wilhelm Meisters Wanderjahre–Buch 1
oder die Entsagenden

Erstes Buch

Erstes Kapitel

Die Flucht nach ƒgypten

Im Schatten eines m‰chtigen Felsen safl Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum schnell nach der Tiefe wendete. Die Sonne stand noch hoch und erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengr¸nden zu seinen F¸flen. Er bemerkte eben etwas in seine Schreibtafel, als Felix, der umhergeklettert war, mit einem Stein in der Hand zu ihm kam. “Wie nennt man diesen Stein, Vater?” sagte der Knabe.

“Ich weifl nicht”, versetzte Wilhelm.

“Ist das wohl Gold, was darin so gl‰nzt?” sagte jener.

“Es ist keins!” versetzte dieser, “und ich erinnere mich, dafl es die Leute Katzengold nennen.”

“Katzengold!” sagte der Knabe l‰chelnd, “und warum?”

“Wahrscheinlich weil es falsch ist und man die Katzen auch f¸r falsch h‰lt.”

“Das will ich mir merken”, sagte der Sohn und steckte den Stein in die lederne Reisetasche, brachte jedoch sogleich etwas anderes hervor und fragte: “Was ist das?” –“Eine Frucht”, versetzte der Vater, “und nach den Schuppen zu urteilen, sollte sie mit den Tannenzapfen verwandt sein.”–“Das sieht nicht aus wie ein Zapfen, es ist ja rund. “–“Wir wollen den J‰ger fragen; die kennen den ganzen Wald und alle Fr¸chte, wissen zu s‰en, zu pflanzen und zu warten, dann lassen sie die St‰mme wachsen und grofl werden, wie sie kˆnnen.”–“Die J‰ger wissen alles; gestern zeigte mir der Bote, wie ein Hirsch ¸ber den Weg gegangen sei, er rief mich zur¸ck und liefl mich die F‰hrte bemerken, wie er es nannte; ich war dar¸ber weggesprungen, nun aber sah ich deutlich ein paar Klauen eingedr¸ckt; es mag ein grofler Hirsch gewesen sein.”–“Ich hˆrte wohl, wie du den Boten ausfragtest.”–“Der wuflte viel und ist doch kein J‰ger. Ich aber will ein J‰ger werden. Es ist gar zu schˆn, den ganzen Tag im Walde zu sein und die Vˆgel zu hˆren, zu wissen, wie sie heiflen, wo ihre Nester sind, wie man die Eier aushebt oder die Jungen, wie man sie f¸ttert und wenn man die Alten f‰ngt: das ist gar zu lustig.”

Kaum war dieses gesprochen, so zeigte sich den schroffen Weg herab eine sonderbare Erscheinung. Zwei Knaben, schˆn wie der Tag, in farbigen J‰ckchen, die man eher f¸r aufgebundene Hemdchen gehalten h‰tte, sprangen einer nach dem andern herunter, und Wilhelm fand Gelegenheit, sie n‰her zu betrachten, als sie vor ihm stutzten und einen Augenblick stillhielten. Um des ‰ltesten Haupt bewegten sich reiche blonde Locken, auf welche man zuerst blicken muflte, wenn man ihn sah, und dann zogen seine klarblauen Augen den Blick an sich, der sich mit Gefallen ¸ber seine schˆne Gestalt verlor. Der zweite, mehr einen Freund als einen Bruder vorstellend, war mit braunen und schlichten Haaren geziert, die ihm ¸ber die Schultern herabhingen und wovon der Widerschein sich in seinen Augen zu spiegeln schien.

Wilhelm hatte nicht Zeit, diese beiden sonderbaren und in der Wildnis ganz unerwarteten Wesen n‰her zu betrachten, indem er eine m‰nnliche Stimme vernahm, welche um die Felsecke herum ernst, aber freundlich herabrief. “Warum steht ihr stille? versperrt uns den Weg nicht!”

Wilhelm sah aufw‰rts, und hatten ihn die Kinder in Verwunderung gesetzt, so erf¸llte ihn das, was ihm jetzt zu Augen kam, mit Erstaunen. Ein derber, t¸chtiger, nicht allzu grofler junger Mann, leicht gesch¸rzt, von brauner Haut und schwarzen Haaren, trat kr‰ftig und sorgf‰ltig den Felsweg herab, indem er hinter sich einen Esel f¸hrte, der erst sein wohlgen‰hrtes und wohlgeputztes Haupt zeigte, dann aber die schˆne Last, die er trug, sehen liefl. Ein sanftes, liebensw¸rdiges Weib safl auf einem groflen, wohlbeschlagenen Sattel; in einem blauen Mantel, der sie umgab, hielt sie ein Wochenkind, das sie an ihre Brust dr¸ckte und mit unbeschreiblicher Lieblichkeit betrachtete. Dem F¸hrer ging’s wie den Kindern: er stutzte einen Augenblick, als er Wilhelmen erblickte. Das Tier verzˆgerte seinen Schritt, aber der Abstieg war zu j‰h, die Vor¸berziehenden konnten nicht anhalten, und Wilhelm sah sie mit Verwunderung hinter der vorstehenden Felswand verschwinden.

Nichts war nat¸rlicher, als dafl ihn dieses seltsame Gesicht aus seinen Betrachtungen rifl. Neugierig stand er auf und blickte von seiner Stelle nach der Tiefe hin, ob er sie nicht irgend wieder hervorkommen s‰he. Und eben war er im Begriff, hinabzusteigen und diese sonderbaren Wandrer zu begr¸flen, als Felix heraufkam und sagte: “Vater, darf ich nicht mit diesen Kindern in ihr Haus? Sie wollen mich mitnehmen. Du sollst auch mitgehen, hat der Mann zu mir gesagt. Komm! dort unten halten sie.”

“Ich will mit ihnen reden”, versetzte Wilhelm.

Er fand sich auf einer Stelle, wo der Weg weniger abh‰ngig war, und verschlang mit den Augen die wunderlichen Bilder, die seine Aufmerksamkeit so sehr an sich gezogen hatten. Erst jetzt war es ihm mˆglich, noch einen und den andern besondern Umstand zu bemerken. Der junge, r¸stige Mann hatte wirklich eine Polieraxt auf der Schulter und ein langes, schwankes eisernes Winkelmafl. Die Kinder trugen grofle Schilfb¸schel, als wenn es Palmen w‰ren; und wenn sie von dieser Seite den Engeln glichen, so schleppten sie auch wieder kleine Kˆrbchen mit Eflwaren und glichen dadurch den t‰glichen Boten, wie sie ¸ber das Gebirg hin und her zu gehen pflegen. Auch hatte die Mutter, als er sie n‰her betrachtete, unter dem blauen Mantel ein rˆtliches, zart gef‰rbtes Unterkleid, so dafl unser Freund die Flucht nach ƒgypten, die er so oft gemalt gesehen, mit Verwunderung hier vor seinen Augen wirklich finden muflte.

Man begr¸flte sich, und indem Wilhelm vor Erstaunen und Aufmerksamkeit nicht zu Wort kommen konnte, sagte der junge Mann: “Unsere Kinder haben in diesem Augenblicke schon Freundschaft gemacht. Wollt Ihr mit uns, um zu sehen, ob auch zwischen den Erwachsenen ein gutes Verh‰ltnis entstehen kˆnne?”

Wilhelm bedachte sich ein wenig und versetzte dann: “Der Anblick eures kleinen Familienzuges erregt Vertrauen und Neigung und, dafl ich’s nur gleich gestehe, ebensowohl Neugierde und ein lebhaftes Verlangen, euch n‰her kennen zu lernen. Denn im ersten Augenblicke mˆchte man bei sich die Frage aufwerfen, ob ihr wirkliche Wanderer oder ob ihr nur Geister seid, die sich ein Vergn¸gen daraus machen, dieses unwirtbare Gebirg durch angenehme Erscheinungen zu beleben.”

“So kommt mit in unsere Wohnung”, sagte jener. “Kommt mit!” riefen die Kinder, indem sie den Felix schon mit sich fortzogen. “Kommt mit!” sagte die Frau, indem sie ihre liebensw¸rdige Freundlichkeit von dem S‰ugling ab auf den Fremdling wendete.

Ohne sich zu bedenken, sagte Wilhelm: “Es tut mir leid, dafl ich euch nicht sogleich folgen kann. Wenigstens diese Nacht noch mufl ich oben auf dem Grenzhause zubringen. Mein Mantelsack, meine Papiere, alles liegt noch oben, ungepackt und unbesorgt. Damit ich aber Wunsch und Willen beweise, eurer freundlichen Einladung genugzutun, so gebe ich euch meinen Felix zum Pfande mit. Morgen bin ich bei euch. Wie weit ist’s hin?”

“Vor Sonnenuntergang erreichen wir noch unsere Wohnung”, sagte der Zimmermann, “und von dem Grenzhause habt Ihr nur noch anderthalb Stunden. Euer Knabe vermehrt unsern Haushalt f¸r diese Nacht; morgen erwarten wir Euch.”

Der Mann und das Tier setzten sich in Bewegung. Wilhelm sah seinen Felix mit Behagen in so guter Gesellschaft, er konnte ihn mit den lieben Engelein vergleichen, gegen die er kr‰ftig abstach. F¸r seine Jahre war er nicht grofl, aber st‰mmig, von breiter Brust und kr‰ftigen Schultern; in seiner Natur war ein eigenes Gemisch von Herrschen und Dienen; er hatte schon einen Palmzweig und ein Kˆrbchen ergriffen, womit er beides auszusprechen schien. Schon drohte der Zug abermals um eine Felswand zu verschwinden, als sich Wilhelm zusammennahm und nachrief: “Wie soll ich euch aber erfragen?”

“Fragt nur nach Sankt Joseph!” erscholl es aus der Tiefe, und die ganze Erscheinung war hinter den blauen Schattenw‰nden verschwunden. Ein frommer, mehrstimmiger Gesang tˆnte verhallend aus der Ferne, und Wilhelm glaubte die Stimme seines Felix zu unterscheiden.

Er stieg aufw‰rts und versp‰tete sich dadurch den Sonnenuntergang. Das himmlische Gestirn, das er mehr denn einmal verloren hatte, erleuchtete ihn wieder, als er hˆher trat, und noch war es Tag, als er an seiner Herberge anlangte. Nochmals erfreute er sich der groflen Gebirgsansicht und zog sich sodann auf sein Zimmer zur¸ck, wo er sogleich die Feder ergriff und einen Teil der Nacht mit Schreiben zubrachte.

Wilhelm an Natalien

Nun ist endlich die Hˆhe erreicht, die Hˆhe des Gebirgs, das eine m‰chtigere Trennung zwischen uns setzen wird als der ganze Landraum bisher. F¸r mein Gef¸hl ist man noch immer in der N‰he seiner Lieben, solange die Strˆme von uns zu ihnen laufen. Heute kann ich mir noch einbilden, der Zweig, den ich in den Waldbach werfe, kˆnnte f¸glich zu ihr hinabschwimmen, kˆnnte in wenigen Tagen vor ihrem Garten landen; und so sendet unser Geist seine Bilder, das Herz seine Gef¸hle bequemer abw‰rts. Aber dr¸ben, f¸rchte ich, stellt sich eine Scheidewand der Einbildungskraft und der Empfindung entgegen. Doch ist das vielleicht nur eine voreilige Besorglichkeit: denn es wird wohl auch dr¸ben nicht anders sein als hier. Was kˆnnte mich von dir scheiden! von dir, der ich auf ewig geeignet bin, wenngleich ein wundersames Geschick mich von dir trennt und mir den Himmel, dem ich so nahe stand, unerwartet zuschlieflt. Ich hatte Zeit, mich zu fassen, und doch h‰tte keine Zeit hingereicht, mir diese Fassung zu geben, h‰tte ich sie nicht aus deinem Munde gewonnen, von deinen Lippen in jenem entscheidenden Moment. Wie h‰tte ich mich losreiflen kˆnnen, wenn der dauerhafte Faden nicht gesponnen w‰re, der uns f¸r die Zeit und f¸r die Ewigkeit verbinden soll. Doch ich darf ja von allem dem nicht reden. Deine zarten Gebote will ich nicht ¸bertreten; auf diesem Gipfel sei es das letztemal, dafl ich das Wort Trennung vor dir ausspreche. Mein Leben soll eine Wanderschaft werden. Sonderbare Pflichten des Wanderers habe ich auszu¸ben und ganz eigene Pr¸fungen zu bestehen. Wie l‰chle ich manchmal, wenn ich die Bedingungen durchlese, die mir der Verein, die ich mir selbst vorschrieb! Manches wird gehalten, manches ¸bertreten; aber selbst bei der ¸bertretung dient mir dies Blatt, dieses Zeugnis von meiner letzten Beichte, meiner letzten Absolution statt eines gebietenden Gewissens, und ich lenke wieder ein. Ich h¸te mich, und meine Fehler st¸rzen sich nicht mehr wie Gebirgswasser einer ¸ber den andern.

Doch will ich dir gern gestehen, dafl ich oft diejenigen Lehrer und Menschenf¸hrer bewundere, die ihren Sch¸lern nur ‰uflere, mechanische Pflichten auflegen. Sie machen sich’s und der Welt leicht. Denn gerade diesen Teil meiner Verbindlichkeiten, der mir erst der beschwerlichste, der wunderlichste schien, diesen beobachte ich am bequemsten, am liebsten.

Nicht ¸ber drei Tage soll ich unter einem Dache bleiben. Keine Herberge soll ich verlassen, ohne dafl ich mich wenigstens eine Meile von ihr entferne. Diese Gebote sind wahrhaft geeignet, meine Jahre zu Wanderjahren zu machen und zu verhindern, dafl auch nicht die geringste Versuchung des Ansiedelns bei mir sich finde. Dieser Bedingung habe ich mich bisher genau unterworfen, ja mich der gegebenen Erlaubnis nicht einmal bedient. Hier ist eigentlich das erstemal, dafl ich stillhalte, das erstemal, dafl ich die dritte Nacht in demselben Bette schlafe. Von hier sende ich dir manches bisher Vernommene, Beobachtete, Gesparte, und dann geht es morgen fr¸h auf der andern Seite hinab, f¸rerst zu einer wunderbaren Familie, zu einer heiligen Familie mˆchte ich wohl sagen, von der du in meinem Tagebuche mehr finden wirst. Jetzt lebe wohl und lege dieses Blatt mit dem Gef¸hl aus der Hand, dafl es nur eins zu sagen habe, nur eines sagen und immer wiederholen mˆchte, aber es nicht sagen, nicht wiederholen will, bis ich das Gl¸ck habe, wieder zu deinen F¸flen zu liegen und auf deinen H‰nden mich ¸ber alle das Entbehren auszuweinen.

Morgens.

Es ist eingepackt. Der Bote schn¸rt den Mantelsack auf das Reff. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, die Nebel dampfen aus allen Gr¸nden; aber der obere Himmel ist heiter. Wir steigen in die d¸stere Tiefe hinab, die sich auch bald ¸ber unserm Haupte erhellen wird. Lafl mich mein letztes Ach zu dir hin¸bersenden! Lafl meinen letzten Blick zu dir sich noch mit einer unwillk¸rlichen Tr‰ne f¸llen! Ich bin entschieden und entschlossen. Du sollst keine Klagen mehr von mir hˆren; du sollst nur hˆren, was dem Wanderer begegnet. Und doch kreuzen sich, indem ich schlieflen will, nochmals tausend Gedanken, W¸nsche, Hoffnungen und Vors‰tze. Gl¸cklicherweise treibt man mich hinweg. Der Bote ruft, und der Wirt r‰umt schon wieder auf in meiner Gegenwart, eben als wenn ich hinweg w‰re, wie gef¸hllose, unvorsichtige Erben vor dem Abscheidenden die Anstalten, sich in Besitz zu setzen, nicht verbergen.

Zweites Kapitel

Sankt Joseph der Zweite

Schon hatte der Wanderer, seinem Boten auf dem Fufle folgend, steile Felsen hinter und ¸ber sich gelassen, schon durchstrichen sie ein sanfteres Mittelgebirg und eilten durch manchen wohlbestandnen Wald, durch manchen freundlichen Wiesengrund immer vorw‰rts, bis sie sich endlich an einem Abhange befanden und in ein sorgf‰ltig bebautes, von H¸geln rings umschlossenes Tal hinabschauten. Ein grofles, halb in Tr¸mmern liegendes, halb wohlerhaltenes Klostergeb‰ude zog sogleich die Aufmerksamkeit an sich. “Dies ist Sankt Joseph”, sagte der Bote; “jammerschade f¸r die schˆne Kirche! Seht nur, wie ihre S‰ulen und Pfeiler durch Geb¸sch und B‰ume noch so wohlerhalten durchsehen, ob sie gleich schon viele hundert Jahre im Schutt liegt.”

“Die Klostergeb‰ude hingegen”, versetzte Wilhelm, “sehe ich, sind noch wohl erhalten.”–“Ja”, sagte der andere, “es wohnt ein Schaffner daselbst, der die Wirtschaft besorgt, die Zinsen und Zehnten einnimmt, welche man weit und breit hierher zu zahlen hat.”

Unter diesen Worten waren sie durch das offene Tor in den ger‰umigen Hof gelangt, der, von ernsthaften, wohlerhaltenen Geb‰uden umgeben, sich als Aufenthalt einer ruhigen Sammlung ank¸ndigte. Seinen Felix mit den Engeln von gestern sah er sogleich besch‰ftigt um einen Tragkorb, den eine r¸stige Frau vor sich gestellt hatte; sie waren im Begriff, Kirschen zu handeln; eigentlich aber feilschte Felix, der immer etwas Geld bei sich f¸hrte. Nun machte er sogleich als Gast den Wirt, spendete reichliche Fr¸chte an seine Gespielen, selbst dem Vater war die Erquickung angenehm, mitten in diesen unfruchtbaren Moosw‰ldern, wo die farbigen, gl‰nzenden Fr¸chte noch einmal so schˆn erschienen. Sie trage solche weit herauf aus einem groflen Garten, bemerkte die Verk‰uferin, um den Preis annehmlich zu machen, der den K‰ufern etwas zu hoch geschienen hatte. Der Vater werde bald zur¸ckkommen, sagten die Kinder, er solle nur einstweilen in den Saal gehen und dort ausruhen.

Wie verwundert war jedoch Wilhelm, als die Kinder ihn zu dem Raume f¸hrten, den sie den Saal nannten. Gleich aus dem Hofe ging es zu einer groflen T¸r hinein, und unser Wanderer fand sich in einer sehr reinlichen, wohlerhaltenen Kapelle, die aber, wie er wohl sah, zum h‰uslichen Gebrauch des t‰glichen Lebens eingerichtet war. An der einen Seite stand ein Tisch, ein Sessel, mehrere St¸hle und B‰nke, an der andern Seite ein wohlgeschnitztes Ger¸st mit bunter Tˆpferware, Kr¸gen und Gl‰sern. Es fehlte nicht an einigen Truhen und Kisten und, so ordentlich alles war, doch nicht an dem Einladenden des h‰uslichen, t‰glichen Lebens. Das Licht fiel von hohen Fenstern an der Seite herein. Was aber die Aufmerksamkeit des Wanderers am meisten erregte, waren farbige, auf die Wand gemalte Bilder, die unter den Fenstern in ziemlicher Hˆhe, wie Teppiche, um drei Teile der Kapelle herumreichten und bis auf ein Get‰fel herabgingen, das die ¸brige Wand bis zur Erde bedeckte. Die Gem‰lde stellten die Geschichte des heiligen Joseph vor. Hier sah man ihn mit einer Zimmerarbeit besch‰ftigt; hier begegnete er Marien, und eine Lilie sproflte zwischen beiden aus dem Boden, indem einige Engel sie lauschend umschwebten. Hier wird er getraut; es folgt der englische Grufl. Hier sitzt er miflmutig zwischen angefangener Arbeit, l‰flt die Axt ruhen und sinnt darauf, seine Gattin zu verlassen. Zun‰chst erscheint ihm aber der Engel im Traum, und seine Lage ‰ndert sich. Mit Andacht betrachtet er das neugeborene Kind im Stalle zu Bethlehem und betet es an. Bald darauf folgt ein wundersam schˆnes Bild. Man sieht mancherlei Holz gezimmert; eben soll es zusammengesetzt werden, und zuf‰lligerweise bilden ein paar St¸cke ein Kreuz. Das Kind ist auf dem Kreuze eingeschlafen, die Mutter sitzt daneben und betrachtet es mit inniger Liebe, und der Pflegevater h‰lt mit der Arbeit inne, um den Schlaf nicht zu stˆren. Gleich darauf folgt die Flucht nach ƒgypten. Sie erregte bei dem beschauenden Wanderer ein L‰cheln, indem er die Wiederholung des gestrigen lebendigen Bildes hier an der Wand sah.

Nicht lange war er seinen Betrachtungen ¸berlassen, so trat der Wirt herein, den er sogleich als den F¸hrer der heiligen Karawane wiedererkannte. Sie begr¸flten sich aufs herzlichste, mancherlei Gespr‰che folgten; doch Wilhelms Aufmerksamkeit blieb auf die Gem‰lde gerichtet. Der Wirt merkte das Interesse seines Gastes und fing l‰chelnd an: “Gewifl, Ihr bewundert die ¸bereinstimmung dieses Geb‰udes mit seinen Bewohnern, die Ihr gestern kennenlerntet. Sie ist aber vielleicht noch sonderbarer, als man vermuten sollte: das Geb‰ude hat eigentlich die Bewohner gemacht. Denn wenn das Leblose lebendig ist, so kann es auch wohl Lebendiges hervorbringen.”

“O ja!” versetzte Wilhelm. “Es sollte mich wundern, wenn der Geist, der vor Jahrhunderten in dieser Bergˆde so gewaltig wirkte und einen so m‰chtigen Kˆrper von Geb‰uden, Besitzungen und Rechten an sich zog und daf¸r mannigfaltige Bildung in der Gegend verbreitete, es sollte mich wundern, wenn er nicht auch aus diesen Tr¸mmern noch seine Lebenskraft auf ein lebendiges Wesen aus¸bte. Laflt uns jedoch nicht im Allgemeinen verharren, macht mich mit Eurer Geschichte bekannt, damit ich erfahre, wie es mˆglich war, dafl ohne Spielerei und Anmaflung die Vergangenheit sich wieder in Euch darstellt und das, was vor¸berging, abermals herantritt.”

Eben als Wilhelm belehrende Antwort von den Lippen seines Wirtes erwartete, rief eine freundliche Stimme im Hofe den Namen Joseph. Der Wirt hˆrte darauf und ging nach der T¸r.

“Also heiflt er auch Joseph!” sagte Wilhelm zu sich selbst. “Das ist doch sonderbar genug und doch eben nicht so sonderbar, als dafl er seinen Heiligen im Leben darstellt.” Er blickte zu gleicher Zeit nach der T¸re und sah die Mutter Gottes von gestern mit dem Manne sprechen. Sie trennten sich endlich: die Frau ging nach der gegen¸berstehenden Wohnung. “Marie!” rief er ihr nach, “nur noch ein Wort!”–“Also heiflt sie auch Marie!” dachte Wilhelm; “es fehlt nicht viel, so f¸hle ich mich achtzehnhundert Jahre zur¸ckversetzt.” Er dachte sich das ernsthaft eingeschlossene Tal, in dem er sich befand, die Tr¸mmer und die Stille, und eine wundersam altert¸mliche Stimmung ¸berfiel ihn. Es war Zeit, dafl der Wirt und die Kinder hereintraten. Die letzteren forderten Wilhelm zu einem Spaziergange auf, indes der Wirt noch einigen Gesch‰ften vorstehen wollte. Nun ging es durch die Ruinen des s‰ulenreichen Kirchengeb‰udes, dessen hohe Giebel und W‰nde sich in Wind und Wetter zu befestigen schienen, indessen sich starke B‰ume von alters her auf den breiten Mauerr¸cken eingewurzelt hatten und in Gesellschaft von mancherlei Gras, Blumen und Moos k¸hn in der Luft h‰ngende G‰rten vorstellten. Sanfte Wiesenpfade f¸hrten einen lebhaften Bach hinan, und von einiger Hˆhe konnte der Wanderer nun das Geb‰ude nebst seiner Lage mit so mehr Interesse ¸berschauen, als ihm dessen Bewohner immer merkw¸rdiger geworden und durch die Harmonie mit ihrer Umgebung seine lebhafte Neugier erregt hatten.

Man kehrte zur¸ck und fand in dem frommen Saal einen Tisch gedeckt. Obenan stand ein Lehnsessel, in den sich die Hausfrau niederliefl. Neben sich hatte sie einen hohen Korb stehen, in welchem das kleine Kind lag; den Vater sodann zur linken Hand und Wilhelm zur rechten. Die drei Kinder besetzten den untern Raum des Tisches. Eine alte Magd brachte ein wohlzubereitetes Essen. Speise–und Trinkgeschirr deuteten gleichfalls auf vergangene Zeit. Die Kinder gaben Anlafl zur Unterhaltung, indessen Wilhelm die Gestalt und das Betragen seiner heiligen Wirtin nicht genugsam beobachten konnte.

Nach Tische zerstreute sich die Gesellschaft; der Wirt f¸hrte seinen Gast an eine schattige Stelle der Ruine, wo man von einem erhˆhten Platze die angenehme Aussicht das Tal hinab vollkommen vor sich hatte und die Berghˆhen des untern Landes mit ihren fruchtbaren Abh‰ngen und waldigen R¸cken hintereinander hinausgeschoben sah. “Es ist billig”, sagte der Wirt, “dafl ich Ihre Neugierde befriedige, um so mehr, als ich an Ihnen f¸hle, dafl Sie imstande sind, auch das Wunderliche ernsthaft zu nehmen, wenn es auf einem ernsten Grunde beruht. Diese geistliche Anstalt, von der Sie noch die Reste sehen, war der heiligen Familie gewidmet und vor alters als Wallfahrt wegen mancher Wunder ber¸hmt. Die Kirche war der Mutter und dem Sohne geweiht. Sie ist schon seit mehreren Jahrhunderten zerstˆrt. Die Kapelle, dem heiligen Pflegevater gewidmet, hat sich erhalten, so auch der brauchbare Teil der Klostergeb‰ude. Die Eink¸nfte bezieht schon seit geraumen Jahren ein weltlicher F¸rst, der seinen Schaffner hier oben h‰lt, und der bin ich, Sohn des vorigen Schaffners, der gleichfalls seinem Vater in dieser Stelle nachfolgte.

Der heilige Joseph, obgleich jede kirchliche Verehrung hier oben lange aufgehˆrt hatte, war gegen unsere Familie so wohlt‰tig gewesen, dafl man sich nicht verwundern darf, wenn man sich besonders gut gegen ihn gesinnt f¸hlte; und daher kam es, dafl man mich in der Taufe Joseph nannte und dadurch gewissermaflen meine Lebensweise bestimmte. Ich wuchs heran, und wenn ich mich zu meinem Vater gesellte, indem er die Einnahmen besorgte, so schlofl ich mich ebenso gern, ja noch lieber an meine Mutter an, welche nach Vermˆgen gern ausspendete und durch ihren guten Willen und durch ihre Wohltaten im ganzen Gebirge bekannt und geliebt war. Sie schickte mich bald da-, bald dorthin, bald zu bringen, bald zu bestellen, bald zu besorgen, und ich fand mich sehr leicht in diese Art von frommem Gewerbe.

¸berhaupt hat das Gebirgsleben etwas Menschlicheres als das Leben auf dem flachen Lande. Die Bewohner sind einander n‰her und, wenn man will, auch ferner; die Bed¸rfnisse geringer, aber dringender. Der Mensch ist mehr auf sich gestellt, seinen H‰nden, seinen F¸flen mufl er vertrauen lernen. Der Arbeiter, der Bote, der Lasttr‰ger, alle vereinigen sich in einer Person; auch steht jeder dem andern n‰her, begegnet ihm ˆfter und lebt mit ihm in einem gemeinsamen Treiben.

Da ich noch jung war und meine Schultern nicht viel zu schleppen vermochten, fiel ich darauf, einen kleinen Esel mit Kˆrben zu versehen und vor mir her die steilen Fuflpfade hinauf und hinab zu treiben. Der Esel ist im Gebirg kein so ver‰chtlich Tier als im flachen Lande, wo der Knecht, der mit Pferden pfl¸gt, sich f¸r besser h‰lt als den andern, der den Acker mit Ochsen umreiflt. Und ich ging um so mehr ohne Bedenken hinter meinem Tiere her, als ich in der Kapelle fr¸h bemerkt hatte, dafl es zur Ehre gelangt war, Gott und seine Mutter zu tragen. Doch war diese Kapelle damals nicht in dem Zustande, in welchem sie sich gegenw‰rtig befindet. Sie ward als ein Schuppen, ja fast wie ein Stall behandelt. Brennholz, Stangen, Ger‰tschaften, Tonnen und Leitern, und was man nur wollte, war ¸bereinander geschoben. Gl¸cklicherweise, dafl die Gem‰lde so hoch stehen und die T‰felung etwas aush‰lt. Aber schon als Kind erfreute ich mich besonders, ¸ber alles das Gehˆlz hin und her zu klettern und die Bilder zu betrachten, die mir niemand recht auslegen konnte. Genug, ich wuflte, dafl der Heilige, dessen Leben oben gezeichnet war, mein Pate sei, und ich erfreute mich an ihm, als ob er mein Onkel gewesen w‰re. Ich wuchs heran, und weil es eine besondere Bedingung war, dafl der, welcher an das eintr‰gliche Schaffneramt Anspruch machen wollte, ein Handwerk aus¸ben muflte, so sollte ich, dem Willen meiner Eltern gem‰fl, welche w¸nschten, dafl k¸nftig diese gute Pfr¸nde auf mich erben mˆchte, ein Handwerk lernen, und zwar ein solches, das zugleich hier oben in der Wirtschaft n¸tzlich w‰re.

Mein Vater war Bˆtticher und schaffte alles, was von dieser Arbeit nˆtig war, selbst, woraus ihm und dem Ganzen grofler Vorteil erwuchs. Allein ich konnte mich nicht entschlieflen, ihm darin nachzufolgen. Mein Verlangen zog mich unwiderstehlich nach dem Zimmerhandwerke, wovon ich das Arbeitszeug so umst‰ndlich und genau, von Jugend auf, neben meinem Heiligen gemalt gesehen. Ich erkl‰rte meinen Wunsch; man war mir nicht entgegen, um so weniger, als bei so mancherlei Baulichkeiten der Zimmermann oft von uns in Anspruch genommen ward, ja bei einigem Geschick und Liebe zu feinerer Arbeit, besonders in Waldgegenden, die Tischler–und sogar die Schnitzerk¸nste ganz nahe liegen. Und was mich noch mehr in meinen hˆheren Aussichten best‰rkte, war jenes Gem‰lde, das leider nunmehr fast ganz verloschen ist. Sobald Sie wissen, was es vorstellen soll, so werden Sie sich’s entziffern kˆnnen, wenn ich Sie nachher davor f¸hre. Dem heiligen Joseph war nichts Geringeres aufgetragen, als einen Thron f¸r den Kˆnig Herodes zu machen. Zwischen zwei gegebenen S‰ulen soll der Prachtsitz aufgef¸hrt werden. Joseph nimmt sorgf‰ltig das Mafl von Breite und Hˆhe und arbeitet einen kˆstlichen Kˆnigsthron. Aber wie erstaunt ist er, wie verlegen, als er den Prachtsessel herbeischafft: er findet sich zu hoch und nicht breit genug. Mit Kˆnig Herodes war, wie bekannt, nicht zu spaflen; der fromme Zimmermeister ist in der grˆflten Verlegenheit. Das Christkind, gewohnt, ihn ¸berallhin zu begleiten, ihm in kindlich dem¸tigem Spiel die Werkzeuge nachzutragen, bemerkt seine Not und ist gleich mit Rat und Tat bei der Hand. Das Wunderkind verlangt vom Pflegevater, er solle den Thron an der einen Seite fassen; es greift in die andere Seite des Schnitzwerks, und beide fangen an zu ziehen. Sehr leicht und bequem, als w‰r’ er von Leder, zieht sich der Thron in die Breite, verliert verh‰ltnism‰flig an der Hˆhe und paflt ganz vortrefflich an Ort und Stelle, zum grˆflten Troste des beruhigten Meisters und zur vollkommenen Zufriedenheit des Kˆnigs.

Jener Thron war in meiner Jugend noch recht gut zu sehen, und an den Resten der einen Seite werden Sie bemerken kˆnnen, dafl am Schnitzwerk nichts gespart war, das freilich dem Maler leichter fallen muflte, als es dem Zimmermann gewesen w‰re, wenn man es von ihm verlangt h‰tte.

Hieraus zog ich aber keine Bedenklichkeit, sondern ich erblickte das Handwerk, dem ich mich gewidmet hatte, in einem so ehrenvollen Lichte, dafl ich nicht erwarten konnte, bis man mich in die Lehre tat; welches um so leichter auszuf¸hren war, als in der Nachbarschaft ein Meister wohnte, der f¸r die ganze Gegend arbeitete und mehrere Gesellen und Lehrburschen besch‰ftigen konnte. Ich blieb also in der N‰he meiner Eltern und setzte gewissermaflen mein voriges Leben fort, indem ich Feierstunden und Feiertage zu den wohlt‰tigen Botschaften, die mir meine Mutter aufzutragen fortfuhr, verwendete.”

Die Heimsuchung

“So vergingen einige Jahre”, fuhr der Erz‰hler fort. “Ich begriff die Vorteile des Handwerks sehr bald, und mein Kˆrper, durch Arbeit ausgebildet, war imstande, alles zu ¸bernehmen, was dabei gefordert wurde. Nebenher versah ich meinen alten Dienst, den ich der guten Mutter, oder vielmehr Kranken und Notd¸rftigen leistete. Ich zog mit meinem Tier durchs Gebirg, verteilte die Ladung p¸nktlich und nahm von Kr‰mern und Kaufleuten r¸ckw‰rts mit, was uns hier oben fehlte. Mein Meister war zufrieden mit mir und meine Eltern auch. Schon hatte ich das Vergn¸gen, auf meinen Wanderungen manches Haus zu sehen, das ich mit aufgef¸hrt, das ich verziert hatte. Denn besonders dieses letzte Einkerben der Balken, dieses Einschneiden von gewissen einfachen Formen, dieses Einbrennen zierender Figuren, dieses Rotmalen einiger Vertiefungen, wodurch ein hˆlzernes Berghaus den so lustigen Anblick gew‰hrt, solche K¸nste waren mir besonders ¸bertragen, weil ich mich am besten aus der Sache zog, der ich immer den Thron Herodes’ und seine Zieraten im Sinne hatte.

Unter den hilfsbed¸rftigen Personen, f¸r die meine Mutter eine vorz¸gliche Sorge trug, standen besonders junge Frauen obenan, die sich guter Hoffnung befanden, wie ich nach und nach wohl bemerken konnte, ob man schon in solchen F‰llen die Botschaften gegen mich geheimnisvoll zu behandeln pflegte. Ich hatte dabei niemals einen unmittelbaren Auftrag, sondern alles ging durch ein gutes Weib, welche nicht fern das Tal hinab wohnte und Frau Elisabeth genannt wurde. Meine Mutter, selbst in der Kunst erfahren, die so manchen gleich beim Eintritt in das Leben zum Leben rettet, stand mit Frau Elisabeth in fortdauernd gutem Vernehmen, und ich muflte oft von allen Seiten hˆren, dafl mancher unserer r¸stigen Bergbewohner diesen beiden Frauen sein Dasein zu danken habe. Das Geheimnis, womit mich Elisabeth jederzeit empfing, die b¸ndigen Antworten auf meine r‰tselhaften Fragen, die ich selbst nicht verstand, erregten mir sonderbare Ehrfurcht f¸r sie, und ihr Haus, das hˆchst reinlich war, schien mir eine Art von kleinem Heiligtume vorzustellen.

Indessen hatte ich durch meine Kenntnisse und Handwerkst‰tigkeit in der Familie ziemlichen Einflufl gewonnen. Wie mein Vater als Bˆtticher f¸r den Keller gesorgt hatte, so sorgte ich nun f¸r Dach und Fach und verbesserte manchen schadhaften Teil der alten Geb‰ude. Besonders wuflte ich einige verfallene Scheuern und Remisen f¸r den h‰uslichen Gebrauch wieder nutzbar zu machen; und kaum war dieses geschehen, als ich meine geliebte Kapelle zu r‰umen und zu reinigen anfing. In wenigen Tagen war sie in Ordnung, fast wie Ihr sie sehet; wobei ich mich bem¸hte, die fehlenden oder besch‰digten Teile des T‰felwerks dem Ganzen gleich wiederherzustellen. Auch solltet Ihr diese Fl¸gelt¸ren des Eingangs wohl f¸r alt genug halten; sie sind aber von meiner Arbeit. Ich habe mehrere Jahre zugebracht, sie in ruhigen Stunden zu schnitzen, nachdem ich sie vorher aus starken eichenen Bohlen im ganzen t¸chtig zusammengef¸gt hatte. Was bis zu dieser Zeit von Gem‰lden nicht besch‰digt oder verloschen war, hat sich auch noch erhalten, und ich half dem Glasmeister bei einem neuen Bau, mit der Bedingung, dafl er bunte Fenster herstellte.

Hatten jene Bilder und die Gedanken an das Leben des Heiligen meine Einbildungskraft besch‰ftigt, so dr¸ckte sich das alles nur viel lebhafter bei mir ein, als ich den Raum wieder f¸r ein Heiligtum ansehen, darin, besonders zur Sommerszeit, verweilen und ¸ber das, was ich sah oder vermutete, mit Mufle nachdenken konnte. Es lag eine unwiderstehliche Neigung in mir, diesem Heiligen nachzufolgen; und da sich ‰hnliche Begebenheiten nicht leicht herbeirufen lieflen, so wollte ich wenigstens von unten auf anfangen, ihm zu gleichen: wie ich denn wirklich durch den Gebrauch des lastbaren Tiers schon lange begonnen hatte. Das kleine Geschˆpf, dessen ich mich bisher bedient, wollte mir nicht mehr gen¸gen; ich suchte mir einen viel stattlicheren Tr‰ger aus, sorgte f¸r einen wohlgebauten Sattel, der zum Reiten wie zum Packen gleich bequem war. Ein paar neue Kˆrbe wurden angeschafft, und ein Netz von bunten Schn¸ren, Flocken und Quasten, mit klingenden Metallstiften untermischt, zierte den Hals des langohrigen Geschˆpfs, das sich nun bald neben seinem Musterbilde an der Wand zeigen durfte. Niemanden fiel ein, ¸ber mich zu spotten, wenn ich in diesem Aufzuge durchs Gebirge kam: denn man erlaubt ja gern der Wohlt‰tigkeit eine wunderliche Auflenseite.

Indessen hatte sich der Krieg, oder vielmehr die Folge desselben, unserer Gegend gen‰hert, indem verschiedenemal gef‰hrliche Rotten von verlaufenem Gesindel sich versammelten und hie und da manche Gewaltt‰tigkeit, manchen Mutwillen aus¸bten. Durch die gute Anstalt der Landmiliz, durch Streifungen und augenblickliche Wachsamkeit wurde dem ¸bel zwar bald gesteuert; doch verfiel man zu geschwind wieder in Sorglosigkeit, und ehe man sich’s versah, brachen wieder neue ¸beltaten hervor.

Lange war es in unserer Gegend still gewesen, und ich zog mit meinem Saumrosse ruhig die gewohnten Pfade, bis ich eines Tages ¸ber die frisch bes‰te Waldblˆfle kam und an dem Rande des Hegegrabens eine weibliche Gestalt sitzend oder vielmehr liegend fand. Sie schien zu schlafen oder ohnm‰chtig zu sein. Ich bem¸hte mich um sie, und als sie ihre schˆnen Augen aufschlug und sich in die Hˆhe richtete, rief sie mit Lebhaftigkeit aus: “Wo ist er? habt Ihr ihn gesehen?” Ich fragte: “Wen?” Sie versetzte: “Meinen Mann!” Bei ihrem hˆchst jugendlichen Ansehen war mir diese Antwort unerwartet; doch fuhr ich nur um desto lieber fort, ihr beizustehen und sie meiner Teilnahme zu versichern. Ich vernahm, dafl die beiden Reisenden sich wegen der beschwerlichen Fuhrwege von ihrem Wagen entfernt gehabt, um einen n‰hern Fuflweg einzuschlagen. In der N‰he seien sie von Bewaffneten ¸berfallen worden, ihr Mann habe sich fechtend entfernt, sie habe ihm nicht weit folgen kˆnnen und sei an dieser Stelle liegengeblieben, sie wisse nicht wie lange. Sie bitte mich inst‰ndig, sie zu verlassen und ihrem Manne nachzueilen. Sie richtete sich auf ihre F¸fle, und die schˆnste, liebensw¸rdigste Gestalt stand vor mir; doch konnte ich leicht bemerken, dafl sie sich in einem Zustande befinde, in welchem sie die Beih¸lfe meiner Mutter und der Frau Elisabeth wohl bald bed¸rfen mˆchte. Wir stritten uns eine Weile: denn ich verlangte, sie erst in Sicherheit zu bringen; sie verlangte zuerst Nachricht von ihrem Manne. Sie wollte sich von seiner Spur nicht entfernen, und alle meine Vorstellungen h‰tten vielleicht nicht gefruchtet, wenn nicht eben ein Kommando unserer Miliz, welche durch die Nachricht von neuen ¸beltaten rege geworden war, sich durch den Wald her bewegt h‰tte. Diese wurden unterrichtet, mit ihnen das Nˆtige verabredet, der Ort des Zusammentreffens bestimmt und so f¸r diesmal die Sache geschlichtet. Geschwind versteckte ich meine Kˆrbe in eine benachbarte Hˆhle, die mir schon ˆfters zur Niederlage gedient hatte, richtete meinen Sattel zum bequemen Sitz und hob, nicht ohne eine sonderbare Empfindung, die schˆne Last auf mein williges Tier, das die gewohnten Pfade sogleich von selbst zu finden wuflte und mir Gelegenheit gab, nebenher zu gehen.

Ihr denkt, ohne dafl ich es weitl‰ufig beschreibe, wie wunderlich mir zumute war. Was ich so lange gesucht, hatte ich wirklich gefunden. Es war mir, als wenn ich tr‰umte, und dann gleich wieder, als ob ich aus einem Traume erwachte. Diese himmlische Gestalt, wie ich sie gleichsam in der Luft schweben und vor den gr¸nen B‰umen sich her bewegen sah, kam mir jetzt wie ein Traum vor, der durch jene Bilder in der Kapelle sich in meiner Seele erzeugte. Bald schienen mir jene Bilder nur Tr‰ume gewesen zu sein, die sich hier in eine schˆne Wirklichkeit auflˆsten. Ich fragte sie manches, sie antwortete mir sanft und gef‰llig, wie es einer anst‰ndig Betr¸bten ziemt. Oft bat sie mich, wenn wir auf eine entblˆflte Hˆhe kamen, stillezuhalten, mich umzusehen, zu horchen. Sie bat mich mit solcher Anmut, mit einem solchen tief w¸nschenden Blick unter ihren langen schwarzen Augenwimpern hervor, dafl ich alles tun muflte, was nur mˆglich war; ja ich erkletterte eine freistehende, hohe, astlose Fichte. Nie war mir dieses Kunstst¸ck meines Handwerks willkommener gewesen; nie hatte ich mit mehr Zufriedenheit von ‰hnlichen Gipfeln, bei Festen und Jahrm‰rkten, B‰nder und seidene T¸cher heruntergeholt. Doch kam ich diesesmal leider ohne Ausbeute; auch oben sah und hˆrte ich nichts. Endlich rief sie selbst mir, herabzukommen, und winkte gar lebhaft mit der Hand; ja, als ich endlich beim Herabgleiten mich in ziemlicher Hˆhe losliefl und heruntersprang, tat sie einen Schrei, und eine s¸fle Freundlichkeit verbreitete sich ¸ber ihr Gesicht, da sie mich unbesch‰digt vor sich sah.

Was soll ich Euch lange von den hundert Aufmerksamkeiten unterhalten, womit ich ihr den ganzen Weg ¸ber angenehm zu werden, sie zu zerstreuen suchte. Und wie kˆnnte ich es auch! denn das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, dafl sie im Augenblick das Nichts zu Allem macht. F¸r mein Gef¸hl waren die Blumen, die ich ihr brach, die fernen Gegenden, die ich ihr zeigte, die Berge, die W‰lder, die ich ihr nannte, so viel kostbare Sch‰tze, die ich ihr zuzueignen dachte, um mich mit ihr in Verh‰ltnis zu setzen, wie man es durch Geschenke zu tun sucht.

Schon hatte sie mich f¸r das ganze Leben gewonnen, als wir in dem Orte vor der T¸re jener guten Frau anlangten und ich schon eine schmerzliche Trennung vor mir sah. Nochmals durchlief ich ihre ganze Gestalt, und als meine Augen an den Fufl herabkamen, b¸ckte ich mich, als wenn ich etwas am Gurte zu tun h‰tte, und k¸flte den niedlichsten Schuh, den ich in meinem Leben gesehen hatte, doch ohne dafl sie es merkte. Ich half ihr herunter, sprang die Stufen hinauf und rief in die Haust¸re: “Frau Elisabeth, Ihr werdet heimgesucht!” Die Gute trat hervor, und ich sah ihr ¸ber die Schultern zum Hause hinaus, wie das schˆne Wesen die Stufen heraufstieg, mit anmutiger Trauer und innerlichem Selbstgef¸hl, dann meine w¸rdige Alte freundlich umarmte und sich von ihr in das bessere Zimmer leiten liefl. Sie schlossen sich ein, und ich stand bei meinem Esel vor der T¸r, wie einer, der kostbare Waren abgeladen hat und wieder ein ebenso armer Treiber ist als vorher.” Der Lilienstengel

“Ich zauderte noch, mich zu entfernen, denn ich war unschl¸ssig, was ich tun sollte, als Frau Elisabeth unter die T¸re trat und mich ersuchte, meine Mutter zu ihr zu berufen, alsdann umherzugehen und wo mˆglich von dem Manne Nachricht zu geben. “Marie l‰flt Euch gar sehr darum ersuchen”, sagte sie. “Kann ich sie nicht noch einmal selbst sprechen?” versetzte ich.–“Das geht nicht an”, sagte Frau Elisabeth, und wir trennten uns. In kurzer Zeit erreichte ich unsere Wohnung; meine Mutter war bereit, noch diesen Abend hinabzugehen und der jungen Fremden h¸lfreich zu sein. Ich eilte nach dem Lande hinunter und hoffte, bei dem Amtmann die sichersten Nachrichten zu erhalten. Allein er war noch selbst in Ungewiflheit, und weil er mich kannte, hiefl er mich die Nacht bei ihm verweilen. Sie ward mir unendlich lang, und immer hatte ich die schˆne Gestalt vor Augen, wie sie auf dem Tiere schwankte und so schmerzhaft freundlich zu mir heruntersah. Jeden Augenblick hofft’ ich auf Nachricht. Ich gˆnnte und w¸nschte dem guten Ehemann das Leben, und doch mochte ich sie mir so gern als Witwe denken. Das streifende Kommando fand sich nach und nach zusammen, und nach mancherlei abwechselnden Ger¸chten zeigte sich endlich die Gewiflheit, dafl der Wagen gerettet, der ungl¸ckliche Gatte aber an seinen Wunden in dem benachbarten Dorfe gestorben sei. Auch vernahm ich, dafl nach der fr¸heren Abrede einige gegangen waren, diese Trauerbotschaft der Frau Elisabeth zu verk¸ndigen. Also hatte ich dort nichts mehr zu tun noch zu leisten, und doch trieb mich eine unendliche Ungeduld, ein unermeflliches Verlangen durch Berg und Wald wieder vor ihre T¸re. Es war Nacht, das Haus verschlossen, ich sah Licht in den Zimmern, ich sah Schatten sich an den Vorh‰ngen bewegen, und so safl ich gegen¸ber auf einer Bank, immer im Begriff anzuklopfen und immer von mancherlei Betrachtungen zur¸ckgehalten.

Jedoch was erz‰hl’ ich umst‰ndlich weiter, was eigentlich kein Interesse hat. Genug, auch am folgenden Morgen nahm man mich nicht ins Haus auf. Man wuflte die traurige Nachricht, man bedurfte meiner nicht mehr; man schickte mich zu meinem Vater, an meine Arbeit; man antwortete nicht auf meine Fragen; man wollte mich los sein.

Acht Tage hatte man es so mit mir getrieben, als mich endlich Frau Elisabeth hereinrief. “Tretet sachte auf, mein Freund”, sagte sie, “aber kommt getrost n‰her!” Sie f¸hrte mich in ein reinliches Zimmer, wo ich in der Ecke durch halbgeˆffnete Bettvorh‰nge meine Schˆne aufrecht sitzen sah. Frau Elisabeth trat zu ihr, gleichsam um mich zu melden, hub etwas vom Bette auf und brachte mir’s entgegen: in das weifleste Zeug gewickelt den schˆnsten Knaben. Frau Elisabeth hielt ihn gerade zwischen mich und die Mutter, und auf der Stelle fiel mir der Lilienstengel ein, der sich auf dem Bilde zwischen Maria und Joseph als Zeuge eines reinen Verh‰ltnisses aus der Erde hebt. Von dem Augenblicke an war mir aller Druck vom Herzen genommen; ich war meiner Sache, ich war meines Gl¸cks gewifl. Ich konnte mit Freiheit zu ihr treten, mit ihr sprechen, ihr himmlisches Auge ertragen, den Knaben auf den Arm nehmen und ihm einen herzlichen Kufl auf die Stirn dr¸cken.

“Wie danke ich Euch f¸r Eure Neigung zu diesem verwaisten Kinde!” sagte die Mutter. –Unbedachtsam und lebhaft rief ich aus: “Es ist keine Waise mehr, wenn Ihr wollt!”

Frau Elisabeth, kl¸ger als ich, nahm mir das Kind ab und wuflte mich zu entfernen.

Noch immer dient mir das Andenken jener Zeit zur gl¸cklichsten Unterhaltung, wenn ich unsere Berge und T‰ler zu durchwandern genˆtigt bin. Noch weifl ich mir den kleinsten Umstand zur¸ckzurufen, womit ich Euch jedoch, wie billig, verschone. Wochen gingen vor¸ber; Maria hatte sich erholt, ich konnte sie ˆfter sehen, mein Umgang mit ihr war eine Folge von Diensten und Aufmerksamkeiten. Ihre Familienverh‰ltnisse erlaubten ihr einen Wohnort nach Belieben. Erst verweilte sie bei Frau Elisabeth; dann besuchte sie uns, meiner Mutter und mir f¸r so vielen und freundlichen Beistand zu danken. Sie gefiel sich bei uns, und ich schmeichelte mir, es geschehe zum Teil um meinetwillen. Was ich jedoch so gern gesagt h‰tte und nicht zu sagen wagte, kam auf eine sonderbare und liebliche Weise zur Sprache, als ich sie in die Kapelle f¸hrte, die ich schon damals zu einem wohnbaren Saal umgeschaffen hatte. Ich zeigte und erkl‰rte ihr die Bilder, eins nach dem andern, und entwickelte dabei die Pflichten eines Pflegevaters auf eine so lebendige und herzliche Weise, dafl ihr die Tr‰nen in die Augen traten und ich mit meiner Bilderdeutung nicht zu Ende kommen konnte. Ich glaubte ihrer Neigung gewifl zu sein, ob ich gleich nicht stolz genug war, das Andenken ihres Mannes so schnell auslˆschen zu wollen. Das Gesetz verpflichtet die Witwen zu einem Trauerjahre, und gewifl ist eine solche Epoche, die den Wechsel aller irdischen Dinge in sich begreift, einem f¸hlenden Herzen nˆtig, um die schmerzlichen Eindr¸cke eines groflen Verlustes zu mildern. Man sieht die Blumen welken und die Bl‰tter fallen, aber man sieht auch Fr¸chte reifen und neue Knospen keimen. Das Leben gehˆrt den Lebendigen an, und wer lebt, mufl auf Wechsel gefaflt sein.

Ich sprach nun mit meiner Mutter ¸ber die Angelegenheit, die mir so sehr am Herzen lag. Sie entdeckte mir darauf, wie schmerzlich Marien der Tod ihres Mannes gewesen und wie sie sich ganz allein durch den Gedanken, dafl sie f¸r das Kind leben m¸sse, wieder aufgerichtet habe. Meine Neigung war den Frauen nicht unbekannt geblieben, und schon hatte sich Marie an die Vorstellung gewˆhnt, mit uns zu leben. Sie verweilte noch eine Zeitlang in der Nachbarschaft; dann zog sie zu uns herauf, und wir lebten noch eine Weile in dem frˆmmsten und gl¸cklichsten Brautstande. Endlich verbanden wir uns. Jenes erste Gef¸hl, das uns zusammengef¸hrt hatte, verlor sich nicht. Die Pflichten und Freuden des Pflegevaters und Vaters vereinigten sich; und so ¸berschritt zwar unsere kleine Familie, indem sie sich vermehrte, ihr Vorbild an Zahl der Personen, aber die Tugenden jenes Musterbildes an Treue und Reinheit der Gesinnungen wurden von uns heilig bewahrt und ge¸bt. Und so erhalten wir auch mit freundlicher Gewohnheit den ‰uflern Schein, zu dem wir zuf‰llig gelangt und der so gut zu unserm Innern paflt: denn ob wir gleich alle gute Fuflg‰nger und r¸stige Tr‰ger sind, so bleibt das lastbare Tier doch immer in unserer Gesellschaft, um eine oder die andere B¸rde fortzubringen, wenn uns ein Gesch‰ft oder Besuch durch diese Berge und T‰ler nˆtigt. Wie Ihr uns gestern angetroffen habt, so kennt uns die ganze Gegend, und wir sind stolz darauf, dafl unser Wandel von der Art ist, um jenen heiligen Namen und Gestalten, zu deren Nachahmung wir uns bekennen, keine Schande zu machen.”

Drittes Kapitel

Wilhelm an Natalien

Soeben schliefle ich eine angenehme, halb wunderbare Geschichte, die ich f¸r dich aus dem Munde eines gar wackern Mannes aufgeschrieben habe. Wenn es nicht ganz seine Worte sind, wenn ich hie und da meine Gesinnungen bei Gelegenheit der seinigen ausgedr¸ckt habe, so war es bei der Verwandtschaft, die ich hier mit ihm f¸hlte, ganz nat¸rlich. Jene Verehrung seines Weibes, gleicht sie nicht derjenigen, die ich f¸r dich empfinde? und hat nicht selbst das Zusammentreffen dieser beiden Liebenden etwas ‰hnliches mit dem unsrigen? Dafl er aber gl¸cklich genug ist, neben dem Tiere herzugehen, das die doppelt schˆne B¸rde tr‰gt, dafl er mit seinem Familienzug abends in das alte Klostertor eindringen kann, dafl er unzertrennlich von seiner Geliebten, von den Seinigen ist, dar¸ber darf ich ihn wohl im stillen beneiden. Dagegen darf ich nicht einmal mein Schicksal beklagen, weil ich dir zugesagt habe, zu schweigen und zu dulden, wie du es auch ¸bernommen hast.

Gar manchen schˆnen Zug des Zusammenseins dieser frommen und heitern Menschen mufl ich ¸bergehen: denn wie liefle sich alles schreiben! Einige Tage sind mir angenehm vergangen, aber der dritte mahnt mich nun, auf meinen weitern Weg bedacht zu sein.

Mit Felix hatte ich heut einen kleinen Handel: denn er wollte fast mich nˆtigen, einen meiner guten Vors‰tze zu ¸bertreten, die ich dir angelobt habe. Ein Fehler, ein Ungl¸ck, ein Schicksal ist mir’s nun einmal, dafl sich, ehe ich mich’s versehe, die Gesellschaft um mich vermehrt, dafl ich mir eine neue B¸rde auflade, an der ich nachher zu tragen und zu schleppen habe. Nun soll auf meiner Wanderschaft kein Dritter uns ein best‰ndiger Geselle werden. Wir wollen und sollen zu zwei sein und bleiben, und eben schien sich ein neues, eben nicht erfreuliches Verh‰ltnis ankn¸pfen zu wollen.

Zu den Kindern des Hauses, mit denen Felix sich spielend diese Tage her ergˆtzte, hatte sich ein kleiner, munterer, armer Junge gesellt, der sich eben brauchen und miflbrauchen liefl, wie es gerade das Spiel mit sich brachte, und sich sehr geschwind bei Felix in Gunst setzte. Und ich merkte schon an allerlei ƒuflerungen, dafl dieser sich einen Gespielen f¸r den n‰chsten Weg auserkoren hatte. Der Knabe ist hier in der Gegend bekannt, wird wegen seiner Munterkeit ¸berall geduldet und empf‰ngt gelegentlich ein Almosen. Mir aber gefiel er nicht, und ich ersuchte den Hausherrn, ihn zu entfernen. Das geschah auch, aber Felix war unwillig dar¸ber, und es gab eine kleine Szene.

Bei dieser Gelegenheit macht’ ich eine Entdeckung, die mir angenehm war. In der Ecke der Kapelle oder des Saals stand ein Kasten mit Steinen, welchen Felix, der seit unserer Wanderung durchs Gebirg eine gewaltsame Neigung zum Gestein bekommen, eifrig hervorzog und durchsuchte. Es waren schˆne, in die Augen fallende Dinge darunter. Unser Wirt sagte, das Kind kˆnne sich auslesen, was es wolle. Es sei dieses Gestein ¸berblieben von einer groflen Masse, die ein Fremder vor kurzem von hier weggesendet. Er nannte ihn Montan, und du kannst denken, dafl ich mich freute, diesen Namen zu hˆren, unter dem einer von unsern besten Freunden reist, dem wir so manches schuldig sind. Indem ich nach Zeit und Umst‰nden fragte, kann ich hoffen, ihn auf meiner Wanderung bald zu treffen.

Die Nachricht, dafl Montan sich in der N‰he befinde, hatte Wilhelmen nachdenklich gemacht. Er ¸berlegte, dafl es nicht blofl dem Zufall zu ¸berlassen sei, ob er einen so werten Freund wiedersehen solle, und erkundigte sich daher bei seinem Wirte, ob man nicht wisse, wohin dieser Reisende seinen Weg gerichtet habe. Niemand hatte davon n‰here Kenntnis, und schon war Wilhelm entschlossen, seine Wanderung nach dem ersten Plane fortzusetzen, als Felix ausrief: “Wenn der Vater nicht so eigen w‰re, wir wollten Montan schon finden.” –“Auf welche Weise?” fragte Wilhelm. Felix versetzte: “Der kleine Fitz sagte gestern, er wolle den Herrn wohl aufsp¸ren, der schˆne Steine bei sich habe und sich auch gut darauf verst¸nde.” Nach einigem Hin–und Widerreden entschlofl sich Wilhelm zuletzt, den Versuch zu machen und dabei auf den verd‰chtigen Knaben desto mehr Acht zu geben. Dieser war bald gefunden und brachte, da er vernahm, worauf es abgesehen sei, Schlegel und Eisen und einen t¸chtigen Hammer nebst einem S‰ckchen mit und lief in seiner bergm‰nnischen Tracht munter vorauf.

Der Weg ging seitw‰rts abermals bergauf. Die Kinder sprangen miteinander von Fels zu Fels, ¸ber Stock und Stein, ¸ber Bach und Quelle, und ohne einen Pfad vor sich zu haben, drang Fitz, bald rechts bald links blickend, eilig hinauf. Da Wilhelm und besonders der bepackte Bote nicht so schnell folgten, so machten die Knaben den Weg mehrmals vor–und r¸ckw‰rts und sangen und pfiffen. Die Gestalt einiger fremden B‰ume erregte die Aufmerksamkeit des Felix, der nunmehr mit den L‰rchen–und Zirbelb‰umen zuerst Bekanntschaft machte und von den wunderbaren Genzianen angezogen ward. Und so fehlte es der beschwerlichen Wanderung von einer Stelle zur andern nicht an Unterhaltung.

Der kleine Fitz stand auf einmal still und horchte. Er winkte die andern herbei: “Hˆrt ihr pochen?” sprach er. “Es ist der Schall eines Hammers, der den Fels trifft.” –“Wir hˆren’s”, versetzten die andern.–“Das ist Montan!” sagte er, “oder jemand, der uns von ihm Nachricht geben kann.”–Als sie dem Schalle nachgingen, der sich von Zeit zu Zeit wiederholte, trafen sie auf eine Waldblˆfle und sahen einen steilen, hohen, nackten Felsen ¸ber alles hervorragen, die hohen W‰lder selbst tief unter sich lassend. Auf dem Gipfel erblickten sie eine Person. Sie stand zu entfernt, um erkannt zu werden. Sogleich machten sich die Kinder auf, die schroffen Pfade zu erklettern. Wilhelm folgte mit einiger Beschwerlichkeit, ja Gefahr: denn wer zuerst einen Felsen hinaufsteigt, geht immer sicherer, weil er sich die Gelegenheit aussucht; einer, der nachfolgt, sieht nur, wohin jener gelangt ist, aber nicht wie. Die Knaben erreichten bald den Gipfel, und Wilhelm vernahm ein lautes Freudengeschrei. “Es ist Jarno!” rief Felix seinem Vater entgegen, und Jarno trat sogleich an eine schroffe Stelle, reichte seinem Freunde die Hand und zog ihn aufw‰rts. Sie umarmten und bewillkommten sich in der freien Himmelsluft mit Entz¸cken.

Kaum aber hatten sie sich losgelassen, als Wilhelm ein Schwindel ¸berfiel, nicht sowohl um seinetwillen, als weil er die Kinder ¸ber dem ungeheuren Abgrunde h‰ngen sah. Jarno bemerkte es und hiefl alle sogleich niedersetzen. “Es ist nichts nat¸rlicher”, sagte er, “als dafl uns vor einem groflen Anblick schwindelt, vor dem wir uns unerwartet befinden, um zugleich unsere Kleinheit und unsere Grˆfle zu f¸hlen. Aber es ist ja ¸berhaupt kein echter Genufl als da, wo man erst schwindeln mufl.”

“Sind denn das da unten die groflen Berge, ¸ber die wir gestiegen sind?” fragte Felix. “Wie klein sehen sie aus! Und hier”, fuhr er fort, indem er ein St¸ckchen Stein vom Gipfel loslˆste, “ist ja schon das Katzengold wieder; das ist ja wohl ¸berall?”–“Es ist weit und breit”, versetzte Jarno; “und da du nach solchen Dingen fragst, so merke dir, dafl du gegenw‰rtig auf dem ‰ltesten Gebirge, auf dem fr¸hesten Gestein dieser Welt sitzest.”–“Ist denn die Welt nicht auf einmal gemacht?” fragte Felix.–“Schwerlich”, versetzte Montan; “gut Ding will Weile haben.”–“Da unten ist also wieder anderes Gestein”, sagte Felix, “und dort wieder anderes, und immer wieder anderes!” indem er von den n‰chsten Bergen auf die entfernteren und so in die Ebene hinab wies.

Es war ein sehr schˆner Tag, und Jarno liefl sie die herrliche Aussicht im einzelnen betrachten. Noch standen hie und da mehrere Gipfel, dem ‰hnlich, worauf sie sich befanden. Ein mittleres Gebirg schien heranzustreben, aber erreichte noch lange die Hˆhe nicht. Weiter hin verfl‰chte es sich immer mehr, doch zeigten sich wieder seltsam vorspringende Gestalten. Endlich wurden auch in der Ferne die Seen, die Fl¸sse sichtbar, und eine fruchtreiche Gegend schien sich wie ein Meer auszubreiten. Zog sich der Blick wieder zur¸ck, so drang er in schauerliche Tiefen, von Wasserf‰llen durchrauscht, labyrinthisch miteinander zusammenh‰ngend.

Felix ward des Fragens nicht m¸de und Jarno gef‰llig genug, ihm jede Frage zu beantworten; wobei jedoch Wilhelm zu bemerken glaubte, dafl der Lehrer nicht durchaus wahr und aufrichtig sei. Daher, als die unruhigen Knaben weiterkletterten, sagte Wilhelm zu seinem Freunde: “Du hast mit dem Kinde ¸ber diese Sachen nicht gesprochen, wie du mit dir selber dar¸ber sprichst.”–“Das ist auch eine starke Forderung”, versetzte Jarno. “Spricht man ja mit sich selbst nicht immer, wie man denkt, und es ist Pflicht, andern nur dasjenige zu sagen, was sie aufnehmen kˆnnen. Der Mensch versteht nichts, als was ihm gem‰fl ist. Die Kinder an der Gegenwart festzuhalten, ihnen eine Benennung, eine Bezeichnung zu ¸berliefern, ist das Beste, was man tun kann. Sie fragen ohnehin fr¸h genug nach den Ursachen.”

“Es ist ihnen nicht zu verdenken”, versetzte Wilhelm. “Die Mannigfaltigkeit der Gegenst‰nde verwirrt jeden, und es ist bequemer, anstatt sie zu entwickeln, geschwind zu fragen: woher? und wohin?”–“Und doch kann man”, sagte Jarno, “da Kinder die Gegenst‰nde nur oberfl‰chlich sehen, mit ihnen vom Werden und vom Zweck auch nur oberfl‰chlich reden.”–“Die meisten Menschen”, erwiderte Wilhelm, “bleiben lebensl‰nglich in diesem Falle und erreichen nicht jene herrliche Epoche, in der uns das Faflliche gemein und albern vorkommt. “–“Man kann sie wohl herrlich nennen”, versetzte Jarno, “denn es ist ein Mittelzustand zwischen Verzweiflung und Vergˆtterung.”–“Lafl uns bei dem Knaben verharren”, sagte Wilhelm, “der mir nun vor allem angelegen ist. Er hat nun einmal Freude an dem Gestein gewonnen, seitdem wir auf der Reise sind. Kannst du mir nicht so viel mitteilen, dafl ich ihm, wenigstens auf eine Zeit, genugtue?”–“Das geht nicht an”, sagte Jarno. “In einem jeden neuen Kreise mufl man zuerst wieder als Kind anfangen, leidenschaftliches Interesse auf die Sache werfen, sich erst an der Schale freuen, bis man zu dem Kerne zu gelangen das Gl¸ck hat.”

“So sage mir denn”, versetzte Wilhelm, “wie bist du zu diesen Kenntnissen und Einsichten gelangt? denn es ist doch so lange noch nicht her, dafl wir auseinandergingen!”–“Mein Freund”, versetzte Jarno, “wir muflten uns resignieren, wo nicht f¸r immer, doch f¸r eine gute Zeit. Das erste, was einem t¸chtigen Menschen unter solchen Umst‰nden einf‰llt, ist, ein neues Leben zu beginnen. Neue Gegenst‰nde sind ihm nicht genug: diese taugen nur zur Zerstreuung; er fordert ein neues Ganze und stellt sich gleich in dessen Mitte. “–“Warum denn aber”, fiel Wilhelm ihm ein, “gerade dieses Allerseltsamste, diese einsamste aller Neigungen?”–“Eben deshalb”, rief Jarno, “weil sie einsiedlerisch ist. Die Menschen wollt’ ich meiden. Ihnen ist nicht zu helfen, und sie hindern uns, dafl man sich selbst hilft. Sind sie gl¸cklich, so soll man sie in ihren Albernheiten gew‰hren lassen; sind sie ungl¸cklich, so soll man sie retten, ohne diese Albernheiten anzutasten; und niemand fragt jemals, ob du gl¸cklich oder ungl¸cklich bist.”–“Es steht noch nicht so ganz schlimm mit ihnen”, versetzte Wilhelm l‰chelnd.– “Ich will dir dein Gl¸ck nicht absprechen”, sagte Jarno. “Wandre nur hin, du zweiter Diogenes! Lafl dein L‰mpchen am hellen Tage nicht verlˆschen! Dort hinabw‰rts liegt eine neue Welt vor dir; aber ich will wetten, es geht darin zu wie in der alten hinter uns. Wenn du nicht kuppeln und Schulden bezahlen kannst, so bist du unter ihnen nichts n¸tze. “–“Unterhaltender scheinen sie mir doch”, versetzte Wilhelm, “als deine starren Felsen.”–“Keineswegs”, versetzte Jarno, “denn diese sind wenigstens nicht zu begreifen.”–“Du suchst eine Ausrede”, versetzte Wilhelm, “denn es ist nicht in deiner Art, dich mit Dingen abzugeben, die keine Hoffnung ¸briglassen, sie zu begreifen. Sei aufrichtig und sage mir, was du an diesen kalten und starren Liebhabereien gefunden hast?”–“Das ist schwer von jeder Liebhaberei zu sagen, besonders von dieser.” Dann besann er sich einen Augenblick und sprach: “Buchstaben mˆgen eine schˆne Sache sein, und doch sind sie unzul‰nglich, die Tˆne auszudr¸cken; Tˆne kˆnnen wir nicht entbehren, und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den eigentlichen Sinn verlauten zu lassen; am Ende kleben wir am Buchstaben und am Ton und sind nicht besser dran, als wenn wir sie ganz entbehrten; was wir mitteilen, was uns ¸berliefert wird, ist immer nur das Gemeinste, der M¸he gar nicht wert.”

“Du willst mir ausweichen”, sagte der Freund; “denn was soll das zu diesen Felsen und Zacken?”–“Wenn ich nun aber”, versetzte jener, “eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, h‰ttest du etwas dagegen?”–“Nein, aber es scheint mir ein weitl‰ufiges Alphabet.”–“Enger, als du denkst; man mufl es nur kennen lernen wie ein anderes auch. Die Natur hat nur eine Schrift, und ich brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien herumzuschleppen. Hier darf ich nicht f¸rchten, wie wohl geschieht, wenn ich mich lange und liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, dafl ein scharfer Kritikus kommt und mir versichert, das alles sei nur untergeschoben. “– L‰chelnd versetzte der Freund: “Und doch wird man auch hier deine Lesarten streitig machen.”–“Eben deswegen”, sagte jener, “red’ ich mit niemanden dar¸ber und mag auch mit dir, eben weil ich dich liebe, das schlechte Zeug von ˆden Worten nicht weiter wechseln und betrieglich austauschen.”

Viertes Kapitel

Beide Freunde waren, nicht ohne Sorgfalt und M¸he, herabgestiegen, um die Kinder zu erreichen, die sich unten an einem schattigen Orte gelagert hatten. Fast eifriger als der Mundvorrat wurden die gesammelten Steinmuster von Montan und Felix ausgepackt. Der letztere hatte viel zu fragen, der erstere viel zu benennen. Felix freute sich, dafl jener die Namen von allen wisse, und behielt sie schnell im Ged‰chtnis. Endlich brachte er noch einen hervor und fragte: “Wie heiflt denn dieser?” Montan betrachtete ihn mit Verwunderung und sagte: “Wo habt ihr den her?” Fitz antwortete schnell: “Ich habe ihn gefunden, er ist aus diesem Lande.”–“Er ist nicht aus dieser Gegend”, versetzte Montan. Fitz freute sich, den ¸berlegenen Mann in einigem Zweifel zu sehen.–“Du sollst einen Dukaten haben”, sagte Montan, “wenn du mich an die Stelle bringst, wo er ansteht.”– “Der ist leicht zu verdienen”, versetzte Fitz, “aber nicht gleich.”– “So bezeichne mir den Ort genau, dafl ich ihn gewifl finden kann. Das ist aber unmˆglich: denn es ist ein Kreuzstein, der von St. Jakob in Compostell kommt und den ein Fremder verloren hat, wenn du ihn nicht gar entwendet hast, da er so wunderbar aussieht.” –“Gebt Euren Dukaten”, sagte Fitz, “dem Reisegef‰hrten in Verwahrung, und ich will aufrichtig bekennen, wo ich den Stein her habe. In der verfallenen Kirche zu St. Joseph befindet sich ein gleichfalls verfallener Altar. Unter den auseinandergebrochenen obern Steinen desselben entdeckt’ ich eine Schicht von diesem Gestein, das jenen zur Grundlage diente, und schlug davon so viel herunter, als ich habhaft werden konnte. W‰lzte man die obern Steine weg, so w¸rde gewifl noch viel davon zu finden sein.”

“Nimm dein Goldst¸ck”, versetzte Montan, “du verdienst es f¸r diese Entdeckung. Sie ist artig genug. Man freut sich mit Recht, wenn die leblose Natur ein Gleichnis dessen, was wir lieben und verehren, hervorbringt. Sie erscheint uns in Gestalt einer Sibylle, die ein Zeugnis dessen, was von der Ewigkeit her beschlossen ist und erst in der Zeit wirklich werden soll, zum voraus niederlegt. Hierauf als auf eine wundervolle, heilige Schicht hatten die Priester ihren Altar gegr¸ndet.”

Wilhelm, der eine Zeitlang zugehˆrt und bemerkt hatte, dafl manche Benennung, manche Bezeichnung wiederkam, wiederholte seinen schon fr¸her ge‰uflerten Wunsch, dafl Montan ihm so viel mitteilen mˆge, als er zum ersten Unterricht des Knaben nˆtig h‰tte.–“Gib das auf”, versetzte Montan. “Es ist nichts schrecklicher als ein Lehrer, der nicht mehr weifl, als die Sch¸ler allenfalls wissen sollen. Wer andere lehren will, kann wohl oft das Beste verschweigen, was er weifl, aber er darf nicht halbwissend sein.” “Wo sind denn aber so vollkommene Lehrer zu finden?”– “Die triffst du sehr leicht”, versetzte Montan. “Wo denn?” sagte Wilhelm mit einigem Unglauben. –“Da, wo die Sache zu Hause ist, die du lernen willst”, versetzte Montan. “Den besten Unterricht zieht man aus vollst‰ndiger Umgebung. Lernst du nicht fremde Sprachen in den L‰ndern am besten, wo sie zu Hause sind? wo nur diese und keine andere weiter dein Ohr ber¸hrt?”–“Und so w‰rst du”, fragte Wilhelm, “zwischen den Gebirgen zur Kenntnis der Gebirge gelangt?” “Das versteht sich.”–“Ohne mit Menschen umzugehen?” fragte Wilhelm.– “Wenigstens nur mit Menschen”, versetzte jener, “die bergartig waren. Da, wo Pygm‰en, angereizt durch Metalladern, den Fels durchw¸hlen, das Innere der Erde zug‰nglich machen und auf alle Weise die schwersten Aufgaben zu lˆsen suchen, da ist der Ort, wo der wiflbegierige Denkende seinen Platz nehmen soll. Er sieht handeln, tun, l‰flt geschehen und erfreut sich des Gegl¸ckten und Miflgl¸ckten. Was n¸tzt, ist nur ein Teil des Bedeutenden. Um einen Gegenstand ganz zu besitzen, zu beherrschen, mufl man ihn um sein selbst willen studieren. Indem ich aber vom Hˆchsten und Letzten spreche, wozu man sich erst sp‰t durch vieles und reiches Gewahrwerden emporhebt, seh’ ich die Knaben vor uns, bei denen klingt es ganz anders. Jede Art von T‰tigkeit mˆchte das Kind ergreifen, weil alles leicht aussieht, was vortrefflich ausge¸bt wird. Aller Anfang ist schwer! Das mag in einem gewissen Sinne wahr sein; allgemeiner aber kann man sagen: aller Anfang ist leicht, und die letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen.” Wilhelm, der indessen nachgedacht hatte, sagte zu Montan: “Solltest du wirklich zu der ¸berzeugung gegriffen haben, dafl die s‰mtlichen T‰tigkeiten, wie in der Aus¸bung, so auch im Unterricht zu sondern seien?”–“Ich weifl mir nichts anderes noch Besseres”, erwiderte jener. “Was der Mensch leisten soll, mufl sich als ein zweites Selbst von ihm ablˆsen, und wie kˆnnte das mˆglich sein, w‰re sein erstes Selbst nicht ganz davon durchdrungen?”–“Man hat aber doch eine vielseitige Bildung f¸r vorteilhaft und notwendig gehalten.”–“Sie kann es auch sein zu ihrer Zeit”, versetzte jener; “Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann, dem eben jetzt genug Raum gegeben ist. Ja, es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, f¸r sich und andere in diesem Sinne wirkt. Bei gewissen Dingen versteht sich’s durchaus und sogleich. ¸be dich zum t¸chtigen Violinisten und sei versichert, der Kapellmeister wird dir deinen Platz im Orchester mit Gunst anweisen. Mache ein Organ aus dir und erwarte, was f¸r eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde. Lafl uns abbrechen! Wer es nicht glauben will, der gehe seinen Weg, auch der gelingt zuweilen; ich aber sage: von unten hinauf zu dienen, ist ¸berall nˆtig. Sich auf ein Handwerk zu beschr‰nken, ist das Beste. F¸r den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, f¸r den besseren eine Kunst, und der beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird.”

Dieses Gespr‰ch, das wir nur skizzenhaft wiederliefern, verzog sich bis gegen Sonnenuntergang, der, so herrlich er war, doch die Gesellschaft nachdenken liefl, wo man die Nacht zubringen wollte: “Unter Dach w¸flte ich euch nicht zu f¸hren”, sagte Fitz; “wollt ihr aber bei einem guten alten Kˆhler, an warmer St‰tte die Nacht versitzen oder verliegen, so seid ihr willkommen.” Und so folgten sie ihm alle durch wundersame Pfade zum stillen Ort, wo sich ein jeder bald einheimisch f¸hlen sollte.

In der Mitte eines beschr‰nkten Waldraums lag dampfend und w‰rmend der wohlgewˆlbte Kohlenmeiler, an der Seite die H¸tte von Tannenreisern, ein helles Feuerchen daneben. Man setzte sich, man richtete sich ein. Die Kinder waren sogleich um die Kˆhlersfrau gesch‰ftig, welche, gastfreundlich bem¸ht, erhitzte Brotschnitten mit Butter zu tr‰nken und durchziehen zu lassen, kˆstlich fette Bissen den hungrig L¸sternen bereitete.

Indes nun darauf die Knaben durch die kaum erhellten Fichtenst‰mme Versteckens spielten, wie Wˆlfe heulten, wie Hunde bellten, so dafl auch wohl ein herzhafter Wanderer dar¸ber h‰tte erschrecken mˆgen, besprachen sich die Freunde vertraulich ¸ber ihre Zust‰nde. Nun aber gehˆrte zu den sonderbaren Verpflichtungen der Entsagenden auch die: dafl sie, zusammentreffend, weder vom Vergangenen noch K¸nftigen sprechen durften, nur das Gegenw‰rtige sollte sie besch‰ftigen.

Jarno, der von bergm‰nnischen Unternehmungen und den dazu erforderlichen Kenntnissen und Tatf‰higkeiten den Sinn voll hatte, trug Wilhelmen auf das genaueste und vollst‰ndigste mit Leidenschaft vor, was er sich alles in beiden Weltteilen von solchen Kunsteinsichten und Fertigkeiten verspreche; wovon sich jedoch der Freund, der immer nur im menschlichen Herzen den wahren Schatz gesucht, kaum einen Begriff machen konnte, vielmehr zuletzt l‰chelnd erwiderte: “So stehst du ja mit dir selbst im Widerspruch, indem du erst in deinen ‰ltern Tagen dasjenige zu treiben anf‰ngst, wozu man von Jugend auf sollte eingeleitet sein.” “Keineswegs!” erwiderte jener; “denn eben dafl ich in meiner Kindheit bei einem liebenden Oheim, einem hohen Bergbeamten, erzogen wurde, dafl ich mit den Pochjungen grofl geworden bin, auf dem Berggraben mit ihnen kleine Rindenschiffchen niederfahren liefl, das hat mich zur¸ck in diesen Kreis gef¸hrt, wo ich mich nun wieder behaglich und verj¸ngt f¸hle. Schwerlich kann dieser Kˆhlerdampf dir zusagen wie mir, der ich ihn von Kindheit auf als Weihrauch einzuschl¸rfen gewohnt bin. Ich habe viel in der Welt versucht und immer dasselbe gefunden: in der Gewohnheit ruht das einzige Behagen des Menschen; selbst das Unangenehme, woran wir uns gewˆhnten, vermissen wir ungern. Ich qu‰lte mich einmal gar lange mit einer Wunde, die nicht heilen wollte, und als ich endlich genas, war es mir hˆchst unangenehm, als der Chirurg ausblieb, sie nicht mehr verband und das Fr¸hst¸ck nicht mehr mit mir einnahm.”

“Ich mˆchte aber doch”, versetzte Wilhelm, “meinem Sohn einen freieren Blick ¸ber die Welt verschaffen, als ein beschr‰nktes Handwerk zu geben vermag. Man umgrenze den Menschen, wie man wolle, so schaut er doch zuletzt in seiner Zeit umher; und wie kann er die begreifen, wenn er nicht einigermaflen weifl, was vorhergegangen ist. Und m¸flte er nicht mit Erstaunen in jeden Gew¸rzladen eintreten, wenn er keinen Begriff von den L‰ndern h‰tte, woher diese unentbehrlichen Seltsamkeiten bis zu ihm gekommen sind?”

“Wozu die Umst‰nde?” versetzte Jarno; “lese er die Zeitungen wie jeder Philister und trinke Kaffee wie jede alte Frau. Wenn du es aber doch nicht lassen kannst und auf eine vollkommene Bildung so versessen bist, so begreif’ ich nicht, wie du so blind sein kannst, wie du noch lange suchen magst, wie du nicht siehst, dafl du dich ganz in der N‰he einer vortrefflichen Erziehungsanstalt befindest.”–“In der N‰he?” sagte Wilhelm und sch¸ttelte den Kopf. “Freilich!” versetzte jener; “was siehst du hier?”–“Wo denn?”–“Grad hier vor der Nase.” Jarno streckte seinen Zeigefinger aus und deutete und rief ungeduldig: “Was ist denn das?” –“Nun denn!” sagte Wilhelm, “ein Kohlenmeiler; aber was soll das hierzu?”–“Gut! endlich! ein Kohlenmeiler! Wie verf‰hrt man, um ihn anzurichten?”–“Man stellt Scheite an–und ¸bereinander.”– “Wenn das getan ist, was geschieht ferner?”–“Wie mir scheint”, sagte Wilhelm, “willst du auf sokratische Weise mir die Ehre antun, mir begreiflich zu machen, mich bekennen zu lassen, dafl ich ‰uflerst absurd und dickstirnig sei.”

“Keineswegs!” versetzte Jarno; “fahre fort, mein Freund, p¸nktlich zu antworten. Also! was geschieht nun, wenn der regelm‰flige Holzstofl dicht und doch luftig geschichtet worden?”–“Nun, denn! man z¸ndet ihn an.”– “Und wenn er nun durchaus entz¸ndet ist, wenn die Flamme durch jede Ritze durchschl‰gt, wie betr‰gt man sich? l‰flt man’s fortbrennen?”– “Keineswegs! man deckt eilig mit Rasen und Erde, mit Kohlengestiebe und was man bei der Hand hat, die durch und durch dringende Flamme zu.”–“Um sie auszulˆschen?” –“Keineswegs! um sie zu d‰mpfen.”–“Und also l‰flt man ihr so viel Luft als nˆtig, dafl sich alles mit Glut durchziehe, damit alles recht gar werde. Alsdann verschlieflt man jede Ritze, verhindert jeden Ausbruch, damit ja alles nach und nach in sich selbst verlˆsche, verkohle, verk¸hle, zuletzt auseinandergezogen als verk‰ufliche Ware an Schmied und Schlosser, an B‰cker und Koch abgelassen und, wenn es zu Nutzen und Frommen der lieben Christenheit genugsam gedient, als Asche von W‰scherinnen und Seifensiedern verbraucht werde.”

“Nun”, versetzte Wilhelm lachend, “in Bezug auf dieses Gleichnis, wie siehst du dich denn an?”–“Das ist nicht schwer zu sagen”, erwiderte Jarno, “ich halte mich f¸r einen alten Kohlenkorb t¸chtig b¸chener Kohlen, dabei aber erlaub’ ich mir die Eigenheit, mich nur um mein selbst willen zu verbrennen, deswegen ich denn den Leuten gar wunderlich vorkomme.”–“Und mich?” sagte Wilhelm, “wie wirst du mich behandeln?”–“Jetzt besonders”, sagte Jarno, “seh’ ich dich an wie einen Wanderstab, der die wunderliche Eigenschaft hat, in jeder Ecke zu gr¸nen, wo man ihn hinstellt, nirgends aber Wurzel zu fassen. Nun male dir das Gleichnis weiter aus und lerne begreifen, wenn weder Fˆrster noch G‰rtner, weder Kˆhler noch Tischer, noch irgendein Handwerker aus dir etwas zu machen weifl.”

Unter solchem Gespr‰ch nun zog Wilhelm, ich weifl nicht zu welchem Gebrauch, etwas aus dem Busen, das halb wie eine Brieftasche, halb wie ein Besteck aussah und von Montan als ein Altbekanntes angesprochen wurde. Unser Freund leugnete nicht, dafl er es als eine Art von Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal hange gewissermaflen von dessen Besitz ab.

Was es aber gewesen, d¸rfen wir an dieser Stelle dem Leser noch nicht vertrauen, so viel aber m¸ssen wir sagen, dafl hieran sich ein Gespr‰ch ankn¸pfte, dessen Resultate sich endlich dahin ergaben, dafl Wilhelm bekannte: wie er schon l‰ngst geneigt sei, einem gewissen besondern Gesch‰ft, einer ganz eigentlich n¸tzlichen Kunst sich zu widmen, vorausgesetzt, Montan werde sich bei den Verb¸ndeten dahin verwenden, dafl die l‰stigste aller Lebensbedingungen, nicht l‰nger als drei Tage an einem Orte zu verweilen, baldigst aufgehoben und ihm vergˆnnt werde, sich zu Erreichung seines Zweckes da oder dort, wie es ihm belieben mˆge, aufzuhalten. Dies versprach Montan zu bewirken, nachdem jener feierlich angelobt hatte, die vertraulich ausgesprochene Absicht unabl‰ssig zu verfolgen und den einmal gefaflten Vorsatz auf das treulichste festzuhalten.

Dieses alles ernstlich durchsprechend und einander unabl‰ssig erwidernd, waren sie von ihrer Nachtst‰tte, wo sich eine wunderlich verd‰chtige Gesellschaft nach und nach versammelt hatte, bei Tagesanbruch aus dem Wald auf eine Blˆfle gekommen, an der sie einiges Wild antrafen, das besonders dem frˆhlich auffassenden Felix viel Freude machte. Man bereitete sich zum Scheiden, denn hier deuteten die Pfade nach verschiedenen Himmelsgegenden. Fitz ward nun ¸ber die verschiedenen Richtungen befragt, der aber zerstreut schien und gegen seine Gewohnheit verworrene Antworten gab.

“Du bist ¸berhaupt ein Schelm”, sagte Jarno; “diese M‰nner heute nacht, die sich um uns herum setzten, kanntest du alle. Es waren Holzhauer und Bergleute, das mochte hingehen, aber die letzten halt’ ich f¸r Schmuggler, f¸r Wilddiebe, und der lange, ganz letzte, der immer Zeichen in den Sand schrieb und den die andern mit einiger Achtung behandelten, war gewifl ein Schatzgr‰ber, mit dem du unter der Decke spielst.”

“Es sind alles gute Leute”, liefl Fitz sich darauf vernehmen; “sie n‰hren sich k¸mmerlich, und wenn sie manchmal etwas tun, was die andern verbieten, so sind es arme Teufel, die sich selbst etwas erlauben m¸ssen, nur um zu leben.”

Eigentlich aber war der kleine, schelmische Junge, da er Vorbereitungen der Freunde, sich zu trennen, bemerkte, nachdenklich; er ¸berlegte sich etwas im stillen, denn er stand zweifelhaft, welchem von beiden Teilen er folgen sollte. Er berechnete seinen Vorteil: Vater und Sohn gingen leichtsinnig mit dem Silber um, Jarno aber gar mit dem Golde; diesen nicht loszulassen, hielt er f¸rs beste. Daher ergriff er sogleich eine dargebotene Gelegenheit, und als im Scheiden Jarno zu ihm sagte: “Nun, wenn ich nach St. Joseph komme, will ich sehen, ob du ehrlich bist, ich werde den Kreuzstein und den verfallenen Altar suchen.”–“Ihr werdet nichts finden”, sagte Fitz, “und ich werde doch ehrlich bleiben; der Stein ist dorther, aber ich habe s‰mtliche St¸cke weggeschafft und sie hier oben verwahrt. Es ist ein kostbares Gestein, ohne dasselbe l‰flt sich kein Schatz heben; man bezahlt mir ein kleines St¸ck gar teuer. Ihr hattet ganz recht, daher kam meine Bekanntschaft mit dem hagern Manne.”

Nun gab es neue Verhandlungen, Fitz verpflichtete sich an Jarno, gegen einen nochmaligen Dukaten, in m‰fliger Entfernung ein t¸chtiges St¸ck dieses seltenen Minerals zu verschaffen, wogegen er den Gang nach dem Riesenschlofl abriet; weil aber dennoch Felix darauf bestand, dem Boten einsch‰rfte, die Reisenden nicht zu tief hineinzulassen, denn niemand finde sich aus diesen Hˆhlen und Kl¸ften jemals wieder heraus. Man schied, und Fitz versprach, zu guter Zeit in den Hallen des Riesenschlosses wieder einzutreffen.

Der Bote schritt voran, die beiden folgten; jener war aber kaum den Berg eine Strecke hinaufgestiegen, als Felix bemerkte, man gehe nicht den Weg, auf welchen Fitz gedeutet habe. Der Bote versetzte jedoch: “Ich mufl es besser wissen! Denn erst in diesen Tagen hat ein gewaltiger Sturm die n‰chste Waldstrecke niedergest¸rzt; die kreuzweis ¸bereinandergeworfenen B‰ume versperren diesen Weg: folgt mir, ich bring’ euch an Ort und Stelle.” Felix verk¸rzte sich den beschwerlichen Pfad durch lebhaften Schritt und Sprung von Fels zu Fels und freute sich ¸ber sein erworbenes Wissen, dafl er nun von Granit zu Granit h¸pfe.

Und so ging es aufw‰rts, bis er endlich auf zusammengest¸rzten schwarzen S‰ulen stehenblieb und auf einmal das Riesenschlofl vor Augen sah. W‰nde und S‰ulen ragten auf einem einsamen Gipfel hervor, geschlossene S‰ulenw‰nde bildeten Pforten an Pforten, G‰nge nach G‰ngen. Ernstlich warnte der Bote, sich nicht hineinzuverlieren, und an einem sonnigen, ¸ber weite Aussicht gebietenden Flecke, die Aschenspur seiner Vorg‰nger bemerkend, war er gesch‰ftig, ein prasselndes Feuer zu unterhalten. Indem er nun an solchen Stellen eine frugale Kost zu bereiten schon gewohnt war und Wilhelm in der himmelweiten Aussicht von der Gegend n‰her Erkundigung einzog, durch die er zu wandern gedachte, war Felix verschwunden; er muflte sich in die Hˆhle verloren haben, auf Rufen und Pfeifen antwortete er nicht und kam nicht wieder zum Vorschein.

Wilhelm aber, der, wie es einem Pilger ziemt, auf manche F‰lle vorbereitet war, brachte aus seiner Jagdtasche einen Knaul Bindfaden hervor, band ihn sorgf‰ltig fest und vertraute sich dem leitenden Zeichen, an dem er seinen Sohn hineinzuf¸hren schon die Absicht gehabt hatte. So ging er vorw‰rts und liefl von Zeit zu Zeit sein Pfeifchen erschallen, lange vergebens. Endlich aber erklang aus der Tiefe ein schneidender Pfiff, und bald darauf schaute Felix am Boden aus einer Kluft des schwarzen Gesteines hervor. “Bist du allein?” lispelte bedenklich der Knabe.–“Ganz allein!” versetzte der Vater.–“Reiche mir Scheite! reiche mir Kn¸ttel!” sagte der Knabe, empfing sie und verschwand, nachdem er ‰ngstlich gerufen hatte: “Lafl niemand in die Hˆhle!” Nach einiger Zeit aber tauchte er wieder auf, forderte noch l‰ngeres und st‰rkeres Holz. Der Vater harrte sehnlich auf die Lˆsung dieses R‰tsels. Endlich erhub sich der Verwegene schnell aus der Spalte und brachte ein K‰stchen mit, nicht grˆfler als ein kleiner Oktavband, von pr‰chtigem altem Ansehn, es schien von Gold zu sein, mit Schmelz geziert. “Stecke es zu dir, Vater, und lafl es niemand sehn!” Er erz‰hlte darauf mit Hast, wie er, aus innerem geheimem, Antrieb, in jene Spalte gekrochen sei und unten einen d‰mmerhellen Raum gefunden habe. In demselben stand, wie er sagte, ein grofler eiserner Kasten, zwar nicht verschlossen, dessen Deckel jedoch nicht zu erheben, kaum zu l¸ften war. Um nun dar¸ber Herr zu werden, habe er die Kn¸ttel verlangt, sie teils als St¸tzen unter den Deckel gestellt, teils als Keile dazwischengeschoben, zuletzt habe er den Kasten zwar leer, in einer Ecke desselben jedoch das Prachtb¸chlein gefunden. Sie versprachen sich beiderseits deshalb ein tiefes Geheimnis.

Mittag war vor¸ber, etwas hatte man genossen, Fitz war noch nicht, wie er versprochen, gekommen; Felix aber, besonders unruhig, sehnte sich von dem Orte weg, wo der Schatz irdischer oder unterirdischer Wiederforderung ausgesetzt schien. Die S‰ulen kamen ihm schw‰rzer, die Hˆhlen tiefer vor. Ein Geheimnis war ihm aufgeladen, ein Besitz, rechtm‰flig oder unrechtm‰flig? sicher oder unsicher? Die Ungeduld trieb ihn von der Stelle, er glaubte die Sorge loszuwerden, wenn er den Platz ver‰nderte.

Sie schlugen den Weg ein nach jenen ausgedehnten G¸tern des groflen Landbesitzers, von dessen Reichtum und Sonderbarkeiten man ihnen so viel erz‰hlt hatte. Felix sprang nicht mehr wie am Morgen, und alle drei gingen stundenlang vor sich hin. Einigemal wollt’ er das K‰stchen sehn, der Vater, auf den Boten hindeutend, wies ihn zur Ruhe. Nun war er voll Verlangen, Fitz mˆge kommen. Dann scheute er sich wieder vor dem Schelmen; bald pfiff er, um ein Zeichen zu geben, dann reute ihn schon, es getan zu haben, und so dauerte das Schwanken immerfort, bis Fitz endlich sein Pfeifchen aus der Ferne hˆren liefl. Er entschuldigte sein Auflenbleiben vom Riesenschlosse, er habe sich mit Jarno versp‰tet, der Windbruch habe ihn gehindert; dann forschte er genau, wie es ihnen zwischen S‰ulen und Hˆhlen gegangen sei? Wie tief sie vorgedrungen? Felix erz‰hlte ihm ein M‰rchen ¸ber das andere, halb ¸berm¸tig, halb verlegen; er sah den Vater l‰chelnd an, zupfte ihn verstohlen und tat alles mˆgliche, um an den Tag zu geben, dafl er heimlich besitze und dafl er sich verstelle.

Sie waren endlich auf einen Fuhrweg gelangt, der sie bequem zu jenen Besitzt¸mern hinf¸hren sollte; Fitz aber behauptete, einen n‰heren und bessern Weg zu kennen; auf welchem der Bote sie nicht begleiten wollte und den geraden, breiten, eingeschlagenen Weg vor sich hinging. Die beiden Wanderer vertrauten dem losen Jungen und glaubten wohlgetan zu haben, denn nun ging es steil den Berg hinab, durch einen Wald der hoch–und schlankst‰mmigsten L‰rchenb‰ume, der, immer durchsichtiger werdend, ihnen zuletzt die schˆnste Besitzung, die man sich nur denken kann, im klarsten Sonnenlichte sehen liefl.

Ein grofler Garten, nur der Fruchtbarkeit, wie es schien, gewidmet, lag, obgleich mit Obstb‰umen reichlich ausgestattet, offen vor ihren Augen, indem er regelm‰flig, in mancherlei Abteilungen, einen zwar im ganzen abh‰ngigen, doch aber mannigfaltig bald erhˆhten, bald vertieften Boden bedeckte. Mehrere Wohnh‰user lagen darin zerstreut, so dafl der Raum verschiedenen Besitzern anzugehˆren schien, der jedoch, wie Fitz versicherte, von einem einzigen Herrn beherrscht und benutzt ward. ¸ber den Garten hinaus erblickten sie eine unabsehbare Landschaft, reichlich bebaut und bepflanzt. Sie konnten Seen und Fl¸sse deutlich unterscheiden.

Sie waren den Berg hinab immer n‰her gekommen und glaubten nun sogleich im Garten zu sein, als Wilhelm stutzte und Fitz seine Schadenfreude nicht verbarg: denn eine j‰he Kluft am Fufle des Berges tat sich vor ihnen auf und zeigte gegen¸ber eine bisher verborgene hohe Mauer, schroff genug von auflen, obgleich von innen durch das Erdreich vˆllig ausgef¸llt. Ein tiefer Graben trennte sie also von dem Garten, in den sie unmittelbar hineinsahen. “Wir haben noch hin¸ber einen ziemlichen Umweg zu machen”, sagte Fitz, “wenn wir die Strafle, die hineinf¸hrt, erreichen wollen. Doch weifl ich auch einen Eingang von dieser Seite, wo wir um ein gutes n‰her gehen. Die Gewˆlbe, durch die das Bergwasser bei Regeng¸ssen in den Garten geregelt hineinst¸rzt, ˆffnen sich hier; sie sind hoch und breit genug, dafl man mit ziemlicher Bequemlichkeit hindurchkommen kann.” Als Felix von Gewˆlben hˆrte, konnte er vor Begierde sich nicht lassen, diesen Eingang zu betreten. Wilhelm folgte den Kindern, und sie stiegen zusammen die ganz trocken liegenden hohen Stufen dieser Zuleitungsgewˆlbe hinunter. Sie befanden sich bald im Hellen, bald im Dunkeln, je nachdem von Seitenˆffnungen her das Licht hereinfiel oder von Pfeilern und W‰nden aufgehalten ward. Endlich gelangten sie auf einen ziemlich gleichen Fleck und schritten langsam vor, als auf einmal in ihrer N‰he ein Schufl fiel, zu gleicher Zeit sich zwei verborgene Eisengitter schlossen und sie von beiden Seiten einsperrten. Zwar nicht die ganze Gesellschaft: nur Wilhelm und Felix waren gefangen. Denn Fitz, als der Schufl fiel, sprang sogleich r¸ckw‰rts, und das zuschlagende Gitter faflte nur seinen weiten ƒrmel; er aber, sehr geschwind das J‰ckchen abwerfend, war entflohen, ohne sich einen Augenblick aufzuhalten.

Die beiden Eingekerkerten hatten kaum Zeit, sich von ihrem Erstaunen zu erholen, als sie Menschenstimmen vernahmen, welche sich langsam zu n‰hern schienen. Bald darauf traten Bewaffnete mit Fackeln an die Gitter und neugierigen Blicks, was sie f¸r einen Fang mˆchten getan haben. Sie fragten zugleich, ob man sich gutwillig ergeben wolle. “Hier kann von keinem Ergeben die Rede sein”, versetzte Wilhelm; “wir sind in eurer Gewalt. Eher haben wir Ursache zu fragen, ob ihr uns schonen wollt. Die einzige Waffe, die wir bei uns haben, liefere ich euch aus”, und mit diesen Worten reichte er seinen Hirschf‰nger durchs Gitter; dieses ˆffnete sich sogleich, und man f¸hrte ganz gelassen die Ankˆmmlinge mit sich vorw‰rts, und als man sie einen Wendelstieg hinaufgebracht hatte, befanden sie sich bald an einem seltsamen Orte; es war ein ger‰umiges, reinliches Zimmer, durch kleine, unter dem Gesimse hergehende Fenster erleuchtet, die ungeachtet der starken Eisenst‰be Licht genug verbreiteten. F¸r Sitze, Schlafstellen, und was man allenfalls sonst in einer m‰fligen Herberge verlangen kˆnnte, war gesorgt, und es schien dem, der sich hier befand, nichts als die Freiheit zu fehlen.

Wilhelm hatte sich bei seinem Eintritt sogleich niedergesetzt und ¸berdachte den Zustand; Felix hingegen, nachdem er sich von dem ersten Erstaunen erholt hatte, brach in eine unglaubliche Wut aus. Diese steilen W‰nde, diese hohen Fenster, diese festen T¸ren, diese Abgeschlossenheit, diese Einschr‰nkung war ihm ganz neu. Er sah sich um, er rannte hin und her, stampfte mit den F¸flen, weinte, r¸ttelte an den T¸ren, schlug mit den F‰usten dagegen, ja er war im Begriff, mit dem Sch‰del dawiderzurennen, h‰tte nicht Wilhelm ihn gefaflt und mit Kraft festgehalten.

“Besieh dir das nur ganz gelassen, mein Sohn”, fing der Vater an, “denn Ungeduld und Gewalt helfen uns nicht aus dieser Lage. Das Geheimnis wird sich aufkl‰ren; aber ich m¸flte mich hˆchlich irren, oder wir sind in keine schlechten H‰nde gefallen. Betrachte diese Inschriften: “Dem Unschuldigen Befreiung und Ersatz, dem Verf¸hrten Mitleiden, dem Schuldigen ahndende Gerechtigkeit.” Alles dieses zeigt uns an, dafl diese Anstalten Werke der Notwendigkeit, nicht der Grausamkeit sind. Der Mensch hat nur allzusehr Ursache, sich vor dem Menschen zu sch¸tzen. Der Miflwollenden gibt es gar viele, der Miflt‰tigen nicht wenige, und um zu leben, wie sich’s gehˆrt, ist nicht genug, immer wohlzutun.”

Felix hatte sich zusammengenommen, warf sich aber sogleich auf eine der Lagerst‰tten, ohne weiteres ‰uflern noch Erwidern. Der Vater liefl nicht ab und sprach ferner: “Lafl dir diese Erfahrung, die du so fr¸h und unschuldig machst, ein lebhaftes Zeugnis bleiben, in welchem und in was f¸r einem vollkommenen Jahrhundert du geboren bist. Welchen Weg muflte nicht die Menschheit machen, bis sie dahin gelangte, auch gegen Schuldige gelind, gegen Verbrecher schonend, gegen Unmenschliche menschlich zu sein! Gewifl waren es M‰nner gˆttlicher Natur, die dies zuerst lehrten, die ihr Leben damit zubrachten, die Aus¸bung mˆglich zu machen und zu beschleunigen. Des Schˆnen sind die Menschen selten f‰hig, ˆfter des Guten; und wie hoch m¸ssen wir daher diejenigen halten, die dieses mit groflen Aufopferungen zu befˆrdern suchen.”

Diese trˆstlich belehrenden Worte, welche die Absicht der einschlieflenden Umgebung vˆllig rein ausdr¸ckten, hatte Felix nicht vernommen; er lag im tiefsten Schlafe, schˆner und frischer als je; denn eine Leidenschaft, wie sie ihn sonst nicht leicht ergriff, hatte sein ganzes Innerste auf die vollen Wangen hervorgetrieben. Ihn mit Gef‰lligkeit beschauend, stand der Vater, als ein wohlgebildeter junger Mann hereintrat, der, nachdem er den Ankˆmmling einige Zeit freundlich angesehen, anfing, ihn ¸ber die Umst‰nde zu befragen, die ihn auf den ungewˆhnlichen Weg und in diese Falle gef¸hrt h‰tten. Wilhelm erz‰hlte die Begebenheit ganz schlicht, ¸berreichte ihm einige Papiere, die seine Person aufzukl‰ren dienten, und berief sich auf den Boten, der nun bald auf dem ordentlichen Wege von einer andern Seite anlangen m¸sse. Als dieses alles so weit im klaren war, ersuchte der Beamte seinen Gast, ihm zu folgen. Felix war nicht zu erwecken, die Untergebenen trugen ihn daher auf der t¸chtigen Matratze, wie ehmals den unbewuflten Ulyfl, in die freie Luft.

Wilhelm folgte dem Beamten in ein schˆnes Gartenzimmer, wo Erfrischungen aufgesetzt wurden, die er genieflen sollte, indessen jener ging, an hˆherer Stelle Bericht abzustatten. Als Felix erwachend ein gedecktes Tischchen, Obst, Wein, Zwieback und zugleich die Heiterkeit der offenstehenden T¸re bemerkte, ward es ihm ganz wunderlich zumute. Er l‰uft hinaus, er kehrt zur¸ck, er glaubt getr‰umt zu haben; und hatte bald bei so guter Kost und so angenehmer Umgebung den vorhergegangenen Schrecken und alle Bedr‰ngnis, wie einen schweren Traum am hellen Morgen, vergessen.

Der Bote war angelangt, der Beamte kam mit ihm und einem andern, ‰ltlichen, noch freundlichern Manne zur¸ck, und die Sache kl‰rte sich folgendergestalt auf. Der Herr dieser Besitzung, im hˆhern Sinne wohlt‰tig, dafl er alles um sich her zum Tun und Schaffen aufregte, hatte aus seinen unendlichen Baumschulen, seit mehreren Jahren, fleifligen und sorgf‰ltigen Anbauern die jungen St‰mme umsonst, nachl‰ssigen um einen gewissen Preis und denen, die damit handeln wollten, gleichfalls, doch um einen billigen, ¸berlassen. Aber auch diese beiden Klassen forderten umsonst, was die W¸rdigen umsonst erhielten, und da man ihnen nicht nachgab, suchten sie die St‰mme zu entwenden. Auf mancherlei Weise war es ihnen gelungen. Dieses verdrofl den Besitzer um so mehr, da nicht allein die Baumschulen gepl¸ndert, sondern auch durch ¸bereilung verderbt worden waren. Man hatte Spur, dafl sie durch die Wasserleitung hereingekommen, und deshalb eine solche Gitterfalle mit einem Selbstschufl eingerichtet, der aber nur als Zeichen gelten sollte. Der kleine Knabe hatte sich unter mancherlei Vorw‰nden mehrmals im Garten sehen lassen, und es war nichts nat¸rlicher, als dafl er aus K¸hnheit und Schelmerei die Fremden einen Weg f¸hren wollte, den er fr¸her zu anderm Zwecke ausgefunden. Man h‰tte gew¸nscht, seiner habhaft zu werden; indessen wurde sein W‰mschen unter andern gerichtlichen Gegenst‰nden aufgehoben.

F¸nftes Kapitel

Auf dem Wege nach dem Schlosse fand unser Freund zu seiner Verwunderung nichts, was einem ‰lteren Lustgarten oder einem modernen Park ‰hnlich gewesen w‰re; gradlinig gepflanzte Fruchtb‰ume, Gem¸sfelder, grofle Strecken mit Heilkr‰utern bestellt, und was nur irgend brauchbar konnte geachtet werden, ¸bersah er auf sanft abh‰ngiger Fl‰che mit einem Blicke. Ein von hohen Linden umschatteter Platz breitete sich w¸rdig als Vorhalle des ansehnlichen Geb‰udes, eine lange, daranstoflende Allee, gleichen Wuchses und W¸rde, gab zu jeder Stunde des Tags Gelegenheit, im Freien zu verkehren und zu lustwandeln. Eintretend in das Schlofl, fand er die W‰nde der Hausflur auf eigene Weise bekleidet; grofle, geographische Abbildungen aller vier Weltteile fielen ihm in die Augen; stattliche Treppenw‰nde waren gleichfalls mit Abrissen einzelner Reiche geschm¸ckt, und in den Hauptsaal eingelassen, fand er sich umgeben von Prospekten der merkw¸rdigsten St‰dte, oben und unten eingefaflt von landschaftlicher Nachbildung der Gegenden, worin sie gelegen sind, alles kunstreich dargestellt, so dafl die Einzelnheiten deutlich in die Augen fielen und zugleich ein ununterbrochener Bezug durchaus bemerkbar blieb.

Der Hausherr, ein kleiner, lebhafter Mann von Jahren, bewillkommte den Gast und fragte, ohne weitere Einleitung, gegen die W‰nde deutend: ob ihm vielleicht eine dieser St‰dte bekannt sei, und ob er daselbst jemals sich aufgehalten? Von manchem konnte nun der Freund auslangende Rechenschaft geben und beweisen, dafl er mehrere Orte nicht allein gesehen, sondern auch ihre Zust‰nde und Eigenheiten gar wohl zu bemerken gewuflt.

Der Hausherr klingelte und befahl, ein Zimmer den beiden Ankˆmmlingen anzuweisen, auch sie sp‰ter zum Abendessen zu f¸hren; dies geschah denn auch. In einem groflen Erdsaale entgegneten ihm zwei Frauenzimmer, wovon die eine mit grofler Heiterkeit zu ihm sprach: “Sie finden hier kleine Gesellschaft, aber gute; ich, die j¸ngere Nichte, heifle Hersilie, diese, meine ‰ltere Schwester, nennt man Juliette, die beiden Herren sind Vater und Sohn, Beamte, die Sie kennen, Hausfreunde, die alles Vertrauen genieflen, das sie verdienen. Setzen wir uns!” Die beiden Frauenzimmer nahmen Wilhelm in die Mitte, die Beamten saflen an beiden Enden, Felix an der andern langen Seite, wo er sich sogleich Hersilien gegen¸ber ger¸ckt hatte und kein Auge von ihr verwendete.

Nach vorl‰ufigem allgemeinem Gespr‰ch ergriff Hersilie Gelegenheit zu sagen: “Damit der Fremde desto schneller mit uns vertraut und in unsere Unterhaltung eingeweiht werde, mufl ich bekennen, dafl bei uns viel gelesen wird und dafl wir uns, aus Zufall, Neigung, auch wohl Widerspruchsgeist, in die verschiedenen Literaturen geteilt haben. Der Oheim ist f¸rs Italienische, die Dame hier nimmt es nicht ¸bel, wenn man sie f¸r eine vollendete Engl‰nderin h‰lt, ich aber halte mich an die Franzosen, sofern sie heiter und zierlich sind. Hier, Amtmann Papa erfreut sich des deutschen Altertums, und der Sohn mag denn, wie billig, dem Neuern, J¸ngern seinen Anteil zuwenden. Hiernach werden Sie uns beurteilen, hiernach teilnehmen, einstimmen oder streiten; in jedem Sinne werden Sie willkommen sein.” Und in diesem Sinne belebte sich auch die Unterhaltung.

Indessen war die Richtung der feurigen Blicke des schˆnen Felix Hersilien keineswegs entgangen, sie f¸hlte sich ¸berrascht und geschmeichelt und sendete ihm die vorz¸glichsten Bissen, die er freudig und dankbar empfing. Nun aber, als er beim Nachtisch ¸ber einen Teller Apfel zu ihr hinsah, glaubte sie, in den reizenden Fr¸chten ebenso viel Rivale zu erblicken. Gedacht, getan, sie faflte einen Apfel und reichte ihn dem heranwachsenden Abenteurer ¸ber den Tisch hin¸ber; dieser, hastig zugreifend, fing sogleich zu sch‰len an; unverwandt aber nach der reizenden Nachbarin hinblickend, schnitt er sich tief in den Daumen. Das Blut flofl lebhaft; Hersilie sprang auf, bem¸hte sich um ihn, und als sie das Blut gestillt, schlofl sie die Wunde mit englischem Pflaster aus ihrem Besteck. Indessen hatte der Knabe sie angefaflt und wollte sie nicht loslassen; die Stˆrung ward allgemein, die Tafel aufgehoben, und man bereitete sich zu scheiden.

“Sie lesen doch auch vor Schlafengehn?” fragte Hersilie zu Wilhelm; “ich schicke Ihnen ein Manuskript, eine ¸bersetzung aus dem Franzˆsischen von meiner Hand, und Sie sollen sagen, ob Ihnen viel Artigeres vorgekommen ist. Ein verr¸cktes M‰dchen tritt auf, das mˆchte keine sonderliche Empfehlung sein, aber wenn ich jemals n‰rrisch werden mˆchte, wie mir manchmal die Lust ankommt, so w‰r’ es auf diese Weise.” Die pilgernde Tˆrin

Herr von Revanne, ein reicher Privatmann, besitzt die schˆnsten L‰ndereien seiner Provinz. Nebst Sohn und Schwester bewohnt er ein Schlofl, das eines F¸rsten w¸rdig w‰re; und in der Tat, wenn sein Park, seine Wasser, seine Pachtungen, seine Manufakturen, sein Hauswesen auf sechs Meilen umher die H‰lfte der Einwohner ern‰hren, so ist er durch sein Ansehn und durch das Gute, das er stiftet, wirklich ein F¸rst.

Vor einigen Jahren spazierte er an den Mauern seines Parks hin auf der Heerstrafle, und ihm gefiel, in einem Lustw‰ldchen auszuruhen, wo der Reisende gern verweilt. Hochst‰mmige B‰ume ragen ¸ber junges, dichtes Geb¸sch; man ist vor Wind und Sonne gesch¸tzt; ein sauber gefaflter Brunnen sendet sein Wasser ¸ber Wurzeln, Steine und Rasen. Der Spazierende hatte wie gewˆhnlich Buch und Flinte bei sich. Nun versuchte er zu lesen, ˆfters durch Gesang der Vˆgel, manchmal durch Wanderschritte angenehm abgezogen und zerstreut.

Ein schˆner Morgen war im Vorr¸cken, als jung und liebensw¸rdig ein Frauenzimmer sich gegen ihn her bewegte. Sie verliefl die Strafle, indem sie sich Ruhe und Erquickung an dem frischen Orte zu versprechen schien, wo er sich befand. Sein Buch fiel ihm aus den H‰nden, ¸berrascht wie er war. Die Pilgerin mit den schˆnsten Augen von der Welt und einem Gesicht, durch Bewegung angenehm belebt, zeichnete sich an Kˆrperbau, Gang und Anstand dergestalt aus, dafl er unwillk¸rlich von seinem Platze aufstand und nach der Strafle blickte, um das Gefolge kommen zu sehen, das er hinter ihr vermutete. Dann zog die Gestalt abermals, indem sie sich edel gegen ihn verbeugte, seine Aufmerksamkeit an sich, und ehrerbietig erwiderte er den Grufl. Die schˆne Reisende setzte sich an den Rand des Quells, ohne ein Wort zu sagen und mit einem Seufzer.

“Seltsame Wirkung der Sympathie!” rief Herr von Revanne, als er mir die Begebenheit erz‰hlte, “dieser Seufzer ward in der Stille von mir erwidert. Ich blieb stehen, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun sollte. Meine Augen waren nicht hinreichend, diese Vollkommenheiten zu fassen. Ausgestreckt wie sie lag, auf einen Ellbogen gelehnt, es war die schˆnste Frauengestalt, die man sich denken konnte! Ihre Schuhe gaben mir zu eigenen Betrachtungen Anlafl; ganz bestaubt, deuteten sie auf einen langen zur¸ckgelegten Weg, und doch waren ihre seidenen Str¸mpfe so blank, als w‰ren sie eben unter dem Gl‰ttstein hervorgegangen. Ihr aufgezogenes Kleid war nicht zerdr¸ckt; ihre Haare schienen diesen Morgen erst gelockt; feines Weiflzeug, feine Spitzen; sie war angezogen, als wenn sie zum Balle gehen sollte. Auf eine Landstreicherin deutete nichts an ihr, und doch war sie’s; aber eine beklagenswerte, eine verehrungsw¸rdige.

Zuletzt benutzte ich einige Blicke, die sie auf mich warf, sie zu fragen, ob sie allein reise. “Ja, mein Herr”, sagte sie, “ich bin allein auf der Welt.”–“Wie? Madame, Sie sollten ohne Eltern, ohne Bekannte sein?”–“Das wollte ich eben nicht sagen, mein Herr. Eltern hab’ ich, und Bekannte genug; aber keine Freunde.”– “Daran”, fuhr ich fort, “kˆnnen Sie wohl unmˆglich schuld sein. Sie haben eine Gestalt und gewifl auch ein Herz, denen sich viel vergeben l‰flt.”

Sie f¸hlte die Art von Vorwurf, den mein Kompliment verbarg, und ich machte mir einen guten Begriff von ihrer Erziehung. Sie ˆffnete gegen mich zwei himmlische Augen vom vollkommensten, reinsten Blau, durchsichtig und gl‰nzend; hierauf sagte sie mit edlem Tone: sie kˆnne es einem Ehrenmanne, wie ich zu sein scheine, nicht verdenken, wenn er ein junges M‰dchen, das er allein auf der Landstrafle treffe, einigermaflen verd‰chtig halte: ihr sei das schon ˆfter entgegen gewesen; aber ob sie gleich fremd sei, obgleich niemand das Recht habe, sie auszuforschen, so bitte sie doch zu glauben, dafl die Absicht ihrer Reise mit der gewissenhaftesten Ehrbarkeit bestehen kˆnne. Ursachen, von denen sie niemand Rechenschaft schuldig sei, nˆtigten sie, ihre Schmerzen in der Welt umherzuf¸hren. Sie habe gefunden, dafl die Gefahren, die man f¸r ihr Geschlecht bef¸rchte, nur eingebildet seien und dafl die Ehre eines Weibes, selbst unter Straflenr‰ubern, nur bei Schw‰che des Herzens und der Grunds‰tze Gefahr laufe.

¸brigens gehe sie nur zu Stunden und auf Wegen, wo sie sich sicher glaube, spreche nicht mit jedermann und verweile manchmal an schicklichen Orten, wo sie ihren Unterhalt erwerben kˆnne durch Dienstleistung in der Art, wonach sie erzogen worden. Hier sank ihre Stimme, ihre Augenlider neigten sich, und ich sah einige Tr‰nen ihre Wangen herabfallen.

Ich versetzte darauf, dafl ich keineswegs an ihrem guten Herkommen zweifle, so wenig als an einem achtungswerten Betragen. Ich bedaure sie nur, dafl irgendeine Notwendigkeit sie zu dienen zwinge, da sie so wert scheine, Diener zu finden; und dafl ich, ungeachtet einer lebhaften Neugierde, nicht weiter in sie dringen wolle, vielmehr mich durch ihre n‰here Bekanntschaft zu ¸berzeugen w¸nsche, dafl sie ¸berall f¸r ihren Ruf ebenso besorgt sei als f¸r ihre Tugend. Diese Worte schienen sie abermals zu verletzen, denn sie antwortete: Namen und Vaterland verberge sie, eben um des Rufs willen, der denn doch am Ende meistenteils weniger Wirkliches als Mutmaflliches enthalte. Biete sie ihre Dienste an, so weise sie Zeugnisse der letzten H‰user vor, wo sie etwas geleistet habe, und verhehle nicht, dafl sie ¸ber Vaterland und Familie nicht befragt sein wolle. Darauf bestimme man sich und stelle dem Himmel oder ihrem Worte die Unschuld ihres ganzen Lebens und ihre Redlichkeit anheim.”

‰uflerungen dieser Art lieflen keine Geistesverwirrung bei der schˆnen Abenteurerin argwˆhnen. Herr von Revanne, der einen solchen Entschlufl, in die Welt zu laufen, nicht gut begreifen konnte, vermutete nun, dafl man sie vielleicht gegen ihre Neigung habe verheiraten wollen. Hernach fiel er darauf, ob es nicht etwa gar Verzweiflung aus Liebe sei; und wunderlich genug, wie es aber mehr zu gehen pflegt, indem er ihr Liebe f¸r einen andern zutraute, verliebte er sich selbst und f¸rchtete, sie mˆchte weiterreisen. Er konnte seine Augen nicht von dem schˆnen Gesicht wegwenden, das von einem gr¸nen Halblichte verschˆnert war. Niemals zeigte, wenn es je Nymphen gab, auf den Rasen sich eine schˆnere hingestreckt; und die etwas romanhafte Art dieser Zusammenkunft verbreitete einen Reiz, dem er nicht zu widerstehen vermochte.

Ohne daher die Sache viel n‰her zu betrachten, bewog Herr von Revanne die schˆne Unbekannte, sich nach dem Schlosse f¸hren zu lassen. Sie macht keine Schwierigkeit, sie geht mit und zeigt sich als eine Person, der die grofle Welt bekannt ist. Man bringt Erfrischungen, welche sie annimmt, ohne falsche Hˆflichkeit und mit dem anmutigsten Dank. In Erwartung des Mittagessens zeigt man ihr das Haus. Sie bemerkt nur, was Auszeichnung verdient, es sei an Mˆbeln, Malereien, oder es betreffe die schickliche Einteilung der Zimmer. Sie findet eine Bibliothek, sie kennt die guten B¸cher und spricht dar¸ber mit Geschmack und Bescheidenheit. Kein Geschw‰tz, keine Verlegenheit. Bei Tafel ein ebenso edles und nat¸rliches Betragen und den liebensw¸rdigsten Ton der Unterhaltung. So weit ist alles verst‰ndig in ihrem Gespr‰ch, und ihr Charakter scheint so liebensw¸rdig wie ihre Person.

Nach der Tafel machte sie ein kleiner mutwilliger Zug noch schˆner, und indem sie sich an Fr‰ulein Revanne mit einem L‰cheln wendet, sagt sie: es sei ihr Brauch, ihr Mittagsmahl durch eine Arbeit zu bezahlen und, sooft es ihr an Geld fehle, N‰hnadeln von den Wirtinnen zu verlangen. “Erlauben Sie”, f¸gte sie hinzu, “dafl ich eine Blume auf einem Ihrer Stickrahmen lasse, damit Sie k¸nftig bei deren Anblick der armen Unbekannten sich erinnern mˆgen.” Fr‰ulein von Revanne versetzte darauf, dafl es ihr sehr leid tue, keinen aufgezogenen Grund zu haben, und deshalb das Vergn¸gen, ihre Geschicklichkeit zu bewundern, entbehren m¸sse. Alsbald wendete die Pilgerin ihren Blick auf das Klavier. “So will ich denn”, sagte sie, “meine Schuld mit Windm¸nze abtragen, wie es auch ja sonst schon die Art umherstreifender S‰nger war.” Sie versuchte das Instrument mit zwei oder drei Vorspielen, die eine sehr ge¸bte Hand ank¸ndigten. Man zweifelte nicht mehr, dafl sie ein Frauenzimmer von Stande sei, ausgestattet mit allen liebensw¸rdigen Geschicklichkeiten. Zuerst war ihr Spiel aufgeweckt und gl‰nzend; dann ging sie zu ernsten Tˆnen ¸ber, zu Tˆnen einer tiefen Trauer, die man zugleich in ihren Augen erblickte. Sie netzten sich mit Tr‰nen, ihr Gesicht verwandelte sich, ihre Finger hielten an; aber auf einmal ¸berraschte sie jedermann, indem sie ein mutwilliges Lied, mit der schˆnsten Stimme von der Welt, lustig und l‰cherlich vorbrachte. Da man in der Folge Ursache hatte zu glauben, dafl diese burleske Romanze sie etwas n‰her angehe, so verzeiht man mir wohl, wenn ich sie hier einschalte.

Woher im Mantel so geschwinde,
Da kaum der Tag in Osten graut?
Hat wohl der Freund beim scharfen Winde Auf einer Wallfahrt sich erbaut?
Wer hat ihm seinen Hut genommen?
Mag er mit Willen barfufl gehn?
Wie ist er in den Wald gekommen
Auf den beschneiten, wilden Hˆhn?

Gar wunderlich von warmer St‰tte,
Wo er sich bessern Spafl versprach, Und wenn er nicht den Mantel h‰tte,
Wie gr‰fllich w‰re seine Schmach! So hat ihn jener Schalk betrogen
Und ihm das B¸ndel abgepackt:
Der arme Freund ist ausgezogen,
Beinah wie Adam blofl und nackt.

Warum auch ging er solche Wege
Nach jenem Apfel voll Gefahr,
Der freilich schˆn im M¸hlgehege
Wie sonst im Paradiese war!
Er wird den Scherz nicht leicht erneuen; Er dr¸ckte schnell sich aus dem Haus,
Und bricht auf einmal nun im Freien In bittre, laute Klagen aus:

“Ich las in ihren Feuerblicken
Doch keine Silbe von Verrat!
Sie schien mit mir sich zu entz¸cken Und sann auf solche schwarze Tat!
Konnt ich in ihren Armen tr‰umen, Wie meuchlerisch der Busen schlug?
Sie hiefl den raschen Amor s‰umen, Und g¸nstig war er uns genug.

Sich meiner Liebe zu erfreuen,
Der Nacht, die nie ein Ende nahm,
Und erst die Mutter anzuschreien
Jetzt eben, als der Morgen kam!
Da drang ein Dutzend Anverwandten
Herein, ein wahrer Menschenstrom!
Da kamen Br¸der, guckten Tanten,
Da stand ein Vetter und ein Ohm!

Das war ein Toben, war ein W¸ten!
Ein jeder schien ein andres Tier.
Da forderten sie Kranz und Bl¸ten
Mit gr‰fllichem Geschrei von mir. “Was dringt ihr alle wie von Sinnen
Auf den unschuld’gen J¸ngling ein! Denn solche Sch‰tze zu gewinnen,
Da mufl man viel behender sein.

Weifl Amor seinem schˆnen Spiele
Doch immer zeitig nachzugehn:
Er l‰flt f¸rwahr nicht in der M¸hle Die Blumen sechzehn Jahre stehn.”
Da raubten sie das Kleiderb¸ndel
Und wollten auch den Mantel noch.
Wie nur so viel verflucht Gesindel
Im engen Hause sich verkroch!

Da sprang ich auf und tobt’ und fluchte, Gewifl, durch alle durchzugehn.
Ich sah noch einmal die Verruchte,
Und ach! sie war noch immer schˆn. Sie alle wichen meinem Grimme,
Doch flog noch manches wilde Wort;
So macht’ ich mich mit Donnerstimme Noch endlich aus der Hˆhle fort.

Man soll euch M‰dchen auf dem Lande Wie M‰dchen aus den St‰dten fliehn!
So lasset doch den Fraun von Stande Die Lust, die Diener auszuziehn!
Doch seid ihr auch von den Ge¸bten Und kennt ihr keine zarte Pflicht,
So ‰ndert immer die Geliebten,
Doch sie verraten m¸flt ihr nicht.”

So singt er in der Winterstunde,
Wo nicht ein armes H‰lmchen gr¸nt. Ich lache seiner tiefen Wunde,
Denn wirklich ist sie wohlverdient; So geh’ es jedem, der am Tage
Sein edles Liebchen frech bel¸gt
Und nachts, mit allzu k¸hner Wage, Zu Amors falscher M¸hle kriecht.

Wohl war es bedenklich, dafl sie sich auf eine solche Weise vergessen konnte, und dieser Ausfall mochte f¸r ein Anzeichen eines Kopfes gelten, der sich nicht immer gleich war. “Aber”, sagte mir Herr von Revanne, “auch wir vergaflen alle Betrachtungen, die wir h‰tten machen kˆnnen, ich weifl nicht, wie es zuging. Uns muflte die unaussprechliche Anmut, womit sie diese Possen vorbrachte, bestochen haben. Sie spielte neckisch, aber mit Einsicht. Ihre Finger gehorchten ihr vollkommen, und ihre Stimme war wirklich bezaubernd. Da sie geendigt hatte, erschien sie so gesetzt wie vorher, und wir glaubten, sie habe nur den Augenblick der Verdauung erheitern wollen.

Bald darauf bat sie um die Erlaubnis, ihren Weg wieder anzutreten; aber auf meinen Wink sagte meine Schwester: wenn sie nicht zu eilen h‰tte und die Bewirtung ihr nicht miflfiele, so w¸rde es uns ein Fest sein, sie mehrere Tage bei uns zu sehen. Ich dachte ihr eine Besch‰ftigung anzubieten, da sie sich’s einmal gefallen liefl zu bleiben. Doch diesen ersten Tag und den folgenden f¸hrten wir sie nur umher. Sie verleugnete sich nicht einen Augenblick: sie war die Vernunft, mit aller Anmut begabt. Ihr Geist war fein und treffend, ihr Ged‰chtnis so wohl ausgeziert und ihr Gem¸t so schˆn, dafl sie gar oft unsere Bewunderung erregte und alle unsere Aufmerksamkeit festhielt. Dabei kannte sie die Gesetze eines guten Betragens und ¸bte sie gegen einen jeden von uns, nicht weniger gegen einige Freunde, die uns besuchten, so vollkommen aus, dafl wir nicht mehr wuflten, wie wir jene Sonderbarkeiten mit einer solchen Erziehung vereinigen sollten.

Ich wagte wirklich nicht mehr, ihr Dienstvorschl‰ge f¸r mein Haus zu tun. Meine Schwester, der sie angenehm war, hielt es gleichfalls f¸r Pflicht, das Zartgef¸hl der Unbekannten zu schonen. Zusammen besorgten sie die h‰uslichen Dinge, und hier liefl sich das gute Kind ˆfters bis zur Handarbeit herunter und wuflte sich gleich darauf in alles zu schicken, was hˆhere Anordnung und Berechnung erheischte.

In kurzer Zeit stellte sie eine Ordnung her, die wir bis jetzt im Schlosse gar nicht vermiflt hatten. Sie war eine sehr verst‰ndige Haush‰lterin; und da sie damit angefangen hatte, bei uns mit an Tafel zu sitzen, so zog sie sich nunmehr nicht etwa aus falscher Bescheidenheit zur¸ck, sondern speiste mit uns ohne Bedenken fort; aber sie r¸hrte keine Karte, kein Instrument an, als bis sie die ¸bernommenen Gesch‰fte zu Ende gebracht hatte.

Nun mufl ich freilich gestehen, dafl mich das Schicksal dieses M‰dchens innigst zu r¸hren anfing. Ich bedauerte die Eltern, die wahrscheinlich eine solche Tochter sehr vermiflten; ich seufzte, dafl so sanfte Tugenden, so viele Eigenschaften verlorengehen sollten. Schon lebte sie mehrere Monate mit uns, und ich hoffte, das Vertrauen, das wir ihr einzuflˆflen suchten, w¸rde zuletzt das Geheimnis auf ihre Lippen bringen. War es ein Ungl¸ck, wir konnten helfen; war es ein Fehler, so liefl sich hoffen, unsere Vermittelung, unser Zeugnis w¸rden ihr Vergebung eines vor¸bergehenden Irrtums verschaffen kˆnnen; aber alle unsere Freundschaftsversicherungen, unsre Bitten selbst waren unwirksam. Bemerkte sie die Absicht, einige Aufkl‰rung von ihr zu gewinnen, so versteckte sie sich hinter allgemeine Sittenspr¸che, um sich zu rechtfertigen, ohne uns zu belehren. Zum Beispiel, wenn wir von ihrem Ungl¸cke sprachen: “Das Ungl¸ck”, sagte sie, “f‰llt ¸ber Gute und Bˆse. Es ist eine wirksame Arzenei, welche die guten S‰fte zugleich mit den ¸blen angreift.”

Suchten wir die Ursache ihrer Flucht aus dem v‰terlichen Hause zu entdecken: “Wenn das Reh flieht”, sagte sie l‰chelnd, “so ist es darum nicht schuldig.” Fragten wir, ob sie Verfolgungen erlitten: “Das ist das Schicksal mancher M‰dchen von guter Geburt, Verfolgungen zu erfahren und auszuhalten. Wer ¸ber eine Beleidigung weint, dem werden mehrere begegnen.” Aber wie hatte sie sich entschlieflen kˆnnen, ihr Leben der Roheit der Menge auszusetzen, oder es wenigstens manchmal ihrem Erbarmen zu verdanken? Dar¸ber lachte sie wieder und sagte: “Dem Armen, der den Reichen bei Tafel begr¸flt, fehlt es nicht an Verstand.” Einmal, als die Unterhaltung sich zum Scherze neigte, sprachen wir ihr von Liebhabern und fragten sie: ob sie den frostigen Helden ihrer Romanze nicht kenne? Ich weifl noch recht gut, dieses Wort schien sie zu durchbohren. Sie ˆffnete gegen mich ein Paar Augen, so ernst und streng, dafl die meinigen einen solchen Blick nicht aushalten konnten; und sooft man auch nachher von Liebe sprach, so konnte man erwarten, die Anmut ihres Wesens und die Lebhaftigkeit ihres Geistes getr¸bt zu sehen. Gleich fiel sie in ein Nachdenken, das wir f¸r Gr¸beln hielten und das doch wohl nur Schmerz war. Doch blieb sie im ganzen munter, nur ohne grofle Lebhaftigkeit, edel, ohne sich ein Ansehn zu geben, gerade ohne Offenherzigkeit, zur¸ckgezogen ohne ƒngstlichkeit, eher duldsam als sanftm¸tig, und mehr erkenntlich als herzlich bei Liebkosungen und Hˆflichkeiten. Gewifl war es ein Frauenzimmer, gebildet, einem groflen Hause vorzustehn; und doch schien sie nicht ‰lter als einundzwanzig Jahre.

So zeigte sich diese junge, unerkl‰rliche Person, die mich ganz eingenommen hatte, binnen zwei Jahren, die es ihr gefiel bei uns zu verweilen, bis sie mit einer Torheit schlofl, die viel seltsamer ist, als ihre Eigenschaften ehrw¸rdig und gl‰nzend waren. Mein Sohn, j¸nger als ich, wird sich trˆsten kˆnnen; was mich betrifft, so f¸rchte ich, schwach genug zu sein, sie immer zu vermissen.”

Nun will ich die Torheit eines verst‰ndigen Frauenzimmers erz‰hlen, um zu zeigen, dafl Torheit oft nichts weiter sei als Vernunft unter einem andern ‰uflern. Es ist wahr, man wird einen seltsamen Widerspruch finden zwischen dem edlen Charakter der Pilgerin und der komischen List, deren sie sich bediente; aber man kennt ja schon zwei ihrer Ungleichheiten, die Pilgerschaft selbst und das Lied.

Es ist wohl deutlich, dafl Herr von Revanne in die Unbekannte verliebt war. Nun mochte er sich freilich auf sein funfzigj‰hriges Gesicht nicht verlassen, ob er so schon frisch und wacker aussah als ein Dreifliger; vielleicht aber hoffte er, durch seine reine, kindliche Gesundheit zu gefallen, durch die G¸te, Heiterkeit, Sanftheit, Groflmut seine Charakters; vielleicht auch durch sein Vermˆgen, ob er gleich zart genug gesinnt war, um zu f¸hlen, dafl man das nicht erkauft, was keinen Preis hat.

Aber der Sohn von der andern Seite, liebensw¸rdig, z‰rtlich, feurig, ohne sich mehr als sein Vater zu bedenken, st¸rzte sich ¸ber Hals und Kopf in das Abenteuer. Erst suchte er vorsichtig die Unbekannte zu